DER VERWESER

Roman

 

Einführung. Zum Roman: Aus der Werkstatt

 

 

 

1. Der Flüchtling Nicolao Granucci kehrt nach vielen Jahren trotz Lebensgefahr heim. Und wird in einem Turm am Meer von Viareggio lebenslänglich eingemauert

 

 

 

2. Der Transsylvan Michael Templin auf Westreise kehrt 1969 ebenfalls unter Gefahren heim. Und hat in Lucca ein halluzinatives Wiederbegegnungs-Erlebnis: er meint, er habe hier schon einmal gelebt.

 

 

 

3. Auf dem Rückweg nach Transsylvanien liest er die aus Prag mitgebrachten alten Manuskripte und erkennt, daß er ein Doppelgänger des Signor G. ist

 

 

 

4. Nachdem er sein Land kurz danach verläßt, beginnt seine Suche nach NG. Er löäßt sich in der Lucchesia nieder, um seinem Schicksals-Mann, der er selbst zu sein scheint, näher zu sein

 

 

 

5. Gespräch mit seiner Frau Hanna über ihre neue Umgebung und die "cultura uterina"

 

 

 

II.Kapitel

 

6. Die Geburt des Nicolao Granucci auf dem Fischmarkt von Pisa. Die Vorfahren. Die sexhungrige Tante. Sie verführt ihn. Erste Begegnung mit den Benandante und ihrem Nackttanz. Hexenflüge und Orgien. Die Bedeutung des Orgasmus

 

 

7. Er studiert Medizin in Bologna. In der Klosterschule von Lucca lernt er sine große Liebe - Lucrezia Malpigli kennen

 

 

8. Sein Doktorvater und Meister ist Filippo Rusticci, der Magier. Beschreibung seiner Hexenküche und Behausung.

Konfikte mit der Familie Buonvis, deren Sohn Lucrezia versprochen wurde. Ein Überfall. Galeerenstrafe

 

 

 

III. Kapitel

 

9. Bagni di Lucca. Begegnungen mit Michel de Montaigne

 

 

10. Erzählrunde bei der Witwe Sercambi. Von den Gespenstern und Vampiren

 

 

11. Hanna und Michael Templin im Heilbad Bagni di Lucca

 

 

12. Weitere Gespenstergeschichten. Und der eifersüchtige Lelio Buonvisi

 

 

13. Diable au corps, Lucrezias Rache an ihren Ehemnännern. Morde

 

 

14. Die unheimlichen Geschichten der Masseuse Alessandra

 

 

15. Templin hat in Lucca eine Vision

 

 

16. Hannas Wesen. Lucrezias Poesie gegen die Ehe. Ihr systematischer Ehebruch

 

 

17. Lucrezias "Flüge". Die Salbe.

 

 

C:\WINWORD\vwhppoe.doc 

 ZURÜCK ZUR HOMEPAGE

 

  

 

 

DER VERWESER

Roman

 

Wir müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden, und abwarten, wie es in Ansehung der künftigen Welt sein wird. Aber Gott und die andere Welt sind das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen. Und eben die Unwissenheit macht es, daß ich mich nicht unterstehe, so gänzlich die Wahrheit so mancher Geistererzählung abzuleugnen.

Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers.

 

 

 

Für Linde

 

1

 

I.Kapitel

 

Es war der 4. Mai 1602: Über Florenz, dann auf der Kaiserstraße, die nach Rom führt, kehrte der alte Emigrant Nicolao Granucci wieder in seine Heimatstadt Lucca zurück.

Abgezehrt sah er aus - und er war kaum noch in der Lage zu sprechen. Er hörte Stimmen. Und in seinem Hirn glühten die Gedanken. Im Kopf ein Sausen.

Wird sich die Wand, die bisher vor ihm stand, jetzt öffnen?

Ein Brausen, Laute aus der Idylle: Glocken talwärts und der frische Morgen ganz nah; ein Bellen aus der Ferne.

Stille hinter dem Tal, nur jener, den er dachte, fehlte.

Dann setzte eine Art Sturm in den Geräuschen ein.

Die Leute wichen seinem Gemurmel und seinen fiebrigen Blicken aus.

Ihn, den alten Mörder, erwartete zu Hause der Tod.

Doch es war ihm gleichgültig, was mit ihm geschah; nur diese Luft, diese Erde, den Serchio, die Straße seiner Kindheit, die sienafarbenen Hauswände, den Geruch nach Rauch am Abend, all das, was längst vergangen war, wollte er fühlen, tasten, schmecken, riechen. In ihm die Stimmen: Wann Boccaccio diktierst du mir wieder einen Vers? Ich schlafe ja, wenn ich erwache, ist die Angst vorbei: Wir leben ewig! du glaubst es nicht?!

Als sie ihn gefangennahmen, sprach er mit dem Olivenbaum; er nahm eine Handvoll Erde, vergrub sein Gesicht darin, besprach sie murmelnd: Wirf ihn aus dir, den Lehm/ nachts wächst der Berg. Widerstandslos abgeführt, leise vor sich hinsprechend wie ein Irrer, wollte er den Anführer der Häscher umarmen, als wäre er ein lange vermißter Freund, er wurde brutal zurückgestoßen, fiel zu Boden. Daß doch die Stadt unserer Herkunft nicht auch die Stadt unserer Heimat sein kann ...

Folter und Urteil erwartete ihn - und die ewige Nacht.

 

Am Tage der Vollstreckung brachten sie ihn in einen Turm am Meer, umschwirrt von Mückenwolken, winziggepunktet der Himmel, mala aria über dem öden Land; im Sumpf kleine Stege, das Land nur streifenweise trocken, Adern, Wasseräderchen, brackig, schwarz, geronnenes Blut; daß der Turm in seiner klobigen Schwere, ein Quaderstein aus dem Raum geschnitten, nicht in die Tiefe sank, war ein Wunder.

Der Verurteilte in abgerissener Kleidung, die Haut zerfetzt, die Glieder zerbrochen, konnte nicht mehr gehen; Stadtsoldaten und Polizisten halfen ihm aus dem schwarzen Gefängniswagen, sie schleppten ihn im Laufschritt in den Turm; und warfen ihn in den fauligen Gestank; Granucci stürzte wie ein halbleerer Sack auf das alte Stroh. Schwärzliche Gruft; schleimige Glätte an der Wand, Wasser tropfte, Sekundentakt dunkler Ewigkeit, die den Gefangenen erwartete.

Er lag mit schwärendem Rücken auf dem Stroh, wund, nur im Kopf das Licht, das den Augenschein durchbrach; schwächer und schwächer war das Dröhnen, Kopfbewegung, Bogen einer Gedankenbahn auf heller Hirnwand, wie früher das Weiße auf dem Papierblatt, so daß er eingemauert im Finstern mit diesem Licht im Kopf da lag, das in ihm schrieb: und er so vierzehn Jahre lang den schleichenden Tod überlebte; er sah es im Dunkeln leuchten und die Bilder bewegten sich schneller und schneller: hell gesehen die Geister einer wiedergefundenen Zukunft:

 

2

"Im Dezember 1968 - damals auf Besuchsreise aus dem Osten - hatte ich in der Biblioteca Governativa von Lucca nachgeforscht und ein Buch Nicolao Granuccis, des verkannten Romanciers und Zauberkünstlers aus dem sechzehnten Jahrhundert gefunden; es schien mir, als diente dieses wiedergefundene Buch nun einer Art Rettungsaktion, mehr noch, als wäre ich selbst dieser Verkannte, der mich auf meine eigenen Spuren bringen könnte, die bisher verwischt gewesen waren.

Ich weiß nicht, wer sich heute noch jenen Zustand der Angst und des Gefängnisses im Kopf von damals vorstellen kann, als wären Jahrhunderte vergangen, seit ich im damaligen Westen nur zu Besuch sein durfte, und ich mich in diesem Gebiet bewegte, als wäre ich andauernd einige Zentimeter schwebend über dem Erdboden, nervenaufreibend jeder Tag, kaum auszuhalten die Unruhe in jener - von der Polizei - zugemessenen, ja, von ihr gestundeten Zeit, die sehr kostbar schien, und die ich möglichst intensiv nützen wollte; Daher war ich ja auch nach Italien, vor allem nach Rom und in die Toskana gefahren, nach Paris, nach Lissabon, nach Griechenland. Ich war damals noch jung, und so konnte ich diese seelische und auch körperliche Strapaze, samt den Behörden- und Paßschikanen, relativ gut überstehen. Und Hannah, die ich in Frankfurt kennengelernt hatte, half mir, reiste meist mit. Sie sah nun nochmals mit meinen Augen und mit kindlich-naivem Erstaunen die ihr längst bekannten Gegenden, wunderte sich, wie frisch die Eindrücke noch sein konnten.

 

Doch das eigentliche Geschenk meines wunden, heftig traumatisierten Unbewußten aus dem roten Gespensterreich täglicher Alpträume war eine aufregende Entdeckung in der Stadt Lucca, deren Schönheit mir damals wie ein Wunder erschien:

Wir waren von Bologna mit dem Zug nach Florenz und dann nach Lucca gefahren... Ich lag im Abteil, hatte die Augen geschlossen, es muß bei Montecatini gewesen sein, da verwandelte sich jenes Ratatata des Zuges plötzlich in einen Ritt; und auch als ich die Augen öffnete, überlagerte ein Reiter das gewohnte Landschafts- und Augenbild; ich sah doppelt, sah einen Film über die Außenwelt ziehen; und es war eine Traumerinnerung, die sich schon mehrfach wiederholt hatte: ein Mann stieg in einer nun schon wohlbekannten Straße vom Pferd; am Ende der Straße lag eine schöne Villa und ein Park mit alten Bäumen; der Mann war ... nun, ich sah es ja vor mir, dieser Mann war ich selbst: Ich band vor einem großen Haus mit grünen Läden das Pferd an einen Pflock, ging durch die Haustür in den Flur; auf der Kommode lag ein kleiner schwarzer Kater... ich sah durch die geöffnete Tür des Flurs ein Zimmer, einen hellen Raum, sah ein Gartenfenster und eine üppige Frau im halb geöffneten Morgenrock... vom Wind gebauscht, und ich sah: sie war darunter nackt; auf der Fensterbank rote und mauvefarbene Geranien, dahinter im Halbdunkel des Raumes ein kostbarer Schrank, dann ein runder Spiegel, an der Wand ein altersgeschwärztes Bild mit einem Weißbärtigen, der drei Finger wie zum Schwur erhob.

Als wir dann in Lucca ankamen, es war meine erste Begegnung mit dieser Stadt, schien sie mir fremd; wir sahen zuerst den Dom San Martino an, den Schwarzen Christus, lasen die Reiseführerkommentare, Heine dazu, gingen dann zum Palazzo Guinigi (der abgesprungene Verputz erinnerte mich an Wien), auf dem hohen Turm war eine Steineiche, über den Büschen im Garten eine Palme - da hatte ich andauernd jenes merkwürdige Gefühl einer Wiederbegegnung, und ich fürchtete jene Übelkeit, jenen Schwindel, wenn Szenen, Bilder, Gesichter aus dem Unbewußten wie aus vergessenen Alpträumen hochsteigen. Als wir dann gegen Mittag durch eine mir bisher völlig unbekannte Straße, die Via del Fosso, kamen, da begannen die Traumfetzen tatsächlich hochzusteigen; Jeder kennt dieses seltsame Gefühl des Wiedererkennen, des Déjá-vu: ein Haus, vor dem wir standen, ja ... es war genau jenes Haus mit den grünen Fensterläden, wo ich die üppige Frau im Morgenrock gesehen hatte. Ich stand regungslos da und starrte das Haus an, es war mir vertraut wie die Häuser und Gegenstände der Kindheit; die blonde Frau wandte mir ihr Gesicht zu, es war sehr schön, und sie lächelte mir mit herausforderndem Blick zu.

Damals, als ich diese Stadt wiederfand, sie wie aus einem vergessenen Traum in mir wiederkam, standen mir die Tränen in den Augen: . Als wäre jene Berührung ein Durchbruch durch die Zeit gewesen - zu etwas heftig Ersehntem. Als gäbe es wirklich so etwas wie eine Wiederkehr: Ich sah es doch genau und mit den Händen greifbar vor mir: Die Tür stand einen Spalt offen, ich ging hinein, ich erkannte alles wieder: ein kleiner Vorraum, sogar eine Kommode gab es, rechts die kleine Treppe, eine Tür, links eine andere, eine steile Treppe, ich ging hinauf, als käme ich nach Hause... im Zimmer alte Möbel, starker undefinierbarer Geruch, der sich wie gesprayt in Atmosphäre auflöste, mehr noch, sie war ein wenig gruftig, diese dichte Aura des Abgelebten, verrottet wie in alten luccheser Villen, überall Spuren der Toten, alter Bewohner, von den Sinnen wieder zur Anwesenheit gezwungen.

So war es auch mit dem Bild, ich sah es an der Wand hinter der bräunlichvergilbten Stehlampe, es stellte einen Bärtigen dar, das Haar silbrig, die grünlichen Augen prüfend, die Hand erhoben, warnende Geste mit den drei Fingern, offenbar ein Zeichen, das Todeszeichen... ich erkannte es, ich erschrak. Szenen, die mir dazu aus dem Unbewußten hochstiegen, wie im Nebel Bilder formten, Traumfetzen und Fragmente, herausgewürgt voller Übelkeit, materielle Fragmente einer furchtbaren Vorstellung; Schwindel erfaßte mich, meist wird ein Anfall ausgelöst durch Blickkontakt, das Gesicht eines Unbekannten vor mir, blitzartig die Wahrnehmung: den kennst du, wo hast du den schon mal gesehen? Irgendwo erlebt und gut gekannt; doch ein Loch im Gedächtnis quält, dafür wühlende Emotionen, krankhaft, schmerzhaft. In der luccheser Via del Fosso war das wieder so, Übelkeit und Schwindel und dann diese Traumfetzen.

Die Via del Fosso liegt in der Nähe der Kirche San Francesco, wo an jenem Weihnachtstag 1968 der Leipziger Thomanerchor ein Konzert gab. Ich ging ans Ende der Straße, doch da war keine Villa, wie ich sie im Traum gesehen hatte, sondern eine Durchgangsstraße, Autoverkehr brauste vorbei. Eine Ampel. Rechts eine Villa, doch nicht die meine. Der Park, ja den gab es noch. Doch die hohen Bäume waren verschwunden. Der Verstand versagt - wie bei Todesfällen, konnte ich sagen: ich weiß, daß es dort ganz bestimmt eine Villa gegeben hatte? Woher wußte ich es denn?

Dann kam mir eines Tages der Zufall, diese Konstellation synchroner Ereignisse zu Hilfe: Es gab damals im Rathaus der Stadt die erste Ausstellung über die luccheser Palazzi des 16. Jahrhunderts, und ich konnte dort mit Mario Berengo, Mailänder Professor und īesperto assolutoī fürs 16. lucchesische Jahrhundert, ausführlich sprechen. Ich fragte ihn, wer denn dort damals in jenem Haus in der Via del Fosso gelebt habe, und Berengo sagte mir: es sei ein gewisser Nicolao Granucci, Arzt, Magier und völlig erfolgloser Poet gewesen, bekannt in der Stadtgeschichte nur, weil er sich durch eine unrühmliche Mord- und Liebesgeschichte hervorgetan habe, liiert mit der reichen Erbin Lucida Lucrezia Mansi-Buonvisi, und der habe also tatsächlich in der Via del Fosso gewohnt, und auf dem alten Stadtplan Berengos ist auch diese Villa am Ende der Straße eingezeichnet, an die ich mich erinnern konnte, Mario Berengo, Historiker und Archivar... ist es nicht merkwürdig, ausgerechnet jetzt fand diese Ausstellung über die luccheser Palazzi des l6.Jahrhunderts statt, und Berengo bestätigte mir, daß jenes Haus dem "Todesdoktor" Rusticci gehört, daß der es dem Nicolao Granucci vererbt habe, und daß Granucci zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt und lebendig eingemauert worden war, erst nach vierzehn Jahren in seinem Grab starb, und in der Kirche San Donino von Marlia begraben liege. Gesicherte Fakten, von denen ich jetzt hörte. Granucci - sei allerdings ein Pseudonym für Massimiliano Arnolfini gewesen:

Das alles beeindruckte mich sehr: was macht ein Mensch vierzehn Jahre lang eingemauert im Finstern, muß er nicht verrückt werden. Der Mann begann mich sehr zu interessieren, und ich ging in die Biblioteca Governativa, um an seine Schriften heran zu kommen.

Eine nette schwarzäugige Bibliothekarin, in die ich mich dann fast verliebte, daher auch gerne und immer öfter nach Lucca fuhr, brachte alte vergilbte Prozeßakten, Zeichnungen mit einem genauen Grundriß der Turmanlage, und sogar eine Reihe von Manuskripten und Memoiren an meinen Tisch im großen Lesesaal; sie waren teils gedruckt, teils handgeschrieben, ein Wirrwarr von Buchstaben in altertümlicher Orthographie, und meine Angstträume bekamen nun auch einen amtlichen Namen: Nicolao Granucci, geboren am 6. August 1544 in Lucca, zwischen 1582 und 1603 auf der Flucht und im Exil, kreuz und quer durch Europa, 1600-1603 in Transsylvanien, Nemesvár, 1604 lebenslang eingemauert im Turm von Viareggio, dort gestorben im Mai 1618. Ich suchte nach den Gründen - und stieß dabei wieder auf den Namen Abraham Abulafia, den ich dann 1969 in Prag suchen sollte; ein Kabbalist aus Saragossa aus dem 13. Jahrhundert, der davon ausging, daß ein Damm existiere, der die Seele in ihrem natürlichen Bereich gefangenhalte und daran hindere, ihre eigentlichen Kräfte zu nützen, klar zu sehen und die Wahrheit auch über sich selbst oder andere zu erkennen. Abulafia hatte eine Technik entwickelt, die man den Knoten lösen, nannte, Hinweise, wie man dieses Geheimnis nützen könnte, ohne verrückt zu werden. Diese Technik ist dann im Laufe der Jahrhunderte immer weiter entwickelt und natürlich geheim gehalten worden. Abulafias Handbücher, das "Buch vom ewigen Leben", "Das Licht des Intellekts", "Das Buch der Kombinationen" u.a. sind gedruckt. Doch das wichtigste Buch hat er nicht veröffentlicht. Einiges davon fand ich Gottseidank in Granuccis Abschrift (im lī URBANO) in der Biblioteca Governativa.

Leider konnte ich das damals nicht weiter verfolgen, ich mußte in mein altes Gefängnis zurückkehren.

 

3

Ich war damals in Lucca und in jenem Teil der Welt, den wir "den Westen" nannten, und der mir wie verzaubert, wie ein freies Märchenland vorkam, nur zu Besuch und nur auf gestundete Zeit da war; ich hatte im Paß ein gestempeltes Datum, die Erlaubnis also, nur kurzfristig "frei" zu sein.

Ich hatte damals Teile aus dem Buch fotokopieren lassen, und es auf meiner Heimreise nach Transsylvanien in den damals grenzgesperrten Osten mitgenommen. Der Besuch in Lucca war Weihnachten gewesen, ich hatte also noch zwei Monate der Freiheit mit Hannah in Frankfurt; wir zählten die Tage, dann rückte der mir selbst gesetzte Termin immer näher; die Heimkehr sollte eine "Therapie", eine Art Exorzismus meines Heimwehs und meiner Schuldgefühle sein, weil ich nachts nicht schlief, hin- und hergerissen war zwischen Heimweh und Angst, Liebe zu Hannah und Liebe zu jenem verdammten Land mit seinen Landschaften und vertrauten Leuten, Freunden und Eltern, die mich bis in die Träume hinein verfolgten, so daß mir das Gewissen schlug, und eine Stimme mir etwas von einem "Verräter" ins Ohr flüsterte! Ich glaubte ja außerdem, ich hätte dort noch "eine Aufgabe" zu erfüllen und dürfte nicht "desertieren". Im März begann ich meine abenteuerliche Rückfahrt.

Um mich abzulenken, meine Angst zu bekämpfen, denn ich wußte, was mich "zu Hause" erwartete, hatte ich im Zug, in Hotels, auf Bahnhöfen fasziniert in Granuccis Schriften gelesen. Ich nahm auch an, daß "sie" diese Fotokopien an der Grenze nicht konfiszieren würden.

Ich hatte zwar jene Datumsgrenze bei weitem und unerlaubt überschritten, doch beim Außenministerium und bei der Geheimpolizei wollte ich als Grund für mein langes vaterlandsverräterisches Fernbleiben angeben, daß es schon 1601, zur Zeit der ersten Vereinigung durch Michael den Tapferen, sehr gute Beziehungen zwischen Italien und Transsylvanien gegeben habe; damals, so wollte ich den Geheimen berichten, habe der verfolgte Granucci in unserem freien Lande Asyl gefunden, er sei mit Silvio Piccolomini und mit vielen Ingenieuren und Technikern in Transsylvanien gewesen, um Straßen, Brücken und Festungen zu bauen, es zeige an, daß wir schon damals auf Weltniveau gewesen waren. Und genau dieses hätte ich aus patriotischen Gründen in Lucca und Florenz eingehend recherchiert, um ein Buch darüber zu schreiben, es der Welt bekanntzugeben.

Hannah brachte mich mit dem Auto bis Heidelberg, mit dem Zug fuhr ich dann weiter über Stuttgart und München nach Wien, in Richtung Heimat, und las zum Trost in Granuccis Buch; der Mann schien mir ein Hellseher wie Nostradamus, der auch meine Zukunft vorausgesagt hatte, ja, sie langsam, und je mehr ich mich ins Skript vertiefte, bestimmte; seine Geschichten vermischten sich bis in meine Alpträume hinein untrennbar mit meinen bewußten und unbewußten Ängsten, denn nicht ganz zu Unrecht schien es mir, als wäre seine Geschichte auch meine Geschichte, meine Heimreise auch seine Heimreise, ohne daß ich freilich, wie er, Wunder wirken konnte, ganz im Gegenteil, ich war gefangen, es schien mir eine finstere Reise in die Vergangenheit, ja ins Mittelalter zu sein. Ich las also im Zug, machte mir viele Notizen, übersetzte in meiner Erregung den altitalienischen Text, wußte freilich noch nicht, daß dieses eine schicksalhafte Begegnung war, die mich den Rest meines Lebens beschäftigen würde.

Dann überschritt ich die Grenze, den Eisernen Vorhang in Richtung Preßburg; in allen Städten hielt ich mich mehrere Tage auf, und hatte heiße Telefonate mit Hannah, meist nachts. Dann großer Abstecher nach Prag, wo ich noch kurz vor Torschluß (heimatlicher Grenzübertritt!) nach Handschriften suchen wollte, denn ich vertraute auf keinen Milo Temesvar, auf keine Transsylvanica in der Brukenthalbibliothek, sondern wollte in Prag weiter nach Handschriften suchen.

Die alte Stadt Prag also, wo Granucci auf seiner Flucht quer durch Europa am Hofe Rudolfs II gewesen war, und dort sowohl Kepler, als auch einige Alchemisten und Kabbalisten kennengelernt hatte. So suchte ich in Prag nach Schriften von Abulafia, denn ich war davon überzeugt, daß die Unheilsgeschichte des Okzidents (die auch jenes rote Monstrum in meiner Heimat hervorgebracht hatte, und nun dazu führte, daß ich nicht schlafen und essen konnte!) in jener Zeit begonnen hatte, indem alles, was in eine bestimmte Richtung von Natur- und Seelenraub nicht paßte, auch der Inquisition nicht paßte, unterschlagen wurde. Was mich freilich an Granucci noch mehr anzog, war seine Vorliebe für das Geheimnis des Todes, daß er, so nahe am Ende, von einem unvorstellbaren postmortalen Leben wußte, und, als wäre nun wieder alles beim Alten, hatte er Hoffnung und Zukunft in jenen Bereich verlegt, da er mit seinem Projekt des "Messiasstaates" ebenfalls ein gescheiterter Weltveränderer war, wie ich ein gescheiterter Mensch aus dem Osten; und als hörte ich auf jener Heimreise das Echo aus meiner gläubigen Vergangenheit: die Marx- und Engelsstimmen wie ein Höllengeheul.

Ich hatte mich nun, trotz vieler eingelegter Zwischenaufenthalte, rasch der verfluchten Grenze genähert, jener Alptraumgrenze, die freilich auch ein Wundermittel gewesen war: sie hielt damals noch diesen gefährlichen Riesenkomplex Erde gewaltsam zusammen, und verhinderte den Zerfall Europas und der Welt. Ich fand einiges in den Prager Bibliotheken, war aber für ernsthaftes Nachdenken zu verwirrt und von Angst geplagt, nur mein fester Entschluß, zu Hause über eine Doppelperson, nämlich über Granucci und über mich zu schreiben, möglicherweise in einer Zelle nach meiner Verhaftung, trieb mich dazu, Abschriften anzufertigen; ich war so naiv, mir vorzustellen, daß "sie" mir aus vaterländischen Gründen erlauben würden, eine ihrer Zellen in ein Studio zu verwandeln; doch vergaß ich das bald, denn je näher ich kam, umso mehr nahm dieses flaue Gefühl im Bauch zu; in Prag war ich ja schon halb zu Hause, sah mißtrauisch jeden an, auch in der Bibliothek, ob die nicht schon wüßten, wer ich war, ob sie mich festnehmen würden, um mich dem Bruderland auszuliefern. Ich war fahrig und nervös, und noch heute erkenne ich an der kaum lesbaren Schrift und den Zitterbuchstaben in dem einzigen Notizbuch, das mir geblieben ist, wie es damals um mich stand. Nach einigen Tagen verließ ich dann das schöne, damals besetzte Prag: überall die Sowjets und ihre Panzer.

Und als ich von Prag schließlich nach Budapest kam, an jene damals noch unübersehbare wachturm- und stacheldrahtbewehrte Grenze, hatte ich nicht nur freudiges Herzklopfen.

Wie zu erwarten, nahmen sie mir am Grenzübergang alles Schriftliche ab, so alle Abschriften, und das Granucci-Skript natürlich auch. Kein vaterländischer Protest half. Und ich habe diese unersetzlichen Notizen nie wiedergesehen. Enttäuschend war, daß mich nach meiner abenteuerlichen Heimkehr nicht mal mehr die Securitate beachtete, und auch das Außenministerium meine lucchesische Version mit dem Traumflug-Techniker Granucci und der Vereinigung der Fürstentümer, samt Michael dem Tapferen, nicht hören wollte; ich wurde nur mürrisch und ohne jedes Verständnis für Vaterlandsliebe abgefertigt, ein Stempel, eine Unterschrift - und damit hatte es sich. Auch nachher ließen sie mich in Ruhe, ich wartete täglich vergeblich auf einen Anruf meines verantwortlichen Führungsoffiziers, doch schien kein operativer Vorgang vorgesehen, und über den Westen wußten sie ja sowieso genug, ja zuviel.

Schlimmer war, daß ich mich nun, in Bukarest dem dort üblichen Lebensstil ausgesetzt, nach sechs Monaten Westaufenthalt, wunderte, je hier gelebt zu haben, so daß ich alles tat, um aus meinem alten Leben zu flüchten; was unter den gegebenen Umständen auch gelang (ich war zurückgekehrt und also vertrauenswürdig). So hatte ich nun mit der starken Überzeugungskraft des Selbsterlebten gleich zwei Länder und auch das Vertrauen in zwei Lebenssysteme verloren. Ich wählte das kleinere Übel, und schon ein halbes Jahr später lag ich in Hannahs Armen; so geschehen am Frankfurter Flughafen im November 1969.

 

 

4

Damit begann freilich auch mein Doppelleben; ich mußte, als ich endlich von neuem in den Westen kam, von vorne anfangen, der Signor Granucci verließ mich all die nervenaufreibenden Westjahre nicht mehr, er spukte in meinem Hirn und belästigte mich zuweilen. Ich fiel in meinem Bewußtsein um Jahrhunderte zurück: so daß mich Granucci nicht mehr losließ, und damit Lucca einen so starken Sog auf mich ausübte, daß Hannah und ich, als die vielen Reisen in die luccheser Gegend zu teuer wurden, schon im Mai 73 endgültig in ein kleines Bergdorf der Lucchesia namens Aliano, übersiedelten; es bedurfte keiner großen Überredungskunst, Hannah davon zu überzeugen, ihren Verlagsjob aufzugeben und Deutschland zu verlassen. Sie tat es mit Freuden. Was weiter geschah, läßt sich auch so ausdrücken: Hannah, "Nicco und ich" wohnten dann weit vom Schuß und mit vielen Alltagssorgen und Finanzproblemen in einer schönen Gegend zusammen, ich anfangs mit schrecklichen Schuldgefühlen, und trotz allem immer noch mit Heimweh. Nur Schreiben half noch, und - mein Freund Granucci, der mich, und das will ich gleich erzählen, eine Art Amor fati lehrte, daß es nämlich keine Zufälle gebe, sondern diese Lebenszufälle zu einem uns "zugeteilten" Schicksal gehören, das uns alle bestimmt.

Ich hatte natürlich meine alten Recherchen wieder aufgenommen, denn genau jener Amor fati, oder die vergessene Schicksalsliebe, war ja, wie wir gesehen haben, durch ein seltsames Erlebnis schon bei einer der ersten Lucca-Reisen bestärkt worden. Es war jenes Déjà-vu, das mir im Winter 1968, sehr tröstlich in meinem wunden Zustand des Emigrantendaseins zustieß, und mir prophetisch und hilfreich bestätigte, daß das, was ich getan hatte, nämlich mein Land zu verlassen, auch nicht in Deutschland zu bleiben, sondern nach Italien und in die Lucchesia zu ziehen, trotz aller Nöte und Existenzängste, richtig gewesen war. Denn das Exil führt zu einem bodenlosen, dem Wahnsinn oft nahen Zustand, bei dem hochprozentiger Alkohol zum gefährlichen Tröster wird. Ein Kollege hatte Selbstmord begangen, ein anderer lebt seit Jahren in einer Heilanstalt. Und ich habe einen Psychiaterfreund, Michum, einen Griechen aus Florenz, der mich mit Psychopharmaka versorgt, und wenn es notwendig wird, mir auch auf Zeit und als Freiwilliger einen Platz in einer ( anfangs noch offenen) Anstalt besorgt.

Am wichtigsten beim Heilungsprozeß aber war die hier noch unbetretene Natur, das Aufbrechen eines sehr weit zurückreichenden Gedächtnisses, das aufarbeitende Schreiben, dann aber vor allem - Granucci selbst.

Ich fange mit einem wichtigen Momentbild der Heilung hier in Aliano an: Wolkentiere kommen von Westen wie Himmelsinseln durch die Olivenzweige. Alles ist unendlich klar und offen. Kein Straßenlärm, wie früher in der Frankfurter Leerbachstraße: ein rotes Auto, ein einzelner Junge, eine Frau mit Hund, ein Lieferwagen, doch Leichenwagen gab es keine, schwarz ausgeschlagene, wie in seiner Kindheit in Transsylvanien mit Popen, die Weihrauchfässer schwenkten; in Frankfurt distinguierte Herren, die, plötzlich an die Vergänglichkeit ihres Körpers erinnert, stumm den Hut lüfteten und stehen blieben.

Hier geht meist Hannah durch das Haus, die Treppe hinab, die ich wie in Gedanken hinabgehe, Pause; als strömte da alles wieder ein, füllt Hannah alle Vasen verschwenderisch mit Rosen, Tulpen, Kamelien, im Winter auch Rosmarin, sogar Orangen oder Zitronen; und sie raucht, so spürt sie am besten die Pause, ein Genuß: sie steht sinnend an der Tür, stellt Gläser bereit für den Abendtrunk, und wartet nicht auf diese Freunde: Rut und den Dr. Michum, den eingebildeten professore, den mag sie nicht, sie wartet vielleicht auf Luca, den Musiker, den ich verdächtige, heimlich mit ihr... Aber sie wartet auch auf einen Unbekannten, auf jemanden, dem sie auf dem Kirchplatz oder in der Via del mezzo begegnet ist, mit den Blicken begegnet, die bei ihr immer noch sehnsüchtig sein können. Komm!

 

Einer der florentiner Freunde, ich glaube, es war Dr. Michum, sagte, es sei ihm bei seinem letzten Besuch in unserem Haus aufgefallen, wie sich mein Gesicht bei einem bestimmten Geräusch verwandelt habe, ich hätte dabei starr auf einen Punkt gesehen.

- Du hast da wohl Luca gesehen. Ja, diese Eifersucht, Eifersüchtige sehen wie die Hunde Gerüche und Rivalengespenster.

Doch ich weiß es besser: Als wir nämlich den Maultierpfad überquerten, der an unserem Haus vorbeiführt, zum Auto gehen wollten, um ans Meer zu fahren, meinte ich, Hufe von Pferden und Mauleseln auf diesem uralten Pfad klappern zu hören. Dabei hatte ich dann tatsächlich mit einer ganz veränderten Stimme gesprochen, mich erschrocken umgesehen und festgestellt: Niemand war da.

Dazu kommt noch folgendes (und auch die Schönheit der Landschaft läßt mich nicht wieder wirklich werden!): Seit einiger Zeit, ich glaube, es ist neun Jahre her ( etwa seit 1989, heute schreiben wir Dezember 1998), bin ich von der Illusion befreit, als lebte ich wirklich, und es scheint mir, als sei ich jenseits der Enttäuschung angekommen, und nur anonym hier in der Landschaft; so läuft man schneller als die Zeit.

Aber die Enttäuschungen häuften sich, ja, von denen gibt es in meinem Leben genug, jetzt die mit Hannah (sie hat einen Lover). Enttäuschung, was unser ganzes bisheriges Leben betrifft, und diese Enttäuschung gibt mir eine große Gewißheit, so, als fiele alles von mir ab, was bisher wichtig zu sein schien.

Ich erinnere mich immer wieder an dieses Erlebnis auf dem Maultierpfad, und ich muß auch jetzt wieder daran denken, daß Cézanne die Dinge mit Wundrändern gemalt hat, und er dachte dabei an das Gesicht seines Onkels in der Mönchskutte, und sogar die hat er so gemalt, als hätten die Umrisse Wundränder. Auch Van Gogh hatte seine Zypressen als Schwingungen einer wunden und verrückt gewordenen Innenwelt gemalt, so, als stoße eine Welle dauernd an ihre Grenze, wie die stotternde Zunge an einen wehen Gaumen. Genau so ergeht es mir nun auch - unheimlich sind diese zypressenartigen Geistergesichter, die ich manchmal vor mir sehe, vor allem das Gesicht des alten Nicolao Granucci, Gesichter, die ( es ist schwer zu erklären!) kein Außen haben, jedoch wie ganz blasse, fast transparente Film-Projektionen über die Landschaft ziehen, auf den Wänden der sogenannten Außenwelt erscheinen, ganz nah, doch zugleich ungreifbar weit und geisterhaft bewegt, wenn ich sie zu lange ansehe, und da hilft auch kein Augenschließen, weil die Bilder durch die Lider gehen, als kämen sie aus dem Schlaf oder aus dem Tod, so fangen sie auch an mit mir zu sprechen. Michum behauptet, die Ursache sei ein zu intensiver Umgang mit meinen Figuren, vor allem mit Nicco, es habe ja auch andere Kollegen gegeben, die mit ihren erfundenen Personen so lebten, als wären sie wirklich vorhanden!

 

Doch nun zu jenem so wichtigen, fast lebensrettenden Déjà-vu aus dem Jahre 1968 in Lucca, das meine Existenz hier vollauf rechtfertigt und mit Sinn beschenkt. Immer wieder mußte ich an jenen Wachtraum denken, denn er war es gewesen, der mein Leben gelenkt und bestimmt hatte; für mich hat er eine noch größere Beweiskraft, als die in Lucca gefundenen Dokumente über Granucci, die mich davon überzeugten, daß es zwischen uns eine geheime Lebensbindung gab; schriftlichen Dokumenten muß keiner trauen; Träume aber kann niemand fälschen. Schon lange vor jenem wichtigen Traum von 1968 hatte sich Nicolao Romano Granucci in meinem Leben eingenistet, sich immer mehr eingemischt; vor allem seit wir hierher in seine Nähe übersiedelt sind, läßt er mich überhaupt nicht mehr allein; und er zwingt mich, über ihn dieses Buch zu schreiben, so zu tun, als wäre alles nur erfunden, also ein Roman.

Nachts aber diese wirklichen Geräusche vom Fenster her; aus einer Ecke im Zimmer, wo der Wald hereinreicht, schwarz, da, und dort ein Gesicht, dann mit Angst beschrieben, oder eher geschrieen, nämlich mit zitternden Fingern, genau neben der Tastatur auf einem leeren Blatt, das immer noch daliegt. Schreiben scheint manchmal höchst gefährlich zu sein. An den Schläfen ein Druck, gespannter Bogen der Stirn, als wäre das Bewußtsein zu angestrengt, wie ein fernes helles Licht dieser Punkt im Hirn, der mir heimleuchtet; es verläßt mich nie, im Schlaf nicht, da wird es zu bunten Bildern, im Wachen nicht, da macht er mir schmerzhaft seine als meine Absenz bewußt.

Diesen Traum habe ich auch nachher immer wieder geträumt, doch nicht nur damals Weihnachten 1968 hatte ich dieses Haus wirklich und daher voller Schrecken gesehen und wiedererkannt. - nein, diese Déjà- vus kamen immer näher, wurden immer intimer, wollten mit mir verschmelzen; wenn es dann einmal so weit ist, dachte ich, dann bist du reif für die Klapsmühle, dann gibt es keine Rettung mehr, dann bist du wirklich Nicolao Granucci.

 

Und im Zustand dieser Absencen eines Emigrantendaseins fand 1973 dann auch meine erste wirkliche Begegnung mit Nicolao statt. Ich war mit Hannah wieder einmal nach Lucca gefahren. Und als wir in die Via del Fosso kamen, sah ich über dem gewohnten Bild deutlich eine Pappelallee und dann auch einen Park mit Blumen. Ich habe heute noch diesen starken Geruch von Jasmin in der Nase, und sehe am Hang die gelben Himmelsschlüsselblumen, ganz nah dieser süßliche Geruch und die gelben Klöppel. Ich stand wieder vor dem Haus mit den grünen Fensterläden, trat ein, ging die steile Stiege hoch, klopfte an die Tür. Ein alter Mann öffnete mir diesmal und sah mich erstaunt an. Dieser Blick! Der Alte hatte ein verdrießliches Gesicht, ein äußerst faltiges, eine Art Mumiengesicht. Nur die Nase rötlich. Sonst Blässe. Keine Haare. Eine Mischung aus Mönch und Gespenst. Und ich stotterte eine Entschuldigung, bat ihn dann, das Haus sehen zu dürfen, auch wenn ihm dies recht seltsam vorkommen müsse.

Affatto, schnarrte er, da ist doch jeder, der hier wohnen will, erwartet worden, ist willkommen. Auch Sie, mein Herr, sind erwartet worden.

Am liebsten hätte ich das Haus für längere Zeit gemietet.

Das ganze Haus ist zu vermieten, sagte der Mann.

Das ganze Haus?

Ja, das ganze Haus, sagte er. Ich bin nur der Verwalter, die Besitzer möchten hier nicht wohnen. Es spukt. Leider.

Es spukt? Das ist ja merkwürdig. Glaubt man in Lucca denn noch an Geister?

Ich habe auch nicht daran geglaubt, sagte der Mann mit seinem feinen Mumienlächeln; doch seit ich das Gespenst selbst gesehen habe, muß ich wohl daran glauben.

Sehr merkwürdig, murmelte ich.

Überhaupt nicht, Caro Signore; Sie müssen entschuldigen, aber Sie selbst sind das Gespenst!

 

Wären es nur diese wenigen Begegnungen mit ihm gewesen, hätte ich alles vergessen können, täglich vergessen wir andauernd das "Wichtigste", sehr beeindruckt oft von etwas anderem, lassen wir es dann doch liegen, das Leben wird so peu à peu beiseitegelegt, und es kommt nie zum "Wichtigsten". Er aber ließ mir keine Ruhe, er kam immer wieder.

Was tut jemand, der heute einer Sache auf den Grund gehen will - er redet mit Ortskundigen; ich hörte mich also um, ich befragte auch den Custoden des Turmes; natürlich ging ich wieder in die Bibliotheken, zu diesem Riesengedächtnis alles Gewesenen und Toten; Berge von Akten und Handschriften in Lucca, in Florenz. Und nach langwierigen Recherchen war mir wieder, wie schon 1968, klar: alle Beschreibungen stimmten genau, sogar der schwarze Hut und das braune Wams, die grüne Augenfarbe, vor allem die typische Geste mit der Hand, diese mit drei Fingern wie zum Schwur oder zur Drohung hochgehobene linke, nicht die rechte Hand, die "Todesdiagnose" stimmten genau mit der Beschreibung überein.

 

Ich hatte schon gleich am Anfang unseres Aufenthaltes hier im Mai 1973 die Torre Matilde in der nahegelegenen Hafenstadt Viareggio mit meinen florentiner Freunden besucht, es waren Michum, seine Frau Argia, eine Analytikerin, und ihre Tochter Tanja, Medizin- und Musikstudentin in Mailand; und da stand Granucci wie eine Erscheinung im runden Raum des Turmes unter der wackligen Treppe, und hob zum erstenmal die Hand, genau wie auf jenem Bild in der Via del Fosso machte er das Todeszeichen. Ich sah ihn wie in einem Spiegel, die Mauer war durchsichtig wie Glas, keiner freilich sah ihn, außer mir, ich wagte auch nichts dazu zu sagen.

Die Torre Matilde steht am Tyrrhenischen Meer an einem Kanal, der sich im Badeort Viareggio von einem sumpfigen See zum Meer hinzieht, mein Wohnort liegt nur einige Kilometer davon entfernt in den Apuanischen Alpen; und so genau, wie in jener Torre habe ich Nicco nur noch einmal sehen können. Das ist gar nicht so lange her. Der schlimmste Traum aber war am realsten: - Gott, dieser Blick, grüngesprenkelte meerige Augen, als dürfte ich nicht fortgehen, ihn einfach stehen lassen, vergessen, so als wäre das der Abschied für immer; täglich gibt es dies, kaum bewußt, die vielen Blicke, die uns streifen, Dinge, die wir andauernd aufgeben; hier aber war's, als fordere dieser tieftraurige Abschiedsblick mich auf, etwas zu tun, als ginge es nicht um ihn, sondern um mich selbst, und um sein Unglück, das mir bekannt war, als wäre ich dabeigewesen in diesem Turm am Meer; Viareggio gab es damals noch nicht, nur die Weite leerer Räume..."

 

5

Soweit Roman Templin; er saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. In den vielen Jahren hier in seinem alten Haus, das aussieht, als hebe es sich wie ein Buchstabe aus dem umgebenden Land, war er mit der Granucci-Geschichte gut voran gekommen, hier, in diesem toskanischen "rustico" - einem einfachen geometrischen Körper, es wirkt fast antik; "cultura uterina," sagt Hannah, "umgebendes Sicherheitsgefühl."

Und dieses hatte er wirklich nötig, der alte Emigrant, auch wenn er an dieses Sicherheitsgefühl nicht mehr glauben konnte, es für Illusion und Betrug hielt! "Der Riß geht mitten durch uns durch", sagte er, "nicht erst seit heute, nicht erst seit gestern."

Und schrieb dann weiter, als wäre diese im Augenblick aufgebaute Wirklichkeit die einzig mögliche, tauchte er in sein eigentliches "Anwesen" ein; allein dort, sagte er zu Hannah, fühle er sich noch zu Hause:

"Der Himmel ist blau. In der Ferne das Meer, ein Strich. In allen Dingen diese Unmöglichkeit, es stimmt nicht, daß Dinge hier auf der Erde ganz sein können, wenn wir es nicht sind. Sie sind nicht mehr heil. In jedem Baum in jedem Grashalm strahlt es, tickt Zerstörung. Und auch in uns diese Unglaubwürdigkeit, weil wir in jeder Sekunde dazu beitragen, daß etwas nicht stimmt - wir zu ohnmächtig sind, etwas daran zu ändern, und doch meinen, es ändern zu können."

Und Hannah? War sie noch "ganz"? Er mit seinen alten durchlöcherten Namen fühlte sich immer ohnmächtiger, Orte dürfen keinen Namen haben, Namen rufen, decken zu.

Templin schwieg, doch in ihm wurde es ganz laut, rumorte. Templin horchte, übte sich darin, zu vergessen, spürte sein Herz, die Brust und den Bauch, ging in Gedanken tiefer, sah sein Geschlecht vor sich. Am liebsten war er allein, und das war alles so laut innen, wie die Stirne, die Schläfe, die er spürte, tief in sich, als gäbe es da noch einen, den man nicht sehen kann: Templin kann ja auch seine Pupille nicht sehen. Vielleicht beginnt in dieser Abwesenheit seine Verrücktheit, daß er jene Stimme gar nicht abschalten kann, er kann so wenig von ihr weghören, wie er von sich selbst einfach weggehen kann.

Templin schreibt, die Zeilen wie hereingeholt aus dem Land, den Furchen, die Dinu, der Bauer, auf dem Kartoffelacker gezogen hat: Das wäre gut, doch maßlos untoskanisch, denkt er: es ist leider nicht zu ändern, die Schrift ist mein Beruf; ich gehe damit weit zurück, und kann diesem Land entsprechen:

"Es ist ein uraltes Land. Je höher du die Hügel hochsteigst", sagt Hannah: "Je höher du hinaufsteigst, umso verwischter sind die alten Furchen und Steinmauern, unbebaut fallen sie wieder ins Nichts zurück, - hast du es bei unserem letzten Bergausflug gesehen?"

Früher war das Land hier bebaut. Bis hoch hinauf, Dinu hat es beschrieben: bis auf achthundert Meter Höhe war das Land außerordentlich feinschichtig gewoben, wie ein Gedankennetz, bei Fiesole sieht man es noch heute: Linien, Flächen, Trapeze, dann die Reihen der Weinstöcke, die längst, als wären sie unerlaubt, gewesen und vergangen sind; dazwischen Diagonalen, Horizontalen, Grammatik des alten Landes, verdichtet als Rast, als Punkt der Milde, wo alles noch einmal geträumt wird, die Casa, umgeben von Oliven, Zypressen, Feigen, Obstbäumen; sie hatten es während eines Fluges gesehen: das Land wirkt aus der Vogelschau merkwürdig abstrakt und doch organisch, als wäre es das geformte Unbewußte, Muster des Schreibens; Zeilen, Formen, dem Land abgerungen und zur Sprache gebracht.

"Tempi passati", sagt Hannah, "du meinst es doch auch: Alles ist noch da und doch wie längst vergangen; ich mag deine Nostalgie, mißversteh mich nicht, sie ist ja auch meine: bei all den neuen häßlichen Villette der Neureichen Alles wird jetzt >neu< gemacht, pompös und reich, glitzernd und protzig. Schau dir nur an, was für Häuser die jungen Leute unserer Umgebung in die Landschaft gesetzt haben, die Kinder unserer alten Bauern. Alles so gelackt, daß sich die Kastanien schämen, einer hat sogar eine elektronische Anlage an der Garage - mit Fernbedienung. Oder die schöne alte Apotheke an der Ecke, die ist nun ein kleiner kitschiger Marmorsalon, und nicht wiederzuerkennen."

"Alles kleine Bankkaufleute und nichts im Hirn!" Wirft Templin ein und freut sich, daß Hannah endlich einmal wie er denkt: "Ein Reichtum im Teuren und Künstlichen!" sagt er: "Mir ist es schleierhaft, woher die soviel Geld haben. Die letzten alten Dinge sind jetzt endgültig >erneuert< und ersticken in ihrer Verpackung."

"Die Landkirchen hier haben einen offenen Dachstuhl, er paßt zum alten Land, das wie eine Ruine daliegt, die Landkirchen mit offenem Dachstuhl schauen fast schon wie Vergessene ins Land", sagt Hannah:

"Es sagt mir besonders zu, ich habe es gern: bei den alten Bauern ist es noch spürbar, von denen jetzt die letzten aussterben: diese herzliche Distanz; diese maledetti toscani hatten früher, als es sie wirklich noch gab, erkannt, wie kraftzehrend und unökonomisch die Extreme sind, Schönheit aber drückt in aller Einfachheit letztlich das Praktische aus..."

"Aber gerade deshalb schreibe ich doch weiter: sieh, Granucci hat doch noch wirklich gelebt! Bedenke es", sagt Roman heftig, und setzt sich dann an sein "Klavier", wie er die Tastatur nennt!.

Hannah aber spürte seine Irritation, ahnte, daß einer seiner Ausbrüche folgen könnte, und verließ schnell das Arbeitszimmer. Sie hatte es eilig, als habe sie Angst, daß jetzt eine Kontroverse entstehen könnte...

 

Hannah geht schnell in ihr Zimmer, um weiter zu übersetzen; es ist ein Text von Heraklit. Etwas Handwerkliches! Ist es das, was Hannah in ihrem hintergründigen Realitätssinn und mit ihrer praktischen Klugheit so sehr mag? Sie paßt besser in diese alte Landschaft hier als Templin. Und sogar Machiavellis praktische Staatskunst, diese Taktik zwischen Zufall, der fortuna, und dem freilich schillernden und vieldeutigen inneren Ordnungsbegriff virtù gehört dazu. Es war einmal, ja, einmal wie ein Märchen, und vielleicht gehört ihre Sehnsucht immer noch in jene alte Landschaft, deren Ruinen jedoch Löcher haben, als könnten sie durchsehen, jetzt nach vorn. Ja, Hannah ist klüger als ich, schießt es Templin durch den Kopf: und hat jenes unangemaßte, ja, unbewußte Wissen vom Rätsel des Wachseins, die Klugheit jener Geistesgegenwart, die Skepsis nicht ausschließt. Ist ihr dieses Warten auf Nachricht von einem längst Toten zu unglaublich, also zu "irdisch", zu faßbar und zu "materiell", etwas, das ihr innerstes Geheimnis im Scheinen des Banalen beleidigt? Oder ist es, was sie auf den Tod nicht mag, wie sie ironischerweise sagt: das schon Verfestigte, Gewesene, Abgeschlossene und gerade Zukunftslose.

Und Roman taucht in die Anfänge ein, wo seine Sinne noch gesund gewesen waren und er sich wohlgefühlt hatte: Durch das offene Fenster hört man das Klappern seines "Klaviers," er aber vergißt sich ganz: -

 

 

II. Kapitel

6 Nicolao Granucci wurde auf dem Fischmarkt von Pisa geboren, kam aber schon als Säugling in die Republik Lucca, sein Stiefvater hatte ein kleines Anwesen vor den Toren der Stadt. Der kleine Nicolao wuchs dort auf dem Hof mit Hühnern, Gänsen und der Hündin Ira, dem großen Hund Pluto auf, hatte eine erlebnisreiche und sorgenfreie Kindheit mit Tieren, Bäumen und Blumen am Arno. Er schrieb früh Gedichte an seine "Spielgefährten", die Engel. Und er liebte wie ein Mädchen die Blumen, die dem "Irdischen Treuen", denen die Menschen Schicksal am Rande des Schicksals liehen, und kannte sich mit ihnen und den Kräutern gut aus. Kurioses Wissen hatte er von seiner Stiefmutter Caterina, der Kräuterfrau: daß Blumen ihr Welken bereuen könnten, und daß es an uns Menschen liege, ihre Reue bewußt zu machen.

Er hatte eine dunkle Herkunft, denn geboren wurde er auf dem Pisaner Fischmarkt und eines der Marktweiber war seine Mutter, die ihn heimlich gebar, sich bei seiner Geburt mit Preßwehen und Flüchen wand, aber nicht schreien durfte, sich aus Angst, daß sie jemand bemerkte, mit der Hand den Mund zuhielt, dort wo dieses Tier mit seiner Zunge reingeleckt hatte, und unten die Teufelsspritze in ihr. Schnell, nur weg mit dem Balg, das eklige Geschäft hinter sich bringen: Und als es dann kam, das Köpfchen fast schon zwischen den Schamlippen, wurde sie aufgerissen wie mit einem riesigen Phallus von der verkehrten Seite, Schleim, Blut und Sekrete, so hockte sie sich unter den Tisch, als müßte sie ihre Notdurft verrichten, und würgte das Kind heraus, blutende Plazenta, wie das Fischgekröse da, dachte sie: Gestank nach Aas und Fisch, verdorbenem Fleisch und kokelndem Horn; Schlachthof. Mit einer Gestanksorgie empfing diese Welt den armen kleinen Nicolao. (Sein Leben lang konnte er nichts Fischiges riechen, und kotzte jeden Fisch sofort aus!) Die Rabenmutter aber, bekannt als Hure der mercati, nabelte mit einem schartigen Fischmesser das zappelnde blutige Ding da ab. Hitze. Vom Schmerz betäubt, lag sie auf dem dreckigen, mit Abfall und Gemüseresten und glitschigen Fischschuppen übersäten Boden und schrie. Das Neugeborene warf sie unter den Tisch zum Abfall. Man roch den Gestank da unter dem Tisch, bedeckt von einem Fliegenschwarm, mitten unter Fischgekröse, Fischköpfen... Der arme Fleischbalg, getroffen, zitternd von dieser Kälte draußen, wie vom Blitz getroffen im Sonnenlicht, die winzige Kreatur, etwas für sich und allein da zu sein, brüllte und heulte in allen Tonarten, daß die Leute zusammenliefen! Die Wache holten.

Das Marktweib wurde abgeführt. Und weil herauskam, daß noch andere drei Kinder zuvor unter dem Tisch gestorben waren, hinabgekarrt dann an den Fluß, wurde sie festgenommen, und schon eine Woche später als Kindsmörderin gerichtet; weiterer Blutstrahl unter dem Beil. Letzter Seufzer.

Das Kind aber, nun in schmutzige stinkende Tücher gehüllt, wie ein Stoffballen verschnürt, man sah es, wurde von amtswegen einer Amme gegeben. 3 Soldi pro Woche. Und zehnmal die Amme gewechselt. Hat er es überhaupt je erfahren?

Und so kam Nicolao schließlich zur mitleidigen Caterina "zur Cur", da er ein "besonderes Kind" und des Teufels sei. Ein Dauergeschwätz der guten Caterina: Sie erinnere sich noch, jaja, sicuro, ihr wurde das Kind, o was für ein Kind! das ungetauft war, namenlos und verkrustet vor Dreck, einfach in den Arm gelegt. Onkel Lucchesini und Tante Laura, jaja, die hatten es ihr, der Hebamme, gebracht. Es sei vielleicht ein jüdisches Kind, sagte der Onkel, man wisse es nicht genau, doch sei dies anzunehmen: Die Mutter der disgraziata stamme nicht aus dem armen, sondern dem reichen Judenviertel, "Pisa, jaja Pisa. Ich bin doch keine Jüdin", sagte Caterina. "Aber wir!" sagten die beiden. "Und wir werden es trotzdem taufen." "Anzunehmen", so der Rabbi: "die Ur-Großmutter vielleicht Dolce oder Dulceta, möglich: Tochter olim Fincii von Benjamin Finzi, Jude aus Monfelice, geehelicht 1477 Abraham Davide di Elia Galli, Jude aus Parma, Mitgift von etwa 230 Goldducaten, Dolce wurde bald Witwe, ja, und heiratete den berühmten Vitale, Sohn Isacs von Pisa am 22. Mai 1483. Die Tochter Clemenza aber, Mutter der Markthure, fiel ab, heiratete einen Christen, und der Vater, leidend wegen dieses Abfalls von Blut und Glauben, versuchte mehrfach, die Tochter mit Gift zu töten. Sie flüchtete, gebar im Elend die Tochter, die Kindsmörderin vom Markt. Man schrieb das Jahr 1544."

Aber Zeiten spielen natürlich überhaupt keine Rolle, das ist eine Art Kostüm- und Szenenwechsel.

In dieser engen Stube mit den kleinen Fenstern roch es fad nach Kinderkacke, Kräutern und Kamin. Das Kind ohne Namen lag dort im Arm der Hebamme Caterina und wimmerte. Und sie fragte entsetzt: "Was soll ich mit ihm? Ein fremdes Kind." Doch Tante Laura konterte: "Hannahs Kind, nicht eigentlich Hannahs Kind, ist wahr, doch die letzte Amme war Sarah, deine Nichte, auch sie ist tot, du weißt es: Caterina! Zwei Monate hat sie es gepflegt, wie ihr eigenes, bevor sie erkrankte. Vergiß das nicht. Vergiß das arme Würmchen nicht, die Mutter geköpft, der Vater nirgends, hat seinen Lustschrei abgegeben, den Samen verspritzt und ist verschwunden."

"Tot, alle tot", flüsterte Caterina, die Hebamme. Caterina. Da öffnete das Kind die großen Augen, wimmerte wieder. Und Caterina versuchte seine verkrampften Fingerchen zu lösen, betastete die kleinen Ärmchen, die herumfuchtelten, ihr plötzlich mitten ins Gesicht faßten; diese Berührung, dieses warme Gekrabbel an ihrer Wange, ihrer Nase, konnte sie nicht vergessen.

"Die Milch, aber woher nehme ich die Milch?"

Templins Augen sind grün und klein; und was er zu sehen meint, ist nicht nur, wenn er schreibt - vergangen, und das verwirrt ihn sehr: vom verwitterten Turm aus Pieve schlägt eine Uhr, sein Herz schlägt schneller, das Uhrwerk rasselt, wieder eine volle Stunde, es klingt durch die graue, Gottseidank noch saubere Mauer an sein Ohr. Er sitzt in seinem Zimmer, täglich, und schreibt, die Sprache, sagt er, sei eigentlich sein einziges Haus, schreibt an dieser längst vergangenen Geschichte, Zeit zum Stillstand zu bringen, und so vielleicht für Momente wenigstens wirklich zu werden, in einer Zeit als es noch Wirklichkeit gab, faßbar; doch "Draußen" geht das Jetzt unaufhörlich dem wirklichen Tode zu; und so versitzt Roman sein Leben, und ist fast nie in diesem Raum, wie er selten im Körper ist, der Blick geht ganz nach innen, hinein in ein Lichtfenster mit schwarzen Buchstaben-Leitern oder Flugschmetterlingen, dem Bildschirmfenster, es sind Buchstabenreihen, mit denen er abhebt, und hebt nach innen ab, oder der Blick geht von Zeit zu Zeit nach außen, dann ist vor ihm das Meer, der Horizont, da schlägt sich das Auge an: Himmel- und Wasser-Berührung, die Kontur scharf, vor allem am Abend bei untergehender Sonne, südwestlich Korsika, nordwestlich Ventimiglia, der Golf von Genua, nah aber Pedona mit einem Fernsehrelais, ein Bergrücken, wie ein liegendes Tier, kein Fenster gegenüber, keine Häuserzeile, die den Blick hemmt, nur ferne Dorfkonturen wie eine Fata Morgana, die am Berg hängt, als wäre alles aus der Zeit geschnitten, als schreibe man nicht 1998, sondern 1544. Und Roman schrieb weiter, hastig, als hätte er etwas versäumt:

 

Ja, den Tod bekämpfte auch Nicolao schon früh. Alles will schweben, das wußte er von seinem Meister Rusticci, der ihm Paracelsus zu lesen gab, die Schwerkraft der Dinge sei ein Herz, lernte er, also, leitete er davon ab: tat Leben weh. Und so schienen immer irgendwelche Geister da zu sein, sie waren die Fluggeräte der Seele. Doch andere Geister blieben die "Beschwerer" und wurden schon früh von der Moira geschickt, und als die Liebe den Fünfzehnjährigen zum erstenmal brennen ließ, war es die Schwester seiner Mutter, die junge Tante Laura aus Pisa, ein Brennen, das den Körper entfachte. Entscheidend für sein Leben war seine Tante Laura, die ihn lieben und so auch fliegen lehrte, und daß die Kirche Unrecht hat: Geist und Liebe, Kopf und Schwanz gehören wie zwei Brüder zusammen! Und sie brauchen eine Schwester!

Die schöne Laura sagte: "Wir gehören zu Dionys, er ist der Zauberer üppiger Paradieseslust schon auf der Erde, verbindet Leben und Tod ..." Jaja, die geile üppige junge Tante Laura aus Pisa, sie tätschelt ihn, sie streichelt ihn, und faßt ihm mit so schmelzender Bewegung an, als löse sich das Fleisch ihrer Finger an seinem: umdrehende, umfassende Bewegung, umfaßt wie eine Frucht von ihren streichelnden Fingern, samtweich, zieht ihn zu sich ins warme Bett an ihren nackten weichversinkenden Frauenleib. Es war wunderbar, er küsste ihren ganzen Wunderleib ab, der nach Veilchen und Milch roch und nach sonnenwarmem Korn ihr Mund. - In ihrem Schlafgemach aber hing über dem Alkoven das "Tausendjährige Reich. Das Paradies der Lüste", ein Druck nach Hieronymus Bosch. Für Chiliasten und Adamiten eine Art Altarbild, erotisches Mysterium. Und er wußte doch, wie viel Occultes und Geheimnisvolles aus seiner Vorstellung eines "Tausendjährigen Reiches" darin enthalten war. Altarbild der lucchesichen "Chiliasten", einer geheimen Verschwörergruppe, der Nicolao später angehörte.

Und Granucci sah sich oft nächtlich mit Laura unter den Benandante-Nackten auf der Wiese tanzen, mondscheintrunken, hüllenlos in lauer Sommernacht am Apennin; verpönt war Besitz, auch der der Seelen und Leiber, so besaß jeder jeden, wie im Paradiesflügel des Tryptichons Christus, Adam und Eva einen geschlossenen Stromkreis der orgiastischen Kräfte zeigen, die das Weltall bauen, sie im Vordergrund, gleich hinter ihnen der phallische Lebensbaum schlank wie eine Rakete in Eden, und das Sakramentshäuschen mit dem Lebensbrunnen, und dort in der Mitte das gnostische Auge oder die Vagina mit der Eule, die aus dem Loch ihren Flug beginnt, Ekstase, die den Geist befreit. Dann aber im Höllenflügel zwei erschrockene Augen hinter dem Todesbaum, versteint im Sumpf, und das Lebensei durchspießt, vom Beinhaus der Schlüssel berufenen Propheten vorgehalten, die auf des Messers Schneide und auf die Scheide, die es sucht, achten müssen, Messer wie ein Penis aus zwei hodenförmigen Ohren, die klingen sollen im Orgasmus kosmischer Musik, wehe der Sexus schafft das Gleichgewicht nicht, weil er sich zu sehr beeilt! Am schönsten aber der Mittelteil des Tryptichons: Paradies der Anhänger des Freien Geistes, Triumphzug um das Lebenswasser, Gedränge von Fruchtbarkeitssymbolen wie ein Wahn, jauchzendes tolles Geschwärm, Früchte, Tiere, Männer, reitend auf der Sonnenumlaufsbahn um ein Wasserloch mit nackten Mädchen in obszönen Stellungen, ein besonders wuchernder Busch von hinten, Ziffernblatt der Schöpfungssonnenuhr, dies die Mitte, wie die sprudelnde zuckende V, Ein- und Ausgang der Welt ist, Rhythmus des Vögelns als Ei.

Im Zimmer roch es nach Geschlecht und fad nach Samen, nach Sekreten und Schweiß, dann nach ihrem Parfüm. Und die Liebeszene von Bosch dazu: Liebespaare in Kristallkugeln und Fruchtblasen; schön, wie die Windhaube des Löwenzahns, unzählige Samensporen, die zusammenschmelzen zu einem: wie zum Wegblasen: gewichtsloser Ballen, ähnelt sie einer alchemistischen Retorte; und die Vögel-Kammer war, wie die Destillationshaube in der Geheimsprache der Laboranten genannt wird, auch eine Brutkammer, in der güldene Menschlein erzeugt werden aus roten Rosen und weißen Lilien. Und Granucci hat es nie vergessen, seine Laura gab ihren Inzest und Liebesakt als heilige Kommunion aus, wie später Lucrezia, als sie mit einer jüngeren Nonne beim lesbischen Akt ertappt wurde, Geheimnis, das wie Essen und Trinken auch, nicht nur zur Kinderzeugung dient oder zum Hungerstillen, es geht um den andern Hunger. Granucci gefiel in Boschs Tryptichon die Frauenfigur mit gespreizten Beinen, die sich mit beiden Händen an ihren Busch faßt, der so groß ist, daß darauf ein Vogel sein Nest baut, Eier ausbrütet, doch langsam ins Loch hineinsinkt, das sich dem Ei und seinem Schnabel öffnet, der wächst, bis er das Glied ist, das da hineingehört und Zukunft aus dem Samen spritzt, Laura mit den Daumen aber den Kitzler erigiert und so zum Lustschrei kommt. Testis, testare, Zeuge, Zeugen, und der junge Granucci der Voyeur, der Augenzeuge...

 

Templin aber sitzt in einem Bunker aus Büchern, links und rechts bis an die Decke flüstern die Seiten ständig zwischen den Buchdeckeln, möchten entkommen, wirklich werden; im Hintergrund der alte schöne Kamin, in dem seit er und Hannah hier wohnen, noch nie Feuer gebrannt hat, doch eine Couch steht davor, wie ein übriggebliebener Wunsch, Armleuchter an der Wand; Templin hatte sich vorgestellt, hier am Kaminfeuer so entzogen, versteckt und im Inkognito sich mit schönen Frauen zu lieben und mit Freunden bis in die Nacht hinein zu sitzen, zu trinken, zu reden, reden, reden, in jener Ecke, wo sonst die Geister wie kleine Lichtkonturen oder wie ein Fensterwiderschein zu sehen sind, am Fenster dem Wald und dem Berg zu, das letzte Fenster von Aliano, dahinter kommt nur der Wald, der Berg und dann nichts mehr. So hatte er es gewollt, menschenleer:

"Mögen die Ungeborenen, die lange warten, und auch die Toten herabsteigen, geweckt von unserer Liebesekstase; ich gehe weiter, ich mag das, was es noch nicht gibt..."

 

Dazu jetzt dieses Flüstern im Kopf, das er in seinem Lichtfenster festhält: Dionys, ja, das ist der älteste Name für jene, die wir die "Toten" nennen, und das orphische Rad gehört dazu, der Eingang zu ihnen damals in Eleusis. Langher. Persephone, Korn, Mutterkorn, das Loch der Welt. Und das Grab, das alle Geburten frißt, ist ebenfalls ein Loch, das auch die Toten wiederbringt, es ist leer, ein Tor zu jenen Sphären, die wir vergessen sollen und die uns freilich erwarten! Bei Granucci war das noch anders, da gab es keine Trennung zwischen Liebe, Leben und Tod. Der Verliebte meinte, wenn er mit Laura schlief, er sei tief mit den Dingen, wie sein junges Geschlecht mit ihr jauchzend verbunden, dachte, er sei der wiedergeborene, der zweite Dionys-Zagreus, nachdem der erste schmerzhaft zerfetzt und zerstückelt worden war, hier ein Arm, dort ein Bein, und zerrissen, entzwei, nachdem der oberste Gott sein Herz geschluckt hatte, Glut und Freude, Schrei des Jakchos, der in den Mysterien, wie sie ihm die Tante erzählt hatte, erschienen war: der so als Jauchzender der Ausgerufene war, der aber nicht mehr im alten Körper lebte, nicht mehr in diesem kleinen Todesleib lebte, nein, er lebte in jenem Leib, der den Flug kennt, und in den Himmel fahren wird, wenn es so weit ist; doch jetzt schon möglich sei, wie bei den Mysten, den ersten, Ausstieg aus dem Körpergrab, mit schönen alten Symbolen zu sagen: Schmetterling Psyche, der in diesem Brausen emporsteigt, Licht am Ende, Urlicht natürlich. Dionys holt die Seelen aus der Schattenwelt, Sohn seiner Mutter Demeter, Bruder der Persephone, gehört nach Eleusis also, ins Mysterium, das schon damals der Flug war, aber auch dieses Heimliche und Verbotene, dieser Lustschrei der Befreiung beim Akt dabei, wie sie, die Benandante, zu denen ihn die Tante brachte, es zum Fliegen brachten: da übte man zuerst den Orgasmus zu zweit, und Laura lehrte es ihn. Später kam dann Lucrezia und ihr Orgasmus.

Nicht zufällig hieß ihr Geliebter ja "Granucci", "Granucci" kommt von "grana" Korn, Mutterkorn. So aus der gemeinsamen Tiefe zu den anderen Sphären im Flug, manchmal warīs dann auf der Wiese, und er meinte, die Frauen, die sich dort hingaben, wären selbst ekstatische Blumen, gar rote Fliegenpilze, wie der rote Pilz in der Dämmerung und roch auch genau so faulig und scharf.

 

Er sah jetzt diese Szene, ein Herbst warīs, da saßen sie allesamt beim Abendbrot, der Onkel Lucchesini und die Tante Laura, samt Caterina, eine Speise aus geröstetem Brot gabīs, toscanisch, und da stürzte der Arbeiter Michele ins Zimmer, er war beauftragt worden ein Olivengefäß auszugraben. "Herr, Herr", stotterte der Mann aufgeregt: und zitternd vor Angst. Es sei etwas Böses und Furchtbares auf dem Feld, ein Toter krieche unter dem Ölgefäß hervor, und wolle aus der Erde: die Hand strecke er aus dem Boden, die sei schon draußen, bald folge der Arm, der Kopf gar, wie bei einer Geburt, mein Gott, ein Toter aus der Mutter Erde, ein Geist, ein Phantom, ein Teufel vielleicht. Man zündete in aller Eile ein Licht an und ging an den verfluchten Ort. Sah die Hand. Tante Laura dachte, die Finger bewegen sich doch. Caterina, die Hebamme, Kräuterfrau und Zauberin, bewahrte ihre Ruhe: "Ihr Dummköpfe, die ist doch nur aus Stein!" Sie ergriff die Hand und riß sie aus, als wärīs eine Rübe. Und plötzlich erinnerte sich Granucci ganz deutlich: Seine Mutter hatte doch immer diese Hand im Zimmer, in einer Lade hinter dem Ofen. Da gabīs auch sonst Hausgerät, Lappen, Salben, Kräuter, Amulette. Und mit der Hand heilte sie jeden, der zu ihr kam. Zahnweh durch Berührung. Magenleiden, Fieber heilte sie, sogar Kühe brachte sie zum Kalben. Und warum nicht auch Frauen beim Kinderkriegen helfen? Ja, sie tat es: indem sie die kalte Hand auf den heißen schmerzenden Bauch legte, dann mit den steinernen Fingern zur Vulva hinabfuhr und sie leicht öffnete, als gehe es um Liebe, nicht um Geburt..

 

7

Und Lucrezia, die seine lebenslange Wunde sein wird? Granucci hatte sie in der Klosterschule kennengelernt. Er hatte inzwischen in Bologna Medizin studiert, war junger Arzt: Und der junge Arzt hatte im Kloster, zusammen mit seinem Meister, dem Dottore Rusticci, Zutritt gehabt.

Es war eine naive Liebe, Liebe auf den ersten Blick gewesen. Granucci, der übte damals seinen Arztberuf aus. Maria-Lucrezia litt unter Magersucht, und er, der sich auch auf die Seele verstand, führte ihre Krankheit, ihre Leichenblässe auf diesen Zustand zurück, von der Familie an Männer, die sie anekelten, "versprochen" zu sein; dabei hatte sie ein heißes, liebesbedürftiges Herz; verraten und verkauft sei sie, sagte sie dem jungen Arzt, der sich schon bei der ersten Begegnung in sie verliebt hatte, verraten und verkauft, schon von Anfang an in dieser Welt, versprochen einem, aus der reichen Familie Buonvisi, Paolo; Geldheirat in die schwerreiche Familie, aus der schon ihre Mutter stammte, war vorgeplant; die Banken florierten, sollten weiter blühen. Und das lucchesische Web- und Seidentuch wurde zu Lucrezias Leichentuch. In Lyon war die reichste Handelskompagnie die der Buonvisi. Zahlten in diesem Jahr an den Fiskus 685.400 Scudi, ein ungeheures Vermögen.

Auf einem Bild von Frans Pourbus, man kann es in der Villa Landini von Camigliano sehen, sind die fünf Söhne und die vier Töchter des Lorenzo Buonvisi wie die Orgelpfeifen nach ihrem Alter samt den Eltern aufgereiht, in fast hieratischer Haltung, alle außer dem Vater mit kostbarer Spitzenhalskrause auf flandrische Art, schwarz gekleidet die männlichen Glieder dieses Familien- und Zeugungsidylls, die Töchter kostbar in gelber und roter Seide. Nur die Häsin, die Mutter, die soviel Tod hervorgebracht hat, ebenfalls schwarz. Und zählt sie doch auf, die Schwarzen: - Pompeo, Orazio, Fabrizio, Lelio, Cesare. Scipione und Carlo sind noch ungezeugt, im Bild also noch nicht zu sehen. Doch etwas, nämlich der Einbruch des Ichs, das sich im Unfaßbaren der Liebe und des Todes am deutlichsten zeigt, störte Kalkül und alle Sicherheiten, auch das Geflecht und Gehäuse, in dem man so gut lebte, und war dem Handel nicht günstig. Alles aber, womit man nicht rechnen kann, bleibt unheimlich. Zum Beispiel die Liebe. Daher gilt es die Augen offen zu halten.

 

Lucrezia im Kloster. Sie und eine Gruppe junger Mädchen in Novizinnenkleidung an einem Bachufer; der Bach fließt durch einen Garten. Klosterschülerinnen werfen einander einen Stoffball zu. Einige sitzen im Kreis. Die Lieder. Die Ordensfrau Cathérine; sie führt die Aufsicht. Sie hat ein strenges Gesicht. "Ich fürchte sie", sagt Lucrezia: "Ich sehe mich von oben, ich erkenne mich, ich bin hübsch, blond, langnasig. Ich halte den Kopf gesenkt, die Augen sind traurig. Ich pflücke vom Ufer eine Blume. Von Zeit zu Zeit eine Blume. Weiß. Werfe sie ins Wasser, möchte mit den Blumen ins Wasser, fließen, nicht mehr da sein, sein mit den Blumen, die ganze tote Blumenkopfreihe fließt den Bach hinab. Unter Weiden, dunklen Strudeln, das Brennen, so dunkeltīs hinab. Ich spiele Zither. Wenn ich spiele, ist es mir, als könnte ich fliegen. Ich wollte immer ein Instrument spielen können. Nun konnte ich es. Aber Maestro Lazzaro, der geile Bock, schlug mir mit dem Rohrstöckchen auf die Finger. Au. Das machte ihm Spaß. Und meine Tränen auch."

Dort am Bach sitzt Lucida, Lucida das bin ich, das bist du, Lucrezia, sagt Granucci, Lu. Und hinter dem dicken Weidenstamm da: Nicolao, der junge Doctor. Wortlos und hoffnungslos; pfeift und winkt. Pfeift und winkt: du kannst ihn nicht erreichen, kannst dich nicht rühren, ich kann nicht aufstehn, sie würde es merken, Cathérine, die mit dem wippenden weißblauen Nonnenaufbau, der Haube. Unter der keuschen Haube, Braut Christi. Sie, die Treue, liebt ein Phantom. Ein Phantom? Ha. Lucrezia liebt ihn. Liebt den Jungen, nachts die Finger zwischen den Beinen, Milch und Blut, Haut und Haar: mit den wasserblauen Augen. Den mit den wilden dunklen Haaren, den muskulösen Armen, Granucci, den Springer; und es hämmert eisenhell, der Tag.

Der Abbé hat sie einmal erwischt, auf nackter Erde, es roch nach Regen, auch nach Stroh im kleinen Schuppen hinter der Kirche, die beiden. Ach, sie harmlos und scheu, berührten sich kaum, nur heiße Gedanken tasteten, so verlegen, prickelnde Scham, Wangenroterosen, sie glühte, die kleine Lucida Lucrezia, Marie.

Man zwingt sie heimzukehren. Sie sei eine Gefahr für den Ruf des Klosters, so die Äbtissin. Und schon morgen zurück in den Palazzo Mansi, die Schande. Ihn nie mehr wiedersehn. Nie.

Da, ein Plätschern im Bach, ein Wuschelkopf im Bach: Kopfschütteln, Wasser aus den Augen. Und legt den Finger auf den Mund.

"Komm. Leise, leise. Komm. - Nur keine Angst, Lu, das Wasser. Es ist nicht kalt."

Und sie im Wasser. Ein Gleiten. Cathérine sieht es nicht. Keiner sieht es. Unter den Weidenbüschen, gebückt, und davon. Dann drüben am Hügel. Und Schlottern vor Kälte. Lucida, Lucrezia, Marie. Schlagen die Zähne aufeinander. Angst schaut aus den Augen, groß die Nacht, rund, und dunkle Pupillen wie Puppen, Schrecken dort. Unten.

Die Leute aber sind unterwegs. Fackeln, Fackeln und Laternen, sie zu suchen. Brennen, Fackeln, Laternen und die Hunde. Blut Hunde. Verbeißen sich im Fleisch. Haut und Haar, bekleidet die Knochen. "Hörst du. Ich krieche in dich hinein, horch, dort im Grund, wo wir uns nicht mehr sahen, am Felderrand, ganz nah, Marat. Die Hunde am Bein. Schwerter. Äxte." Menschen. Kläffen. Lichter. Ein Dorf bewegt sich der Moral zu. Verbissen. Wehe, sie werden gefunden. Reißen. Ins Warme, heiß, alle Sterne. Sie klappert mit den Zähnen und klammert sich an ihn.

Lautes Rufen. Irgendwo bimmelt eine Glocke.

"Sie werden uns nie in Ruhe lassen. Nie. Nicco, sie werden uns immer verfolgen. Komm", sagt sie, "komm. Wir wollen sterben, der Tod ist gut wie der Schlaf. "

"Ja", sagt der große Junge, "ja, laß uns fliegen."

"Komm, laß uns von der großen Brücke fliegen", sagt sie.

"Die große Brücke ist gut für uns", sagt er, "sie ist hoch."

Die Höhe der Brücke. Es muß eine besondere Brücke gewesen sein. Und sie waren dem Himmel nah mit einem einzigen Grund.

Sie flogen.

Das Herz, Haut und Haar längst verwest? Und nirgends? Und die tickende Uhr? Blieb stehen. Es sollte ja Unzeit sein, unbewegt. Und der Gedanke, der auftaucht, ein Nachher.

Er hatte seine Arme um sie gelegt. Sie zitterte. Espenlaub am Hang. Und lebte noch. Und war nicht. Wie Schlafwandler: zur Brücke. Zehn Minuten Weg, eine Ewigkeit. Ganz langsam, Schritt für Schritt, Stein für Stein, Erdkrümel, Gras, wie Schlafwandler zur Brücke. Und oben, kein Blick in die Tiefe des Serchio. Kein Wort. Und wie in einen Traum: Fallen, nur die Hand am Brückengeländer zuckt, schwitzt an der Handfläche, Prickeln, schwarzer Schwindel der Augen kaum, Angst, der Kopf aber ist so leicht. Ein Fallen dann, ein Fallen, Nie: Ankommen, nur später dann - erwachen.

Sie hatten es sich versprochen, auf der Brücke, vor dem Fall, versprochen unter dem Nachthimmel, dem Baum, der Sterne trug: Daß sie sich suchen werden. Und einmal sich finden. Dann werden sie glücklich sein.

Sie waren in den Fluß gefallen und nicht ertrunken, wie durch ein Wunder gerettet worden von Fischern mit ihren Kähnen...

 

Doch in den folgenden Jahren gab die reiche Familie keine Ruhe; sie fügten den Liebenden großes Leid zu, sie hatten einen Mörder bezahlt. In einer dunklen Gasse am Dom überfiel dieser Condottiere den Doctor. Doch der wehrte sich seiner Haut, es gab einen Zweikampf, Granucci war flinker mit seinem Degen, die Klingen blitzten im fahlen Licht, wurden gekreuzt in der Totenstille der Nacht, dieser Lärm, Klirren, eiskalter Silbermond schräg darüber, Capa y spada, schwarzer Umhang, wie im Theater, doch hier nun auf Leben und Tod, der Arzt mußte töten, um am Leben zu bleiben, er sah das Weiße der Augen, faßte den Blick, nahm ihn dem ab, seine Bewegungen erlahmten, er gab ihm den Todeswillen ein, stach, unter ihm der Halbgelähmte, das Herz unter dem Wams getroffen. Granucci kam mit einer Wunde am Oberschenkel davon; doch die Stadtwache nahm ihn fest. Und dann das ungerechte Urteil: durch die Buonvisi gekauft, die großen Einfluß im Stadtrat hatten. Und dann, weil der Mord nicht gelungen war, so stand es mit dem Recht: An der Torre vorbei Stadtsoldaten Granucci in Ketten zum Segelschiff geführt, das im Hafen wartete, er, rechtmäßig verurteilt, Umkehrung des Rechts. Wer war schon dieser Arzt, ein Niemand. Seine Familie zählte in Lucca nichts. Notwehr wurde ihm nicht zuerkannt, und des Mordes angeklagt, nach Befragung, Folter, überwacht vom Podestà, war das Urteil: 3 Jahre angeschmiedet an die Ruderbank einer Genuesischen Galeere, nicht leben und nicht sterben zu dürfen.

Das Heimweh war fast am schlimmsten gewesen, ein andauernder Druck. Und der Gedanke an Lucrezia. Nach Hause, nur nach Hause zurück. Welch ein Unsinn! Für die Buonvisi waren solche Heimatgefühle äußerst fremd und lachhaft. Doch bei Granucci war das anders: wenn Ereignisse, die ihn an Lucca erinnerten, wenn diese Gefühle zu nahe kamen, ihn anrührten, brach er in Tränen aus. Und rettete sich in den Flug, der ihm auch von der Ruderbank aus gelang, wenn er die Praktiken, die er gelernt hatte, anwandte.

 

Als er nach drei Jahren wieder zu Hause war, diente es ihm zur Heilung, denn inzwischen hatte sich ja Lucrezia andern zugewandt, dachte er: Zwei Buonvisi-Brüder, beide mit Lucrezia verheiratet, waren schon eines rätselhaften Todes gestorben; und nun kam ja der reiche, aber dümmliche Lelio dran, Lelio, der unter galoppierender Amnesie litt, zuviel onaniere, sagten die Ärzte, und weibertoll sei er, weichlich und schwach, brauche aber jeden Tag zwei, drei Kurtisanen; doch Hochzeit sollte sein im Namen der Familienbanken, Buonvisi, Mansi, die beiden reichsten Familien, alles verdoppelt, wie im Bett mit ihm, dem dritten Sohn.

Und eines Nachts die Wiederbegegnung , sie hatte nach ihm geschickt: da kam er, der Mann aus Trivignagno, und der Doctor Nicolao ging mit dem mit. Am Jahresquatember in der Nacht zwischen Donnerstag und Freitag kam er: Und man ging gemeinsam zum Ort hinaus, wo die Benandante ihre geheimen Treffen hatten: eine große Wiese bei Azzano, gleich unter dem Altissimo, Steinbruch des weißen Marmors. Der Flug war kein Problem, und es geschah auch auf einem Feld mit Namen Flur von Conegliano, da geschahen diese seltsamen und gefährlichen und verbotenen Dinge, wie dieses Fliegen. Manche flüsterten: Es ist nichts, niente, es ist aber der alte Hexenflug. Mit dem Feuertod wird der bestraft, wehe einer wird dabei ertappt, auch nur von Nachbarn gesehen. In Conegliano also, aber auch in Azzano wurde wunderbar getrunken, keinesfalls aber Wein, nein ein Absud warīs, eine Mixtur, seine Mutter kennt das Rezept, und eine Salbe auch, so beigeschlafen mit den schönsten Weibern. Alles, der Herr steh mir bei, wie im Traum geschehen. Und Lucrezia Lucida, die Schönste war mit dabei, und sie sanken sich nach langen Jahren wieder in die Arme; das war wie im Himmel, dieses Wiedersehen, die Liebe, eine Himmelslust! Und Lucida Lucrezias Freundin Lucia, die von den Guinigi, war mit dabei. Doch sie war die Schönste und Grausamste, die Lucida Mansi. In den Rosenlabien drin und weiter gestemmt, da gabīs keine Wand mehr, alles weich, wie Zeitenbrüche, zwei Lippen, und sauste hinauf in den Himmel, von dort hinabgesehen, Ketten von Farbklecksen, daraus formt sich Geschehen wie aus Ungeborenem: Und sahen alle Generationen und Geschlechterreihen vor sich vorbeiziehen, eine Prozession vergangener Leben. Und Nicolao hatte deren sieben.

Von diesem Tage an aber waren sie wieder unzentrennlich, Lucrezia und Nicolao!

Roman unterbrach sich, atmete tief und freute sich, dann nahm er wieder sein ihm angemessenes Fluggerät, und die Sätze flogen auf wie Vögel: "Sieh, die untergehende Sonne vom Meer, sie wärmt jetzt auch draußen rötlich alle Mauern, schön, wie durchlässig, als könnte man durch die weichen Wände hinab- oder gar hinaufgehen in den längstvergangenen Turm. Gestern am 19. März - in der kleinen Kirche San Francesco von Marlia war es bei Granuccis Grab genauso gewesen; die Sonne schien auch gestern um fünf Uhr nachmittags schräg durch das Kirchenfenster, beleuchtete und erweichte mit flüssigen Schatten den Stein. Blumen auf das Grab eines Datums, Mai 1618, 2o. April? Oder gar 6. August?"

Hatte Roman es also doch geschafft, herausgefunden, wer Nicolao Granucci, der Arzt aus Lucca, wirklich gewesen war?! Templin selbst glaubte nicht an Archive, an Geburts- und Todesdaten, an Gräber. Jedes Grab sei leer, hatte er zu Hannah gesagt, der Leichnam sage nichts. Und jedes Datum sei ein Wahn, ein wunder Punkt im Unendlichen. Beschwörst du es, riskierst du von neuem den Verlust! Was zählt und wirklich ist:

"Hier, jetzt, die Anwesenheit!"

Dieser Gleichklang von "Wann" und "Wahn"...

Wer hatte eben gesprochen? Roman sah sich im Raum um, doch niemand war da.

Mitternacht war längst vorbei. Roman saß über seinem Manuskript, las mit dem Rücken zum knisternden Kamin, saß völlig absorbiert vom Lesen und Schreiben an einem niedrigen Tisch in seinem Wohnzimmer.

Er hörte dann die Nachrichten von RAI tre, wie immer zugleich "mit dem Bleistift" lesend, so daß ihm die Stimme des Sprechers wie ein Hintergrundgeräusch vorkam. Nach den Nachrichten schaltete er um. Einer der üblichen Filme, dachte er; doch auf dem Schirm war eine Szene, die ihn fesselte: Le Chiffre, kam ihm bekannt vor. Besonders die hellen Augen. Licht, ein gemachter Traum, was ist dieses Lichtbild vor mir, das Flimmernde anderes als ein Wahn an der Grenze unseres Blickes ... Le Chiffre, das Vertraute, sein Gesicht mitten im Ereignis; Chiffre, welch phantastischer Name, da alles, was wir sehen können, chiffriert ist... doch jetzt mit einem scharfen Knall wurde dieses Gesicht durchlöchert. Templin sah das winzige Schwarze Loch, denn plötzlich schien Le Chiffre ein weiteres Auge zugewachsen, ein drittes Auge in Höhe der beiden anderen, genau dort, wo seine dicke Nase unter der Stirn hervorzuspringen begann, es war ein kleines schwarzes Auge, ohne Wimpern oder Brauen; eine Sekunde lang blickten die drei Augen quer durch den Raum, dann schien das ganze Gesicht auszurutschen, wie vor etwas Höherem auseinanderzufließen und gewaltsam in die Knie zu gehen. Die beiden seitlichen Augen drehten sich langsam der Decke zu, als gäbe es jenseits der Balken noch einen Himmel: Gefühllos der Tod auf diesem Kanal. Unort, wie die Zeit stehenbleibt, endlich Ruhe, eine Pause.

Templin schaltete das Fernsehen ab, und sah nun zum Fenster hinaus in den Garten zur übriggebliebenen Wirklichkeit. Nur die Wanduhr tickte.

Die Lider wurden ihm schwer, er war müde von diesem Tag. Er stand mit einem Ruck auf, nachdem Hannah schlafen gegangen war, ging er gewöhnlich noch einmal ins Bibliothekszimmer Briefe schreiben. Er setzte sich an den gewohnten Platz am Schreibtisch. Und als er aufsah, sah er durchs Fenster, sah über dem Berg, südwärts über dem Wald und nahe am Sirius einen leuchtenden Punkt ... der Punkt wurde größer, kam langsam näher; rotleuchtend, oval über dem Horizont schwebend, ganz nah pulsierend, schoß in einem Winkel von etwa 40 Grad in die Höhe, entfernte sich stark beschleunigt gen Westen, lichthell, ja grell und gedankenschnell. Es war unheimlich und doch sehr vertraut: Und dann lösten sich vor ihm zwei grüne Feuerkugeln, kamen näher, ein Surren war zu hören, etwas Musik, die faszinierte, in ihn eindrang.

Und er meinte jetzt auch "draußen" sein Spiegelbild, seinen Doppelgänger vor sich zu sehen, und der stand am Fenster in der Ecke zum Wald hin und fixierte ihn. Templin sah deutlich die grünen Augen und die Glatze, die gedrungene Gestalt, und ein seltsames Anlegen der Wange an die Schulter, als wolle der andere mit den Schultern zucken ... Und Templin bemerkte erschrocken: Ja, der sieht mir überhaupt sehr ähnlich: Er duckte sich, als erwarte er von oben einen Schlag. Da überlagerte also sein Gesicht wieder einmal, wortlos, Templins Außenbild im Fensterrahmen, oder auch sein Zimmer im Blick, die Hand, die über die Buchstaben sprang, jenes Gesicht, das er hier im Buch beschreiben wollte. Templin hatte Angst; er wollte aufstehn, doch war er wie festgenagelt und konnte sich vor Entsetzen nicht fortbewegen. Und vielleicht hatten sie mir nur dieses Geheimnis zeigen wollen. Roman spürte plötzlich beim Schreiben die fremde Hand auf seiner. Und zuckte bei dieser Berührung zusammen. Die Grenze schien unscharf geworden. Den Bildschirm vor sich, das Leuchtfenster, das ihn absorbierte, in grünlichem Licht die Menüs, die Tafel ist gerichtet:

 

 

8

Dottore Filippo Rusticci, ein Exzentriker, Einsiedler und seltsamer Kauz, hatte wenig praktiziert, sich vor allem dem Studium der "Todesdiagnose" und dem Zauber-Buch gewidmet, recht unheimlich, dieses Studium; Nicolao war sein Schüler; das BUCH aber wurde für ihn zum Fluch. Es wurde auch von der Inquisition immer wieder mit dem URBANO verwechselt oder als sein Buch gesehen! Der Arzt Doctor Rusticci hatte das Ergebnis seiner Erfahrung und seiner Studien in einem Buch beschrieben, es Nicco testamentarisch vermacht, die "Todesdiagnose" beschrieben, anhand von vielen Fällen. Anhand von bestimmten Symptomen und Veränderungen in der Iris war es möglich, fast auf den Tag genau, den Tod des Patienten vorauszusagen. Nicco, der Weichherzige und Verträumte, der gegen den Feind in der Welt nichts einzusetzen hatte, keine Rebellion wagte, besaß mit diesem Buch, das ihn erschreckte, ein Machtmittel; sagte sich hundertmal am Tag: "Der einzige Verbündete ist der Tod." Dem Tod nämlich könne niemand widerstehen, die größte Macht auf Erden ist die Angst; der Tod aber - ein persönlicher Weltuntergang jedes Menschen. Die da oben versuchen, aus Angst vor dem eigenen Tod, aus Lebensgier, den Tod anderer herbeizuführen. Mors ultima ratio.

Und nun diese Todesdiagnose; beim eigenen Vater hat er die Zeichen gesehen. Und sein Vater starb genau am vorhergesehenen Tag.

 

Der alte Magier Rusticci aber war nach Genf gefahren. Der Ketzer. Lutheraner. Gefahr drohte. Schon im April 1559 war ein Frate verhaftet worden, der es in Lucca gewagt hatte, die nova doctrinam et spectantem ad rem Lutheranam im Konvent der Augustinermönche zu predigen. Und man kennt die furchtbare "peinliche Befragung".

 

Aber das waren damals, 1574 und 1575, ja sogar bis kurz vor dem Sommer 81 für den jungen Arzt glückliche Zeiten gewesen.

Er hatte sich ein Leben lang mit dem Sterben und mit dem BUCH beschäftigt, der TodesDoctor; und sah den kommenden Tod bei andern an einem Zeichen im Schein der Augen. Und immer mehr Patienten kamen ihn um Rat fragen. Doch auch die Inquisition hatte ein Auge auf ihn, stand er gar mit dem Bösen im Bunde? Und er wurde vorsichtig. Nahm keine Patienten mehr an. Und wollte sich ganz dem Schreiben widmen, das, was er mit dem Tod schon erlebt hatte, niederschreiben. Das Leben nicht mehr mit und für den Körper vergeuden. Er dachte, es wird nicht mehr lange dauern.

Das Sterben, ach, in dieser Sekunde, sagte er sich, bin ich frei, und diese Sekunde ist kurz, von der Ewigkeit her kaum meßbar: und dann werde ich alles erleben, was mein müder Körper nicht mehr erleben kann. Der Grund, daß es diese Trennung gibt, sagte er zu sich selbst, lag im Finstern, er wußte, sie würden ihn exekutieren, und hatte keine Angst.

 

Lucrezia sah die Toten, sie sprach mit ihnen. Und als sie die Luisa, ihre Freundin, die ihre Mutter verloren hatte, tröstete, sagte die arme Frau, sie könne nicht zur Ruhe kommen, und sie habe die Donna Anna bei San Michele "gesehen", tot in ein Leintuch gehüllt und mit aufgelösten Haaren. Und die Tote habe inständig gebeten, sie solle Luisa ihren letzten Willen mitteilen, sie müsse einer gewissen Paola ein Hemd schenken und beim Schwarzen Christus für sie beten, jeden Tag. Und so hatte dann die arme Seele Ruh. Und bedankte sich nachts bei Lucrezia. Die gar keine Angst vor diesen Geistern hatte, sondern mit ihnen wie mit Nachbarn umging

 

Und beide konnten die Toten beruhigen; auf einem Berge, von schönster Aussicht umgeben, lag ein altes Herrenhaus, Und dort lebte Luisa mit ihrem Mann, der in Geschäften oft verreiste. Und die arme Luisa schilderte Lu atemlos ihre Ängste: "Nie konnte ich vor fünf Uhr morgens einschlafen. Vittorio, dem ichīs sagte, lachte mich nur aus. Lucrezia versprach zu helfen. Und in der nächsten Nacht kamen Nicco und sie zum Podere der Luisa. Sie saßen zusammen in der guten Stube, tranken und aßen. Warteten, daß der Lärm beginne. Und als Vittorio fragte, was sie denn tun würden, sagte Lucrezia lachend: "Ja, mit den lieben Besuchern sprechen."

Dann aber, um der Sache auf den Grund zu gehen, bestiegen sie mit Herzklopfen wieder die Treppe zum Dachboden, und auch der Pudel, der in der Ecke gelegen, fand sich vor der Tür ein, die geöffnet war, ein Licht dazu, so oft sich nur nichts und auch niemand hatte im offenen Spalt sehen lassen, schon aber knurrte der Hund, als wären die Unsichtbaren da. Und so, zwei Lichter auf dem Tisch, Luisa unausgezogen, Signor Vittorio Degen und Pistole, die er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzten sie sich auf das Ehebett; alle vier auf dem Ehebett, und so, als kämen nun die Gespenster aus ihnen, eine Spannung da war im Raum, als müßte der Blitz blau durch das Zimmer fahren, ein Krachen, sie aber sahen das Tier, während sie mit Gesprächen, so gut es ging, alles überspielend, sich zu unterhalten suchten, da legte sich der Hund, Kopf und Beine zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schlief ein, daß Lucrezia wieder lachen mußte, denn er zuckte konvulsivisch im Traum. Als die Uhren nun im ganzen Hause schlugen, da - wieder dieses entsetzliche Geräusch, diesmal sogar im Zimmer selbst, jemand, den kein Mensch mit Augen sehen konnte, erhob sich, ging raschelnd und tappend zum Fenster, plötzlich aber eine Feuerflamme dort, den Vorhang hinaufflammend, und dann floß ein furchtbares Geheul von der Decke des Zimmers herab und verlor sich endlich gegen den Boden, in dem Augenblick aber sagte Lucrezia, ohne zu lachen: "Jetzt, da, ich sehe ihn, der Lichtstreif an der Tür."

Niemand konnte "ihn" aber erkennen, außer Granucci, der rückfragte, und sagte: "Mein Gott, wie elend mögen solche Wesen doch sein", und rief in Richtung der Tür: "Hättest du besser gelebt, so müßtest du jetzt nicht da sein."

Und Luisa, neben ihr Vittorio, der den Degen gezogen, "Wer da?" rufend, und da ihm niemand antwortete, gleich einem Rasenden, die Luft durchhieb, Luisa schrie, "Pack dich fort, der Herr beschützet uns!" Worauf sie sich bekreuzigte: "Mutter, bist du es?"

Granucci aber, der aufzufliegen schien, mitten im Raum, einen, der gar nicht da war, nicht sein konnte also, den Geist ansprach, und es sah so aus, als redete er mit niemandem, sagte laut: "... non faciamus pacta cum Diabolo".

Lucida aber war in Trance gefallen. Denn da war hörbar gewesen: "Und so geh ich zum Trotz in dich hinein." Und mit fünf Fingern einer kalten Hand hatte etwas in ihren Nacken gegriffen und war mit diesem Griff in sie hineingefahren. Und eine rohe Baßstimme kam aus ihrem verzerrten Gesicht.

Und die Baßstimme erzählte eine Schreckensgeschichte, daß hier ein Kloster gewesen, er der Obere, daß er Frauen in Männerkleidern ins Kloster gebracht, daß er dann sie und ihre Kinder, daß er aber auch drei Klosterbrüder, die es entdeckt, ermordet, und die Leichen in ein gemauertes Loch geworfen, das immer noch unter dem Keller dieses Hauses da sei, und er keine Ruhe finde.

"Helft mir", stöhnte er. Und von neuem jenes Geheul. Und er habe geglaubt, mit den Menschen sei es nach dem Tode wie mit dem Vieh, wenn es geschlachtet ist, wie der Baum fällt, bleibt er tot liegen und wird zu Erde. Dem aber sei nicht so, nach dem Tode wirst du das sein, was du im Leben getan. Und flehte Luisa und Vittorio an, die Leichen zu bestatten.

Es wurde im Keller nachgegraben, und die Arbeiter fanden ein brunnenähnliches, ungefähr zehn Fuß großes Loch, das zwanzig Fuß tief ausgegraben wurde, sie fanden Überreste von menschlichen Knochen, auch Knochen von Säuglingen. Seit jenem Tage hörten alle Geistererscheinungen im Hause auf.

Granucci aber hatte noch andere seltsame Erlebnisse mit Gespenstern. So sah er immer wieder dieses allen bekannte und berüchtigte Ölbild in Rusticcis Wohnung vor sich; es verfolgte ihn, als könnte es Blicke aussenden. Es muß dort in seiner Wohnung beim alten Rusticci hängen, im Vorraum. Und es ist der alte Arzt, der mahnend da heraussieht, mit zwei erhobenen Fingern. Ein Todesbild. Und da geschah eines Tages etwas merkwürdiges: Rusticci war vor einer Woche nach Genf gefahren. Granucci allein in der Wohnung. Er schrieb. Und er brauchte ein Buch. Um in die Bibliothek zu kommen, mußte er am Bild vorbei... Nacht. Totenstille. Er mußte den Raum durchqueren, da, ein merkwürdiges langgezogenes Geräusch, Leinwand wurde in lange Streifen gerissen, er leuchtete mit seiner Lampe das Bild an, plötzlich der Zwang, sich umzuwenden, da - im Korridor stand der alte Doctor Rusticci. Da sah er ihn: der war wie aus dem Bild gestiegen. Mantel von einem Windhauch leicht gebauscht, er aber spürte diesen Hauch nicht. Granucci ließ vor Schreck die Lampe fallen, sie verlosch Gottseidank sofort. Sonst hätte er das Haus in Brand gesteckt. Der Doctor hatte, wie auf dem Bild, warnend die Finger gehoben.

Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr mußte Granucci in den Dom, um sich mit Civitale, dem Architekten, zu treffen. Civitale verspätete sich. Und Granucci stand da, wartete, war in Gedanken, als er aber aufsah, wie im Erwachen ... da sah er dort im Dom vor dem schwarzen Christus Rusticci stehen, als wäre der eben aus Genf zurückgekehrt. Er stand da, wie im Gebet versunken und nahm keine Notiz von Granucci. Und als dann zufällig und wenig später der Gonfaloniere Burlamacchi in den Dom kam, da hob der Alte da mit seiner Reisetasche und im Reisemantel den Finger wieder warnend. Es war das Todeszeichen. Zwei Monate später wurde Burlamacchi in Mailand öffentlich enthauptet.

Als dann Civitali kam, und Granucci ihm sagte, er habe eben seinen Doctorvater gesehen, da sah Civitali seinen Freund erstaunt an, und rief aus: "Ja, weißt du denn nicht, daß Rusticci schon vor einer Woche in Genf gestorben ist?"

 

 

 

 

 

III.Kapitel

9 Montaignes Ankunft in Bagni di Lucca ... am 8. Mai 1581... Die Vergangenheit stirbt nie. Sie ist nicht einmal vergangen. Es war also Mai, als Michel de Montaigne, Landedelmann aus der Weingegend von Bordeaux, hierher in die Lucchesia kam, er war in einer Sänfte in Villa, dem Hauptort der Bäder von Lucca, angekommen, mehrere Diener ritten voraus. Der Herr Montaigne war ausgestiegen, neben der schaukelnden Sänfte hergegangen. Neugierige Frauen sahen aus den Fenstern; wie immer, die Vorhänge zurückgeschoben, so sahen sie hinab, sahen ihn, ohne daß er sie sah: Gemessen ging er, blieb stehen, sah sich um. Auf dem Hauptplatz vor der Thermalquelle ließ er die Diener mit den Pferden warten und ging allein in eines der Gästehäuser. Er beherrschte das Italienische, beherrschte sogar das "passato remoto".

Nahm Quartier bei Paulino Cherubini, Capitano della Compagnia delle Ordinanze, eine angesehene Persönlichkeit; der Capitano hatte viel zu sagen, man befand sich schließlich im gefährlichen Grenzgebiet zum Todfeind Florenz.

Michel hatte Angst vor Stummheit im Schmerz bei den Koliken. Und wenn ich hier sterbe? dachte er wohl auf seine Art: Ach was, laß uns bei den Freunden lieben und lachen, doch sterben und verwelken bei den Unbekannten, bei den Fremden im Ausland. Hier bin ich. Und ein Fremder. Doch kauf ich mich jetzt ein. Wenn man zahlen kann, findet sich schon jemand, der uns den Kopf richtet und die Füße einreibt. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich lieber zu Pferde als im Bett sterben. Lieber außerhalb des Hauses und weit weg von den Meinen; der Tod mitten unter Anverwandten ist wie ein Herzzerreißen der Dinge.

 

Montaigne hatte hier furchtbar gelitten mit seinen Blasensteinen, starb bald darauf, das Bad hier hatte ihm nichts genützt, obwohl er jeden Morgen zum Bad ging, genau wie es in den Handschriften beschrieben wird: diszipliniert aus Kurgründen. Dort traf er meist den Bologneser Obersten Francesco Gambarini, im Ruhestand seit zwei Jahren; weißhaariger kann man nicht sein; und dann diese schöne Tochter. Sie wohnen vier Meilen von hier entfernt in Borgo a Mozzano. Als er im Dienst war, hatte er 16 Scudi Sold im Monat. Hier befehligt er 200 Soldaten, alle aus dem Dorf, ebenso der Capitano und die Sergeanten, die genießen Immunität wie Diplomaten, dürfen nicht verhaftet werden. Der Oberst muß von auswärts sein.

Montaigne und Gambarini grüßten sich.

Das Fräulein machte keinen Hofknicks, sondern eine Verbeugung wie Männer. So ist das üblich hier. Sie muß wohl sehr krank sein, sieht fast durchsichtig zart aus. Montaigne war ihnen gut bekannt, war in Borgo a Mozzano gewesen, sie haben eine schöne Wohnung, sogar mit Glasfenstern, eine Seltenheit hier.

Auch Nicolao Granucci kam hierher zur Kur. Der hatte heute wieder seinen scheuen Tag. Ob das Fräulein ihn verschreckte? Manchmal war er ja seltsam timid. Er fühlte sich so, als wäre er gar nicht da, gebückt drückte er sich an der Gruppe vorbei, und ging hinein in den dunklen Raum des Männerbades. Montaigne grüßte ihn wie alle andern, ohne ihn besonders zu beachten, doch warf er ihm einen Blick zu, der ihn dann doch freundschaftlich auszeichnete. Sie kannten sich schon seit Jahren. Seltsames Verhalten, dachte Montaigne ein wenig irritiert, während der Colonello eifrig auf ihn einredete, dabei zuckte dessen Hand wie ein Nervenblitz durch die Luft, als greife er nach etwas Unsichtbarem.

Auf dem Gesicht des großen und hageren Colonello liegt ein besonders weicher Zug, Unglück zeichnet. Und seine Tochter, die schöne Emilia, etwa 25 Jahre alt, hat ein Wachsgesicht, ist zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. Beim Essen, aber auch beim Spazierengehen ist alles langsam, zögerlich, man sieht den beiden an, welche Mühe sie haben, überhaupt da zu sein, Licht zu ertragen, am liebsten würden sie immer nur in dunklen Zimmern sitzen, Fensterläden geschlossen, kein Laut, alles gedämpft, und schlafen, schlafen, versinken. Dieser Tick des Gambarini, ein Nerventick der Hand, ist nur das sichtbarste Zeichen seiner Lebensmüdigkeit, da lehnt sich diese Hand eher auf, beschreibt wie vorhin eine fahrige und wahnwitzig schnelle Zickzacklinie, wenn sie sich in Richtung eines festen Gegenstandes bewegen will, als sträube sie sich, außerhalb des eigenen Bewußtseins, bevor sie das Ding berührt, das mit diesem Bewußtsein zuerst erschaffen werden muß, dessen wirkliche Existenz anzuerkennen. Sehen: - was ist das?!

Granucci konnte nicht zusehen, er wurde physisch angegriffen von diesem Tick des Colonello, auch ihm begann die Hand zu zucken, er wurde vom Zusehen nervös, er sah zugleich das Todeszeichen in den gesprenkelten grauen Augen des Bolognesers, aber so, daß er sich gar nicht erklären konnte, was für ein auflebender Widerschein und welches Glänzen in ihnen die Mattigkeit überstrahlte.

 

10

Abends also dann die Erzählrunde bei der Witwe Sercambi. Niente. Mors ultima ratio, sagte der Bologneser, wenn die Hoffnung versagt, greifst du über die Grenze hinaus, die dir gesetzt ist. Er wolle den geschätzten Anwesenden seine Geschichte dazu nicht vorenthalten, ob man Interesse habe.

"Erzählen Sie, erzählen Sie", sagte die Witwe.

"Ja, es ist eingangs immer einfach, näher dem Nichtsein aber wird das Einfachste schwierig", und seine Hand zuckte wie verrückt, als griffe sie wieder nach einem unsichtbaren, aber vorhandenen Ding. "Niente. Emilia hatte oft Herzanfälle, und auch sehr schwache Nerven. Und vor einem Monat starb sie."

Man war in diesem Kreis einiges gewohnt. Dieses aber nun doch nicht. Man dachte an eine falsche Zeitform.

"Ja, es ist so und doch unverständlich anders, genau wie der Tod." Der Bologneser ließ sich von den Blicken der andern nicht aus dem Konzept bringen: "Eines Tages, Emilia auf der Straße, sie war dort umgefallen, Leute hoben sie auf, trugen sie, Emilia leblos, sterbenskalt, blutleer ihr Gesicht, trugen sie ins Haus, der Arzt schrieb den Totenschein aus."

Gehetzt und abgebrochen jedes Wort, so fing der Colonello an, den Kopf gesenkt, als spüre er Scham: -

"Niente, zwei Tage und Nächte blieb Emilia noch bei uns; ich hielt die Totenwache, allein. Meine Frau seit Jahren in der Familiengruft. Und im Sarg Emilia wie ihre Mutter: lichthell, die Erscheinung weiß, angelisch schwebend; unser Sehen ein Trug, Schein wie ein Trug also...

Ich hatte angeordnet, den gesamten Familienschmuck, der sehr alt ist, unsere Familie stammt aus dem Aostatal, gehört zum Haus Savoyen durch die Vorfahren meiner Frau: Armbänder, Ringe, Halsketten, das Kostbarste, was wir hatten, ihr anzulegen. Und da sie keine Braut mehr sein konnte, wenigstens im Tode weiß, Brautkleid ihrer Mutter, Generation zu Generation, alter Familienbrauch, so lag sie da, kam in die Erde.

Die Nacht still, Uhren im leeren Haus, die schlugen keine Stunde mehr. Und wie von Sinnen, betäubt, erschöpft lag ich da in meinem Sessel im Arbeitszimmer; die Seele wund. Unfaßbar bleibt, was aus sein soll, ich alter Soldat, und nie bedacht. Da fiel mich dieser Augenblick so offen schmerzhaft an wie ein Raubtier, war gar nicht weitergerückt. Jona, der alte Diener, die Tür ganz leise geöffnet... es schien ein Höllenlärm. Und wollte wissen, ob ich noch etwas brauche. Ich brauche Ruhe, sonst nichts, schrie ich ihn an. Ob ich nicht zu Bett gehen wolle, der Tag so anstrengend. Und doch gewesen. Ich könne keinen Menschen ertragen. Nein, jetzt geh endlich! Und die Hand begann zu zittern, als ich sein glattes devotes Gesicht nah vor mir sah. Ich in einer unendlichen Öde, alles so furchtbar hier und unerträglich, Trivialität, dazu seine Worte. Aber die Nacht begann erst. Wieder dieses Uhrenschlagen. Zuckte zusammen. Fror. Januar. Und todeseinsam, Ticken, Stille. Kein Feuer im Kamin, erloschen. Von oben heulte der Sturm, der Rauchfang; Kälte, die von drüben hierher kommt, als wären Stimmen darin, und das Zimmer, die Wände weich, und die Anspannung im Raum, Drücken gegen die Fenster, draußen Rütteln, der Wind heftiger, Scheiben klirrten. Und ein Knallen aus der Luft. Plötzlich ein Läuten an der Haustür, die Glocke so schrill in der Stille, der Sturm gehört nicht dazu, und ist noch nicht eingedrungen. Ich fuhr hoch. Wieder die Glocke. Ich ging, ich zauderte, öffnete dann. Draußen stand eine weiße Gestalt, die sich wie ein diffuses Licht von der Dunkelheit abhob, der Wind zerrte an ihrem Haar, das aufgelöst war, wie fortgeweht. Und dann die Stimme, aus weiter Ferne, glaubte ja nicht, und hätte nie gedacht, sie wieder zu hören, die Laute dieser Stimme... denn es war ja, es war doch und unglaublich, sag ich, und weiß nicht, wie mir auch jetzt noch geschieht, es war doch wirklich, und traute meinen Augen nicht, denn es war doch tatsächlich ... Emilia. Vater, ich bin es, Vater, willst du mich nicht einlassen, es ist mir kalt, flüsterte sie. Und ich sah, sie zitterte vor Frost am ganzen zarten Leib. Ich dachte zuerst: du wirst verrückt, und dann: ein Gespenst, das war mein Gedanke.

Doch sie faßte mich am Arm, ich sah ihr Gesicht ganz nah vor mir: Hab keine Angst, Vater, stehst wirklich vor mir, so wie du stehst, steh ich auch vor dir, hauchte sie mich an, ihr zarter Duft, ich bin nicht tot, Vater, ich bin doch noch hier, und jetzt wohl bei dir; meine Hand dazu eine abwehrende, sich hoch steigernde Bewegung und wie aus Angst, jetzt gehst du mir wieder verloren, Gegenwart, der Blitz in mir nach außen - Zickzackbewegung durch die Luft, ganz nervendes Blitzen hinein in diesen Augenschein. Seither, Sie sehen es: versagen bei schnellerer Handbewegung meine Nerven. Denn der Unterschied zwischen Schreck und Freude, zwischen dem Abschied und dem plötzlichen Bewußtsein, daß es ihn jetzt für Augenblicke wie nicht gab, ein Eden, verschwand zu schnell, hatte einen Faden in mir gerissen, ich hörte einen klingenden Ton.

Ach, die Letzten Dinge, Signori, man folge weder ihnen, noch der Vernunft, die Tochter schien davon wie jenseits des Augenblicks und doch hier festgehalten, nicht sie, meine Gedanken standen still, an der Tür, sie hatte sie angehalten. Die Erklärungen, sie folgten nur schwerfällig und wie angeklebt dem Schrecken, den sie auflösten. Freude aber blieb.

Er hat es getan!

Wer, mein armes Kind, doch nicht Gott?

Nein, nein, sagte sie, als könnte Lachen eine furchtbare Spannung lösen: Jona, der Diener.

Ich begriff nicht, und sie zeigte mir ihre linke Hand, blutüberströmt. Der Schurke. Aber ihr Leben - hatte sie es ihm zu verdanken? Verrückt und Gedanken wie Recht, Aber, Unrecht, Oder, Und: wie nicht vorhanden. Letzte Dinge, Vernunft? Verbrechen? Mein Gott, sie erscheinen nur im Augenblick und den Umständen gerecht, die keiner bestimmen kann und kennt, kaum zu messen. Nichts, was vorher war. Aber ich stand vor ihr, ich, der das Leben und Hiersein jetzt und dies ihr bringt und zeigt, auf die Knie gesunken, als käme sie wirklich von der andern Seite, als wäre sie dort gewesen, und ich hörte sie sagen, sie habe ihre Mutter, ein Licht gesehen, und fliegende Freude, als hätte sie alles silbern gesehen; eine Heilige, mein Kind? Es würgte mich, dies Glück, daß es der Augenblick war, der erste, und sie war wie ich noch fassungslos und betäubt. Nichts besseres als die Regung des Blitzes, den ich mit meiner Hand seither beschreiben muß, anstatt einer Antwort.

Ich hatte sie längst hereingezogen, auf ein Lager getragen, rieb sie ab, läutete nach dem unseligen Kerl. Der hatte das Grab geöffnet, der hatte den Schmuck gestohlen, die Ringe samt Finger abgeschnitten, sie im Raub zum Erwachen gebracht, dem Leben wiedergegeben."

 

 

11

Im Raum summte die Leere, Schritte hallten laut in langen weißen Gängen, offene Türen, nackte Frauen- und Männerkörper in weiße Leintücher gehüllt, schimmernde weiche Haut, Haare wie Inseln und Flecken, das Dreieck ein Auge. Große, kleine, dünne und unförmige Körper, die froren, Nacktheit, die sich verstecken wollte. Scham. Ein scharfer Geruch nach Schwefel erfüllte die hallenden Räume, zu hören, zu sehen war der Tag in diesem berühmten Badeort: Villa, Bagni di Lucca; die Stimmen, die klangen gedämpft, aus allen Türen ein Flüstern; nur die Ursache der Heilwirkung war nirgends mit bloßem Auge zu erkennen: das heilende Wasser strahlte radioaktiv.

Nach dem Besuch beim Arzt nahm die alte Bademeisterin Roman Templin und seine Frau Hannah in Empfang, sie wies ihnen eine Kabine an und reichte jedem ein weißes Leintuch; immer diese weißen Leintücher, dachte Roman, als Kinder spielten wir dieses Gespensterspiel mit ihnen, trugen in der Hand einen Kürbis, Kerze flackernd im Innern, als wärīs ein Kapellchen, das Mondsgesicht, gelb, hatte Augenschlitze, Mund, Nase, alles nur Schlitze, und sonst war er hohl, ein schweres rundes Ding, gerippt, eben die Wurzel, an einer Stange, hochgehalten, als wäre es ein Galgen, etwas geneigt, der Erde zu.

Templin hatte sich ausgezogen, und nackt, das Linnen: Badetuch, Totenlinnen, Geburtswindel in der Hand, ging er mit vorsichtigen Schritten in die Schwitzgrotte, saß nackt auf der Steinbank, vor sich zwei leere Höhlenaugen, sah das heiße Wasser in zwei Becken, es dampfte in leichten gekräuselten Säulen. Der Körper löste sich auf, ein Schneemann, der zerrinnt. In Strömen rann ihm der Schweiß vom Körper. Regelmäßiges Tropfen von Wasser, und die Angst packte ihn jetzt in der Schwitzgrotte: bist im Körper, in der Haut gefangen. Auch der Fels, sieh, ist in diesem Kalkstein gefangen, kleine Poren, da, auch Schwefelflecken, gelb...

Templin hörte die alte Bademeisterin mit brüchiger Stimme rufen, die Stimme kam von ganz weit her, er stand langsam auf, spürte Schwindel, dann schwankte er, sein Körper hinterließ eine Schweißspur, er hatte das Leintuch um den Körper geschlungen, und ging mit tappenden Schritten, noch ganz benommen, barfuß über die nassen Holzlatten, darunter hart der heiße Stein; kam in den weißen Ruheraum, lag dann im Lehm, Lehmpackungen, radioaktiver Lehm. Anfangs ein wohliges Gefühl, Schlammpackung, mit der Heine versucht hatte, seine Syphilis zu kurieren, was mißlang. Wie auch Montaignes Kur hier mißlang, Montaigne war einige Jahrhunderte früher hier gewesen als Heine, und Montaigne starb unter Qualen an Blasensteinen. Die Temperatur 41 Grad auch damals, als verginge keine Zeit, als wären wir hier näher dem Innern der Erde, Schlammpackung wie hohes Fieber; Summen, sonst kein Laut; Roman schwitzte wie als Kind im "Wickel"; vor sich das Fenster, von Dampf beschlagen; Dampfwolken, Wolken, Wasser; im Dampf ist das Fenster zart und weich; Wasser in den Augen, Tränen auf undurchdringlichem Glas. Draußen ein Strauch. Chlorophyll. Das Grüne lockt. Und hier seine Haut. Weich. Wie wir vergehen, hier in diesem Körper. Je müder ich bin, dachte Templin in seiner Lehmpackung, umso stärker und näher sind die Toten, an die ich denke, sie brechen die Wand auf, die uns trennt, zurück geht's tief ins Vergangene ...

Der Bademeister kam, und Templin war froh, einen Menschen zu sehen, denn das Einsamkeitssummen war inzwischen unerträglich stark geworden.

Seine Frau arbeite in Mühlacker, sagte der Bademeister. Ob Templin Deutscher sei?

Ja.

Er sei 34 Jahre alt, Templin 60. Sechzig? Staunte er. Oh, ein halbes Jahrhundert und mehr. Aber Templins Körper sähe man es nicht an. Fiorenzo heiße er, und wickelte Templin aus dem Schlamm, der stieg ins heiße Badewasser, lag bis an den Hals in der braunen Brühe. Welch Körper ist da gewandert ... der Schädel eine hohle Schale gefüllt auf Zeit.

Montaigne, wie er ausgesehen haben mag, wie damals wohl ihre Kuren waren?

....kam auch Montaigne in den nassen Raum? Ein Nebenraum diente zum Auskleiden. Nackt standen die Männer unter der Brause; mehrere Röhren verteilten das heiße Wasser auf den Körper, vor allem aber traf ein starker Strahl den Kopf, massierte und erwärmte ihn. Der Bologneser Colonello wirkte neben den beiden kleinen Gestalten wie ein Hüne, trotz seiner nervös zuckenden Hand strahlte er Kraft aus. Die Intimität des Nackten empfand dieser Nicolao als peinlich, er bewegte sich, als wären alle Blicke auf ihn gerichtet und hielten ihn fest. Der Raum ist ja groß genug, dachte Montaigne, er ist fast halb so groß wie mein Salon bei Cherubini. Was ist das Anregendste hier bei der Kur? Doch nur die Gesellschaft. Und während ihm das warme Wasser wohltuend den Kopf massierte, überlegte er wohl, wie es so seine Art war: daß es wichtig sei, Heiterkeit an diese Orte mitzubringen, wo die Zeit sich dehnt und Langeweile aufkommen kann, genügend Heiterkeit, um die geselligen Vergnügungen zu genießen, die Spaziergänge und Ausflüge. Ob in Frankreich, Banièrs, Plombièrs, im Badischen Baden-Baden oder hier Villa, - alle diese Zerstreuungen nehmen ihn hinlänglich in Anspruch; für Melancholie, seinen Todfeind, ist kein Raum. Gesichter sehen, diese Reize, ein Liebes- Abenteuer zu erhoffen, das macht die eintönige Zeit im Badeort prickelnder. ..

 

Roman und Hannah fuhren täglich, so auch heute wieder von Aliano nach Bagni di Lucca, solch eine Kur dauert normalerweise zwei bis drei Wochen und länger. Montaigne blieb über einen Monat. Das Auto surrte, Templin starrte durch das Glas. Ist die Erinnerung wirklich wie ein Hund, der legt sich hin, wo er will, eigensinnig und aufsässig wie Circel, der kleine schwarze Pudel. Mit einer halben Drehung des Oberkörpers konnte er den alten Circel, den Schwarzen hinter sich sitzen sehen, ja, der kleine Schatten wird bald auch tot sein. Roman spürte einen Schmerz im Nacken, der sich in den Armen bis zu den Fingerspitzen der Hand fortsetzte: Du sollst dich nicht umdrehen, sagte die Fahrerin mit leicht lispelnder tiefer Stimme, die Roman plötzlich so fremd klang, als spräche sie über eine Telefonleitung, du bekommst wieder einen steifen Hals, was nützen da die Massagen! Roman sah zum Autofenster hinaus in die Landschaft: er sah dort ein Gesicht auf den Höhen der Berge; die Wolken schienen sich zu einem Gesicht zu formen, es könnte ein Männergesicht sein, dachte er, das ich noch nicht erkennen kann, schade, die Wolke zerfließt. Templin wäre gern diese Wolke gewesen, und er sah die Berglinie und darüber ein langgezogenes Gesicht in Auflösung, Strich geworden, wie die Entstehung einer Kinderzeichnung, sie war aus einem einfachen Punkt gekommen, Zero mit roten Backen, dann strahlte die Sonne und wie wolkengefiltert schuf sie harte Konturen, blendend, er sah einen schweren halbgeöffneten Mund, die feine Nase, etwas gebogen, dichte Augenbrauen, noch nicht weiß, nein, alles blond, die Augen waren nicht zu sehen, verschwammen wie in Watte. Er, verliebt in eine zerfließende Wolke?

Eine Art kindliches Weh erfaßte Templin dabei, und als die Sonne nun ganz durchgebrochen war, da kam bei Ponte a Moriano hellgrün dieser April und stimmte ihn traurig, ja, wehmütig, und es gab ihm einen Stich angesichts des Fahrens, als wärīs die Zeit, wozu Zeit noch, als wäre Zeit immer nur gewesen...

Hannah bremste scharf, als habe sie Gedanken gelesen; und Templin war überzeugt, daß auch diese Fähigkeit das Zusammenleben schwieriger mache. Nun hatte sie ihn unsanft in ihre Gegenwart geholt, als hätte sie ihn zur "Ordnung" gerufen. Fast trotzig wehrte er sich gegen dieses Manöver: Er sah wieder zu den Wolken hoch, sah von ihnen ab, diese gesammelten Blicke auf den Hügeln der Lucchesia, ganz nah; die Wolke aber hatte sich aufgelöst. Und die Wolke, die sich, wie wir einmal, aufgelöst haben wird, aber immer noch formlos über mir steht, kann ich doch erinnern, dachte er. Daß sie verschwunden war, das sah Templin aber erst, nachdem sie durch den Ort gefahren waren, und oben auf dem Parkplatz ausstiegen, die Wolke schien verschwunden, der Berg aber stand noch immer da. Templin hätte fast laut geredet, wie Irre, er biß sich auf die Lippen, um Hannahs Spott zu entgehen, die hatte eine scharfe Zunge; manchmal hielt er sie für zynisch. Aber er bedauerte, daß er mit ihr über all diese Dinge, die ihn beschäftigten, nicht sprechen durfte. Sie hatte es mit ihm leichter gehabt, als sie ihm einmal gestanden hatte, in Luca verliebt zu sein! Nie konnte er mit ihr sprechen, als wäre sie gar nicht da. So mußte er weiter still sein, und sprach mit sich selbst, mit jenem andern, der ihn immer begleitete. Was ihm erzählt worden war über diese Frau, die immer wieder gekommen sei, auch nach ihrem Tode, immer wieder erschienen sei, ja, unglaublich, immer wieder, als könnte gar nichts vergehen, vielleicht war es gar keine Wolke gewesen, sondern wirklich eine Frau, als wäre nur die Wolke eine Täuschung, Wasser, Dunst, Nichts; seine, Romans gespenstische Abschrift und Version, vermischte sich mit der alten Geschichte von Lucrezia, der Verletzten:

 

Sie standen nun auf einem Platz, wo Templin noch schnell auf einer Gedenktafel lesen konnte, daß Heinrich Heine zur Kur hier gewesen war.

"Sag doch was", hörte er Hannah: "du redest nie mit mir, Templin." Die besorgte Hannah, die ihn schützte. "Du mußt manchmal auch hier sein, Templin, träumst wieder." Da wurde er heftig, als müsse er sich verteidigen: "Die meiste Zeit sind doch die Leute in Gedanken", sagte er erregt, "auch du, Hannah, in der Außenwelt sind wir doch wirklich nur manchmal, Hannah, nur punktuell in der Außenwelt, die ist ein schwacher Traum."

"Bis du dir den Kopf einschlägst, mit ihm durch die Wand, das schaffst du nie." Sie waren so verschieden, und doch brauchten sie einander. Roman dachte, sie ist doch die Umkehrung und das Anagramm meines Namens: Norma. Und sie der Schlüssel zu dem, was ich hätte sein können! Ich die Umkehrung ihres Namens, ich, der Perverse? Und er sagte laut: "Jawohl Norma". Und so nannte er sie auch manchmal in ironischem Ton, sie, die Beständige, in sich Ruhende, deren Namen sich nicht veränderte, egal, wie du sie liest: Hannah - und auch vom Ende her unverändert: Hannah. Anna. Die Gnade Gottes, daß alles so ist wie es ist und auch so bleibt. Daß du darauf vertrauen kannst.

 

Nachdem die Bademeisterin sie in Empfang genommen hatte, gingen sie wieder in der Grotte. Immer wieder dieses Leinen: Badetuch, Totenlinnen, Geburtswindel, so ging er mit vorsichtigen Schritten in die Schwitzgrotte. Saß dann nackt auf der Steinbank, vor ihm zwei Höhlenaugen, heißes Wasser in zwei Becken, es dampfte. Der Körper löst sich, als wäre er ein Schneemann, der zerrinnt. Regelmäßiges Tropfen von Wasser, und Angst: du kommst hier nicht raus. Du kommst hier nicht raus, bist im Körper, in der Haut gefangen. Sogar der Fels, sieh, ist in diesem Kalkstein, kleine Poren, da auch Schwefelflecken, gelb, gefangen, wir, aufgelöst einmal... dachte er, während ihm große Schweißperlen über die Stirn und die Brust rannen. Er wurde langsam eins mit der Umgebung, spürte den Holzrost, als wärīs seine Haut.

Warum spreizte Johanna früher unwillkürlich ihre Beine, und hielt mit der Hand ihre Leiste, presste dann wieder die Beine zusammen, und sah unbeweglich auf das Rinnen des Wassers im Becken. Gebückt auf der Steinbank, hatte Roman ins grünblaue Wasser gesehn, Urgeräusche der ewigen Tropfen, und sich vorgestellt, daß sie einstürzt, gnadenlos der alte Stein immer auf ihm liegen wird. Solange wir atmen, im Körper liegen, der zu klein ist für unsere Seele, die nachts und im Tod davonfliegt, können wir eingequetscht, verwundet, in einen Brunnen geworfen, dort in der Enge des Schachtes verhungern ...

12

"Solange wir atmen, im Körper liegen, der zu klein ist für unsere Seele, die nachts und im Tod davonfliegt", sagte der Doctor Granucci in der Runde bei der Witwe Sercambi: "Solange wir im Körper liegen, können wir eingequetscht, verwundet, in einen Brunnen geworfen, dort in der Enge des Schachtes verhungern, oder wir können erschlagen werden", sagte er und beugte seinen kurzen Hals vor, um Emilia anzusehen, sein altersblasses Gesicht mit den Pigmentflecken wie eine Landkarte, sah bekümmert drein. "In der medizinischen Literatur gibt es gräßliche Fälle, so jenen eines jungen Friesen, der nach seinem Tode exhumiert, Zeichen am Körper hatte, die bewiesen, daß der Mann wahnsinnig geworden, noch lebend im Sarg, und vor Hunger seinen eigenen Arm aufgegessen, endlich an Durst und Atemnot starb, das Linnen, die Kissen im Sarg zerwühlt, Exkremente und Blut."

"Und auf den Friedhöfen hier in Lucca sollen Schreie gehört worden sein, dumpfe Laute unter der Erde", sagte die Witwe, große Schweißtropfen auf ihrer weißen Stirn.

"Ich habe es in mein Testament setzen lassen", so der Capitano Cherubini, der bisher geschwiegen hatte, sah seine Frau an: "Daß man mit der Lanzette auf meine Fersen schlage und es sollen mit Eisen und Feuer Proben an meinem Körper gemacht werden. Sie war wichtig früher, die conclamatio, bei der mit lauter Stimme der Tote dreimal bei seinem Namen gerufen wurde, noch bei meinem Großvater war es so, ich hörīs wie gestern, es ist gewesen, kann nicht vergehen, aber ich war ein Kind: Michele! rief der Pfarrer laut. Und schreckliches Schweigen folgte darauf. Daß seit altersher auch Klageweiber schreien, nicht nur wegen der Trauer, nein, das Gegenteil auch: vom Schreien könnte der Tote vielleicht geweckt werden, er erwachen."

"Als Arzt macht man die seltsamsten Erfahrungen", es klang fast entschuldigend, was Nicolao sagte: "Ereignisse aus Kindstagen, wenn die Geister wiederkehren, wenn der Tod nicht nur trockene Erde ist, sondern ein Schauer, ein Rieseln den Rücken hinab, und ein Sehen, ein Riechen wie dies Hellgrün der Linden jetzt, Maifeste. Mai warīs, als ein Patient, der an mich glaubte, starb, und eines Nachts wiederkehrte.Damals als es Lucca noch gab, jetzt ist es wie im Verschwinden."

Schwarze Melancholie überkam ihn. Er schwieg. Lucrezia hätte heute kommen sollen, dachte er: hier an der haltbaren Geschichte teilzunehmen, die uns anbietet, daß wir uns erinnern können, zurückgehen, ohne zu sterben, Leben gewinnen. Dann sagte er laut: "Sie hat es nicht gewagt zu kommen. Der Buonvisi läßt sie Tag und Nacht bewachen. Von unserem Kreis, auch von Orazio Carli zu wissen, und von meiner Schrift, ist für den Buonvisi unerträglich! Und der Buonvisi möchte mich an den Galgen bringen, so hätte er, der dumme Hund, Lucrezia für sich allein. - Der Patient also, der kam, das war Orazio Buonvisi, Lelios Bruder, Gentiluomo durch Reichtum, alles erschachert, und gern gelebt, ich verrate es euch, er war der zweite Sohn des Paolo Buonvisi, ein gestrenger Herr; und als zweiter Sohn, nach Pompeo, war er aus Geldrücksichten der Lucida Lucrezia Mansi versprochen worden. Er hatte den Tod vergessen im guten Leben, der Orazio, obwohl auch sein Bruder Pompeo, der die Lucida heiraten sollte, unter merkwürdigen Umständen und ganz plötzlich das Leben lassen mußte. Keiner weiß, an welcher Krankheit er starb. An einem Nachmittag aber, halb fünf Uhr, am 2. Juni laut Todesurkunde, holte auch den langen Orazio das Ende ein, obwohl er sehr weit vom Boden entfernt zu sein schien und auch erst 28 Jahre alt war. Ich hatte damals noch ausgezeichnete Beziehungen zum Hause des Paolo Buonvisi und ging im Palazzo in der Via Fillungo ein und aus, kannte auch den Bischof, hatte theologische Gespräche mit ihm. Aber als Orazio starb, war ich nicht gerufen worden; dieser Tod muß sehr plötzlich eingetreten sein. Ich ging an jenem Tag schon sehr früh, etwa 9 Uhr zu Bett, müde von der vielen Arbeit, und auch zwei Todesdiagnosen gestellt. Damals war ich kein Weintrinker, auch aß ich wenig, wie es Lucida Lucrezia bezeugen könnte, wäre sie hier. Wir kannten uns schon. Locus amoenus. Und ich schlief auch sofort ein. Bereit, wieder aus dem Leib zu fliehen, der Seele himmlische Nahrung zu geben, ohne Schwere und Sorge. Aber mein Bewußtsein war kaum wasserhell und anfangs silbern, da hörte ich die Stimme des Pardini, der mir wie aus weiter Ferne zurief: Junge, mach rasch und gib mir meine Stiefel! Das weckte mich. Ich hörte Orazios Stimme dicht unter meinem Fenster in der Via del Fosso fluchen. Und richtete mich im Bett auf, horchte, konnte aber kein Wort verstehen, Ärger stieg in mir hoch wegen solch nächtlicher Ruhestörung. Und da, ja, kam er ins Zimmer, und hinter der Wäschepresse hervor, wild herumfuchtelnd mit den Armen, rief er ganz nah:

Ja, was sagen Sie dazu, Doctor, an diesem Nachmittag um 5 Uhr bin ich gestorben...

Ich sehe alles vor mir, als wär es eben geschehen."

Und alle blickten auf Granucci, erstaunt, der stotterte und faßte sich verlegen an den Bart. Mit der rechten Hand machte er eine Art Schirm vor seinem Mund, als müsse er seine Worte kontrollieren oder schützen:

"Ich war sehr... erschrocken, als ich Orazio hörte", sagte er, "über diese Nachricht, daß er gestorben sei, ars moriendi, rief ich: O Orazio, das kann nicht sein, das ist nicht wahr.

Er aber: Wahrhaftig, es ist wie ich es Euch sage; was meint Ihr dazu? Man will mich schon Dienstag nachmittag um 2 Uhr begraben.

Ich war erregt, verängstigt, daß er so bei Bewußtsein in die Erde müsse. Und er verlieh ja seinen Behauptungen immerzu durch heftige Gebärden Nachdruck. Ich aber prüfte, ob ich denn auch wirklich wach sei oder nur träumte. Ja, dort das Talglicht, das Lucida Lucrezia hatte brennen lassen, als sie abends aus meinem Bett nach Hause gegangen war, es flackerte im Luftzug und schien wie ein blasses Lebenslicht gefährdet. Dort auch der Krug auf dem Tisch, ich hatte noch Wasser getrunken, und auch gegenüber der Spiegel, und sah mein wächsernes Gesicht, übernächtigt und fahl, und so gelbrötlich schattenhaft umflackert; wär die Kerze verlöscht, hätte mein Gesicht verschwinden müssen, als wär es nur ein Schein, untergegangen und ins Dunkle genommen. Ich war einigermaßen froh, daß Orazio nun ..." Und Granucci stockte, biß sich auf die Lippen, fast hätte er gesagt: er sei froh, daß der Orazio nun nicht seine, Orazios Ehefrau, die ihm angetraute Lucrezia, bei ihm fand, in seinem, Granuccis Bett schlafend, aufgelöster Engel, die blonden Haare auf dem Kissen, obwohl, was hätte der tote Orazio ihm noch anhaben können? ...Und sagte dann wieder laut in erzählendem Ton: "Dachte aber bei mir, es geschehen doch wirklich unglaubliche Dinge, so daß wir unseren Augen nicht trauen dürften; und sagte so im doppelten Zwiespalt, weil ich die Todesursache nun ahnte: Wenn es wahr ist, daß Sie gestorben sind, so bedauere ich es ehrlich; und ich will Ihren alten Vater weiter betreuen, und auch auf Lucida Lucrezia ein Auge haben, falls sie krank wird. Und ein Mensch hat immer ein verborgenes Leid, die Wunde kann nicht heilen. Da kam er näher, ich hörte ihn nur, sah ihn aber nicht, Schritte und ein Rascheln. Doch dann war plötzlich alles still, die Erscheinung Orazios, der Angst davor hatte, beerdigt zu werden, schien verschwunden, nur ein leerer Ort im Zimmer, wo er gestanden hatte, war spürbar geworden, als wäre noch jemand da, der mich berühren wollte.

Ihr wißt, Orazio Buonvisi wurde dann tatsächlich am Dienstag um 2 Uhr mit großem Prunk begraben, neben seinem Bruder Pompeo, der ebenfalls mit Lucida Lucrezia verlobt, aus unerklärlichen Gründen gestorben war. Und ich traue mir zu, die Todesursache, die ich ahne, vergessen zu können. Aber der weitere Umgang mit ihnen, ja, qui migravit, erlaubt mir zu wissen, daß die Lebendigbegrabenen entkommen, wie durch Nichts geht ihre Seele aus dem Körper und durch den Vorschein von Holz und Erde hindurch, nur im fahlen Licht des Bewußtseins geträumte Härte der Wände, der Bestand der während des Lebens im Festen ertastbaren Anatomie löst sich nachher auf."

 

Die Familie hatte ja ihr Ziel erreicht; Lucida Lucrezia Maria Mansi heiratete einen Buonvisi nach dem andern... die alle starben, der letzte aber war Lelio. Auf dem Bild von Frans Pourbus, Pompeo, Orazio, Fabrizio, Lelio, Cesare. Jetzt der Kummer von Lucretinas Vater: der erste Bräutigam tot: Pompeo, steinreich, Erstgeborener, starb schon mit 26. Neue Verlobung: Orazio, der mit dem klugen schmalen Gesicht. Tod mit 28. Man übersprang Fabrizio, als gäbe es ein böses Omen der Reihenfolge in der Kalkulation, um das Schicksal zu umgehen mit etwas Zufall: Lelio, das Muttersöhnchen, das nur halbherzig lebte, der mußte ran; die ließen nicht locker, noble Familien sind hart beim Ehegeschäft. So wurde der unglückliche Lelio zum neuen Opfer Lucrezias, die sich wehren mußte. Und De Carli half ihr, De Carli der Wiedertäufer und Feind der Reichen.

Der unglückselige Lelio, der Feige und Geldgierige in Lucrezias Bett. Ganz weiß und langausgezogen wie `Mondschein` seine Glieder und sein Körper wie längst gewesen und schlaff, so hatte die Unglückliche, die sich vergeblich wehrte, den Lelio voller Verachtung und Haß beschrieben.

Und die Prunk- und Protzenhochzeit? Hast du die gern mitgemacht? Enorm die Mitgift, die dote, wer sagt da nein. Lucrezia senkte den Kopf und schwieg. Krank war Nicolao, krank vor Eifersucht.

 

 

13

Das war abends gewesen. Am nächsten Tag war Granucci wieder allein in seinem Zimmer bei der Witwe. Er sah zum Fenster der Villa hinaus, stützte sich auf den wackligen Sekretär aus Sercambis Zeiten. Die Kammer, wo er wohnte, liegt hinten, dem Wald zu. Der Berg geht steil hoch zu den Weinbergen, mild und weich wie ein Mutterschoß.

Die Kammer liegt hinten, da geht nur der Berg steil hoch dem Wald zu, im Herbst vor allem istīs mild und weich wie im Mutterschoß, nur heller. Aber nie bepflanzter, das Tal genau so fruchtbar wie die Spalte. Nur daß wir uns in der dringendsten Forderung verraten fühlen, wie Montaigne sagte. So gelange er dazu, seine Existenz von innen her zu untergraben und zu zerstören, durch lauter Mißmut. Anstatt täglich auch so zu schreiben, nicht nur auf der sterilen Weiße des Papiers... Und ist in der Seele verletzt, die nicht sterben will. Haben wir die geringste Erfahrung eines Lebens, das nicht sterblich wäre? Er glaube es nur schwach.

 

Granucci saß also in seinem Zimmer bei der Witwe und aß, aß hastig und wieder zuviel, aß ein Hühnchen und trank dazu Wein. Hatte weder Gabel noch Messer, aß mit den Fingern. Und saß zu lang bei Tisch. Nicolao war müde von der heutigen Kur. Aber sehr hungrig. Nahm das Essen meist auch allein ein, um dabei lesen zu können. In seiner Hast biß er sich in die Zunge, sogar in den Finger, daß er blutete. Und er lachte laut vor sich hin, als ihm einfiel, daß Diogenes einmal dem Erzieher eines Kindes, das unmanierlich aß, eine Ohrfeige gegeben hatte. Und in Rom gab es Leute, die im dezenten Kauen Unterricht gaben wie im vornehmen Gehen, dachte er boshaft, und sah sich wie von oben, als wäre er der Wüterich. Bin ich ja auch, dachte er, da er nur mit Mühe einen Fluch unterdrücken konnte, als er an diesem dummen Hühnerbeinchen wieder zu hastig gekaut und sich in den Finger gebissen hatte. Ein Sanguiniker bist du, Freund, hitzig, aufwallend, und dazu auch noch ungeschickt. Wenn mir die Witwe nicht decken und die Gerichte aufbereiten würde, wäre ich vielleicht schon verhungert. Weder dieses tote, noch das lebendige Fleisch kann ich richtig bedienen, murrte er, unzufrieden mit sich selbst. Kein Pferd aufzäumen, kannst mit Falken nicht umgehen, Nicolao, genau wie auch mit diesem Huhn nicht, und redest mit ihm genau so ungeschickt wie mit einem Hund, mit Jagdvögeln und Rossen, deren Sprache du nicht verstehst, verstehst nur die Sprache deiner eigenen Gedanken, die geht mühelos ins Wort, da bist du immer Herr deiner selbst.

Es war schon nach sieben, mehr als eine Stunde hatte er getrödelt. Ob er auch mit dem schönen Fleisch der Frauen noch umgehen kann, Lucida Lucrezia? Granucci hatte zwar ein einnehmendes Äußeres, nur war er klein, und durch seine krankhaft blasse Hautfarbe mit der Pigmentstörung wirkte er auf viele, weil er auch einen leicht irritierten Blick hatte, immer ein wenig verlegen, als quäle ihn ein geheimes seelisches Leiden oder als nage an ihm eine düstere Leidenschaft. Bei Freunden hatte er früher, aus nicht klar erkennbaren Gründen, Mitleid oder Spott erregt. Vielleicht, weil sich seine schwankende Stimmung, die mal zutiefst melancholisch, dann wieder fast ausgelassen sein konnte, sofort in seinen Augen und in seinem Gesichtsausdruck spiegelte, und er kein Mann war, der etwas verbergen konnte. Allerdings weckte er durch seine außerordentliche Offenheit und Ehrlichkeit Vertrauen. So hatte er es auch hier in Villa sehr gut.

Er machte nach dem Essen wieder einen Verdauungsspaziergang zur Villa Buonvisi und ging dann die Weinberge hinauf. Spürte den Zwang, draußen in der frischen Luft anwesend zu sein. Sonst fühle ich jenen andern im Zimmer wie ein Phantom, dachte er, fühle mich dann aber nicht. Als hätte ich jetzt Federn im Ohr, nach außen gehört. Gottseidank, Nicco. So nannte ihn auch Lucrezia, er hörte sie seinen Namen sagen, das tat ihm gut; doch sie stand, trotz ihrer Poesie, im Gegensatz zu ihm, mit beiden Füßen auf dem Boden. Oft ärgerte er sich über ihre Nüchternheit.

 

Er kam bald zurück. Auch war er Montaigne nicht, wie er gehofft hatte, oben auf diesem Berg begegnet, wo Roman mit Hannah vor kurzem gestanden hatten. Genau dort. Verspätung von einer Stunde etwa. Nicht von vier Jahrhunderten... Es war klar, er mußte den Berg meiden, um die Zeiten nicht durcheinander zu bringen oder auch den Verstand. Templin zu begegnen, das wäre ein Skandal gewesen, so kann man nämlich den irdischen Verstand verlieren: Und es wurde ihm plötzlich, trotz der kühlen Luft, warm, als er sich diese Begegnung vorstellte.

 

Eben weil ich ihn fortsetzte, dachte Roman im gleichen Augenblick! Jetzt schwitzte er, er war zu schnell gegangen. Er mochte die Anstrengung nicht. - Komme mir von Tag zu Tag wohl mehr abhanden, mit fortschreitendem Alter, so hatte er gedacht: sind wir nur noch halbe Menschen. Komme mir abhanden, entgleite mir, und auch die rechte Lust an der Landschaft kommt nicht mehr auf.

Schön, wenn Lucrezia da wäre. Nicolao meinte sie vor sich zu sehen; jeder Tag scheint mir verloren, an dem sie nicht bei mir ist.

Und die Zeitangst nimmt zu, die mir die Kehle zuschnürt, dachte Roman. Und ich möchte an das ewige Leben glauben, Entwicklung über den Tod hinaus...

Da, - plötzlich diese Stimme: "Verfluchter Schreiber!"

Nichts, Nichts ist vergangen!

Lucrezia machte sich auf ihre Weise frei; wie die Ehemänner umkamen, ist ungewiß. Zehn Jahre waren vergangen: Und Lucida hatte drei Liebesnester in drei Mansivillen. Die Liebe zu Granucci war langsam abgekühlt; sie war lebensgierig und erfahren, die Lucida Buonvisi-Mansi. Und kannte zu viele, die sie, ja, zuerst aus Protest genoß. Dann wurde die Lust größer, und ein Prinzip. Und die Lust allein reichte ihr nicht aus. Der Diener Giovanni berichtete genaue Einzelheiten. Granucci gab ihm Geld, gab ihm für jede Nachricht 2 Scudi auf die Hand. Und Giovanni erzählte; auch er war in Lucida verliebt, hoffnungslos, der Diener, und eifersüchtig erhitzt war seine Phantasie. Granucci, der vom Leben Verratene, tat die seine dazu, und er schrieb diese Geschichten in den URBANO, es war seine Rache. Es war das unsterbliche Gefühl von früher, es war die gekränkte Liebe, die so ins Wort fiel! Sich und ihm. Schrieb anfangs mit schlechtem Gewissen, dann aber berauscht, schrieb er immer weiter... Und auch im Leben le diable au corps also, und das alles nur, weil es damals noch keine Schönheitssalben und Schönheitsmassagen und die Masken gab? Möglich, ja, fast sicher, daß alles in Catureglio auf der alten Feste geschehen, nahe von Bagni unter dem Monte Bariglio, wohin die Galane kamen zum Wochenende, geladen, aber, was sie nicht wußten: zum Sterben, denn für ihre Schönheit, so dachte sie, so hieß es: brauche sie ihr Blut; keiner habe ihr widerstehen können, keiner, sie habe den Blick, und halte jeden fest.

 

 

 

14

Nach der Grotte dann wie immer das Schlammbad, und das ist angenehm, diese heiße Packung. Roman in seiner Wanne, und legte sich genüßlich zurück In Catureglio, so sagen die alten Bauern, "gäbe es Ängste" in einigen der kahlen Zimmer, und Klopftöne seien dort zu hören, manchmal auch einzelne Schreie.

Roman hatte seine Dusche längst beendet. Jetzt ging es wohl zur Massage. Er freute sich schon auf Alessandra, auf ihre frische Art und ihre Geschichten. Was sie heute wohl wieder von ihren Patientinnen erzählen wird.

Der Raum hier ist viel zu weiß. Klinikgefühle, und es riecht nach Formol. Da steht einer unter der Dusche, der soll ich sein, denkt Templin. Wohlig, die Gedanken fließen mit. Und sehe mich in einem Wasserkleid im dunstigen runden Spiegel an der Wand. Kam langsam dann unter der Dusche hervor. Lag auf der Liege mit weißem Linnen bedeckt.

Und da kam auch schon Alessandra, die Masseuse, hat ein frisches rosiges Landpomeranzengesicht. Und ein keckes Maul. "Ich bin eine gute Mischung, nicht wahr", sagte sie, während sie sich die Hände mit Talg einrieb: "Mein Vater ist Mailänder, meine Mutter Toskanerin. Eine gute Mischung. Ich bin hier geboren."

Roman lag nackt unter ihren flinken Händen. Sie knetete gründlich, ihre Blicke sahen nicht weg... Die Verspannung seiner Muskeln löste sich unter ihren Händen.

"Ich tue meine Arbeit gern", sagte sie. "Und bitte entspannen Sie sich, sonst schlägt die Kur nicht an. Am allerwichtigsten ist, sich gehen zu lassen. Lasciarsi andare. Wie der Herr Ostuni in Rom es auch verlangte, wenn er andere Leben herbeilockte."

"Ostuni?"

"Ja. Der hat ein Wiedergeburtstheater in Rom. Er war ein Weibernarr mit seinem Biotheater, Geistertheater an der Engelsburg Via degli Scipioni 175A!"

"Engelsburg?"

"Ja, Engelsburg... Fellini hat dort für seine Stadt der Frauen Inspirationen gesammelt und auch Statistinnen."

"In der Nähe der Engelsburg?"

"Ja. Ich hab mitgemacht.- Das war außerordentlich, das kann ich beschwören. ("Engelsburg? komisch.") Er war allerdings arg hinter den Frauen her. Und stellte Forderungen an jene, die mitmachen wollten. Er hatte den gewissen Blick, die geeigneten Leute herauszufinden. Locker mußten sie sein. Und ich hatte ja einige Voraussetzungen. Drei Jahre Indien, ein freies vagabundierendes Yogaleben bei einem Guru. Und auch mit einem Freund. In Europa wäre das nicht möglich gewesen. Also die Leute, die Ostuni aussuchte, legten sich, so wie Sie jetzt, auf Liegen, die Liegen standen im Kreis auf der Bühne. Sehr eindrucksvolles Spektakel, sag ich Ihnen. Und hatte es so weit gebracht, daß wir uns an andere Existenzen erinnerten, dann ein gemeinsames Leben daraus machten, er suchte seine Schauspieler so aus, daß jeder mit jedem, nun ja, werīs glaubt, einmal in früheren Existenzen gelebt haben soll.. Schicksalsverflechtungen..., ich sag Ihnen, da gabs Dramen... Und das Ostuni-Theater war jeden Abend voll. Das Leben ist ein Theater, nur sind die wenigsten dazu fähig, ihr Leben mit Talent zu leben, oder?" Und Alessandra sah Templin herausfordernd an.

"Theatrum mundi", murmelte der verlegen.

"Ja. Überall gibt es seltsame Dinge, vero? Sie sollten sich öfter entspannen. Wenigstens spazierengehen. Mindestens drei Stunden am Tag, hier, fühlen Sie es, Ihre Muskeln am Kreuz sind ganz heiß. Zu wenig Bewegung. Und keine gute Diät."

Und voller Schrecken dachte Templin an dieses Altern. Man sah es deutlich an jedem Muskel. Doch hatten "sie" ihm nicht gesagt und sogar "durchgegeben", daß alle Altersgedanken Unsinn seien?

Alessandra unterbrach Romans Gedankengang: "Wenn Sie hier spazierengehen wollen, am schönsten ist es in Vico Pancellorum. Fragen Sie dort nach der Geheimsprache." "Geheimsprache?" "Ja." Alessandra lachte: "Es geht um Scherenschleifer. Es gibt da noch etwas Lustiges: manche Masseure haben weiche Hände, aber manche, na, die nennen wir Scherenschleiferhände. Wehe dem Patienten. Ja, aber nun zu den Scherenschleifern von Vico: das waren stolze Leute, wie alle Leute oben in den Bergen. Die haben sogar ein eigenes Parlament gehabt, dieses Nest, es hatte ein eigenes Stadtrecht. Die Scherenschleifer aber redeten in einer Geheimsprache. Und es klang, sagt mein Großvater, als redeten Irre im Schlaf. So schnell redeten sie."

Alessandra massierte wortlos weiter: nur ihre Hände und Romans Körper, ihre Fingerspitzen flossen die Haut entlang, kneteten den Rückenwirbel, den Halswirbel. "Den Kopf bitte wenden. Auf die Seite drehen, jetzt auf den Rücken." Massierte den Bauch, den Solarplexus. Roman verstand, warum geschwiegen werden mußte, jetzt sollte das Bewußtsein in den Körper gehen, meine Körperempfindung in ihre Hand.

Als sie die Beine knetete, schien sie sich an etwas zu erinnern: "Sie haben gestern vom Déjà-vu gesprochen; heute habe ich eine interessante Patientin gehabt, adliger Herkunft, aus Mantua, die lebt jetzt in Lucca; sie ist die geschiedene Frau eines bekannten Chirurgen. Noch sehr jung, sehr schön, doch ihr Körper ist total verspannt und verkrampft, vor allem die Bauchpartie und der Hals- und Schulterbereich; sie fühlt sich unglücklich, sie hat Angst, denn sie kann durch die Wände in das Zimmer anderer Leute sehn. Geniert sich nachher, wenn sie den Leuten auf dem Flur begegnet."

"Im Yoga nennt man das Siddi."

"Sie glaubt, sie werde verrückt."

"Und ihr Mann, der Arzt, hilft ihr nicht!?"

"Ach, die Ärzte."

"Sie soll nur ja nicht zu einem Psychiater gehen, der würde sie gleich in eine geschlossene Anstalt einweisen."

"Das hab ich ihr auch gesagt, doch sie ist naiv und ganz ahnungslos, dabei hat sie diese Zustände seit ihrem achten Lebensjahr. Als sie ein kleines Mädchen war, starb ihr Onkel an einer Operation. Ein kranker Knochen an der Hüfte war ihm rausoperiert worden. Da sei er ihr jede Nacht im Schlaf erschienen; einmal auch in Mantua als unheimliche weiße Gestalt am offenen Fenster ihres Schlafzimmers, und habe in traurigem Tonfall vom halben Menschen gesprochen. Das Fehlende aber kehre zurück. Und einmal im Traum zeigte er ihr seine offene Wunde an der Seite, dort fehlte ein weißer unheimlich langer Knochen. Sie verlor den Appetit, sie magerte ab. Die Eltern drangen in sie, bis sie die Wahrheit erfuhren, und der Tote exhumiert wurde, den Toten exhumierte der Erzbischof persönlich, der Hüftknochen wurde in den Sarg gelegt; alle bösen Träume verschwanden."

Roman hatte wieder dieses Erschauern, er dachte, aber diese "Patientin" kann doch nicht Ornella sein!? Er nahm sich vor, seine Yoga-Übungen wieder aufzunehmen.

Und Alessandra redete und redete, sie war nicht nur in Indien gewesen, sondern auch im westafrikanischen Dahomey: "Urheimat der armen Sklaven, auch der Haitianer mit ihrem Voodoo, und wer nach Ansicht der Westafrikaner sein Ye, sein Lebensprinzip mit Hilfe des Gottes Fa", sagte sie, "bewußtgemacht hat, kann mit seinem Ichbewußtsein in die zeitlose Welt eingehen, und sich selbst bei allem Aus- und Eingehen in verschiedenen Gestalten behalten." Dieses sei das Wichtigste, und ihre arme Patientin habe dieses Wichtigste erreicht, ohne es zu wissen, ohne es nutzen zu können, da sei ein umgekehrter Prozeß eingetreten, ihr hiesiges Ichbewußtsein sei zu schwach, das andere aber stark, so daß sie der Gang zu den Toten überfordere.

Templin erinnerte sich an seine Reise mit Hannah auf die geheimnisvolle Voodoo-Insel und die rätselhaften Erfahrungen mit Ye.

Alessandra aber verabschiedete sich und sagte, sie müsse jetzt gehen, ein anderer Patient warte auf sie, und Roman solle noch zehn Minuten ruhig liegen, dann könne er sich anziehen.

 

15

Roman also lag da und dachte weiter nach: Tod ist Überleben ...dachte er: .Ja, der Scheintod ist grausam, lebenslang sterben, hörte er plötzlich wieder diese Stimme, und er sah ängstlich zu Alessandra hin. Doch die hatte sich schon abgewandt und ging eben zur Tür.

Nach zehn Minuten zog er sich an und verließ das Gebäude.

So war er wieder draußen, der Körper wohlig müde vom Bad, da siehst du wie durch ein Tränennetz Kristalle, und jetzt von neuem der "Zeitsprung": Waben und verknotete Zeilen, links am Hang Weinberge, und aus Platanenblättern bewegt ein Rauschen; Wind dazwischen, Tramontana heute.

Gehst dort unten über den kleinen Platz zum Haus der Witwe, ein Gehen von Granucci und dir gegangen? Oder ein Sehen von "ihm" gesehen, und sehr selten hier, Pferde, Hufe auf dem Asphalt, Maultiere, ein alter Bauer dort am Tor, Klappern, dieser Nachhall, Nachziehen oder Zögern der Hufe, manchmal wie auf Feuerstein ein Funke, und sahst Granucci jetzt "wirklich" die Straße entlang reiten. Es regnete nun in Strömen.

Der Regen hört plötzlich auf. Du, Templin, gehst über den Platz, siehst über die Brüstung ins Hellgrün, siehst das Tal, dort rauscht ein vom Regen angeschwollener Gebirgsbach monoton, so daß im allseitigen Echo der Gegenwart einer nicht zu Wort kommen kann. Das Haus, dort, neben dem Torbogen mit der Heinetafel: als strahle es wieder, Roman sieht ein braungemasertes, wie eine Lampe geschwungenes Tor, grüne Fensterläden darüber, und es hat eine Aura, aus dem Holz, dem Stein, der gelben Farbe der Mauer springt Zeit wie ein Funke über.

Und an der Tür erscheint eine weißgekleidete Dame, altertümlich, grüne Seide an den Armen, ein Umhang, und geht auf einen Mann zu, der trägt ein schwarzes, goldverziertes Barett, ein schwarzes Wams, lehnt an der Laterne. Da hat Montaigne doch recht: tanzen, lachen, verkaufen, bezahlen, lieben, hassen, mit den Seinen plaudern und mit sich selbst freundlich und gerecht verfahren, nicht nachgeben, sich nicht Lügen strafen, das ist viel seltener, viel schwieriger... Denn du kannst jederzeit umfallen, jeden Augenblick sterben. Aus und vorbei. Vorbei?

 

Ob er sich mal zeigen könnte?! Zeit bei euch, ein Irrtum: immer noch an den Wänden abzumessen, die Spanne, am Licht, Sonne auf dem Asphalt heute morgen. Stehst auf einer Brücke, Templin, siehst hinab in den Fluß, wie Spiegelungen im Sonnennetz siehst du die Bilder. Achtung, Hand, wie lange, Achtung Auge, lang nicht mehr. Fremde Gedanken. Verzittert das Gesicht im Wasserspiegel, milchig das Wasser, beschrieben, große Platanenblätter schwimmen darauf. Lange Jahre her und vergangen. Vergangen? Frühe, Nebel über dem Wasser. Fischende Indianerväter im Bach, denkst du, fühlst du. Durchfahrtstraße, doch jetzt nur Fußgänger, leer, die Häuser stehen still in der Sonne. Der Geruch zieht die Straße entlang wie ein Duftgeist, Kipfel, Semmeln, weiche Butter, im Mund eine Fülle weiß. Kindheit, frische Sinne.

Hannah stand plötzlich neben ihm.

"Komm, Templin", sagte sie, "Komm, gehen wir noch ein wenig durch den Regen, wie schön es aus den Wiesen dampft. "

Ein glückliches schwingendes Sehen auf der Höhe; und unten im Hof spielen Kinder, lärmen nun in der Pause, der Hof ist bevölkert, ein Junge zieht ein Kunststoffauto hinter sich her, andere Kinder schaukeln auf grauen Kunststoffschaukeln; ein Kind, poppig bunt gekleidet, sitzt auf einer S-förmig geschwungenen Rutschbahn. Gejohle. Jauchzen.

Templin mit Johanna auf dem Platz vor dem Haus der Witwe; sanfte Berge. Weinberge steigen herab, ein alter Bauer, mit Hörgerät im Ohr, kommt aus dem Haus des Capitano Cherubini.

Der Alte versteht nicht, als Templin ihn fragt, ob es noch Nachkommen des Capitano Cherubini gebe. Der schüttelt den Kopf, zeigt auf sein großes Ohr, das taub ist. Die Fenster haben (noch immer) weißgefärbte Gitter.

Circel bellt. Sein schutzloser kleiner Körper rührt Templin. Sie stehen auf dem Platz, Templin wirft Circel, den er Floh nennt, eine Roßkastanie zu, der rennt wie ein Hundefußballer hinter ihr her, als könne er sie stoppen, er stoppt die Kastanie auch, überkugelt sich fast dabei, nimmt sie ins Maul, Rötlichbraun paßt zu Schwarz. Bellt kurz und befriedigt.

"Es gibt keine Nachkommen von Cherubini", sagt ein Mädchen in einem Fiat: "Und die Familie Buonvisi ist um 1800 erloschen."

Auf dem Platz taucht ein Bauer auf, der sitzt auf einem Maulesel und winkt einer Frau in einem geblümten Morgenmantel zu, und die kämmt sich am Fenster ihr Haar. Die Hufe klappern auf dem Asphalt, hölzern wie Kastagnetten. Er reitet schnell, steigt am Ende der Straße vom Maulesel. Am Ende der Straße eine schöne Villa in einem Park mit alten Bäumen. Templin starrt darauf, als wäre es eine Vision.

Sieht da ein Licht vor sich, eine Kontur auf dem Platz, als wär's ein Gespenst.

"Aber nein", sagt er, "hast du es gesehen, Johanna?"

"Was denn?" Hannah wendet sich um, er sieht ihre großen Augen fragend auf sich gerichtet.

"Ich dachte, ich sehe Granucci."

"Die Sonne war's, blitzte durch die Kastanienblätter, ich hab das Phänomen auch beobachtet, dort an der Brüstung", sagt sie lachend.

 

16

Zweifel nagten an Roman, wenn er sich mit Nicolao beschäftigte, tot ist tot, dies war die allgemeine Meinung, die auch ihn bestimmte, was heißt hier "in ihm wiedergeboren sein?" Wo wärīs faßbar - im weißen But der Sprache?

Er sprach auch mit Hannah nicht darüber; es hätte heftige Auseinandersetzungen gegeben; die er mied. Hannah, die zarte schöne Hannah, die er manchmal Jeanne oder auch Irene nannte. Hannah konnte sehr zäh und energisch sein, ihm andauernd widersprechen, dies Widersprechen wie einen Sport betreiben: immer das Gegenteil von dem sagen, was er sagte, die ihn aber, vielleicht gerade durch ihre widerspenstige Art, anzog. Reiz des Haares, aus dieser Mischung von Härte und Weichheit, verhaltener Rührung und Stolz, war dieses Inbild von ihr bei ihm entstanden, ein Sog: sie hatte etwas Männliches, trug auch meist Anzüge, die ihr etwas Herrisches gaben, Hannah also, bei der ihn letztlich nicht die äußere Erscheinung anzog, sondern ihre Aura. Hannah, die so fremd und vertraut zugleich war, mit ihrem praktischen Sinn, mit dem sie die gleichen Dinge immer ganz anders sah, als Templin, den die Dinge in ihrem vorgetäuschten festen Zustand nur störten, lebte sicher auf einem ganz andern Planeten als er. Ein Porträt von ihr, eine Zeichnung, hatte ihn einmal erschreckt, weil ihr Wesenskern wie nackt in den einfachen Strichen der Zeichnung zum Vorschein gekommen war: Die Zeichnung war ebenfalls in verändertem Zustand von einem Patienten in einer Heilanstalt nahe von Wien, die Templin gemeinsam mit Hannah vor Jahren besucht hatte, ausgeführt worden, und der Mann, Demius nannte er sich, hatte Hannahs unsichtbaren Kern zum Erschrecken genau erfaßt. Eindrucks- oder Ausdrucksbild, das Gesicht, wie aus-gezogen, brennend rot, Lebensfeuer, umrahmt vom schwarzen Bubikopfhaar, rechts eine Tolle, irgendwie goldleuchtend, Augen, Mund und Nase schwarz wie Löcher im Feuer, nur ein Arm, und eine arme rechte Hand, auch die brennend, wo der Arm fehlte - ein Widerschein des Gesichts, rot, das Ganze wirkte gedrungen und krüppelhaft, genau entgegengesetzt der stolzen und aufrechten Erscheinung Hannahs, wirkte eher koboldig, etwas von einem ungezogenen Kind, das nicht erwachsen werden konnte, als sei sie von einer geheimnisvollen Kraft verkrüppelt worden, die sie zusammenzog, der Körper dagegen ganz normal im engen Rock oder Hose, Farbschichten wie ein vielfarbiger Regenbogen von Rot, Grün, Violett, Tiefviolett, Braunrot, die Beine wieder intensiv in Rot...

Und Michum sagte zu Templin, er solle doch versuchen, ganz da zu sein, denn alles konzentriere sich im Augenblick und in der Beziehung.

"Die Ehe ist ein Spiegel für den Zustand des einzelnen, mein Lieber", sagte er. War er also gnadenlos alt, dieser Spiegel, eher ein Prüfstein für die Lebensfähigkeit des einzelnen? Oder einer Gemeinschaft? Roman fiel diese alte Geschichte der Danaiden ein, zerbrochene Ehen, zerbrochene Beziehungen sind wie Zeitfässer mit Sieben, wo sich die Zeit nicht halten läßt, alles substanzlos durchrinnt, nichts mehr vom Leben bleibt! Genau so. Ist es auch mit den Gemeinschaften so, die dieses "Sakrament" nur brutal ausnützt, wie früher und wohl auch heute noch. Lucrezia? Mich in sie einzufühlen versuchen?! In ihren furchtbaren Protest?

Auf der Heimahrt hatte er plötzlich Mitleid mit der grausamen Schönen aus Lucca. Hart war sie aber auch tapfer, dachte er: und auf wildeste aber auch eigene Art hat sie ihr Leben selbständig gelebt. Sie mochte die Männer nicht. Und nur die Sanftheit. Und wie um ihre Sünden leichter werden zu lassen, den Abweg zu beschreiben, nahm sie in ihrer Lebensbeichte, die sie im Kloster geschrieben hatte, auch ein Gedicht auf, das sie über die Ehe mit dem Eheherren, dem sie zu Diensten sein mußte, und die Bastarde, diese "Gatten", die sie in dieses Loch gebracht, hinausgeschrien hatte.

 

Im ehestanndt bin ich gegebenn

Dem edelenn herenn mein,

In Krangkheit thet ich lebenn,

Ohnn furcht thet ich nicht sein.

Creutz, Jammer vunde schmertzen

Was mir alltzeit empor,

Ich schrei zu gott vonn hertzen,

Dem vunglück kam zuvor.

 

Sie hatte ja ihre Kindheit und frühe Jugend am Hof von Ferrara bei einem Verwandten verbracht; Torquato Tasso, ein Freund der Familie, hatte diesen Verwandten, den Malpiglios, sogar zwei seiner Brief/Dialoge gewidmet ( Malpiglio primo, Malpiglio secondo); Lucrezias Onkel war Schatzmeister in Ferrara bei Hofe gewesen. Und sie wurde schon mit achtzehn von Poeten besungen, das verdarb Lucrezias Charakter. So kommt sie vor in Giovanni Vannulis "Triomfii alle valorose donne lucchese", und Constantino Prosperi vergleicht sie in seinen "Diverse rime" auf schöne Luccheserinnen mit der frühesten Morgenstunde, jener kruden Frühe der Unberührtheit: Madonna Lucretiina, "quel verginella rosa". Und so beschrieb sie auch der arme verliebte und eifersüchtige Granucci, der für ihren "Protest" kein Verständnis hatte:

 

Die Nacht also, da kamen sie; Lu habe sich zum Fenster hinausgebeugt in die feuchte Nachtluft, ja, und ein Fuchs habe im Wald zu bellen begonnen, als habe er eine feindliche Botschaft empfangen, und dazu ein Fasan flatternd durchs Gezweig, und seltene Kälte dazu, und der Schnee, der vom Dach rutschte, zu Boden plumpste, und sie dachte an Poesie, wollte schreiben, überwältigt von den Düften eines alten Gartenweges , nahm die Kielfeder, Tinte und Papier, großer Genuß, und las, doch tiefste Verzweiflung, die Feder kratzte, strich alles durch, dann höchste Verzückung, und schrieb: - da, ein Schatten, verdunkelte die Seite vor ihr, und verbarg sie in dem Secretär, einem Geheimfach, lachte: nein, doch ein Geheimfach das Geschriebene, erstaunt, das Fenster ging doch auf den innersten Hof, und hatte Befehl gegeben, niemanden vorzulassen, außer ... nun ja, er mußte es sein. Und sah auf, sah, wer ihn aufs weiße Blatt geworfen hatte ... Blatt, das sich wendet, tintenschwarz, oder rot... Und ging zur Kredenz, Rotwein zu holen... Es klopfte nicht, die Tür ging von alleine auf, und da war er, der schöne Herr in Schwarz. So hatte es Giovanni erzählt. Und so war es gewesen, daß er oft da war, der schöne Herr in Schwarz, fast jeden zweiten Tag der Woche. Und liebe sie, sagte Giovanni mit einer zu hohen Stimme, und wie Spott klang es. Lucida und der Gast saßen dann zu beiden Seiten des großen Kamins, Feuer prasselte, warf flackernde Schatten in den Raum, rötlich alles, die schweren Möbel, die ins Dunkle versanken, jede Ecke ein Geheimnis, aus dem es schwieg und Angst zu kommen schien, wenn man es nicht gewohnt war. Sie tranken und redeten. Und der junge Herr sagte, er bete sie an.

So weit also sei die Geschichte normal gewesen, hieß es in Giovannis Bericht, er, Giovanni aber, der schon einen steifen Hals und halbblinde Augen hatte vom aufmerksamen durchīs Schlüsselloch-Sehen, habe etwas ganz anderes erwartet, sie aber hätten begonnen, dieses Fliegen-Lotto zu spielen, das war ja recht einfach, ging mit drei Würfeln Zucker und einer Unmenge von gefangenen Fliegen um, und man wettet dann, etwa fünfhundert Scudi, auf welche Zuckerwürfel sich die Fliege, die man zum gegebenen Zeitpunkt aus dem Glas ließ, setzen würde, um da den Rüssel herauszustrecken und unter Lebensgefahr zu saugen.....

Merkwürdig, daß Lucrezia sich diesem Spiel unterwarf, Fliegen und ihr Summen machten sie sonst nervös, und Zucker verabscheute sie, außerdem überfiel sie Schwindel, sogar Mitleid, wenn der schöne junge Herr die eine oder andere Fliege genüßlich tötete, ihnen ein Bein ausriß oder sie zwischen den Fingern zerquetschte, da überkam sie die Wut und sie dachte an ihr Messergerät im Keller und an die scharfen Gefühle ... sie sich etwas öffnete, als wäre es der ganze Körper, sie eins mit den rosenförmigen Rändern der Öffnung, die Falltür dann aufging, ein Schrei... Der tiefste Gott der Welt, ein Loch, eine Wunde, dachte sie:

Diese besessenen Umarmungen, ja, alles, was sichtbar ist: endlose Verknotungen sexueller Umarmungen, Stöhnen im Wald: gemiti dīamor, nodi dīamor, saldi e tenaci, Verknotungen von Körpern wie ein Labyrinth, voller Zoten, die schon Leonardo gern sammelte.

Und doch war er eine Krankheit, ihr Liebeswahnsinn.

 

Zweige einer weißen Akazie rauschten vor dem offenen Fenster, zarte wohlriechende Blüten fielen ins Zimmer herein, wie ein weißer Regen, und der Mondschein nur durch rötliche Wolken gemildert, fiel auf den Tisch, perlmuttartig der Schein, und auch das Talglicht brannte noch trüb. Der Mond war untergegangen, und in den Gemüsegärten, die das Haus umgaben, war es weniger muffig, duftete nach Früchten und Kräutern, Melisse, Minze und Fenchel, aus einem Nest fiel ein Schwalbenkind, und ein starkes Geschrei der Alten im Setzteich des Nachbarn war zu hören, die Enten, und nebenan die Stimmen aus der Werkstätte...

Templin machte eine Pause, betrachtete die Tastatur rechts vom Buch, dann seine Finger, die Hand, nein, die rosig hautfarbene, pigmentlose Landkarte, Vitiligo, schwarze, nachgewachsene Altershärchen und blonde, braune Inseln, dann die Fingergelenke wie tiefe Kerben. Und eine Fliege, die ihn ärgerte, kitzelte, von der Tastatur auf den Handrücken surrte, bekannt seit der Kindheit, auf dem Fliegenpapier, verzweifelt gegen den gelben Gifthonigseim kämpfend, langsam eingesunken die feinen eingeknickten Beinchen, wie Striche, die vergehn, sie krabbelt sehr schnell auf der linken, nur wenig beschäftigten Hand über die Landkarte, dann auf seine Stirn, der Rüssel saugend, das Bekannteste, was uns immer begleitet, die Erde würde Roman auf dem entferntesten Planeten durch die Fliege wiedererkennen, seine Vertraute, irdischer Winziggänger und Quälgeist. Warum spielte Lucrezia mit dem Schönling so gern "Fliege"? Der Verdacht bleibe, dachte Roman, daß Lucida mehr erhielt und auch konnte, als die Natur erlaubte! Sie konnten beide mit dem Leben, also auch mit dem Tode spielen? Warum?" Weil dieser Assistent des Leonardo schon damals mehr über den Körper wußte, als "erlaubt" war. Damals von der Kirche, und heute ...?

 

Hannah hat vielleicht recht, dachte Roman: die Sucht, jung und schön zu bleiben, ja, sehr lange jung zu leben, ein Menschheitstraum, wäre die eigentliche Ursache von Lucrezias Wahn gewesen? Und zu bedenken wäre, daß wir heute nahe an diese Geheimnisse herangekommen sind, will man Michum glauben, der gerne davon spricht: von der neuentdeckten Lebensuhr in den Chromosomen nämlich, davon spricht er in letzter Zeit: die sogar phantastische Märchen von "ewiger Jugend" realistisch erscheinen läßt: frühe fakirartige Praktiken, diese Uhr zurückzudrehen, seien ja heute wahrscheinlicher geworden! Und auch bei der "Augendiagnose" konnte Granucci damals schon vielleicht intuitiv die Schwingungsstöße der Photonen erkennen! "Wir können ja diese Photonenstöße heute sogar messen, und wissen bei jedem irdischen Wesen, wie lang es noch leben darf, daß es dann den Körper ablegen muß, körperlos schließlich die rein geistige Ebene der Nachtodeswelt erreicht," so unser Dr. Michum. Damals sei es Magie gewesen, heute aber ein Effekt der Biophotonen, des Lichtes in unseren Zellen, daß so ins DNS der Zellen transzendente Botschaften einströmen, Biophotonen ritten sozusagen auf den Spiralen der geheimnisvollen Doppelhelix. Und der "Pakt" Lucidas mit dem Schönling (wahrscheinlich ein Schüler Leonardos!), werde so plausibel. Heute bräuchten wir ja keinen Teufel mehr, um uns in die Natur einzumischen, sie "sündig" zu manipulieren, und körperliche Unsterblichkeit sei nun durch das neuentdeckte Unsterblichkeits-Enzym Telomerase im Zellkern möglich geworden! Schon 1985 - von zwei Frauen entdeckt: Carol Greider und Elizabeth Blackburn. Diese Telomeren tickten in den Endabschnitten der Chromosomen, eine Art Lebensuhr, die den Körpertod programmiert! Und Yogis oder Nekromanten sei es ja schon immer gelungen, diese Uhr zu verstellen. Nur unsere "ontologische Zensur", subtilste Endstation: die weißen Folterzellen der Irrenanstalten, der heutigen Seelenpolizei! ließen es nicht zu!"

Schön, schön, wie der Herr Irrenarzt das alles vorträgt: und Roman erinnert sich plötzlich an einen Vortrag Michums, der vom NICHT-ALTERN IN DER DRITTEN EBENE handelte. Templin nahm den Vortragstext aus einer Mappe und las neugierig nach: "Relevante Parameter des Alterns zeigen sich in drei Quasidimensionen als Verformung einer Spirale. .. genau: Im Gegensatz zum zeitabhängigen irdischen Leben, das durch einen sich der Achse nähernden spiralförmigen Verlauf gekennzeichnet ist, und beim Erreichen der Achse mit dem Tod endet, verläuft das Leben in der Dritten Eben auf einer Schraubenlinie mit konstantem Durchmesser, daher ist dieses der Nulltod: Durch die Rückgangsgeschwindigkeit c unterliegen die Laborsignale einer transfiniten Rotverschiebung und treffen mit Nullenergie hier ein. Das Problem bei der Zukunft für uns ist, daß diese hier noch nicht existent zu sein scheint. Ständiges Entstehen von Zeit geschieht immer vom Nullvolumen Gegenwart aus. Gegenwart bewegt sich mit der Geschwindigkeit c in die Zukunft, es ist dies die vierte räumliche Dimension. Für mich war es beängstigend und faszinierend festzustellen, daß Energie und Materie tatsächlich ein und dasselbe sind, daß ein Körper nur scheinbar vorhanden ist ... aber wie soll ich, verehrte Zuhörer, Ihnen dieses in unserer so beschränkten Zeit, die uns hier zur Verfügung steht, erklären, wo mir nicht einmal die richtigen Vokabeln in unserer irdischen Sprache zur Verfügung stehen!... "

 

17

Ja, Gegenwart, wann war das? Oh, Madonna, nur die schwingende Lust beherrscht das All und die Sterne: Als sähe Nicolao jetzt zum erstenmal dieses Zimmer seines Meisters Rusticci, überfüllt mit Maschinen, astronomischen Instrumenten, Rädern, Hebeln, Federn, Schrauben des Hexenmeisters, der sich nicht begnügte mit der Todesdiagnose, nun wollte er auch noch fliegen, Maschinenteile aus Messing, Stahl, Eisen wie Rieseninsekten aus dem Dunkeln, Schatten, Schatten und eine Taucherglocke in der Ecke, und flimmerndes Kristall des neuen optischen Apparates, ein ausgestopftes Krokodil und ein Glas mit einer menschlichen Mißgeburt in Spiritus, wie eine bleiche riesige Larve links aber auf dem Tisch ein aus Ton gekneteter Engelskopf, den ihm Leonardo einmal geschenkt hatte, und ganz hinten Schmelzofen und Blasebalg, noch glühende Kohlen unter der Asche, daneben Retorten und Gläser. Um Gold zu machen. - Auf dem gequälten Gesicht des Granucci fast ein verachtungsvolles Lächeln: dieser Irrsinn mit den Apparaten, als hätten wir die Kraft nicht in uns! Den inneren Aufbau der Maschine hat er von Leonardo gelernt, der Alte ist ganz besessen davon, vom Fußboden bis zur Decke reichen die Flügel der Maschine, das hat Rusticcis Vermögen verschlungen, er hat sie kopiert vom da Vinci.

Und Granucci erinnerte sich an die letzte Begegnung mit Lucrezia hier in diesem Haus, bevor ihm Giovanni von ihren schrecklichen medusenhaften Liebesnächten in Catureglio erzählt hatte; Nicolao konnte damals nicht schlafen, die Nacht war still und feucht, er stand am Fenster, sah auf den quadratischen Hof hinaus, ein Brunnen lag in der Mitte, links eine Mauer mit einer kleinen Tür zur Straße. Endlich hörte er das erwartete Klopfen: Lucrezia im weißen Gewand, sie sah grünlich aus im Mondschein, die langen Haare waren zerzaust, und sie atmete schnell, sie war gelaufen; ich bin aus "seinem" Bett gekommen, sagte sie atemlos, unschuldig , und Granuc, so nannte sie ihn, dachte: wie aus einem Grab. Und sie gingen hinaus in den Hof, sie saßen nun da am niedrigen Rand des Brunnens, ihr Gesicht fremdartig, gleichgültig starr, und die Augen durchsichtig, gelb wie Bernstein? Die Haare schienen spröde und umgaben wie die Schlange der Medusa den Kopf im blonden Glorienschein, dies machte ihr feines Gesicht noch bleicher, rote Lippen glühender und die gelblichen Augen durchsichtiger wie den Mondschein, der sie anstrahlte; er war verliebt, der Granuc und flüsterte: Primavera!

Hast du gehört, der Frater der Inquisition ist da, wir sind in größter Gefahr, hüte dich, sagte sie: ich habe Angst vor den Instrumenten der Folter, und stelle sie mir nachts im Bett vor, an meiner Haut spüre ich es brennen. Wir? Ja. Sei vorsichtig, warne auch deine Mutter. Ihr mit euren gestohlenen Engelsflügeln...

Und du, Lu? Du mit deiner Salbe?

Du glaubst wohl, wir seien Hexen?

Nein, ich weiß es: Wir dürfen fliegen! das ist keine Hexerei. Naturgesetz ist es ausfliegen zu können, wie wir es tun mit den Benandante. Wann tun wir es wieder Lu? Und Granuc glühte, berührte mit der rechten Hand ihr Hinterteil, das schimmerte rund unter dem weißen Gewand.

Weißt du, was mir erzählt worden ist? Der Onkel ist ja Bischof.

Ich weiß.

Stundenglas und Hippe werden sichtbar hier in eurer Werkstatt.

Schöne Frauen dürfen an Wunder glauben, weil sie die selber vollbringen, sagt Messer Rusticci.

Der glaubt an Luther und nicht an Gott.

Vielleicht an den Heiligen Geist in seinem Kopf. Und an das Augenlicht, an dem man Krankheit und Tod ablesen kann. Todes-Diagnose.

Der glaubt an seine Werkstatt.

Wehe, du glaubst daran, wehe, du glaubst nicht daran.

Man erzählte mir, die Padres der Inquisition hätten bei einem andern großen Gottlosen einen Vertrag gefunden, nach welchem dieser Mensch sich verpflichtet, auf Grund der Logik und der Naturgesetze, jede Existenz der Hexen und die Macht des Teufels zu leugnen, um auf diese Weise die Diener des Satans der Heiligen Inquisition zu entziehen, das Reich des Teufels so zu festigen, ha.(Weil es das Reich der Natur ist?)

Ich weiß: So heißt es nun, an Hexenmeister zu glauben, sei Ketzerei, und nicht daran zu glauben, sei eine doppelte Ketzerei.

So verrate dich und deinen Meister nicht, sag es niemandem, daß er an schwarze Magie nicht glaube...

Verrückt ...

Sicher. Aber auch eure Flugapparate sind verrückt. Warum machst du da mit, weißt du nicht, daß man auch anders fliegen kann?

Ich weiß es, und ich mache nicht mit, Rusticci macht das allein.

Du weißt doch die Salbe, das Losungswort, und die Handlung dabei, ich schäme mich nicht, nackt zu sein, nackt sein ist schön. Und man muß es einfach nur tun!

Ich weiß, stotterte Granuc, und seine Augen funkelten im Dunklen: wann Madonna Lu, wann?

Voluptas. Vielleicht am Samstag, nachts, da komm ich, wenn es überhaupt geht, wieder; heute geht es nicht. Doch heute zeig mir die Werkstatt.

Nein, Lu ich darf das nicht tun.

Warum nicht?

Hab's dem Meister versprochen. Da gibt es nichts besonders, keinerlei Geheimnisse. Maschinen, Bücher, Handschriften. Eine große Unordnung. Seltene Blumen, Insekten, Tiere, einen giftigen Baum.

Einen giftigen Baum? Den muß ich sehen.

Er ist für Versuche. Jetzt im Frühjahr, wenn der Baum treibt, bohrst du ein Loch in die Rinde, und machst mit einem langen nadelartigen Instrument ein Loch, spritzt dann eine gelbliche Flüssigkeit hinein in den Baum. Und dann sind die Früchte mit Gift durchsetzt!

Siehst du ihnen das an?

Nein. Keiner darf da hinein in die Werkstatt. Jemand könnte von der Schönheit dieser Pfirsiche verführt, davon essen, und dann sofort sterben müssen.

Ich zeig dir was, läßt du mich dann ein? Ich muß den Baum, den giftigen Lebens-Baum muß ich sehen!

Sie zeigte dem verliebten Doctor ein gelbes Fläschchen.

Du weißt es schon, in uns leben Seele und Willenskraft und Vernunft. Vernunft und Seele entweichen im Flug aus dem Körper, wenn wir fliegen, du weißt, und dann endgültig nach dem Tode; die Willenskraft aber verläßt den Menschen schon bei Lebzeiten. Granuc, du bist nahe daran, der Wille verläßt dich, du bist von der Liebe geschwächt, und holst dir mit der Feder und dem Pergament falsche Kräfte in die Seele, verfällst deshalb den Maschinen, Granuc, dich verläßt der Wille, denn der Wille hält die Sterne fest, und die Willenskräfte der Menschen atmen Gott ein und aus, wehe es gäbe sie nicht mehr, auch Gott müßte sterben.

Granuc raffte sich gekränkt auf, straffte sich, hob den Kopf, bisher hatte er einen geduckten Eindruck gemacht, als erwarte er ständig einen Schlag von oben, jetzt sah er Lu trotzig an, holte aus der Tasche selbst ein grünes Fläschchen, und sagte, er habe es auch, das Benandantefläschchen, und habe es noch vervollkommnet mit Hilfe des Meisters Rusticci. Man sah in dessen Innerem auf dem Grunde ein Plättchen aus gelbem Bernstein. Hier, sagte er, dies wird auch Elektron genannt. Und ist Erfahrenheit, kein magisches Muster, experientia ac ratio, und hat zu tun auch mit dem donum, und doch istīs nachgeprüft, Madonna. Und Bernstein zieht den Äther an, das ist die entwichene Willenskraft und der Geistleib wie eine Wolke, die entweicht, das siehst du an den Kranken.

Plötzlich hatte es Madonna Lucrezia furchtbar eilig; und wie gewöhnlich war sie nach einer kurzen flüchtigen Umarmung grußlos verschwunden. Granucci schöpfte Verdacht. Weshalb schläft sie nicht mehr mit mir? Und es fiel ihm wieder dieses Gift der Erzählung, Giovannis oft idiotische und manchmal auch banalen, aber im Endeffekt immer phantastischen Berichte ein, die er niemals nachprüfen konnte, aber teuer bezahlte!

Er habe freilich beobachten können, so hatte Giovanni erst vor einer Woche mitgeteilt, daß Lucrezias "Pakt" mit "ihm" stattgefunden, und daß sich das Zimmer nach dem Pakt und dem Flug durch die Wand auch langsam aufgelöst habe, und das sei so gewesen: Der schöne junge Herr habe, nachdem sie das Fliegen-Lotto beendet hatten, das freilich, wie immer, Lucrezia gewann, höchst Seltsames mit ihrem Leib getan, eine Operation sei es gewesen ... Als habe er sie mit seinen so starken Lichtaugen angestarrt, einen Wirbel in ihr erzeugt, ihr Körper aber habe geschlafen, als er sie mit einem Elixier eingerieben. Und das Fenster habe stark geklirrt, und sie sei wie ein weißer Streif, ein großer Vogel aus dem Fenster davongeflogen...

Während Granucci ausgestreckt nun auf dem Bett lag, ließ er alle diese Gedanken kommen. Die vertrieben seine Grillen. Und die Angst. Lelio Buonvisi kam ihm in den Sinn, sein merkwürdiges Leiden, dabei ist der steinreich, kann sich alles leisten, dachte er, aufgeputzt ist der wie ein Pfau, muß so manches maskieren, der arme Kerl, redet viel, recht lebenslustig, nur diese Gebrechen, die machen ihm zu schaffen; schlechtes Blut haben diese alten Familien, sind wohl inzüchtig. Das schlimmste Übel ist der Kopf. Leere oft, sagt er, die Leere quäle sehr. Mir geht's nicht viel besser, wenn die Eifersucht kommt. Seit 18 Monaten diese Anfälle. Die andere Seite der Lebenskraft, der Liebe, jaja, und finde darin einen Trost, im Kampf gegen den eisigen Tod. Diese qualvollen Attacken. Aber es ist dennoch möglich, sich aufrecht zu halten, befreit von der Todesfurcht. Was kommen wird, weiß keiner. Und der arme Reiche wird wieder schwadronieren, von seinen angeblichen Seeabenteuern erzählen. Diese Sucht, ein Seemann sein zu wollen, - bei der schwächlichen Konstitution. Er braucht's und flunkert dann. Ob der Buonvisi Angst hat vor diesem Zustand der Leere? Und diese krankhafte Angst vor den Florentinern und den "Häretikern", die ihm nach Reichtum und Leben trachten. Wie der Buonvisi mit seinem schwachen Kopf durchkommt, ein Wunder. Er könnte leicht erledigt werden. Ich müßte mehr mit De Carli umgehen. De Carli, das ist jener, der den Buonvisi und die mercanti am meisten haßt, der glaubt mit Jesualdo an Zeichen und Wunder, daß der "Messiasstaat" bald da sei. Vielleicht in der Leere, in solch einer Leere wie die im Kopf des Buonvisi einzurichten.

Granucci und De Carli trafen sich von Zeit zu Zeit im Bibliothekszimmer, das seit Rusticcis Zeiten unverändert geblieben war; nur viele neue Bücher waren hinzugekommen. De Carli sah immer blaß wie der leibhaftige Tod aus, und asketisch, als wäre er eben aus einer Einsiedelei gekommen; die Augen funkelten fanatisch, und er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem armen Savonarola; diese Hakennase und das Feuer in den dunklen Augen... De Carli war kein Mönch, er hatte eine angenehme Frau, die das Haus führte, alles für ihn besorgte, ihn sehr liebte, die Donna Anna, und zwei Kinder hatte er auch, ein Paar, völlig gesund und normal. Antonio, der Junge, hatte von einer Reise nach Genf verbotene Bücher mitgebracht. Pico de la Mirandolas " De hominis dignitate" und "Heptaplus" in Ficinos Übersetzung. Die Arbeiten Giordano Brunos über das Gedächtnis erwartete er mit Spannung. Die alte Mnemotechnik aus dem römischen "Ad Herennium" hatte Bruno als hermetische und magische Kunst weiterentwickelt, sie wollte er der neuen Vergeßlichkeit entgegenstellen, der Vernichtung der Vergangenheit durch das Geld! Wie am Buonvisi besonders deutlich erkennbar! De Carli war das eigentliche Oberhaupt der Benandante und der Chiliasten und in der Ekstase erfahren. Wer ihn so sah, immer ein verschlossenes Gesicht, traute es ihm nicht zu. Auch Montaigne nicht. Er wartete nun auf das neueste Buch von Bruno. "De umbris idearum" erschien freilich erst 1582 in Paris und war Heinrich III. gewidmet. Montaigne kannte Bruno gut, Granucci hoffte, den Jüngeren, den er sehr verehrte, durch Montaigne kennenzulernen; Heinrich war dessen Vertrauter.

Ein komischer Mann, dieser Lelio, der Vergessliche, dachte Nicolao und schüttelte sich vor Mitleid und Ekel: Lelio, der meine schöne blonde Lucrezia im Bett hat, sieht sie nicht aus, wie vom Botticelli in Florenz gemalt, reine Primavera und treibende Venus, das juckt schon, wenn du sie ansiehst, und alle braten heftig in der Liebeshölle. Und ich am heißesten, samt Eifersucht, diese Giftwunde. Nur sie, die Lucrezia, sie ist sicher die Alleinleidende, haßt den Vergeßlichen. Ob sie, wie hier üblich, mit Gift umgehen kann? Der Lelio, ihr Eheverwandter, der vergißt ja sogar, was man ihm beim Essen vorgesetzt hat. Unglaublich, dabei ist doch Essen und Trinken die beste Sache der Welt, besser noch als die Beischläferei. Im alten Rom, da aßen sie bis tief in die Nacht. Stundenlang. Würzten dazu noch mit lehrreichen Gesprächen die nie zu lange Zeit. Und der Signor Lelio vergißt, was er eben am Gaumen gehabt hat. Wenn er sein Haus verläßt, wegen irgendwelcher Besorgungen, muß er zehnmal umkehren, nachzufragen, wohin er denn eigentlich gehen wollte. Sie lachen alle hinter seinem Rücken, auch das Personal. Die Stubenmädchen kichern. Die Pferdeknechte grinsen breit. Die Köchin schüttelt weise das Haupt. Für das Paternoster braucht er eine Ewigkeit, muß immer wieder von vorne anfangen, kommt nie bis zum Amen, vergißt, daß er angefangen, wo er unterbrochen hat, und ist nur im Augenblick; was war, was kommt, fällt in seine Leere. Und doch gelingt`s ihm, Geld zu scheffeln. Der Moment zählt da. Freilich, die Bücher müssen in Ordnung sein. Dazu hat er seinen Secretär. Und dieser Dottore, der in Padua studiert hat, ein gewitzter Kerl, der ihn berät: Geld in Köln, in Antwerpen, Genf, Lyon.

Dem Geld steht die Welt offen. Das Gold mag er mehr als Lucrezia. Und lange leben wird er nicht. Jetzt hat er ständig Zahnweh. Und die Nieren spüre er wie ein Stück heißes Blei, sagt er. Und unterwirft sich sklavisch den Doctoren. Das ist seine Religion, die Hypochondrie. Dünnes blondes Haar, sommersprossig das Gesicht, weiß, wie ein Nachtschattengewächs. Sehr wehleidig, der Herr, und trägt einen Sonnenschirm ... hab ihn zum erstenmal hier so gesehen - in dieser Art, ein Kopfsonnenschirm sozusagen ist das, eher ein großer flacher Hut aus Pavianenfedern und bedeckt mit leichtem Taft. Und das Loch für den Kopf mit Hermelin gefüttert. Das ganze Monstrum etwa anderthalb Fuß im Durchmesser, fast ein kleiner Parasol. Aber zu Pferde ist das wohl recht unbequem, ein andauerndes Zittern dieses Undings auf dem Kopf.

 

 

 ZURÜCK ZUR HOMEPAGE