DOSSIER Zum Roman "DER VERWESER"

 

Arbeitsheft.

 

1. Voraussetzungen: Zeit Geist. Wider die totalitäre Seele.

Mit meiner Frau redete ich darüber, daß Ungeduld schlimmer sei als jedes andere Laster, als Schlamperei, als Ordnungssucht, als Gewissenlosigkeit, denn alles ließe sich daraus ableiten, sogar der Fluch des Totalitären und seine Sucht, alles umweglos zu "überspringen". Und dies, so sagte ich, dies kommt aus einer "tiefen" Irreligiosität, aus einem eingefleischten negativen, zerstörerischen Denken, das auf das Materielle fixiert ist, seit dem Sünden-Fall, ein schönes Symbol: Wir glauben seither, als Strafe: an den Tod, weil wir uns nur als Körper sehen, obwohl wir eigentlich immer "in Gedanken sind", die Außenwelt nur punktuell als Momentprojektion existiert. Dieser Glaube allein ans Materielle führe zur Hetze, zu Zeitnot und Angst. Ich zitierte Kafka: Aus Ungeduld haben wir das Paradies verloren, aus Ungeduld kommen wir nicht wieder hinein. Und auch Lessing, der davon ausgeht, es sei logisch völlig ausgeschlossen, daß eine so kurze Lebenszeit für eine Entwicklung sämtlicher in uns angelegter Fähigkeiten ausreiche, und daß die Anstrengung, ein geistiges Wesen zu werden, so unterbrochen und vergeudet werden könne; er glaubte an ein Wiedererkennen und notwendiges Wiederkommen; daher sollten wir uns nicht beeilen, denn wir hätten eine ganze Ewigkeit Zeit!

Dieser Mangel an Heil, an Sinn macht krank. Und jemand, der von Vergleichen, von einem anderen Leben, jener Instanz, von der ich vorhin sprach, nichts weiß, keine existentiellen und historische Lebensbrüche kennt, nicht durch Leid und Gewalt "aufgeweckt" worden ist, wird im platten Fluß der systematischen Verdummung eines kraftlosen Konsumreiches krank werden,. weil er den Anderen, das Ebenbild in sich selbst verrät, die Kraft, die nicht auszulöschen ist, nicht einmal durch Langeweile und Dauerverzehr der Natur und der Aushungerung der eigenen Seele.

Nur streifen möchte ich dieses Thema, weil es zu meiner Ostwesterfahrung und hier zur Gemeinsamkeit gehört: von der unbewußten Religiosität und Gottbezogenheit im Menschen und der "dritten Wiener Richtung der Psychoanalyse" von Victor E. Frankl, seiner "Logotherapie" handelt. Es werden laut Frankl nicht nur Triebe verdrängt, sondern auch Verantwortung, und diese ist identisch mit der Verdrängung von Transzendenz, damit des Gewissens. Flucht vor ihr macht klein und elend, und krank, und Glück ist nur möglich im Ganzwerden: "Whole" im Englschen: Heil. Seine Therapie geht auf dieses Ganzmachen zurück!

Ich komme damit wieder auf das Sichaufgebenkönnen zu sprechen, nämlich das eigne kleine Ich und alles, was damit zusammenhängt aufzugeben, dieses ist dafür die Vorbedingung!. Und auf eine Grunderfahrung komme ich zurück, die wieder eine östliche ist. Freiheit ist heute nur in höchster, ja, nur in transzendentaler Bindung möglich, sonst kann sie dem Geschichtsschrecken nicht entsprechen, verkommt zum Bankgeheimnis und Unternehmertraum. Zur bindungslosen Flucht. Oder zur wilden Verantwortungslosigkeit der Mafioten, Terroristen und Bombenleger. Es gibt ein wunderbares Wort bei C.F. v. Weizsäcker dazu: Sogar das angestrengt Moralische ohne das Heilige kann böse und zerstörerisch werden. Dieses Jahrhundert hat es bewiesen.

Jene, die die rote Ideologie und ihre Dummheit und Hartherzigkeit, jetzt ihren Ruin am eigenen Leib erfahren haben, gar die Jugendsünde begingen, ihr auf den Leim zu gehen, wie es mir passiert ist, wissen etwas von der großen Skepsis gegenüber allem rein Prinzipiellen, rein Moralischen, Ästhetischen, Historischen, Begrifflichen, Kopflastigen, kurz Ideologischen: gegenüber allen Besserwissereien, die keineswegs nur ein rotes Privileg war, im Westen genau so funktioniert. Wenn ich an dieses Zerbrechen der bisherigen Logik und des Kopflastigen, das der ganze Stolz und Hochmut des Okzidents ist und war, erinnert werde, und damit auch an meine eigne Abneigung dagegen, die eine Abneigung gegen dieses Erbe in mir selbst ist, die "totalitäre Seele" des Abendlandes, die die drei großen Vernichtungskräfte unseres Jahrhunderts hervorgebracht hat, die rote, die braune und den gnadenlosen Raubbau der Wegwerfggesellschaft, weiß ich, daß es ein besseres Erbe, ja, heute sogar ein notwendiges Erbe ist, das mich zum Schreiben, aber hier jetzt auch zum Reden treibt. Parolen sind ein Zaun vor dem Tod. Veränderungswünsche, Weltverbesserung, zu meinen, alles im Griff zu haben, ist eine Anmaßung. Schon Montaigne wußte das. Er meinte, wie soll man andere, gar die Welt verändern wollen, da man nicht einmal sich selbst zu ändern imstande sei, wir jeden Tag, ja jede Stunde ein anderer sind.

In unserem Jahrhundert zeigte der Mathematiker Gödel, daß etwas unbeweisbar, aber wahr sein kann, daß Beweisbarkeit ein schwächerer Begriff ist als Wahrheit. Skepsis gegenüber voreiligen Schlüssen und Handlungen angebracht ist.

Der skeptische Philosoph Odo Marquard meint, die Skepsis rechne immer mit dem "unvermeidlichen Einzelnen", "das ist jeder Mensch, weil er ´unvertretbar` sterben muß und `zum Tode` ist. Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu." Was Lessing zur Frage, ja zu einer Art Gewissheit führte, daß es unmöglich ist, daß diese 70-80 Menschenjahre alles sein könnten, da der Mensch auf Entwicklung angelegt sei, und die Natur unmöglich so absurd sei, diesen Reichtum unrettbar zu vernichten. Ein logisches Plädoyer für Transzendenz.

Doch innerhalb dieser "vita brevis" muß der einzelne Mensch aus Zeitmangel das bleiben, was er geschichtlich schon war, meint Marquard: "er muß anknüpfen".

 

2. Voraussetzungen; Daten zur Entstehungsgeschichte

 

2.1. Aus einem Interview:

 

F: Nun haben die Dinge durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und die Vereinigung Deutschlands einen ganz anderen Lauf genommen. Wie sehen Sie unter diesen Umständen Ihre Aufgabe als Schriftsteller und mit welchen Herausforderungen werden Sie konfrontiert?

 

DS: Mein Versuch, mit meinen sehr bescheidenen Mitteln und ganz auf mich gestellt als ohnmächtiger, aber autonomer Autor, und oft genug als "Freihungerer" gegen beide Systeme, die sich nicht vergleichen lassen, da es sich um ein totalitäres und um ein offenes System handelt, anzuschreiben, hat sich nach 89 vereinfacht. Es ist nur noch eines der Systeme übrig geblieben, was dieses freilich gestärkt und bestärkt hat, als hätte es nun, ohne jede Einschränkung, Recht und Wahrheit "gepachtet", dem sich die ganze Welt nun zu fügen hat. Dabei muß scharf zwischen dem freien Spiel der Kräfte in der Politik, der Öffentlichkeit als Verfassungsprinzip, samt einer institutionell abgesicherten Selbstkontrolle und den gewissermaßen totalitären Enklaven der Großbetriebe und Banken und ihren Interessen unterschieden werden. Und was den Osten heute betrifft, wo eher letzteres auf Mafia-Art und ohne Öffentlichkeitskontrolle einbricht, sind die neueren Zustände bekannt. Es wird wohl niemand behaupten können, daß der Zusammenbruch im Osten mehr Frieden oder gar Glück in die Welt gebracht hat, es ist so, als wäre 1989, wie Heiner Müller definiert "die Lokomotive der Apokalypse" gewesen. Die einzige Hoffnung in diesem Tabula rasa, wo die durch das Patt eingefrorene Zeit wieder fließen kann, ist die totale Offenheit aller Alternativen. Wo aber vorerst und ziemlich gefährlich (vor allem in Rußland, aber auch in Rumänien) nun alles nach rechts gerückt ist bis hin zu offenen nazistischen Gruppierungen. Man sieht es auch am Fremdenhaß und an den Brandfackeln in Deutschland.

Was mich nach 89 beschäftigt, ist verstärkt jene Aufgabe, die mich auch vorher beschäftigt hat. Es ist schwer, dieses in ein paar Worten zu erklären, doch ich will es versuchen, da es ins Zentrum meiner Arbeit zielt: nämlich den Abgrund zwischen dem, was das Denken und das Handeln - bis hin zu den Politikern, Managern und Universitäten bestimmt, und den Dimensionen, auf die unsere gesamte Umwelt aufgebaut ist, nämlich eine Welt von Geist, die nicht als Geist erscheint, mit meinen literarischen Mitteln überbrücken zu helfen. Genauer: Das, was uns umgibt, ist ja eine völlig andere, immaterielle Welt an einer unvorstellbaren Grenze zu einem neuen Weltmuster und Paradigma. Beispiel: Denken wir nur an unsere "elektronischen Haustiere," Computer, Radio, Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedankenblitze" wie in der Kunst, aus einem großen kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das Nicht-Materielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und Gesellschaft. Völlig im Gegensatz dazu beherrscht der krasseste Materialismus die Köpfe und das Handeln. Die Menschen der Gegenwart bewegen sich und handeln in dieser neuen immateriellen Umgebung weiter so, als wäre es immer noch die alte Körperwelt. Das herrschende materielle Denken ist antiquiert, denn die Welt ist Geist, der nicht als Geist erscheint, wie ein bekannter Physiker formuliert! Außerdem ist durch weltweite Kommunikation unsere Welt eine einzige geworden, in der anstatt der Kontrolle einer Weltregierung, die von diesen Bedingungen des Lebens überholte alte und trübe nationalistische Emotionen in den armen Ländern und das materialistische Profitdenken des Geldsystems in den reichen Ländern wie ein Krebs wuchern und die Erde teilen!

 

S: Als allgemeines Kennzeichen Ihrer Gestaltungsweise fällt beginnend mit Ihren frühen Dichtungen auf, daß Sie sich der Collage bedienen und auch gern Zitate in Ihre Arbeiten einbauen. Entspricht diese Art des Vorgehens einer zwingenden künstlerischen Notwendigkeit, und welche Bedeutung messen Sie den jeweils neuesten Trends bei?

 

DS:. Die Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit meiner Phantasiearbeit, denn meine Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Handlungs-Stößen; vielleicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Moment oder die Welt als Einfall, ganz "heiß" dann aufgeschrieben, tagebuchartig in "Zeithäppchen", flashs, und dann erst nachträglich zusammengesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch beim nachträglichen Zusammensetzen alles "heiß" und inspirativ geschehen muß ...

In letzter Zeit aber bin ich auch auf nicht-literarische Sprachphänomene und Schriftphänomene, die über Computer und Tonband, Fernsehschirm und automatische Schrift Forschern aus der ganzen Welt vermittelt werden, gestoßen, viele Tausende von Seiten, die möglicherweise den Beginn eines neuen Weltverständnissses - nach dem Einsteinschen - ankündigen, im Bereich der Überlichtgeschwindigkeit, also dort als rein geistige Phänomene angesiedelt sind, die den berühmten Satz vom Tod als der "Sünde Sold" aus der Genesis und der Paradiesvertreibung damit aufheben würden, in ein neues Zeitalter weisen könnten, falls es tatsächlich über-sinnliche Wirklichkeit wäre und nicht nur Projektion unserer eigenen todesgeängstigten Seele. Hermann Oberth hat übrigens einiges dazu gesagt und geschrieben, und ich hatte mit ihm einen angeregten Briefwechsel über diese Psi-Phänomene. Vorerst wirkt diese Botschaft wie Science-Fiction und phantastische Literatur; damit hätten freilich Kunst und Literatur eine neue Möglichkeit und Aufgabe, und dieses sogar auch dann, wenn es nichts Wirkliches sondern Projektion unseres Inneren wäre - denn wo sonst wird die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten, wenn nicht in diesen seelischen Bereichen?! Die Aufgabe der Kunst, der Literatur wäre wieder jene, die sie früher immer schon hatte, nämlich intuitiv das Kommende vorwegzunehmen, nicht dem Wissen, der Wissenschaft nachzuhinken - wie in den vergangenen 50 Jahren.

 

S: Die Hauptgestalt in Ihrem bisher einzigen Roman Vaterlandstage (1986) trägt autobiographische Züge. Werden eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Prägungen auch in Ihrem zweiten Roman, der meines Wissens bald erscheinen soll, eine zentrale Rolle spielen und wodurch wird sich dieser, was Thematik und episches Verfahren anbelangt, vom ersten unterscheiden?

 

DS: Von den autobiographischen Zügen, die der Roman "Vaterlandstage" zwangsläufig tragen und ertragen mußte, werde ich im zweiten Roman, dem "Verweser", loskommen; ich arbeite schon jahrelang an dem, was ich die "Abschiedsfähigkeit" nannte, und vielleicht habe ich diese nun langsam erreicht. Gerade um diese Züge zu eliminieren, aber auch aus den oben geschilderten Erfahrungsgründen, muß "Der Verweser", der schon 89 in einer Fassung vorlag, neu überarbeitet werden. Ich hoffe, diese neue Fassung in einem Jahr fertigzustellen.

Der erste Roman war eine schmerzhafte Korrektur der Kindheitserinnerungen in einem fiktionalen Verfahren als Rahmen, um der Collage einen festen und sinnvollen Bezugspunkt zu geben. Dieser Bezugspunkt liegt in meiner Arbeit immer auf der Grenze zwischen Leben und Tod, und er versucht, dem was Un-Zeit bringt, Unmögliches und Ungeheuerliches, durch Erfindung so nahe wie nur möglich zu treten - bis es wehtut. Der zweite Roman, vorerst noch im Manuskript, ist ein Geisterroman, der in Lucca und in Siebenbürgen des 16. Jahrhunderts spielt. Im Gegensatz zu den "Vaterlandstagen" wird hier viel erzählt, aber gerade diesem Erzählen, dieser vorgefaßten und selbstbewußten (naiven) Art des angeblichen Wirklichkeitswissens wird drastisch und schließlich tödlich der Prozeß gemacht. Und das für die Spätrenaissance-Zeit, wo noch (angeblich) alles überschaubar, geordnet, also noch erzählbar war. Im Zentrum stehen alle Dimensionen des Buches, der SCHRIFT als magisches und gefährliches Elixier und Machtmittel, das die Obrigkeit zu allen Zeiten gefürchtet, aber auch selbst in den eigenen Dienst genommen hat, gefürchtet aber vor allem , wenn es wie in der Literatur die unkontrollierbare Sprache des Subjektes ist, das sich jeder Macht so entzieht. Diese Rettung, aber auch böser Zauber, kann das Buch sein, das Unglück, nicht nur Glück und Schönheit bewirken kann. Vor allem durch das selbstherrliche Diktat des "alleswissenden" Erzählers, der so eine Art Spiegelbild eines Diktators ist, der sich dieses Machtmittel anmaßt, anstatt in die Tiefen seines ungesicherten und mit dem Tod verbundenen Eigenen hinabzusteigen, wird Schrift zum Instrument eines falschen Denkens und einer falschen, ja, verbrecherischen Moral und des Kitsches. Im "Verweser" mißbraucht die Hauptfigur Granucci, Arzt und Autor, ihre Macht, um sich an einer Frau zu rächen, die ihn verraten hat, und die er durch ein bewußt falsches diffamierendes Porträt der Obrigkeit ausliefert, die sie hinrichtet. Ihr Phantom aber verfolgt den unmoralischen Autor, der am "Ebenbild" frevelt, bis die "Gerechtigkeit" wieder hergestellt ist, er ins Exil getrieben wird, wo er heimat- und ruhelos durch Europa irrt, schließlich eingemauert in einem Turm sein Leben beendet. Reizvoll ist die andauernd grenzüberschreitende Moral für Dinge jenseits unserer Vorstellung; daß nämlich kein irdisches Gericht dazu fähig ist, den Fall in seiner Komplexität zu richten. Aufgelöst soll auch das alttestamentarische und antike Rache-Prinzip werden, die Geschehnisse weisen durch die Metapher der "Gespenstergeschichte" über unser Verstehen hinaus, öffnen sich höchstens einem sehr umfassenden "karmatischen" Schicksals-Begriff, der mit dem modernsten und tiefsten Begriff heute, jenem des sokratischen Nicht-Wissens einer negativen Theologie korrespondiert, und bis hinein in die Quantenogik der modernen Physik heute äußerst wichtig geworden ist.

Sie sehen, die Ablehnung des "Realismus" eines festen Weltbildes und seiner Sprache, wie ich es anfangs geschildert habe, verfolgt mich bis in die Motive, Inhalte und Formen meines Schreibens. Jene Sicht einer heilen "festen Welt" ist nicht nur falsch, wie die moderne Wissenschaft zeigt, sondern führt letztlich zur Zerstörung jener Weltmitte, die im Subjekt des Einzelnen verborgen ist.

 

März/November 1994

(Aus: "So nah, so fremd", Dinklage 1995)

 

2.2. Aus meinem Tagebuch:

8. November 1996: In der "ZEIT" vom 8. November lese ich in Hubert Winkels Essay "Buch und Mensch ein Unglückspaar, "daß es wider die Erlebnisgesellschaft des Fensehens" für das Buch nur zwei Alternativen gebe, entweder "das Tempo der Reizumschlaggeschwindigkeit zu halten ", Schreiben als "Ereignis zu zelebrieren" (das hieße der Bestsellerei zu verfallen) oder "herabgestimmt" sich dem "bröckelnden Kanon der Überlieferung zuzuwenden." Also zu verstauben.

Doch dann wird auch eine dritte Alternative angedeutet, die ganz sicher die wichtigere ist, nämlich, daß es sich gar nicht um den Versuch handeln kann,"hinein in die Medien" zu gehen, sondern gewissermaßen darum, an deren Wurzeln zurückzukehren. Daß "der Autor zum Medienproduzenten avanciert", das wäre nur die Oberfläche davon, ebenso, wenn Literatur versucht, so bei sich zu bleiben, indem sie "die andere Technik" zum Bestandteil ihrer Arbeit macht. Nein, sie müßte ganz radikal an die Grenze, die von diesen "elektronischen Haustieren" aufgerissen wurde, gehen: denn dort hört jede Art von Sinnlichkeit und Sichtbarkeit auf, damit auch Fernsehen, das geistige Prozesse im Bild niemals erreichen kann, schon gar nicht die Sprache des Geistes, von denen der Geister und der Toten ganz zu schweigen.

 

Und zuzustimmen wäre in diesem Sinn und dem so weit rückbezüglich vorgreifenden Programm auch Hubert Winkels, wenn er sagt: "Riß zu sein im verkabelten Gehäuse der Welt, Bildstörung und Tonausfall - die taube Nuß im großen Einvernehmen, der blinde Fleck im großen Weltsichprogramm. Am Anfang also Sabotage."

 

Widerstand also. Der Hauptheld aber kann dabei nur ver-rückt sein - um alle Tabus zu brechen, die klammheimlich den Grund dieser Schönen Neuen Welt in den Köpfen und im Weltsichtprogramm ausmachen. Beton und Glas.

 

8. April 1993. Ich lese in Noicas "Introducere la Kant prin interpretarea lui Heidegger" (Einführung in Kant durch die Deutung Heideggers), Humanitas, Bukarest 1992. Noica wußte noch nichts von der "Transkommunikation"; die eine große Hoffnung ist: die eigentliche "große Utopie", Ou tòpia = ORTLOSIGKEIT. Und ich stürze mich auf diese neue rätselhafte Sinn-Vermittlung und das Quälendste, was es gibt: das Ungewisse, diese innere Spaltung beim Denken an den Tod; diese Verbindung mit dem "Nirgendwo" auf elektroakustischem Weg (in die Lichtgeschwindigkeits-Ebene) sind eine neue (und exaktere) Hoffnung - unsere; in diese Grenz-Sphäre hineinreichenden Geräte ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld," nämlich mit den Toten; es klingt, wie Science-Fiction: die Toten bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Es wäre die erste wirkliche Umkehr und Re-Volution der Menschheitsgeschichte: die Befangenheit im Kerker der eingeschränkten Lebenszeit, die Hetze und Raffen bedingt, fast alle Übel unserer Zeit wären so aufgehoben. - Das Buch, das die bisher gemachten Erfahrungen, seit etwa 1959, sammelt und mit sehr viel Sachkenntnis kommentiert, ist vom Mainzer Physikprofessor Ernst Senkowski geschrieben worden und heißt "Instrumentelle Transkommunikation" (1996.) Nach Noicas Kant-Kommentar ist Technik eine Art der "Entbergung" des Realen. Wir sehen ja nicht wie die Engel die Dinge und Gesetze und Regeln direkt und unverstellt, denn dann wäre keine Wissenschaft nötig. Diese Beschränkungen und seine Instrumente müssen untersucht werden, um besser und entsprechender denken zu lernen.

Ich lese weiter im Buch von Ernst Senkowski, der die "Instrumentelle Transkommunikation" und auch ihre Begrenzungen beschreibt; dieser Aspekt des "Nichtaussagbaren" ist mir an diesem Phänomen am liebsten, und es trifft sich mit dem, was Literatur im sich selbst aufhebenden Vorgang TUN möchte, sprachliche Selbstentlarvung seiner Täuschungsbedingungen, damit die Dinge aus dem Vorgetäuschten, nämlich aus dem Namen fallen. Grund des Schreibens: zurück zur autistischen Kondition des Schreckens, daß jeder Moment neu ist, nichts erkannt wurde, jeden Augenblick das Schlimmste aber auch Schönste passieren kann. ("Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich der Himmel ist DA", Bergpredigt.)

Ich höre mir wieder einmal die von mir seit 79 (seit dem Tod meines Vaters) mit Tonband und Mikrofon empfangenen Stimmen an. ( Ja, einfach das Gerät eingestellt und gewartet!) Vielleicht habe ich seither einen "Jenseitspartner", weil ich emotional mitgegangen bin; mein Gefühl, meine Liebe wurden auf eine andere Ebene gehoben, sie haben seither eine Verbindung in jene andere Sphäre, die früher einmal "Himmel" hieß.

 

 

"Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten Richtung innerhalb der Nähe nähern, es ist schon `da`- und doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem den Atem verschlägt - und doch nirgends." "Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen... Das In-sein kommt in den existenzialen Modus des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der Ùnheimlichkeit`".`Martin Heidegger, Sein und Zeit. S. 187,189.

 

4.1. 92. Gestern Gespräch mit Bianca Döring, einer jungen Autorin auf der Solitude. Wir sitzen in der Cafeteria, sprechen über unsere Arbeit, da beginne ich zu erzählen, und sie hört immer gespannter zu, was mich auch steigert, und ich lege los: - Wenn ich versuche, Stimmen zu empfangen, dann spüre ich ihre Anwesenheit. Auch Klopfgeräusche sind zu hören. Eine Ecke ist da in meinem Zimmer, wo es so hoch hergeht, da Unsichtbare dort warten, ganz nah am Fenster zum Wald. Gesichter, könnte ich meinen zu sehen. Und wenn es Nacht wird, reichen sie herein, und rühren mich an. Ich stehe auf, drehe die Deckenlampe an, und dann erst knipse ich die Schreibtischlampe aus, fröstele, gehe mit dem Rücken der Tür zugewandt, rückwärts also, Schritt für Schritt, immer den Blick in ihre Richtung gewandt, um mir mit dem Blick, den ich in ihre Richtung werfe, Distanz schaffend, diesen Schrecken vom Leibe zu halten; leichtes Zittern; schnell, so schnell es geht, verlasse ich das Zimmer. Nur im Traum und Schlaf bin ich ganz bei ihnen, einer der ihrigen, und es gibt keine Trennung vom Schrecken des Todes, das weiß ich, und fliege. Hochgefahren aus dem Traum, so wieder ungeborgen hier: ist das Zimmer wieder voller Anwesenheiten, und ich verstecke mich unter die Decke, wie früher als Kind, auch nicht das winzigste Stück des Körpers, kein Fetzchen Haut draußen sein darf, aus Angst, sie könnten mich berühren.

 

2.3 Aus meinem Essay: "Transkommunikation" (Zeitschrift für Grenzgebiete der Psychologie"): "... "Instrumentelle Transkommunikation", bei der das "beobachterscheue" Psi "tatsächlich" durch (elektronische) Geräte mit den bisher spektakulärsten (weil angeblich auf Tonband, Videoband, Computerausdrucken gesicherten) "Fakten" aufwartet, ist sozusagen eine Anomalie der Anomalien. Die "Transkommunikation" (TK) versuche, so Ernst Senkowski in seinem neuen Buch: "Zunächst nicht näher definierte Seins- und Bewußtseinsbereiche", zu denen der Zugang im Normalbewußtsein durch eine Art (historisches) "Reduzierventil" gesperrt ist, medial mit elektronischen Geräten zu erreichen; es ist ein neuer Umgang mit dem alten legendären "Jenseits".

Der Autor gibt in seinem Buch zu, daß die Öffnung des "Reduzierventils" riskant sei, es zur "mediumistischen Psychose" führen könne; und er nennt Beispiele, nimmt sich selbst nicht aus.

Weiter wage ich zu behaupten, TK (Transkommunikation) könnte wegen seiner instrumentellen Bindung an den harten Kern des heutigen Wissens (Elektronik, Grenze zur Lichtgeschwindigkeit) als Katalysatoreffekt beim fälligen Paradigmenwechsel (Überschreitung der heute geltenden Naturkonstanten) eine Rolle spielen. Freilich, Operationen und Messungen sind noch weit mehr als die alltägliche Erfahrung paradigmabedingt, sie sind "kunstvolle Konstruktionen, zu denen die Erfahrung nur mittelbar Zugang hat." Theorie ist ja auch entscheidend bei der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Psi, wie Ulrich Timm mit Recht annimmt, als wäre ein Phänomen, das das erwähnte "Reduzierventil" nicht passiert, inexistent.

So werden Skeptiker die die rätselhaften Stimmen in ihrer Faktizität vielleicht als "unerklärlich" oder auch als "anekdotisch" akzeptieren, nicht aber wenn sie folgende Deutung zur Kenntnis nehmen und "glauben" sollen: daß seit Beginn der Elekromagnetischen Telekommunikation "Signale unbekannter Herkunft mit sinnvollen Inhalten beobachtet worden sind", die die "Bemühungen verstorbener Menschen erkennen lassen, uns auf technischem Wege zu erreichen." Daß damit also "die Frage nach dem Fortleben aus dem Bereich des `Glaubens` in den des gesicherten `wissenschaftlichen` Erkenntnis verlagern", daß dies zusätzlich durch Tonband "´Objektiviert´" und "dokumentiert" sei. (Senkowski, 1995, S.184): Und daß seit einigen Jahren "unabhängig voneinander in mehreren Ländern und über alle akustischen Telekommunikationskanäle überzeugende, teilweise dialogfähige `direkte elektroakustische` Stimmen (EAS) empfangen worden" sind. Dazu dann noch "Einzelbilder und kurze Bildsequenzen im Fernsehen und viele hundert bis zu mehreren Seiten lange Texte über telekommunikativ nicht vernetzt Computersysteme."

 

2.4. Aus: "Sprache, Heimat, Fremde." Vortrag im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, April 1995

Daher ist Schreiben nicht in alter Gemütlichkeit möglich, auch der Kiergegaardsche "Kummer" oder Aitmatows "epische Wehmut" etc. oder Bodo Strauß` "Einstweh", Strauß sagt es selbst, ihr ist der "geschichtliche Grund" entzogen ( Beginnlosigkeit, S. 27), die Kunstwelt ist zur Natur geworden, sie beschert erst den eigentlichen "rasenden Stillstand" oder "steady state".Doch ist das nicht leeres Gemecker und wir gehen tatsächlich einer großen Utopie entgegen, wo alle Menschheitsträume erfüllt sind, die bedrückende Körperexistenz abgeschafft ist, wir uns endlich ablegen können, Ichlosigkeit herrschen wird, wie es die alten Weisheiten verlangten? Das Doppelwesen Mensch zwischen Engel und Körpertier nun endlich himmelt? Nichts als das reine Paradies?

Ja, ein Paradies mit der "Zurüstung" unseres Körpers, das Eindringen der Elektronik ins Hirn, in das Herz. Wie wunderbar, es wird bald möglich sein mit dem "Datenhandschuh" auf Entfernung etwa eine Frau in Australien zu streicheln, so wie wir jetzt telefonieren.

 

Zu bedenken aber wäre auch im Widerstand dies: Paradoxerweise aber erst nachdem man ihr entwachsen, der Schein zerschlagen ist, erst gereinigt, nämlich Heimat als das Verlorene. Das Unmögliche also, denn die Nähe ist nicht mehr herzustellen, dabei braucht der Biotop Mensch die Nähe, Nahrung für die Sinne, der heutige Rhytmus macht ihn krank, das Abstrakte. Bei Dante noch war die Nicht-Heimkehr zum Elternhaus, zu Frau und Kindern, die über den unmittelbaren Erfahrungshorizont hinausgehende Flucht in die Fremde, Schuld! Odysseus wagte es die Grenze der Welt bei den Säulen des Herakles, Gibraltar, mit Hilfe von Navigationstechnik zu überfahren. Dort aber fuhr er zur Hölle! Es ist tatsächlich das, was der Prozeß der Zivilisation brachte.

 

Gestern Abend sah ich einen Science Fiction-Film, der Film nun wie ein diagnostisches Stimmungsbild, das bald Realität sein wird, unausweichlich. Eine Familie, dann ein junges Liebespaar war da zu sehen, sie waren in unterirdischen Wohnungen eingeschlossen, konnten sich nur auf Entfernung mit "Datenhandschuhen" und in "Datenkleidern" auf Distanz berühren, nie körperlich, und sahen sich nur auf einem riesigen Bildschirm , der eine ganze Zimmerwandseite einnahm, auf der auch Nachrichten kamen, Schaupiel, Filme, Musik usw. Praktisch gab es nur diese Fernsehhalluzination und Berührungen via Computer.

Bald werden wir nicht nur in unserem Körper, sondern in der Welt selbst eingesperrt sein. Denn mit der Möglichkeit einer absoluten Geschwindigkeit durch Telekommunikation (300 000km/s), ist ja keine AußenReise mehr nötig, um überall weltweit dabei zu sein, es ist ein Angekommensein, ohne abzufahren, alles vor dem Monitor. Dieses ist das Ende von Raum und Zeit, ja des Körpers. Das Individuum wird zum "Hyper-Zentrum", einer Art selbstreferenzieller Weltegomanie.

Das häusliche und berufliche "Cockpit", die "Luxuszelle", der telebewußte Solipsismus des Invaliden und Krüppels eines "modernen Menschen". Wäre nicht hier die eigentliche, enorme innere Grenze? Die wichtigste. Und wäre nicht hier die Aufgabe der Literatur, der Kunst, falls es überhaupt noch eine geben sollte, falls sie nicht mit ihren bisherigen verlorenen Lebensbedingungen auch kein Lebensrecht mehr besitzt? Anzugehen wider die furchtbare radikale Utopie, die Wirklichkeit zu werden droht?

In dieser entstehenden Zivilisation des absoluten Scheins und Scheinens, der wir uns erst so richtig telekommunikativ und multimedial einer totalitären Marktwirtschaft via Pflichtunterhaltung in der Telekratie, Teletopie, Telecittà zubewegen, um diese Antiquiertheit des Denkens, der Begriffe, der Namen.

Der Zufall, das Unerklärliche als Bote aus dem Nichtgewußten, ist die eigentliche Realitätsgrundlage. Und zugleich das schöpferische Element im Leben. Im absoluten Raum des Gesetzes aber wirkt die Lebensverhinderung, das Totalitäre.

 

 

AUS: DOSSIER Zum Roman "DER VERWESER").

 

Arbeitsheft.

 

2..5. Déjà-vu- und okkulte Erlebnisse.

 

Der Erzähler in diesem Buch agiert schon in dem vorhin erwähnten Raum des Zeitstillstandes; er ist zugleich der Held der Erzählung. Er lebt in einer noch existierenden natürlichen Umgebung, die freilich am Verschwinden ist, und er wird hier am Anfang des Buches von einer Schlange gebissen, erlebt im Koma einen Zustand zwischen Leben und Tod; er hat so gewissermaßen zum zweitenmal vom Baum der Erkenntnis gegessen. Der Tod als Tor, das Aufblitzen im Augenblick der Öffnung.

Die Organisation des Romans braucht einen Standort jenseits der Zeit, muß aus dem Zeitfluß herausgehoben werden. Erzählen ist erst möglich, wenn ein Ereignis, ein Leben oder eine Kultur abgeschlossen sind. Dieses ist hier der Fall. Hegels Eule der Minerva.

 

Der Tod als Tor, das Aufblitzen im Augenblick der Öffnung. Der Augenschein aber ist das Gewesene, Vergangene. Der "Verweser", namens Roman., bringt die Illusion der "festen Welt" mit Hilfe der Sprache, der Fiktion, des geöffneten Gedächtnissses zum Verwesen, hebt die Illusion der Zeit auf. Es geht also um einen ontologischen, den einzigen effektiv möglichen WIDERSTAND, den des einzelnen Subjekts angesichts des "Objektiven".

 

 

*

Ich habe einige merkwürdige Erfahrungen in Italien gemacht, die zum "störenden" äußerst irritierenden Rohstoff dieses Buches wurden:

 

Als erstes ein Déja-vu-Erlebnis: bevor ich die Stadt Lucca, in deren Nähe ich lebe, kennenlernte, hatte ich einen Traum: ich ritt eine Straße entlang, trat dann in ein Haus ein, ging eine Treppe hoch. Am Ende der Straße war ein großer Park. Bei meinem ersten Besuch der Stadt erkannte ich Haus und Straße wieder, aber ohne den Park. Auf einem Stadtplan des 16. Jhdts. fand ich die Straße: es gab damals auch den Park. In dieser Straße, so erfuhr ich später, hatte damals ein Mann namens Nicolao Granucci gelebt.

 

Zweitens: Einige andere erschreckende Dèja-vu- Erlebnisse, die mit Schwindel und Übelkeit einhergingen, und wo, ausgelöst oft durch ganz fremde Gesichter, aus dem Unbewußten Bildfetzen hochstiegen, aber auch ausgelöst wurden von manchen Häusern oder auch Bäumen und alten Gegenständen, machten mich mit erregenden und schaurigen alptraumhaften Szenerien bekannt. Ein klobiger Turm in Viareggio zum Beispiel, an dem ich fast täglich vorbeifahre, gehört zu solchen unheimlichen Gegenden.

 

Drittens: In der Biblioteca Governativa der Stadt fand ich die hochdramatische Biographie und die Schriften eines vergessenen Autors des 16.Jahrhunderts, geb. 1521 in Luca, er hieß Nicolao Granucci; in der gleichen Bibliothek fand ich auch die Biographie einer interessanten und schönen Frau, Mörderin und Poetin, Lucrezia Malpigli/Buonvisi, Granuccis Geliebte, diese hatte wegen Nicolao ihren Ehemann ermorden lassen, und mußte ihr Leben eingesperrt in einem Clarissenkloster in Lucca verbringen. Weil sie als Anstifterin von KlosterOrgien ertappt worden war, wurde sie sieben Jahre in einer Zelle eingemauert, wo sie Zeit hatte, ihre Biographie zu schreiben. Aber sie bekam wenigstens Licht dazu. Nicolao Granucci, der ebenfalls verurteilt wurde, konnte fliehen, kam durch ganz Europa, gejagt von jenen, die ihm nach dem Leben trachteten, denn ein hohes Kopfgeld war ausgesetzt worden. Nach zwanzig Jahren kam er aus seiner letzten Exilstation Transsylvanien mit einem geheimnisvollen Buch wieder nach Lucca zurück, Heimweh trieb ihn oder Sehnsucht des Alters, zu Hause zu sterben. Jenes lateinische Buch war ein Zauberbuch, der Besitzer hatte alle Macht der Welt: Macht über die Natur, über Staaten und über Frauen. Das war der Signoria in Lucca äußerst gefährlich. Das alte Delikt wurde nebensächlich, Granucci wurde wegen Hochverrat angeklagt, gefoltert und zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslänglichem Kerker begnadigt . Er wurde in Viareggio in der klobigen Torre Matilda eingemauert, wo er vierzehn Jahre buchstäblich im Finstern lebendig begraben zwischen Leben und Tod dahinvegetierte.

 

Viertens: Erfahrungen von Freunden und Bekannten und eigne Erlebnisse, dazu die Beschäftigung mit Thanatologie und Psychiatrie und Erlebnissen unter solchen Umständen der Sinnesdeprivation und des klinischen Todes, während der die Grenzen von Raum, Zeit und auch des Körpers in sogenannten "Astralreisen" überschritten werden, brachte mich auf den Gedanken, mir vorzustellen, was Granucci in jenen vierzehn Jahren erlebt haben dürfte, Erlebnisse, von denen niemand etwas wissen kann, ein ungeheueres Feld für eine "nachbauende" realistische Fiktion.

All dieses ist Rohstoff für meinen Roman.

 

Dazu kommt Fünftens: mein eignes Leben in der Fremde, und der totale Verlust jener Umgebung im Osten, die meine Erinnerungen geprägt hat. Der Wahrnehmungsverlust und der Verlust der Biographie. Weiter der gescheiterte Versuch in einer Liebesgeschichte diese Realitätslosigkeit zu durchbrechen; eine schmerzhafte Dreicksgeschichte oder besser Vierer-Geschichte kommt hinzu, elementare Erlebnisse, die jenes alptraumhafte Hochsteigen von Traumfetzen bis an die Grenze des Unerträglichen und des Schmerzes steigerte.

 

Schreiben war ein Versuch, durch Kristallisationen daraus ein therapeutisches Spiel zu machen, orientierend eine Katharis auszulösen, einen Boden der Deutung und der Vernunft im Chaos.

Wichtig zur Heilung in erlösender Fiktion ist das Erzählen.

Die zwei Paralellgeschichten entstanden so spontan, weil Erzählen eigentlich nur in jener "alten" Zeit möglich ist, da es dort noch festgefügte sinnliche Wirklichkeit und buntes Leben gab. Ein Spiegel für heutige Schicksale also. Und ein Kontrast.

 

 

3. Grenzüberschreitungen.

 

Es ist vielleicht der erste Roman, den die "Toten" mit-erzählen, ja, der Erzähler ist ein Zukünftiger aus dem Jahr 2109. Die Gegenwart: 1998. Und die dritte Ebene: das 16. Jahrhundert, Leben und Leiden des Arztes, Magiers und Autors Nicolao Granucci aus Lucca. Zum Treffen der Zeitpunkte trägt bei, daß Granucci 14 Jahre in einem Turm eingemauert, die Gegenwart der Hauptfigur (1998) halluziniert, ja, als Überlebenstaktik einsetzt: eine Art science-fiction, die sich nur in seinem Kopf abspielt, an die Gedächtniswand projiziert ist, jedoch so "wirklich" wird! Um die Schwierigkeiten ins "Reale" zu übersetzen, das das Zeitproblem im Roman heute dem Erzähler stellen würde, ist nun hier der Erzähler im Zeit-Entzug angekommen, nämlich im totalen Nachher: mit dem Wissen des "zu Gast- gewesen- Sein- Werdens", in dem wir heute leben, wissend, daß unser Zeitbewußtsein angelernt und Projektion ist. Erzählen aus jener andern "Zeit-Ebene", wo Zeit aufgelöst ist, aber auch in unserer Sprache nur in Interlinearversion oder metaphorisch mitgeteilt werden kann, da weder die Subjekte noch die Sprache Lebens-Erfahrung damit haben können, ist nur möglich mit der Todes-Erfahrung. Das hier-geblieben Bewußtsein der Personen aber erlebt es in seinen Abgründen sublim, intuitiv, als Traum-Ebene - in jenem Grenzraum, der durchgehend Lebende und Tote, die nie getrennt sind oder waren im "Unbewußten" vereint, so daß auch die Beziehung Personen-Erzähler überhaupt möglich wird!.

Dabei wird versucht, jene Scheinhaftigkeit der "wirklichen" Existenz kenntlich zu machen durch "Verschieben" in die eigene Zukunft, jenen ORT, wo der Erzähler schon IST, den Bezugspunkt also zur wirklichen Zeit, die ihre Schatten in jeden Augenblick werfende erfüllte Zukunft, dahin also zu kommen im ver-endeten Schein diesseitiger Existenz. Diese Existenz ist ja die Projektion aus Angst (Freud), um das Un-Heimliche , jenen Abgrund des Heimischen (des Gemeinsamen von Lebenden und Toten hier: Selbstbezug des Ich) zu verdrängen. Aus dieser festgewordenen Ver-Sicherung als "Wirklichkeit", die ja die täuschende Zeitlichkeit erzeugt, ist der Erzähler ja längst erwacht. Die Lebenden aber erscheinen nun selbst als scheinhafte Identitäten. Zeitlichkeit stört im "Leben" den reinen innern Selbstbezug des Ich dieser Personen, und vor allem Templin reagiert darauf mit Wut - und mit Schreiben - um den ungestörten Schwingungszustand (via Täuschungszustand Literatur) aufrechtzuerhalten, also eigentlich den "Toten" in sich zu simulieren. Der Erzähler reagiert mit gutmütigem Spott und Sarkasmus, aber auch freundschaftlich und mitleidend; überhaupt kann er ja dieser Erzähler irdischer Verhältnisse nur sein aus dem leidvollen Wissen darum; und es könnte sein, daß das ganze Erzählen nur eine Art Jenseits-Therapie ist, die "Tagesreste" jenes Albtraums "Leben" zu tilgen, sich zu reinigen, um sich weiter entwickeln zu können, diese Schwere und Abschiedsunfähigkeit zu beseitigen. Es ist also ein " Entwicklungsroman" auf danteske Weise in mehreren Sphären und Hierarchien, wenn auch nicht so überzeugt und festgebaut wie damals, denn das NICHT-WISSEN wird umkreist und gilt als wichtigster Bezugs-Punkt und Reinigungsakt, nicht das Wissen.

Jedes "Wissen" der Personen erscheint als Anmaßung und Hemmung im Reifungsprozeß.

Wichtig aber ist auch die Deutung des Phantomcharakters der lebenden Personen vom Standpunkt dieser Erzähltheorie, die eine poetologische Synthese in der Auflösung versuchen will: Die doppelte Brechung - Erzähler, auf einer Ebene mit einem höheren Komplexitätsgrad - und seine Personen mit ihrem empirischen Bewußtsein. Der innere Selbstbezug des Ich, der durch Zeitlichkeit durchbrochen wird in der Äußerlichkeit der eigenen Projektion, die die Personen sich selbst zur Erscheinung werden läßt, zu nur noch scheinhaften Identitäten, also eigentlich zu "Geistern", Phantomen, gilt hier nun nicht mehr auch für das "transzendentale Subjket narrativer Synthesis", also für den Erzähler, wie das im Postmodern- Erhabenen definiert worden ist. Denn der ist nun wieder in der Lage, die "Mannigfaltigkeit der sukzessiven Zustände durch Synthese narrativer Apperzeption zu einer Einheit zusammenzufassen" - mit jenem Andern Blick, der nun erlebt, daß Zeit-Einteilung mit zur Projektion gehören. Er erlebt den befreiten innern Sinn Kants (aus der Kritik der reinen Vernunft) als Lebensprozeß, das von der Einbildungskraft oder dem reinen Selbstbezug des Ich vorausentworfene "Zugleichsein" , das insoweit vielleicht ein "Regressus" (Kant) ist, als es dieses Bewußtsein der Einheit tatsächlich ( bis zu Dantes Zeit) einmal gegeben hat, aber auch im "zeitlosen" Unbewußten bei allen Lebenden auch heute noch vorhanden ist.

DS/ Juli 94

 

3. 1 Tagebuchreflexionen im Laufe der Nieder Schrift 1989-96

 

Die Hauptfigur T., jene, die ihr Leben selbst erzählt, weiß nicht, ob sie tot ist oder lebt. Sieht alles mit dem andern Blick, wie ein Wiedergänger, keiner sieht ihn, jene furchtbare Erfahrung aus der Kindheit, taucht wieder auf, die Angst nicht mehr gesehen zu werden. Möglicherweise halluziniert T. alles im Koma, doch dieses soll wie im Traum, wie im Leben in der Schwebe bleiben, niemand kann entscheiden, was "wirklich" ist. Jene Erfahrung, von der Thanatologie als gesichert angenommen, daß eine Panoramaschau, eine Art Gericht über das eigne Leben im Todesprozess einsetzt, wird mit Materialien aus dem eignen Erleben und dem von Freunden, in eine dynamische Handlung umgesetzt. Mit dem Tod erkauft sich der Erzähler also erst seine Existenz. Dabei ist ja schon das Lebensopfer beim Schreiben so ein kleiner Tod. Träger der Absenz des Lebens ist das Zeichen. Der Ernst der Situation macht ihn glaubwürdig.

 

Eine Übersetzung unserer eignen Absenz im historisch so Späten, das Gefühl, daß wir Abwesende und Posthume sind, läßt sich so als Existenzgefühl sehr intensiv beschreiben. Ein Prozess, der schon 1950 mit Becketts "Molloy" in der Literatur begann.

Auch wird so das Jenseits der Zeit jedes Textes fruchtbar, Spiegel des Un-Wirklichen, das wir heute ja tatsächlich ertragen müssen, jetzt kann also solch eine Fiktion wirklicher sein als das Leben. Schon Rousseau hat in seinen "Les Confessions" vom hypothetischen Standpunkt des eignen Todes aus erzählt. Und im Hinblick auf das Jüngste Gericht.

Im Koma also tritt jene Panoramaschau ein, wo das ganze Leben noch einmal wie ein Gerichtstag im Sterbeprozess vorbeizieht; und das alles in einer zeitlosen Geschwindigkeit, so daß eine Sekunde wie tausend Jahre sind.

Interessant dabei ist, daß das anscheinend so Absurde dieses Zeitparadoxes nun auch fruchtbar wird: wie kann nämlich ein abgeschlossenes Leben, das in einer Panoramaschau zum Urteil und Gerichtstag über sich selbst ansteht, noch erzählt, also eine Zeitperspektive mit überraschenden Momenten haben. Dieses geschieht nun mittels jenes Roman, der sein vergangenes Leben neu erlebt, erlebt, wie es intensiver wird in der In-Eins-Bildung durch den Todeszustand und das Gericht. Jedes JETZT erhält dabei eine unendliche Perspektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist ja nicht so, daß Roman nun nichts mehr erlebt, er erlebt nur ganz anders. Ähnlich wie beim Tagebuchschreiben, das ja die Ereignisse eines Tages erst bewußt macht, sie an den Sinn bindet, der ungeschrieben verloren ginge, schreibend aber gerettet wird. Die erzählte Hintergrundzeit wird so zur Zukunft der Vergangenheit im Prozess. Das ist kompliziert auch als Verb-Lösung. Die In-Eins-Bildung aber besorgt das riesige Gedächtnis der Sprache mit ihren apperzeptiven Formen.

 

Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die Unsterblichkeit der Personalpronomina der Sprache, die das Be-wußtsein tragen, sich weiter erinnern zu lassen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen Bewußtseins- Horizontes es eigentlich erlauben. Dieser Horizont ist freilich, wie wir gesehen haben, an seine Grenze gekommen, die übersprungen werden muß, um jene Partitur, die heute schon vor uns liegt, richtig zu spielen. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossen, scheinbar abgeschlossene Vergangenheit eingeführt, mit dem bitteren Fazit und Urteil: daß wir uns selbst das Leben geraubt, weil wir es uns haben rauben lassen.

 

Einzig jene Momente des Traumes, oder das andauernde Bewußtsein auch im Alltag, da und zugleich nicht da zu sein, abwesend, und doch da, sind real: wie im Zeitstillstand bei Todeserlebnissen, in der Revolution, und jetzt die letzte Chance beim eignen Sterben, die auch dieses Erzählen ermöglicht, die tiefste Erfahrung, erst am Anfang zu sein, also auch in der eignen Vergangenheit das prickelnd Offne zu finden, und nicht nur in dem was kommen wird. Geahnt hat Roman es mit Glücksgefühlen: daß es die Trennwände zwischen den Zeiten nicht gibt, daß der Tod also ein neuer Anfang sein muß.

 

Das Grundgefühl im Alter dieser Welt läßt sich so beschreiben: daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen, auch ich; doch durch welche Zeit des Verbums läßt sich dieses ausdrücken, es trägt nicht mehr, hängt mit dem Vor-Schein zusammen, der trügt, was wir sehen, das äußere Augenbild macht alles so alt und zwiespältig, denn das Andere der "Partitur" ist auch in uns, sehr jung und so, als gäbe es noch sehr viel an Möglichkeiten: Nichts ist vergangen, es lebt durch uns, ein Ich trägt das andere, wir leben die Toten weiter.

Noch da ist nämlich auch alles andere Längstvergangene, jenseits der individuellen Lebenszeit und des Augenbildes. Der Trick ist das Déja-vu und das Unbewußte, wo mehr an Erfahrung gespeichert ist, auch via Sprache, als wir wissen können.

 

Zukunft, Präsenz, Erinnerung, Déja-vu fließen zu einem Zeitmagma zusammen, verschachteln sich zum Panorama der unheimlichen Geschichte. Denn oft wird es auch nicht deutlich, ob erinnert wird, Roman den andern, der ja eigentlich längst tot ist, durch dies Ich aber lebt, erinnert, oder ob Granucci, der "Todesdoktor", der die Fähigkeit hatte, an gewissen Zeichen zu erkennen und vorherzusagen, wann sein Patient sterben wird, nun voraus- und hellsehend, die Handlung, die wir lesen, aus seinem Bewußtsein entläßt und nach außen in den andern, heute Lebenden projiziert. Die heute lebende Hauptfigur erkennt dieses, auch den Schrecken Granuccis, T. vermag dieses ja, denn er liegt im Sterben, und begreift sofort die Ursache dieses Schreckens, denn mit ihm würde auch der andere endgültig sein Bewußtsein verlieren, nicht mehr existieren. Das Absurde wird in dieser Zeitüberschreitung wirklich fassbar, es ist wie in der Patientenkunst, wie im "Patientensystem" und seiner strengen Logik, die unsere aufhebt.

 

Diese Vorausschau, zu der die Leute früher anscheinend noch fähig waren, vor allem auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, und Granucci befindet sich spiegelgleich mit T., ebenfalls in diesem Zustand, gelingt eben auch kraft der Sprache, die ja ihre Zukunftsformen hat, und die wir erzähend einsetzen können. Sie macht ja Granucci überhaupt erst möglich, was aber nicht heißt, daß es ihn nicht gibt. Nur wird es nötig sein, die Vorherrschaft der Substantive und Hauptsätze einzudämmen, die Korrelate der "Substanzen", um den Zeitstrom , der seinerseits diverse Subjekte trägt, zu ermöglichen (ähnlich wie in der Quantenfeldtheorie, in ihren großen und kleinen kosmischen Informationsfeldern mit den "lokalen Erregungen") und Zeit-Worte wechseln so leicht von einem träumenden Granucci zu einem gerade erwachenden Roman.

 

Und ich vermute, daß dieser Zustand, wo die Figur nicht weiß, ob sie lebt oder tot ist, generell als wichtigster ästhetischer Ort heute, angesehen werden muß, als Apriori jeder Erzählung. Das "EINE", von dem ich vorhin sprach, wird nämlich so sehr konkret sichtbar, was nicht schilderbar war, nur intuitiv erfassbar ist, erhält so Gestalt. Bei Paul Ricoeur etwa ist die Leistung der Erzählung die In-Eins- Bildung der momenthaft erlebten Zeithäppchen, "narrative Konzentration der zeitlichen Zerstreuung empirischen Bewußtseins," ähnlich war es schon in Augustins "distentio animi", das bloße Leben ist "Zerspaltung", Qual; Berührung des Zusammenhangs aber im "Bedeutungserlebnis" ist Glück. Dieses Glück, das so als "Panoramaschau" nur auf dieser Todes- Schwelle erlebt werden kann, wird von T. als Glück sehr oft und nur da: wenn er in diese Berührungszone gerät, empfunden.

 

Es ist eine Arbeit am "größten Zusammenhang", am Einen also, die In-Eins-Bindung im schöpferischen Prozess der Spaltungen, Zersplitterungen des Lebens, die als Textgewebe das kosmische Informationsgewebe zu reproduzieren suchen. Zur Methode des Schreibens gehört, das Aufschreiben solcher intensiv erlebter Sequenzen, Szenen, Momentaufnahmen, die wie Röntgenblder einen Augen-Blick mit "schwachem" oder "starkem" Sinn durchdringen. Erst im Zusammensetzen solcher Sequenzen allerdings ergibt sich ein Muster, eine Annäherung an den großen Zusammenhang. Wahr bleiben nur solche Sekundenbilder, zusammengesetzt wie Fotos im Labor, vergrößert, verkleinert, Momentaufnahmen, Ausschnitte, Vorder- und Hintergründe herauspräpariert und vertauscht in Großaufnahmen. Und dann werden sie auch noch hie und da retouchiert, als wären sie nur Schablonen.

 

Aber: was sind diese Momentaufnahmen, was ist das JETZT der Augen-Blick? Darum geht es. Dieses Jetzt der Lebensmomente, nun ins Unendliche verlängert, ist unheimlich, aus dem Namen gefallen, aber im unausdrückbaren EINEN, im Informationsnetz der Beziehungen aufgehoben.

 

Doch nicht nur das Ich löst sich dabei auf, und Aufgabe wird wie im Strom der Meditation, dem indischen oder tibetischen Dharma, der christlichen Meditation Genuß, sondern die starre Ästhetik und das frustrierende Gesellschaftsdenken, das, was kanonisiert ist, Beute der Sieger, löst sich ebenfalls in Wohlgefallen auf, entfernt sich, wie die Zeit stehenbliebt, so soll auch der Verstand, sollen die Sinne stehenbleiben im Unheimlichen, und sei es in furchtbaren Momenten der Folterszenen oder der Finsternis der totalen Isolierung im Turm. Oder auch heute: im Metasprachlichen, Worthöfen, dem Zerbrechen der Sprachlogik.

 

Was Roman dabei beschäftigt, ist aber auch: wie komme ich nun ins Freie, ohne das andere Gedächtnis, das in der Sprache gesammelte aufzugeben? Auch hier gibt es einen Trick: die Parataxe ( schon Adorno und Benjamin haben sie am Beispiel Hölderlins untersucht; noch schöner ist Steigers Untersuchung der kleistischen Hypotaxe!) - Auflösung der Geschichte in Geschichten, Erzählung in Erzählungen, um zum kleinsten Nenner, dem undurchschaubaren Moment JETZT zu kommen. Querschnitt also dessen, was Struktur der Welt ist? Widerstandshandlung der Verlierer, um zum Tun, was geschieht zu gelangen? Hierarchische Ordnungen, Gewissheiten aufzulösen? Wie das parataktische Schreiben, wie die Nebensätze, die das Haupt und die Regierung der Seite durcheinanderbringen, Randphänomene, die zur Berührung kommen, zur Grenze. Randzonen und Nebensätze, Nebenhandlungen, die gegen die Totalitäre Seele der Figuren und der okzidentalen Sprachlogik arbeiten.

 

Es hat auch zu Granuccis Zeiten eine nachrevolutionäre Stimmung gegeben, genau wie heute; unlängst hat ein französisher Forscher verblüffende Ähnlichkeiten von 1491/2 und 1991 bis ins Detail festgestellt. Gegenreformation damals und heute die "neue US-Ordnung", die diese Todesschicksale hervorbringen.

 

Erst zwischen Leben und Tod, merkt Roman den Betrug, versucht sich gegen das totale Verschwinden: den Umgebungsverlust zu wehren. Er existiert dann freilich nur in seinem eigenen Tagtraum, dem Buch, nur noch mit erfundener Umgebung, erfundenen Personen etc., die aber wirklicher sind, als die Umgebung, die noch da ist, aber längst vergangen. Traum im Traum, denn zu seiner Geschichte gehört ja, daß er total allein ist nach einer doppelten heftigen Eifersuchts- und Liebesgeschichte, letzter Versuch zur Realität zu kommen.

 

T. ist einer der stellvertretend die Stellung hält, radikal in jenem Sinn, aber auch die Sprache, und mit ihr "das Sichtbare" verwesen, vernichten läßt als Illusion, das Banale als Machtmittel der unsichtbaren Fesselung durch das vergiftende Herrschaftssystem des Geldes und des vulgären Materialismus, die den Lauf der Geschichte stoppen.

Es ist zweimal radikaler WIDERSTAND. Heute ist dieser Widerstand passiv, jene Traurigkeit, von der Benjamin sprach, aufzuheben. In Zeiten, wo die Dinge noch klar waren, noch "Wirklichkeit" existierte, endete der Autor eingemauert im wirklichen Turm. Heute aber ist der Widerstand ontologisch, denn die stärkste Macht ist der menschenvernichtende Irrglaube, daß das Sichtbare "alles", der Tod ein endgültiges "materielles" Aus sei. Und das stärkste Tabu, von der Psychiatrie bewacht, der Einsatz für das neue fällige Paradigma, wo die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist, die raumzeitliche materielle Welt sich als Illusion erweist, wird in diesem Buch probehandelnd vorgeführt; die Strafe aber ist der Lebensverlust, das Eingesperrtsein in der selbstrefernziellen Phantasie des Buches, die freilich jene Gemeinschaftshalluzination, in der alle gefangen sind, spiegelt, und gleichzeitig schon ein wenig ins Freie überschreitet.

 

Am meisten hatte mich bei meinem Weltwechsel von Ost nach West schockiert, daß im Westen alles "so ist, wie es ist", ein Baum, nichts als ein Baum, ein Mensch nichts als ein Passant, ein Funktionsträger, eine Trivialität. Was mich immer stark berührt hat: es heißt, Sylvia Plath habe aus diesem Grund Selbstmord begangen. Die Entfremdung ist total, ist ontologisch geworden, so ist auch die Revolution nur als radikale möglich: als ein Durchbrechen durch Zeit und Raum, im Einlösen und Spielen der kommenden Partitur von Überlichtgeschwindigkeiten und mentalen Konzerten.

Der Roman verwendet dazu die in der Sprache gespeicherten Kräfte und apperzeptiven Formen, um jene Zone schon jetzt probehandelnd zu erreichen.

 

AUS BRIEFEN ZUM VERWSER

 

An Siegfried Unseld:

Auch einen Roman habe ich nach acht Jahren jetzt beendet; die Arbeit daran wurde immer wieder durch die epochalen Zeitereignisse unterbrochen; ich habe zwischendurch über 89 und die Folgen zwei Bücher verfaßt; sie sind bei Rowohlt und bei Reclam erschienen. Der neue Roman (ca 400 Manuskriptseiten) setzt die seit 89 gewonnenen radikalen und schmerzlichen Erfahrungen und Erkenntnisse um: Die zwei Hauptfiguren sind Grenzgänger, denn nach Auflösung der politischen Grenzen, sind wir an einer anderen Grenze angekommen.

 

Mein Roman arbeitet mit zwei Figuren, einer, die an den Ursprung unserer Zeit, die Renaissance, zurückgeschickt wird, und einer, die heute und im Bodenlosen, im Exil also lebt, als wäre jede Existenz heute nur eine posthume.

Ich arbeite mit Mitteln der Science-Fiction und der Geistergeschichte, um Zeit, Raum und alte Logik "aufzulösen":

Die Renaissance-Figur, Nicolao Granucci, Luccheser Arzt, Schreiber und Magier, wird, nach einer zeittypischen Mord- und Liebesgeschichte, Inquisition und Folter, zum Tode verurteilt; er entkommt, landet jedoch nach langen Irrfahrten durch Europa, wieder "zu Hause": und wird lebenslang in einem Turm eingemauert.

Um zu überstehen, erfindet er "im Kopf" die heute lebende Figur (Michael Templin, Alter ego des Autors) und als Romanhandlung unsere Gegenwart, die Science-fiction-Welt eines Eingesperrten. Doch unternimmt er auch "Astralreisen" in die jenseitige und in die zukünftige Welt, also ins Jahr 1998. Der heute Lebende wird von diesem "Geist" besucht, führt ein labiles Leben, nahe am Wahnsinn, und meint, sich an den Eingesperrten zu erinnern, schon einmal gelebt zu haben, nämlich im sechzehnten Jahrhundert in Lucca und Florenz.

Reinkarnationsinstrument ist das große, durch die Zeiten hindurchgreifende Gedächtnis der Sprache.

Die Arbeitstitel sind: "Der Verweser. Ein Geisterroman" oder "Der Geisterseher. Ein phantastischer Roman".

 

Es gibt einige Vorabdrucke und Sendungen mit Radio-Gesprächen zu diesem Roman, und viele positive, ja, begeisterte Stimmen, der Tenor ist, daß hier an einer neuen Roman-Poetik gearbeitet wird.

Ich kopiere Ihnen hier eine dieser Stimmen, die eines Germanisten und Kritikers:

"Man liest sich im Verweser sogleich fest, egal, wo man einsteigt. Jede der Erzählebenen erzeugt einen intensiven Sog und hat ihre eigene poetische Sprache. Ich habe, glaube ich, erst jetzt beim Lesen in vollem Umfang begriffen, wie sehr sich Ihr Alter ego als einen Wiedergänger Granuccis empfindet. Die Wiederbegegnung mit dem Haus in der Via del Fosso muß ein unglaublicher Schock gewesen sein, auch ein Erkenntnisschock. Wenn unsere Träume Wirklichkeit werden und die Einsicht unabweislich wird, daß unsere Seele eine ganz andere Biographie hat als unser(e) Körper, ist das mit dem Gefühl eines Sich-Selbst-Unheimlichwerdens verbunden. Ich verstehe jetzt auch besser Ihre Schilderung der Erfahrung, von außen beobachtet zu werden und Ihr Bild vom Körpergefängnis. Was Ihnen begegnet als Roman Templin, ist wirklich faszinierend und in höchstem Maße beunruhigend. Sie führen eine Existenz als Psychonaut, in rückgeborener mystischer Partizipation an einem anamnetischen Prozeß. Ich habe eine Frage zur Perspektive Ihres Begriffs des Posthumen: Wenn Templin eine posthume Existenzform Granuccis ist, kann man nicht mit gleicher Berechtigung sagen, Granucci war eine pränatale Existenzform von Templin?

Das Turmschicksal Granuccis ist von echter Tragik und geht mir nahe. Seine geistigen Ausbrüche als Überlebensform wirken wie Elixiere der Toten, in das verwesende Gefäß eingeschenkte Geschenke der Gefäßlosen. Nahe geht einem beim Lesen auch das Schicksal von Cris. Sein Aufbruch zu den Ursprungsorten der Welt ist ein genialer Gedanke. In der Tat, dort liegen vielleicht die Schleusen in die andere Welt. Dort warten vielleicht die ältesten Zeichen, die die Schöpfung schrieb, auf ihren Entzifferer."

 

Nach Beendigung dieses Romans habe ich schon ein neues Romanprojekt - über John Dee, den Mathematiker, Philosophen und Alchemisten am elisabethanischen und am rudolfinischen Hof (London, Prag), Modell für Shakespeares Prospero. Und über Lovecraft - da beide nach dem rätselhaften Necronomicon gesucht haben, wo es um den Schlüssel zur postmortalen Welt geht. Lovecraft ist der Erzähler. Im Zentrum aber, und das macht den Stoff besonders literarisch reizvoll, geht es um die Erfindung einer Engelssprache, eines "kosmischen Esperantos", die Dee wirklich, samt Grammatik etc. konzipiert hat!

Doch am besten, ich lege Ihnen hier einen kleinen "Dossier" zu meinen Arbeiten bei, dazu eine Diskette mit dem Gedichtband, und wenn Sie es wünschen, auch eine Kopie des Romans; ich kann Ihnen aber auch gern über meinen Frankfurter Literaturagenten die ausgedruckten Fassungen zukommen lassen.

Ihnen alles Gute und schöne Grüße aus Agliano/ Lucca

Dieter Schlesak

März 97

 

 

An: Dr. Vladimir Delavre

 

17./18. Dezember 1996 24 Uhr

Lieber Vladimir Delavre,

also meine Spannung ist groß und die produktive Freude auch: so daß ich mit doppeltem Elan nun weiter in die Strenge gegenüber Roman gehe...

 

.... Leider, und das ist eine Begleiterscheinung meiner produktiven Isolation, ohne die das Schreiben solch eines Buches unmöglich ist, sind in den letzten Jahren meine Beziehungen schwächer geworden, und ich habe zu wenige ausgebaut. Das müßten dann Sie mehr übernehmen! Und eines sollten Sie wissen, mein Romanprojekt ist eng an meine andere "Offensive" gebunden, die ich auf dem transkommunikativen und TBS -Gebiet führen will, da ich es für das Wichtigset halte, was "historisch", um das große Wort gelassen auszusprechen, sieben Jahre nach 1989 und jetzt zu tun gibt; und möglichst konkret zu tun gibt! Und ein literarisches Buch, das viele Leser-Phantasien ergreifen und ansprechen kann, gehört dazu. (Ebenso, wie Ihr Vorhaben mehr in die helfende Therapie und in die Lebensgeschichte zu gehen, Ihren ärztlichen Beruf mehr mit den medialen Fähigkeiten zu kombinieren!) Vor allem: Literatur hat immer noch unendliche "Narrenfreiheit" im Raume der herrschenden Zustände einer "ontologischen Zensur!" (Am liebsten würde ich eine literarische Zeitschrift in diese Richtung machen, interdisziplinär TK und Literatur, die "Stimmen" haben unendlich viel, und bis in den Stil hinein und die Poesie, damit zu tun! Und in der letzten Zeit habe ich gesehen, wie viele Werke der Weltliteratur auf solch eine Kommunikation aufgebaut sind, und immer nur "symbolisch" gesehen werden! Dante: Beatrice, Petrarca: Laura; Goethe. Gretchen; Novalis: Sophie; und Rilkes Werk ist eines der "Jungen Toten", die die Erde von drüben sehen, so verlieren etwa die Duineser Elegien ihren ganzen bisherigen Schwierigkeitsgrad und jede Unverständlickei, ebenso die Sonette an Orpheus. Das ist noch lange nicht alles. Shelley, Blake,Yeats, Hugo etc.etc. )

 

Nun gut, von jetzt an werde ich meine ganze Kraft diesem Romanprojekt, das diese Tradition aufnimmt, von neuem zuwenden!

 

An Stipendien, Vorabdrucken und Sendungen gibt es bisher, fast eine Art Biographie des "Geistersehers", der früher "Der Verweser" hieß; hier eine kleine Aufschlüsselung:

 

1. 1987 Jahrstipendium für den "Verweser" des Literaturfonds Darmstadt

2. SDR 1988, eine kommentierte Sendung "Lucrezia und Nicolao" - ich habe das - gut gelungene Band dieser verzweiflten Liebsbeziehung - bei mir.

3. 1991 Jahres-Stipendium der Akademie Schloß Solitude für "Vaterlandstage" und seine Fortsetzung "Der Verweser".

5. 1994 Erster Prosapreis der Künstlergilde Esslingen, verliehen in Berlin im Sendesaal des SFB, eingeführt vom Intendanten.

4. Herbst 95: Fragment mit einer Einführung von Dr. Jürgen Egyptien, Prof. der Uni Aachen in der Zeitschrift "Juni", Lehrstuhl f. Neuere deutsche Literatur, Freie Universität Berlin.

5. August 1996 Stundensendung beim Deutschlandfunk Köln: Text und Gespräch. Redaktion: Thomas Zenke.

6. November 1996: SCHATTEN, Fragment in der "Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literaur und Politik, Dinklage bei Bremen.

7. Neue Literaur, Frankfurt/Main, Fragment: "Die Geister des Weltwechslers Roman Templin" 2/96

8. Ein Fragment, "Transsylvanisches Leibgericht", ist erschienen in der Antholgie "Das Literarische Bankett" - Kiepenheuer, Hg. Heinz Ludwig Arnold. (u.a. Henscheid, Herburger, Delius, Harig, Hilbig, Enzensberger, Kronauer, Schädlich, Grünbein, Graß Sarah Kirsch, Jandl u.a.) Arnold gibt ja die Monographin bekannter Autoren "Text und Kritik, sowie das Standardwerk "Kritische Lexikon der deutschen Gegnwartsliteratur" heraus.

 

Für den "Passauer Pegasus" (Mitherausgegeben Manfred Riedel, Literaturarchiv Marbach) vorgesehen ein Fragment für Herbst 1998. Wieder betreut von Jürgen Egyptien.

6. Ich arbeite eben das Kapitel "Séance" für das Hörspiel/ HR, Christoph Buggert in eine Hörerzählung um!

 

Ich glaube aber, was sehr wichtig ist, das Buch müßte als eine Art "Durchbruch" gefeiert werden, neugierig machen, diskret und vorsichtig vom Thema her, es an die TK binden, auf der wieder sehr großen Woge des "Esoterischen" zu schwimmen, sich hochtragen lassen, ohne damit verwechselt zu werden. Vgl. den Artikel dazu im vorletzten "Spiegel". Und ich habe noch viele Hinweise dazu gelesen, daß nach 89 eine neue Grenze angegangen und im Zuge der Öffnung ist, ganz im Sinne etwa des Sachbuchprogrammes von Insel! Aber die Literatur hat bisher viel zu wenig zu bieten, dabei müßte sie Vorreiter sein!!

Auch der "Geisterseher" müßte auf diesen, sich vorbereitenden Trend setzen, ihn zum Teil -größenwahnsinnig - in der Literatur selbst machen! (Kollektivtulpa?) Wir befinden uns heute, wie die Romantik 1800, in einer ähnlichen postrevolutionären Phase einer anderen, einer geistigen Revolution, die wie die Klassik damals: "Briefe zur ästhetischen Erziehung" und Kant als Modell! heute die Moderne in der Literatur vorbereitet hat, die sogenannte Scheiß-Postmoderne völlig mißverständlich aufgreift und falsch instrumentell und sprachidiotisch kanalisiert! Es gab ja auch eine falsche kitschige und reaktionäre Romantik der Anpassung, hier Anpassung ans Technisch-Instrumentelle, anstatt ans Geistige!

 

Ihnen nochmals meinen Großen Dank (auch daß es Sie gibt! will ich in andere Richtung dankend erwähnen! Und meine, daß das kein Zufall sein kann! Jaja, Amor fati! sollte als Lebenskunst und Lebenstil wieder gefragt sein!)

 

Ganz herzlich immer Ihr

 

3.4. POETIK AUS BRIEFEN

 

 

 

 

An Jürgen Egyptien:

Nun zu unserem PROJEKT. Die Jäger Gracchus-Szene aus dem Turm schicke ich Dir bis Herbst noch zu, falls Du es wünschst. Vorerst habe ich Dir ein größeres Fragment aus meinem Roman (zur Gegenkritik) zusammengestellt, da ich bis Herbst kaum noch Zeit haben werde, und bin neugierig, was Du dazu sagst; es sind etwa 30 Normalseiten, die möglicherweise noch Veränderungen erfahren bis sie in JUNI erscheinen werden; 30 Seiten - zuviel, ich weiß, doch weniger waren nicht möglich; und bitte kürze oder wähle Du aus. Diese zwingende "Tatsache" bedarf, wie meist im Leben, wo wir mit Tat-Sachen überleben müssen, mit denen wir existieren, der Deutung, und diese wird die Fortsetzung meines Briefes ausmachen, der Dir auch einige Motive des Textes erläutert. Nun, es hat mir Mühe gemacht, Dir eine repräsentative Fragment-Zusammenstellung zu geben, da das Buch, Du wirst Dich vielleicht wundern, immer noch nicht in einem endgültigen Stadium ist, end-gültig, mein Gott, wo gibt es das, solange die Zeit läuft, und wir noch nicht dort angekommen sind, unser Leben zu über-sehen, vielleicht das, was wir hier tun, zu übersehen ist! (Sieh das Heidegger-Zitat-Motto!)

Nun genau dies und dazu die neuen rohen Daten zur "Transkommunikation" haben meinen Roman "zurückgeworfen", dahin, wo er hätte sein sollen: Im Vorläufigen, weil er all das auf-nehmen muß, was aus jener anderen Sicht erkennbar werden könnte, will er "auf der Höhe sein": Jenes "verwesen" lassen, was mit dem andern Blick pure Täuschung ist. Daher lasse ich alles von einem, auf diese unaussprechbar UNVOREINGENOMMENE Weise als "Gegen-Erzähler" berichten, der das Narrative hinter sich hat, einem, der nach unserem Sprachgebrauch "tot" ist. Und gehe dabei vom Anfang dieser Roman-Sicht aus, von Becketts "Molloy" (nach dem Krieg) - seiner Zeit-Analyse (im Proust-Aufsatz). So ist es eine Art "Dialog" zwischen diesem Gegen-Erzähler, der sich redlich (und aus alter Erfahrung einfühlend und mitleidend) müht, mit unserer "Kindersprache" seine Sicht einzubringen. Ich weiß, das, was vorliegt, ist lange noch nicht radikal genug, um "unsere Wirklichkeit" - auch sprachlich - ad absurdum zu führen. Und ich weiß noch nicht, ob ich neue, bessere Mittel (als Pastior) finden werde, es zu "meistern"- ohne darin, per definitionem, ein Meister sein zu können, doch wenigstens aufblitzend und ahnungsweise will ich es als alter Todes- Lyriker versuchen; es wird ein rücksichtsloser Grenzgang, vielleicht für den Rest meines Lebens und zum Schaden meiner "Karriere" und des hiesigen Werkes. Doch etwas anderes reizt mich überhaupt nicht mehr!

Einen Schlüsselsatz, um mir den Umgang damit besonders schwer zu machen, finde ich in Deinem Brief, der mich verfolgt hat: "... Telefonverkehr mit einer Transwelt - das macht mir eher Angst ... Fortsetzung der doch gerade zu überwindenden Hybris, das ist doch eine Verlängerung des Bemächtigungsgestus der Zweckrationalität bis ins Jenseits hinein. Es ist für mich ein weiterer extremer Versuch der Vernichtung von Rätselhaftigkeit und Geheimnis, d.h. der Vernichtung von Poesie." Es gibt zwar im Buch selbst vieles, was darauf hinweist, daß gerade das Rätsel gewahrt werden muß, und auch auf dieser Ebene sprachlich Raffiniertes im Moment der Unausdrückbarkeit, sensibler Umgang mit dem, was uns das Intimste und Subjektivste ist - denn nur dieses würde mir Angst machen, daß es in die kollektive Machbarkeit und Platitude käme, dieses Niveau kann aber davon überhaupt nicht angenommen und gar mit-gemacht werden! Doch ein anderesmal mehr davon, ich bin auch "im Prozeß". Vieles wirft mich wieder auf mich zurück, läßt mich sekptisch die eben geknüpften Verbindungen zu einer Gemeinsamkeit mit den Protagonisten lockern, da die Schwingungsebene, wie etwa zu Dir, fehlt, und da einige von ihnen Deine schlimmen Befürchtungen nähren, die schlimmer sind als primitiver Betrug. Für mich existiert das Phänomen wirklich und ist Anreger und wichtigster Anstoß .

Aber ich finde es erstaunlich, wie mühelos ich Dir dieses alles schildern kann, nur Dir, nehme ich aus Erfahrung an, und wie wenig Zeit ich brauche, um die Gedanken zu formulieren, die keine einfachen, ja, schmerzliche und vielleicht lebensvernichtende sind! Die Dankbarkeit, Dir begegnet zu sein, bleibt als eine Art Absolutum, auch das Schicksalhafte, daß nun Du als erster diesen Text kommentierst!

Ich bin froh, daß das alte "Verweser"-Projekt so seiner nun sich selbst aufschlüsselnden Form zugeführt wird, aufgelöst, aufbereitet, plausibel - wie ich hoffe. Und es ist mir auch egal, wann es "erscheint", von mir aus brauche ich möglicherweise noch zwei Jahre bis es so weit ist, und ich betrachte das Projekt auch als mein wichtigstes Buch, an dem ich nicht fertig werden kann, gottseidank, weil bis über den Tod hinaus alles offen ist. Und dieses Existential will ich mit hineinnehmen, auch das Reale des Textes, der über die Literatur hinausweisen muß, das ist seine Poetik,. die deshalb nicht ausschöpfbar ist.

 

 

 

 

Dr. Wolf Peter Schnetz,

Greifensteinstr. 14

D-91332 Heiligenstadt

Germania

 

20. September 96

Mein lieber Wolf Peter, ja, ich bin ein saumseligr Freund, und Dein Brief vom 15. Juli ist "langher", der Sommer vorbei. Und sogar mein Roman fertig und abgeschickt.

(Willst Du eine Diskette des Geisterromans haben?)

 

Bitte entschuldige mein langes Schweigen. Wir waren nun lange von zu Hause fort, "auf See" im Segelboot auf Elba, ab Mitte Juli, Dein Brief kam später an, dann in Deutschland, in der Normandie, in der Bretagne, die schönsten poetischen Momente, und Deinen Brief fanden wir hier vor, erst als wir zurückkehrten. Herzlichen Dank. Ja, die Bretagne. Sie ist großartig, ebenso die Normandie. Wir haben viel gefilmt (Video), hier alles wieder angesehn. Worte reichen nicht aus, es ist ja viel Parageschehen darin, vom Gral bis Chateaubriand in St. Malo. Oder Monet und seine Schule in Honfleur. Und ich hab auch fleißig Tagebuch geschrieben. Mehr und mehr reizt mich diese Direktheit und Nähe. Heiß schreiben. Und sicherlich wird mein nächster Roman, möglichereise mit den Personen des "Geistersehers" , wie ich den "Verweser " umgetauft hab, den Stoker-Roman, als eine Art Negativfilm, den ich auf meine Art entwickle, ausnützen und bewußt plagieren. Er spielt ja in meiner schmerzlich erinnerten Heimat, dieser Abgrund ist da, das heilt nie, und ich brech wohl im Dezember zu einer längeren Lesereise dorthin auf. Auch um den Dracula-Stoff zu recherchieren. Sehe fast jeden Abend mit Linde einen D.-Film. und schreibe -vorläufig Sendungen und Essay darüber. Den Stoff haben die Okzidentalen uns gestohlen. Und verfälscht! Da wetter ich jetzt dgegen,es ist hahnebüchern vieles, sogar bei Stoker, dem sonst auch literarisch ein Geniewurf gelungen ist, ähnlich wie Coppola im Film. Ein Kunstwerk, ja. Großartig vor allem die Masken.

 

Nun ja, Deine Kalkulation mit dem Buch ( inzwischen nur noch 800 Seiten) ist sicher richtig. Und ich weiß, daß ich kürzen muß, habe auch schon viele Vorschläge. Vor kurzem war ein KollegenFreund hier in der Nähe eingemietet, der hat zwei Wochen gelesen. Er ist "eingestiegen" und las (Gottseidank) fasziniert. Ich habe eine ganze Reihe von sehr kritischen Lesern jetzt für das Skript im Freundeskreis, aus verschiedensten Bereichen, aber auch Kritiker, die alle einsteigen. Das Thema ist ja auch danach. Vorschläge zur Kürzung, denen ich zustimme. So müßte man arbeiten. Ich habs bei Hanser, Insel, (über eine kleine Literaturagentur, die ebenfalls ein Feund betreibt, der übrigens Arzt und Parapsychologe ist!) Er hat eigentlich an der Länge noch nichts moniert. Andere schon. Wie ja auch Du. Weiter bei Rowohlt natürlich, und bei meinem Lektor von Reclam, der jetzt bei Kiepenheuer ist. Und der mir sogar ein Plädoyer (in der FAZ erschienen) für "dicke" Büher zugeschickt hat. Nun, wir werden sehen.

 

Du bist gut dran, hast einen Hausverlag in Regensburg, auch wenn er Dir da herumfummelt mit Kapitelüberschriften usw. Und die 200 Seiten sind ja sozusagen üblich. Ich weiß, auch für den Autor besser. Dank für die Rezension. Du bist da zu Hause, hast Boden unter den Füßen, Deine Leser sind zu Hasue, stehn fest. Ich bin im Nirgendwo in jeder Beziehung. Wenn das ein Produktionsmittel sein soll?!! Du hast es gut. Sage ich jetzt. Ein Heimatbuch für jene, die dort leben zu schreiben. Vergleich da mal mit meinem "So nah, so fern..." Eine schöne Rezension in der WOCHE, groß und positiv. Auch zum Lesen anstiftend.

"Traurigsein, ein reiferes Frohsein" - manchmal sehe ich mich darin nahe Dir, alter Freund. Aber oft sind die Depressionen größer als das Frohsein. Und die Altersweisheit, das ist sicher eine Zwecklüge von Pensionisten. Im nächsten Jahr bin ich soweit. Doch die neue Zeit kürzt mir einiges an der Rente um 40%. Ich hab Kohl einen Offenen Brief geschrieben. Unterschriften gesamnmelt. Und hab auch einen Vertrauensmann in der SPD-"Baracke". Doch was hilfts. Verfassungswidriges ist erlaubt.

Manchmal glaube ich, wir nähern uns langsam einer aufgeklärten Diktatur.Behörden beginnen mir die Einbürgerunsgurkunde zu verlangen. Andere einen Nachweis, daß ich in Deutschland einen Wohnsitz hab. Andere kürzen mir Honorare. Die Rentenanstalt will neue Beweise, daß ich auch wirklich Deutscher bin. Usw. Sogar hier fragte ein Nachbarkcarabiniere, ob ich denn wirklich einen deutschen Paß hätte. Sonst wäre ich ja ein "Extracomunitri".

 

Ja, der PEN. Ich habe nicht für Vereinigung votiert. Das Ganze müßte reifen. Die Vergangenheiten schaffen Strukturen, nicht falsche Vereinigungen von Unvereinbarem. Ost- und Westpsyche sind Gottseidank noch unterschiedlich. Solange das so ist, gib es noch eine produktive Spannung auch beim Schreiben. Die Menschen der beiden Pen gehören nicht in einen Topf reingemischt, sie gehören immer noch verschiedenen (inneren) Welten an. Und das ist gut so. Je mehr Unterschiede in der Welt, umso besser, das zumindest für die Kreativität. Nicht in der Politik. Bosnien als Beispiel. Und der Arsch Handke, der den guten Namen der Autoren kaputt macht!

Mit Ingeborg stehe ich im Briefwechsel. Sie tritt ab, weil sie ähnlich denkt. Strasser kenne ich nicht. Auch Said nicht. Doch ich kann seine Argumente verstehn. Das Wichtigste am PEN ist soweso nicht diese leidige Debatte, sondern die Stimme. Und die Häftlingshilfe und - Betreuung.

Ich fühle mich ein wenig schuldig, nicht zum PEN gekommen zu sein. Aber ich bin in öffentlchen Diskussionen (nicht so gut, wie im Schriftlichen), und scheue so öffentliche Auftritte. Außer bei Lesungen, wenn ich sowieso "drin" bin, und darin bleiben kann! Ich habe kein ungebrochenes Außenselbstbewußtsein, das Redner brauchen.

 

Sei sehr herzlich gegrüßt und alles Gute Euch, hoffentlich sehen wir uns doch bald wieder einmal

 

Dein

Dieter Schlesak.

 

 AUS BRIEFEN AN JÜRGEN EGYPTIEN

 

Du sprichst in Deinem Brief vom "Ewigkeitsgespräch" von der "EINHEIT" und von der Begegnung, die Du hattest. Weißt Du, daß ich jetzt gerade über diese Einheit, wieder am Hebräischen Thema schreibe, am BIldverbot für das nächste "Literaturmagazin", den Essay schicke ich Dir nach Erscheinen zu, er ist wichtig für mich und ich glaube, er interessiert Dich auch in dieser wahlverwandtschaftlichen Nähe. Und Dein Brief brachte mich dazu, mich wieder Hans Kayser zuzuwenden (und Kepler, über den ich eine lange Sendung geschriben habe!)

Jahnn habe ich immer wieder in seiner rustikalen Dichtheit beim Lesen gespürt, ich glaube aber, er ist sehr viel wichtiger, als ich es weiß, und steht mir noch bevor.

Ach, das Lambdoma. Es ist erstaunlich, wie viel wir für uns noch gegenseitig zu entdecken haben! - Und weißt Du, bevor ich wußte, daß ich an Dich heute schreiben werde, fiel mir "zufällig" wieder Kayser in die Hand und einiges muß ich in meinen Aufsatz, der eigentlich "fertig" war davon aufnehmen. Ebenso das Zitat von der Null bei Jahnn, da mein Essay eigentlich im Zentrum das "Nichts" hat, Du hast es einmal analysiert, das auch im Zentrum meiner Gedichte steht. Dieser "Nullpunkt" ist das En-Sof der Kabbala: Deine "negative Epiphania": Bei Hölderlin ist es zwischen 0-1. Ich habe Dir einmal das Zitat über den Helden, der gleich "Null" sein muß, geschickt. Und ich werde in meinem Essay Deinen Brief zitieren!

 

Deine Kritik am Schluß meines Celan-Essays ist berechtigt. Zumindest deckt diese einen Widerspruch in meinem Denken auf, der für mich unlösbar, wenn auch in seinem Riß für mich schmerzlich und auch erkannt ist; er entspricht meiner intimsten Schizophrenie. Ganz oberflächlich wohl meinem ehmals "linken" , vormals gar marixistischen Utopismus; aber auch meiner Anhänglichkeit an das fühlbare, lebbare und damit auch geschichtliche Dasein hier auf der Erde. Insgeheim und in aller Verwunderung aber habe ich zurückgefunden zu dem, was mich eigentlich bestimmt: die Verborgenheit und Initimität, das alte Erstaunen und Rätseldenken, an das ich nicht rühren lassen möchte, und das dem anderen genau entgegensteht.

Ja, "Geschirr des Utopismus" "paradigmenorientiertes Fortschrittsdenken"... Es ist so, Du hast mich erkannt: ich glaube an solch eine "kosmische" Evolution, zumindest im Sinnme einer Auf-Deckung des immer schon Vorhandenen, d.h. einer Abnahme der Blindheit als kollektivem Prozeß, ähnlich wie das in der Eschatologie oder im Faust oder in der "Phänomenologie" oder in der indischen Weisheit oder im Messianismus Benjamins der Fall ist. Oder in der Bergpredigt: Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich der Himmel ist DA.

Daher auch Popper oder Senkowski als Halt.

Geschichte also als ANDERE GESCHICHTE, die grenzüberschreitend ist, dahin zu kommen, wo wir schon sind! Auf- Deckung, Sehen-Machen. Alltag als All-Tag sogar möglich sein könnte!

 

Ich stimme Dir zu, daß Senkowski vieles von dem auf anderer Ebene als möglich erscheinen läßt, was unsere Phantasie in Literatur intuiert, daß diese "real" erscheinen könnte, als wäre das, was gewünscht und geträumt wird, eine Vorentwurf, eine Ahnung einer "anderen Relaität" sein könnte!? Gestört und irritiert und auf die Ebene der "Köchinnenmetaphysik" haben mich solche Passagen mit "Hitler" u.a bei Senkowski. auch geführt, skeptisch gestimmt und mich in einen Kreis von Hysterikern und Größenwahnsinnigen versetzt geführt.

Ich helfe mir so: Daß es ein Gemisch an "Echtem", an Projektionen - und das ist das Entscheidende, dieser Begriff im ganzen Umfeld auch der so aktuellen Virtualität muß diskutiert werden - und des Betrugs ist.

Die andere Gefahr, die ich auch sehe, darüber später und im Zusammenhang mit meinem Roman.

Denn jetzt zu Deinen Gedichten, und Gratulation zum Abschluß Deines Bandes - wobei die ganze Diskussion in diesem Brief mir wie ein Vorwort zu den mir zugeschickten 5 Gedichten erscheint. Sie lassen sich nur in diesem Umfeld, glaube ich richtig verstehen, und eingestimmt müssen sie gelesen werden, um ihren großen Wert auch nur zu ahnen, sonst bleiben sie hermetisch und verschlossen, sie sind ja jene ästhetische Brücke der Poesie, "kleiner Grenzverkehr mit den Mitteln der Poesie" - denn was wäre, wenn diese TK nur der Anfang einer in die Ewigkeit reichende "Profanierung der Welt" wäre?!ßen Wert zu ahnen. Es ist ein schwieriges Unternehmen, denn sonst blieben sie völlig verschlossen und hermetisch, und wären nur "reine" Ästhetik, Spiel. Sie sind es aber überhaupt nicht, sondern jene ästhetische Brücjke der Poesie von der Du spricht, die - so sehe ich es auch - uns nicht durch "instrumentelle Translommonikation" trivialisert werden darf.

Ist die "Sprache Zwie" ein Celan-Zitat? (Sabbatai Zwi, der unheilige, der psychotische Kabbalist und Pseudo-Messias) Verräterin Sprache? Also auch hier "negative Theologie" oder "negative Epiphania"? Und dann im Überrreim des "Blutdorn" - wo wieder solche Reminiszenzen da sind, ein abmechanisches Sprachhenkern alles Heiligen mitten in der Natur - das alltägliche sanfte Blut der innern Geister jedes Blattes eben durch sein Erscheinen- Müssen, Profanierung? Ad abusrdum geführte Totale aller bisherigen Idyllen? Alles Inversionen auch Ikara. Die absolute Skepsis als Reinigunsverfahren - hin zum Numinosen, wenn das Blatt endlich leergefegt ist. Heimkehr ist ein weißes Blatt? Und alles schön märchenhaft, das ist neu bei Dir und schön. Doch nicht nur märchenhaft und kinder- und wortspielhaft und poetisch, sondern Grenzgang eben ins negativ Theologische mit diesen Mitteln, die ja an sich schon POSITIV sind, und mir eine solche, nicht nur negative Sicht bei Dir anzuzeigen scheinen. Tod und Übergang nicht nur gruftig und im Trauerton, sondern zum Trampolin hin, fast heiter, der Abschied persifliert und sogar fast lustig. Den Tod gibt es nicht! Bei Ranunkel, dies meine kleine Kritik, allerdings stört der mechanische Überreim! und macht das umgekehrte Märchen fast unmöglich ( 4-7 Strophe zu streichen).

 

Nun zu unserem PROJEKT. Die Jäger Gracchus-Szene aus dem Turm schicke ich Dir bis Herbst noch zu, falls Du es wünschst. Vorerst habe ich Dir ein größeres Fragment aus meinem Roman (zur Gegenkritik) zusammengestellt, da ich bis Herbst kaum noch Zeit haben werde, und bin neugierig, was Du dazu sagst; es sind etwa 30 Normalseiten, die möglicherweise noch Veränderungen erfahren bis sie in JUNI erscheinen werden; 30 Seiten - zuviel, ich weiß, doch weniger waren nicht möglich; und bitte kürze oder wähle Du aus. Diese zwingende "Tatsache" bedarf, wie meist im Leben, wo wir mit Tat-Sachen überleben müssen, mit denen wir existieren, der Deutung, und diese wird die Fortsetzung meines Briefes ausmachen, der Dir auch einige Motive des Textes erläutert. Nun, es hat mir Mühe gemacht, Dir eine repräsentative Fragment-Zusammenstellung zu geben, da das Buch, Du wirst Dich vielleicht wundern, immer noch nicht in einem endgültigen Stadium ist, end-gültig, mein Gott, wo gibt es das, solange die Zeit läuft, und wir noch nicht dort angekommen sind, unser Leben zu über-sehen, vielleicht das, was wir hier tun, zu übersehen ist! (Sieh das Heidegger-Zitat-Motto!)

Nun genau dies und dazu die neuen rohen Daten zur "Transkommunikation" haben meinen Roman "zurückgeworfen", dahin, wo er hätte sein sollen: Im Vorläufigen, weil er all das auf-nehmen muß, was aus jener anderen Sicht erkennbar werden könnte, will er "auf der Höhe sein": Jenes "verwesen" lassen, was mit dem andern Blick pure Täuschung ist. Daher lasse ich alles von einem, auf diese unaussprechbar UNVOREINGENOMMENE Weise als "Gegen-Erzähler" berichten, der das Narrative hinter sich hat, einem, der nach unserem Sprachgebrauch "tot" ist. Und gehe dabei vom Anfang dieser Roman-Sicht aus, von Becketts "Molloy" (nach dem Krieg) - seiner Zeit-Analyse (im Proust-Aufsatz). So ist es eine Art "Dialog" zwischen diesem Gegen-Erzähler, der sich redlich (und aus alter Erfahrung einfühlend und mitleidend) müht, mit unserer "Kindersprache" seine Sicht einzubringen. Ich weiß, das, was vorliegt, ist lange noch nicht radikal genug, um "unsere Wirklichkeit" - auch sprachlich - ad absurdum zu führen. Und ich weiß noch nicht, ob ich neue, bessere Mittel (als Pastior) finden werde, es zu "meistern"- ohne darin, per definitionem, ein Meister sein zu können, doch wenigstens aufblitzend und ahnungsweise will ich es als alter Todes- Lyriker versuchen; es wird ein rücksichtsloser Grenzgang, vielleicht für den Rest meines Lebens und zum Schaden meiner "Karriere" und des hiesigen Werkes. Doch etwas anderes reizt mich überhaupt nicht mehr!

 

Einen Schlüsselsatz, um mir den Umgang damit besonders schwer zu machen, finde ich in Deinem Brief, der mich verfolgt hat: "... Telefonverkehr mit einer Transwelt - das macht mir eher Angst ... Fortsetzung der doch gerade zu überwindenden Hybris, das ist doch eine Verlängerung des Bemächtigungsgestus der Zweckrationalität bis ins Jenseits hinein. Es ist für mich ein weiterer extremer Versuch der Vernichtung von Rätselhaftigkeit und Geheimnis, d.h. der Vernichtung von Poesie." Es gibt zwar im Buch selbst vieles, was darauf hinweist, daß gerade das Rätsel gewahrt werden muß, und auch auf dieser Ebene sprachlich Raffiniertes im Moment der Unausdrückbarkeit, sensibler mgang mit dem, was uns das Intimste und Subjektivste ist - denn nur dieses würde mir Angst machen, daß es in die kollektive Machbarkeit und Platitude käme, dieses Niveau kann aber davon überhaupt nicht angenommen und gar mit-gemacht werden! Doch ein anderesmal mehr davon, ich bin auch "im Prozeß". Vieles wirft mich wieder auf mich zurück, läßt mich sekptisch die eben geknüpften Verbindungen zu einer Gemeinsamkeit mit den Protagonisten lockern, da die Schingungsebene, wie etwa zu Dir, fehlt, und da einige von ihnen Deine schlimmen Befürchtungen nähren, die schlimmer sind als primitiver Betrug. Für mich existiert das Phänomen wirklich und ist Anreger und wichtigster Anstoß .

 

Aber ich finde es erstaunlich, wie mühelos ich Dir dieses alles schildern kann, nur Dir, nehme ich aus Erfahrung an, und wie wenig Zeit ich brauche, um die Gedanken zu formulieren, die keine einfachen, ja, schmerzliche und vielleicht lebensvernichtende sind! Die Dankbarkeit, Dir begegnet zu sein, bleibt als eine Art Absolutum, auch das Schicksalhafte, daß nun Du als erster diesen Text kommentierst!

 

Ich bin froh, daß das alte "Verweser"-Projekt so seiner nun sich selbst aufschlüsselnden Form zugeführt wird, aufgelöst, aufbereitet, plausibel - wie ich hoffe. Und es ist mir auch egal, wann es "erscheint", von mir aus brauche ich möglicherweise noch zwei Jahre bis es so weit ist, und ich betrachte das Projekt auch als mein wichtigstes Buch, an dem ich nicht fertig werden kann, gottseidank, weil bis über den Tod hinaus alles offen ist. Und dieses Existential will ich mit hineinnehmen, auch das Reale des Textes, der über die Literatur hinausweisen muß, das ist seine Poetik,. die deshalb nicht ausschöpfbar ist.

 

Ganz herzlich

Dein

 

 

AUS BRIEFEN AN JÜRGEN EGYPTIEN

 

 

Dieter Schlesak, I-55041 Camaiore, Pieve/Agliano 327, Casa Nuova, Tel./Fax 0039 584 951214

 

Herrn

Jürgen Egyptien

T.0241/152305

Rolandstr. 42

D-52070 AACHEN

GERMANIA

 

 

2. Juli 1994

 

Lieber Jürgen, danke Dir für Deinen langen und intensiven Brief und für die Gedichte. Obwohl Du meinst, der mir zugeschickte sei nicht der Antwortbrief, schreibe ich nun doch, da der Brief vom 9.5. datiert ist, ich weiß , wie schwer es ist, die Stimmung für Briefe unserer Art zu finden, die so etwas wie "Einbrüche" sein könnten oder - sein müssen!?

 

Und Du schreibst es ja auch; aber, obwohl es wie ein Zwang aussehen könnte, was sich so bindet, und, wie Du sogar sagst, zur "Verpflichtung wird", ist es doch, so sehe ich es: die größte Freiheit, die so möglich wird, größte Entfernung, die auch die größte Nähe gewährleistet, das das, was in dieser fernen Berührung bleibt, Intimität bleibt, in der Verborgenheit, die selten ist, weil auch unsere Zunft das Gegenteil sucht und wir es auch zuweilen nicht aushalten, "im Verborgenen zu blühen". Der Lachreiz dabei, über die ernstesten Dinge des Eigenen zu lachen, ist, so spüre ich es, nicht banale, sondern schöne romantische Ironie sogar.

 

Danke Dir für die Zustimmung für mein Kommentar zu Deinem schönen Text, die mich so freut, weil sie aus dieser "Wunde" kommt, und danke auch dafür, daß Du diese Querverbindungen so genau nachvollziehen kannst - zum Celan-Essay.

Ich habe nun den Kommentar doch abgeschlossen und auch an JUNI in der Druckfassung abgegeben, so daß ich nun nicht mehr daran rühre. Ich wußte nicht, daß er erst im Herbst erscheint.

Von JUNI erhielt ich auch die Bitte, mein Fragment bald abzuschicken. Doch davon später.

 

Du sprichst in Deinem Brief vom "Ewigkeitsgespräch" von der "EINHEIT" und von der Begegnung, die Du hattest. Weißt Du, daß ich jetzt gerade über diese Einheit, wieder am Hebräischen Thema schreibe, am BIldverbot für das nächste "Literaturmagazin", den Essay schicke ich Dir nach Erscheinen zu, er ist wichtig für mich und ich glaube, er interessiert Dich auch in dieser wahlverwandtschaftlichen Nähe. Und Dein Brief brachte mich dazu, mich wieder Hans Kayser zuzuwenden (und Kepler, über den ich eine lange Sendung geschriben habe!)

Jahnn habe ich immer wieder in seiner rustikalen Dichtheit beim Lesen gespürt, ich glaube aber, er ist sehr viel wichtiger, als ich es weiß, und steht mir noch bevor.

Ach, das Lambdoma. Es ist erstaunlich, wie viel wir für uns noch gegenseitig zu entdecken haben! - Und weißt Du, bevor ich wußte, daß ich an Dich heute schreiben werde, fiel mir "zufällig" wieder Kayser in die Hand und einiges muß ich in meinen Aufsatz, der eigentlich "fertig" war davon aufnehmen. Ebenso das Zitat von der Null bei Jahnn, da mein Essay eigentlich im Zentrum das "Nichts" hat, Du hast es einmal analysiert, das auch im Zentrum meiner Gedichte steht. Dieser "Nullpunkt" ist das En-Sof der Kabbala: Deine "negative Epiphania": Bei Hölderlin ist es zwischen 0-1. Ich habe Dir einmal das Zitat über den Helden, der gleich "Null" sein muß, geschickt. Und ich werde in meinem Essay Deinen Brief zitieren!

 

Deine Kritik am Schluß meines Celan-Essays ist berechtigt. Zumindest deckt diese einen Widerspruch in meinem Denken auf, der für mich unlösbar, wenn auch in seinem Riß für mich schmerzlich und auch erkannt ist; er entspricht meiner intimsten Schizophrenie. Ganz oberflächlich wohl meinem ehmals "linken" , vormals gar marixistischen Utopismus; aber auch meiner Anhänglichkeit an das fühlbare, lebbare und damit auch geschichtliche Dasein hier auf der Erde. Insgeheim und in aller Verwunderung aber habe ich zurückgefunden zu dem, was mich eigentlich bestimmt: die Verborgenheit und Initimität, das alte Erstaunen und Rätseldenken, an das ich nicht rühren lassen möchte, und das dem anderen genau entgegensteht.

Ja, "Geschirr des Utopismus" "paradigmenorientiertes Fortschrittsdenken"... Es ist so, Du hast mich erkannt: ich glaube an solch eine "kosmische" Evolution, zumindest im Sinnme einer Auf-Deckung des immer schon Vorhandenen, d.h. einer Abnahme der Blindheit als kollektivem Prozeß, ähnlich wie das in der Eschatologie oder im Faust oder in der "Phänomenologie" oder in der indischen Weisheit oder im Messianismus Benjamins der Fall ist. Oder in der Bergpredigt: Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich der Himmel ist DA.

Daher auch Popper oder Senkowski als Halt.

Geschichte also als ANDERE GESCHICHTE, die grenzüberschreitend ist, dahin zu kommen, wo wir schon sind! Auf- Deckung, Sehen-Machen. Alltag als All-Tag sogar möglich sein könnte!

 

Ich stimme Dir zu, daß Senkowski vieles von dem auf anderer Ebene als möglich erscheinen läßt, was unsere Phantasie in Literatur intuiert, daß diese "real" erscheinen könnte, als wäre das, was gewünscht und geträumt wird, eine Vorentwurf, eine Ahnung einer "anderen Relaität" sein könnte!? Gestört und irritiert und auf die Ebene der "Köchinnenmetaphysik" haben mich solche Passagen mit "Hitler" u.a bei Senkowski. auch geführt, skeptisch gestimmt und mich in einen Kreis von Hysterikern und Größenwahnsinnigen versetzt geführt.

Ich helfe mir so: Daß es ein Gemisch an "Echtem", an Projektionen - und das ist das Entscheidende, dieser Begriff im ganzen Umfeld auch der so aktuellen Virtualität muß diskutiert werden - und des Betrugs ist.

Die andere Gefahr, die ich auch sehe, darüber später und im Zusammenhang mit meinem Roman.

Denn jetzt zu Deinen Gedichten, und Gratulation zum Abschluß Deines Bandes - wobei die ganze Diskussion in diesem Brief mir wie ein Vorwort zu den mir zugeschickten 5 Gedichten erscheint. Sie lassen sich nur in diesem Umfeld, glaube ich richtig verstehen, und eingestimmt müssen sie gelesen werden, um ihren großen Wert auch nur zu ahnen, sonst bleiben sie hermetisch und verschlossen, sie sind ja jene ästhetische Brücke der Poesie, "kleiner Grenzverkehr mit den Mitteln der Poesie" - denn was wäre, wenn diese TK nur der Anfang einer in die Ewigkeit reichende "Profanierung der Welt" wäre?!ßen Wert zu ahnen. Es ist ein schwieriges Unternehmen, denn sonst blieben sie völlig verschlossen und hermetisch, und wären nur "reine" Ästhetik, Spiel. Sie sind es aber überhaupt nicht, sondern jene ästhetische Brücjke der Poesie von der Du spricht, die - so sehe ich es auch - uns nicht durch "instrumentelle Translommonikation" trivialisert werden darf.

Ist die "Sprache Zwie" ein Celan-Zitat? (Sabbatai Zwi, der unheilige, der psychotische Kabbalist und Pseudo-Messias) Verräterin Sprache? Also auch hier "negative Theologie" oder "negative Epiphania"? Und dann im Überrreim des "Blutdorn" - wo wieder solche Reminiszenzen da sind, ein abmechanisches Sprachhenkern alles Heiligen mitten in der Natur - das alltägliche sanfte Blut der innern Geister jedes Blattes eben durch sein Erscheinen- Müssen, Profanierung? Ad abusrdum geführte Totale aller bisherigen Idyllen? Alles Inversionen auch Ikara. Die absolute Skepsis als Reinigunsverfahren - hin zum Numinosen, wenn das Blatt endlich leergefegt ist. Heimkehr ist ein weißes Blatt? Und alles schön märchenhaft, das ist neu bei Dir und schön. Doch nicht nur märchenhaft und kinder- und wortspielhaft und poetisch, sondern Grenzgang eben ins negativ Theologische mit diesen Mitteln, die ja an sich schon POSITIV sind, und mir eine solche, nicht nur negative Sicht bei Dir anzuzeigen scheinen. Tod und Übergang nicht nur gruftig und im Trauerton, sondern zum Trampolin hin, fast heiter, der Abschied persifliert und sogar fast lustig. Den Tod gibt es nicht! Bei Ranunkel, dies meine kleine Kritik, allerdings stört der mechanische Überreim! und macht das umgekehrte Märchen fast unmöglich ( 4-7 Strophe zu streichen).

 

Nun zu unserem PROJEKT. Die Jäger Gracchus-Szene aus dem Turm schicke ich Dir bis Herbst noch zu, falls Du es wünschst. Vorerst habe ich Dir ein größeres Fragment aus meinem Roman (zur Gegenkritik) zusammengestellt, da ich bis Herbst kaum noch Zeit haben werde, und bin neugierig, was Du dazu sagst; es sind etwa 30 Normalseiten, die möglicherweise noch Veränderungen erfahren bis sie in JUNI erscheinen werden; 30 Seiten - zuviel, ich weiß, doch weniger waren nicht möglich; und bitte kürze oder wähle Du aus. Diese zwingende "Tatsache" bedarf, wie meist im Leben, wo wir mit Tat-Sachen überleben müssen, mit denen wir existieren, der Deutung, und diese wird die Fortsetzung meines Briefes ausmachen, der Dir auch einige Motive des Textes erläutert. Nun, es hat mir Mühe gemacht, Dir eine repräsentative Fragment-Zusammenstellung zu geben, da das Buch, Du wirst Dich vielleicht wundern, immer noch nicht in einem endgültigen Stadium ist, end-gültig, mein Gott, wo gibt es das, solange die Zeit läuft, und wir noch nicht dort angekommen sind, unser Leben zu über-sehen, vielleicht das, was wir hier tun, zu übersehen ist! (Sieh das Heidegger-Zitat-Motto!)

Nun genau dies und dazu die neuen rohen Daten zur "Transkommunikation" haben meinen Roman "zurückgeworfen", dahin, wo er hätte sein sollen: Im Vorläufigen, weil er all das auf-nehmen muß, was aus jener anderen Sicht erkennbar werden könnte, will er "auf der Höhe sein": Jenes "verwesen" lassen, was mit dem andern Blick pure Täuschung ist. Daher lasse ich alles von einem, auf diese unaussprechbar UNVOREINGENOMMENE Weise als "Gegen-Erzähler" berichten, der das Narrative hinter sich hat, einem, der nach unserem Sprachgebrauch "tot" ist. Und gehe dabei vom Anfang dieser Roman-Sicht aus, von Becketts "Molloy" (nach dem Krieg) - seiner Zeit-Analyse (im Proust-Aufsatz). So ist es eine Art "Dialog" zwischen diesem Gegen-Erzähler, der sich redlich (und aus alter Erfahrung einfühlend und mitleidend) müht, mit unserer "Kindersprache" seine Sicht einzubringen. Ich weiß, das, was vorliegt, ist lange noch nicht radikal genug, um "unsere Wirklichkeit" - auch sprachlich - ad absurdum zu führen. Und ich weiß noch nicht, ob ich neue, bessere Mittel (als Pastior) finden werde, es zu "meistern"- ohne darin, per definitionem, ein Meister sein zu können, doch wenigstens aufblitzend und ahnungsweise will ich es als alter Todes- Lyriker versuchen; es wird ein rücksichtsloser Grenzgang, vielleicht für den Rest meines Lebens und zum Schaden meiner "Karriere" und des hiesigen Werkes. Doch etwas anderes reizt mich überhaupt nicht mehr!

 

Einen Schlüsselsatz, um mir den Umgang damit besonders schwer zu machen, finde ich in Deinem Brief, der mich verfolgt hat: "... Telefonverkehr mit einer Transwelt - das macht mir eher Angst ... Fortsetzung der doch gerade zu überwindenden Hybris, das ist doch eine Verlängerung des Bemächtigungsgestus der Zweckrationalität bis ins Jenseits hinein. Es ist für mich ein weiterer extremer Versuch der Vernichtung von Rätselhaftigkeit und Geheimnis, d.h. der Vernichtung von Poesie." Es gibt zwar im Buch selbst vieles, was darauf hinweist, daß gerade das Rätsel gewahrt werden muß, und auch auf dieser Ebene sprachlich Raffiniertes im Moment der Unausdrückbarkeit, sensibler mgang mit dem, was uns das Intimste und Subjektivste ist - denn nur dieses würde mir Angst machen, daß es in die kollektive Machbarkeit und Platitude käme, dieses Niveau kann aber davon überhaupt nicht angenommen und gar mit-gemacht werden! Doch ein anderesmal mehr davon, ich bin auch "im Prozeß". Vieles wirft mich wieder auf mich zurück, läßt mich sekptisch die eben geknüpften Verbindungen zu einer Gemeinsamkeit mit den Protagonisten lockern, da die Schingungsebene, wie etwa zu Dir, fehlt, und da einige von ihnen Deine schlimmen Befürchtungen nähren, die schlimmer sind als primitiver Betrug. Für mich existiert das Phänomen wirklich und ist Anreger und wichtigster Anstoß .

 

Aber ich finde es erstaunlich, wie mühelos ich Dir dieses alles schildern kann, nur Dir, nehme ich aus Erfahrung an, und wie wenig Zeit ich brauche, um die Gedanken zu formulieren, die keine einfachen, ja, schmerzliche und vielleicht lebensvernichtende sind! Die Dankbarkeit, Dir begegnet zu sein, bleibt als eine Art Absolutum, auch das Schicksalhafte, daß nun Du als erster diesen Text kommentierst!

 

Ich bin froh, daß das alte "Verweser"-Projekt so seiner nun sich selbst aufschlüsselnden Form zugeführt wird, aufgelöst, aufbereitet, plausibel - wie ich hoffe. Und es ist mir auch egal, wann es "erscheint", von mir aus brauche ich möglicherweise noch zwei Jahre bis es so weit ist, und ich betrachte das Projekt auch als mein wichtigstes Buch, an dem ich nicht fertig werden kann, gottseidank, weil bis über den Tod hinaus alles offen ist. Und dieses Existential will ich mit hineinnehmen, auch das Reale des Textes, der über die Literatur hinausweisen muß, das ist seine Poetik,. die deshalb nicht ausschöpfbar ist.

 

Ganz herzlich

Dein

 

 

 

Für die Sendung im DR 23. August 96

 

Poetik:

21./22. August 93. 25 Jahre seit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 in Prag. Mit meiner Frau redete ich darüber, daß Ungeduld schlimmer sei als jedes andere Laster, als Schlamperei, als Ordnungssucht, als Gewissenlosigkeit, denn alles ließe sich daraus ableiten, sogar der Fluch des Totalitären und seine Sucht, alles umweglos zu "überspringen". Und dies, so sagte ich, dies kommt aus einer "tiefen" Irreligiosität, aus einem eingefleischten negativen, zerstörerischen Denken, das auf das Materielle fixiert ist, seit dem Sünden-Fall, ein schönes Symbol: Wir glauben seither, als Strafe: an den Tod, weil wir uns nur als Körper sehen, obwohl wir eigentlich immer "in Gedanken sind", die Außenwelt nur punktuell als Momentprojektion existiert. Dieser Glaube allein ans Materielle führe zur Hetze, zu Zeitnot und Angst. Ich zitierte Kafka: Aus Ungeduld haben wir das Paradies verloren, aus Ungeduld kommen wir nicht wieder hinein. Und auch Lessing, der davon ausgeht, es sei logisch völlig ausgeschlossen, daß eine so kurze Lebenszeit für eine Entwicklung sämtlicher in uns angelegter Fähigkeiten ausreiche, und daß die Anstrengung, ein geistiges Wesen zu werden, so unterbrochen und vergeudet werden könne; er glaubte an ein Wiedererkennen und notwendiges Wiederkommen; daher sollten wir uns nicht beeilen, denn wir hätten eine ganze Ewigkeit Zeit!

Dieser Mangel an Heil, an Sinn macht krank. Und jemand, der von Vergleichen, von einem anderen Leben, jener Instanz, von der ich vorhin sprach, nichts weiß, keine existentiellen und historische Lebensbrüche kennt, nicht durch Leid und Gewalt "aufgeweckt" worden ist, wird im platten Fluß der systematischen Verdummung eines kraftlosen Konsumreiches krank werden,. weil er den Anderen, das Ebenbild in sich selbst verrät, die Kraft, die nicht auszulöschen ist, nicht einmal durch Langeweile und Dauerverzehr der Natur und der Aushungerung der eigenen Seele.

Nur streifen möchte ich dieses Thema, weil es zu meiner Ostwesterfahrung und hier zur Gemeinsamkeit gehört: von der unbewußten Religiosität und Gottbezogenheit im Menschen und der "dritten Wiener Richtung der Psychoanalyse" von Victor E. Frankl, seiner "Logotherapie" handelt. Es werden laut Frankl nicht nur Triebe verdrängt, sondern auch Verantwortung, und diese ist identisch mit der Verdrängung von Transzendenz, damit des Gewissens. Flucht vor ihr macht klein und elend, und krank, und Glück ist nur möglich im Ganzwerden: "Whole" im Englschen: Heil. Seine Therapie geht auf dieses Ganzmachen zurück!

Ich komme damit wieder auf das Sichaufgebenkönnen zu sprechen, nämlich das eigne kleine Ich und alles, was damit zusammenhängt aufzugeben, dieses ist dafür die Vorbedingung!. Und auf eine Grunderfahrung komme ich zurück, die wieder eine östliche ist. Freiheit ist heute nur in höchster, ja, nur in transzendentaler Bindung möglich, sonst kann sie dem Geschichtsschrecken nicht entsprechen, verkommt zum Bankgeheimnis und Unternehmertraum. Zur bindungslosen Flucht. Oder zur wilden Verantwortungslosigkeit der Mafioten, Terroristen und Bombenleger. Es gibt ein wunderbares Wort bei C.F. v. Weizsäcker dazu: Sogar das angestrengt Moralische ohne das Heilige kann böse und zerstörerisch werden. Dieses Jahrhundert hat es bewiesen.

Jene, die die rote Ideologie und ihre Dummheit und Hartherzigkeit, jetzt ihren Ruin am eigenen Leib erfahren haben, gar die Jugendsünde begingen, ihr auf den Leim zu gehen, wie es mir passiert ist, wissen etwas von der großen Skepsis gegenüber allem rein Prinzipiellen, rein Moralischen, Ästhetischen, Historischen, Begrifflichen, Kopflastigen, kurz Ideologischen: gegenüber allen Besserwissereien, die keineswegs nur ein rotes Privileg war, im Westen genau so funktioniert. Wenn ich an dieses Zerbrechen der bisherigen Logik und des Kopflastigen, das der ganze Stolz und Hochmut des Okzidents ist und war, erinnert werde, und damit auch an meine eigne Abneigung dagegen, die eine Abneigung gegen dieses Erbe in mir selbst ist, die "totalitäre Seele" des Abendlandes, die die drei großen Vernichtungskräfte unseres Jahrhunderts hervorgebracht hat, die rote, die braune und den gnadenlosen Raubbau der Wegwerfggesellschaft, weiß ich, daß es ein besseres Erbe, ja, heute sogar ein notwendiges Erbe ist, das mich zum Schreiben, aber hier jetzt auch zum Reden treibt. Parolen sind ein Zaun vor dem Tod. Veränderungswünsche, Weltverbesserung, zu meinen, alles im Griff zu haben, ist eine Anmaßung. Schon Montaigne wußte das. Er meinte, wie soll man andere, gar die Welt verändern wollen, da man nicht einmal sich selbst zu ändern imstande sei, wir jeden Tag, ja jede Stunde ein anderer sind.

In unserem Jahrhundert zeigte der Mathematiker Gödel, daß etwas unbeweisbar, aber wahr sein kann, daß Beweisbarkeit ein schwächerer Begriff ist als Wahrheit. Skepsis gegenüber voreiligen Schlüssen und Handlungen angebracht ist.

Der skeptische Philosoph Odo Marquard meint, die Skepsis rechne immer mit dem "unvermeidlichen Einzelnen", "das ist jeder Mensch, weil er ´unvertretbar` sterben muß und `zum Tode` ist. Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu." Was Lessing zur Frage, ja zu einer Art Gewissheit führte, daß es unmöglich ist, daß diese 70-80 Menschenjahre alles sein könnten, da der Mensch auf Entwicklung angelegt sei, und die Natur unmöglich so absurd sei, diesen Reichtum unrettbar zu vernichten. Ein logisches Plädoyer für Transzendenz.

Doch innerhalb dieser "vita brevis" muß der einzelne Mensch aus Zeitmangel das bleiben, was er geschichtlich schon war, meint Marquard: "er muß anknüpfen".

 

der Wert der kleinen Alltagsdinge, die nicht mehr geachtet werden in unserer Zivilisation, auch ich verachte sie, erst die Schwingungsmöglichkeit geben. Medien benützen sie zur Psychometrie, Dinge haben nämlich ein Gedächtnis, sind ein Gegenüber, sind BESEELT. Daher auch Talismane oder Schwingungen im Innenraum eines Hauses. Bis hin zu den träneneden Marienbildern.

Besser für Romaninspiration: Penny MCLean "Adeline" und die vierte Dimension. Für den "Verweser" als Quelle! Und sehr wichtig auch Jungs Fallbeschreibung von Fräulein S.W. (in dtv, S. 178.)

 

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