Dieter Schlesak

 

STEHENDES ICH IN LAUFENDER ZEIT

 

 

Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um

ein praktischer Mensch zu sein, ist dieser Mangel... Wenn der Mensch wirklich fühlen

würde, gäbe es keine Zivilisation.

Die Kunst dient als Flucht für die Sensibilität,

die das Handeln vergessen mußte.

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe.

 

 

I Sommer 89

II Dezember 89 

 

III 1992 Hunger nach Welt

IV Zurück zur Hoffnung: 1990 

 

V Nichts mehr ist so, wie es war : 1993

 

VI Der Golfkrieg: 1991

 

VII Östlicher Reichtum und westliche Armut

 

VIII Krankheiten des Kopfes und der Seele.

Der Mörder Althusser

 

 

 

 

Vorwort zur italienischen Ausgabe

 

Das Jahr 1989, von dem dieses Buch ausgeht, ist ein vorausgeworfenes Zeichen einer neuen Zeit, vielleicht sogar eines der Jahrtausendewende; die Folgen dieser Revolution, die den Kalten Krieg beendet haben, verändern langsam aber sicher auch den Westen; die Analysen meines Buches haben sich bestätigt, die Folgen jenes Jahres sind erst heute deutlich erkennbar: der Rythmus der Metamorphose ist seither grenzenlos und atemberaubend, wir hinken mit unserem Bewußtsein und auch in der Praxis nach, als würfe tatsächlich das Jahr 2000 seine lichtschnellen Schatten voraus.

Auch die Grundaussage meines Buches, das 1990/1991 geschrieben wurde, hat sich in der Realität mehr und mehr bestätigt: Wir leben immer mehr in einer immateriellen und telekratischen Welt einer weltweiten Vernetzung bis hin zum Internet. In ihr wird der Abgrund zwischen dem, was Geschichte bestimmt, nämlich einerseits unsere elektronischen Haustiere und ihre Gesetze, wo Raum und Zeit überschritten werden, und andererseits der Welt unseres immer noch dreidimensionalen Alltags brisanter und benimmt uns weiter den Atem in einem sich abzeichnenden Geschwindigkeitswahns der "Chronokratie".

Auch die Welt als Täuschung der Medien, als Schein, die Substanz und Sein aufbraucht, hat zugenommen: Nichts mehr ist "wirklich", alles nur Vorführung, Medien-Theater, die Welt ein Gespensterwerk. Gleichzeitig wird die Abschaffung des sinnlichen Raumes, die Immaterialisierng der Welt vorangetrieben. So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik nochl exakter in Bereiche ein, wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berührten. Heute stellt diese technische Welt eines vierdimensionalen Zeit-Raumes auch die Alltagswelt her: Verkehr, im Wohnzimmer elektronische Haustiere, im Büro der Computer, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvorgänge, ja, die Klonmöglicheit von Homunculi, in der Liebe Aids. "Draußen" AKW, Raketenkriege, Satelliten. Aber in der Familie, in der Politik, im sozialen Leben, in der Wirtschaft, und im Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so gehandelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.

Es zeigt sich heute deutlich, daß die Aufstände im Osten nicht nur mitbedingt waren von dieser Grenzenlosigkeit der Information und der Medien, die 89 einerseits Betrug und Vorspiegelung falscher Taztsachen möglich machten, andereseits aber grenzgesperrte totalitäre Systeme mit Zensur, Ideologie, Stacheldraht und Wachtürmen unmöglich machten, sondern diese Aufstände fanden auch in der Tiefe jenes Zeitstillstandes einer anderen Zeitdimension statt, der als Schock erlebt wurde, für den Einzelnen ein ekstatisches, ja, fast religiöses Erlebnis der Gewaltlosigkeit und Öffnung, als gäbe es einen andern "Plan" als jenen, der bisher historisch sichtbar geworden war. Dieser kollektive inspirative Prozeß stellte rationale Planbarkeit wider Natur und Seele, Kontrollierbarkeit des alten Fortschrittsglaubens, und auch dessen Physik, der auf einer linearen Zeit, rationaler Geschichte und ihrer eudämonistischen Utopien beruht, in Frage. Ähnlich radikal wie die Ökologie, die Wachstum in dieser Richtung als tödlich zeigt und ein Umdenken und eine radikale Umorientierung des Geschichtsprozesses fordert! Diese Revolten fanden also quasi in der Zukunft statt, in einer andern Zeit, als der festgefahrenen westlichen, ja, der körperlichen Ebene, fast auf einem andern, eher inneren, nur durch Intuition und Bewußtsein zu erreichenden Planeten. Und niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann begreifen, was dort geschehen ist. Vor allem eines nicht: Daß die alte Massenpsychologie, die von einer aggressiven Massenseele und Verführung durch Worte und charismatische Verführer ausgeht, von Gewalt und Zerstörung, - nun für diese Revolten nicht mehr gilt; es fand das Gegenteil statt, eine Masse von gewaltlosen Einzelnen, von Millionen Innerlichkeiten implodierten, drückten durch Blumen, Kerzen, ja, Gebet und stillen Todesmut in diesem befreiten Moment eines Systembruches etwas aus, das sonst die Infektionen eines sozialisierten Bwußtseins mit seinen Sperren, nicht erleben kann: einen schockartigen Einbruch aus einer anderen "numinosen" Zone, die durch Worte nicht faßbar ist, da die Dinge plötzlich aus ihrem Namen fielen!

Daß dann nachher alles anders wurde, ein Vakuum entstand, in das die Strukturen des alten Westens einströmten auf diesem leeren Platz, alles überfluteten, ein neues Elend einer wilden Übergangszeit entstand, war vorauszusehen, auch daß daraus der Irrtum entstand, die in der Diktatur verlorene Lebenszeit könnte vielleicht durch die beschleunigte Westzeit wieder aufgeholt, deren falsche Freiheitsversprechungen nachgeholt werden, gehört zu den Unvereinbarkeiten und traumatischen Irrtümern, die noch ihre Folgen haben werden. Denn eine Rückorientierung auf die eigentliche Substanz findet inzwischen im Osten, vor allem in Rußland, statt.

Die vorausgeworfenen Zeichen einer neuen Zeit bleiben, 1989: Erinnerung sozusagen an die Zukunft: Dadurch, daß der Einzelne, der total Vergessene, aber Träger der Rätsel unserer Existenz, wieder aufgetaucht und wider Apparate und Staaten, ja, wider die Abstraktheit der Gesellschaft aufgestanden ist. So wurde in sozialen Prozessen etwas sichtbar, was auf andere Weise schon die Beschleunigung der Zeit und die Immaterialisierung im Westen fertiggebracht hatte, was also an der Zeit war: die Einsicht, daß die Welt Wissen, Information - oder besser: Geist ist, der nicht als Geist erscheint, und dessen Träger ja der Einzelne ist; die Zeit wurde wie im Chok angehalten, ein Einbruch fand statt in diese Täuschung des dreidimensioanlen nur sichtbaren Raumes und der Uhrzeit. Wie in allen Revolutionen übrigens. Bekannt ist, daß in der Junirevolution gleichzeitig und an verschieden Stellen von Paris auf die Turmuhren geschossen worden war!

Die italienische Ausgabe meines Buches, eine rumänische erscheint übrigens noch in diesm Jahr, zeigt, daß "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen" aktull geblieben ist, daß heute kaum etwas hinzugefügt werden müßte, es sei denn, neue historische Daten, die aber die Grundgedanken dieses Buches vollauf bestätigen.

 

Agliano, 3. Juni 1997 Dieter Schlesak

 

 

 

 

 

I

 S

20.Juni, 1989: Ich sehe in einer italienischen Zeitung das Foto eines kleinen Jungen: er steht mit bittenden Händen vor einer Mauer von Stahlhelmen auf dem Platz des "Himmlischen Friedens" in Peking. Ich lese dazu den Text: China lehrt es uns - der eigentliche Krieg wird heute nicht zwischen den Staaten oder zwischen Klassen geführt, sondern zwischen Machtapparaten und dem Einzelnen, zwischen jenem, der ein Gesicht hat, ein Leben, und dem gesichtslosen Anonymen, das die Welt beherrscht.

 

13. Juli 1989. Wir ankern in einer Bucht unter einem elbanischen Leuchtturm in Porto Azzuro. Ich denke an Napoleons Exil. Doch Napoleon ist hier noch höchstens ein Cognac. Heute erwarten wir jede Sekunde den Einbruch, erwarten, daß etwas Unvorstellbares geschieht.

Vis-à-vis ein Schweizer Hotel mit Sandstrand. Ich höre die Nachrichten, ich lese täglich die Zeitung. Heute saßen wir in winzigen plätschernden Wellen, die sich am Sandstrand verliefen, als wollten sie nach langer Reise nun endlich - aufhören. Vor dem Sturm ist das Wasser meist sanft, kleine Seespinnen rennen über die glatte Fläche.

Über uns ein altes Gefängnis.

Bush ist in Polen und Ungarn.

Und da kam ja schon die Nacht; über das Gefängnis hinweg zogen Rotschichten am Himmel, und die Farbe nahm ab. Wir blieben zum Abendessen an Bord. Der Sturm blieb aus.

Ich sagte zu Jann, wir müßten an Land gehn, vielleicht gibt es neue Nachrichten, das Schweizer Hotel hat einen Bildschirm in der Empfangshalle. Wir ruderten an Land, deutsche Touristen glotzten nackt aus dem Badeanzug, gebräunt und gefettet. In den Nachrichten nur das Übliche.

 

Was wirklich wahr ist, gibts noch nicht.

Und alles andere ist vergangen.

Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages

setzt du auch morgen nicht zusammen.

18. Juli 89. Korsika, Rondinara: Ein Golf, ein Oval. Viele Erinnerungen drehen sich da mit dem Wind, der draußen pfeift. Trauer, weil es vergeht, was schön war. Das Radio bringt die neuesten Nachrichten. Früher war man auf dem Meer davor geschützt. Illusion der schönen Einsamkeit.

 

19. Juli 89. Auf dem Weg zum neuen Camping, weiter Blick in eine Feenweite bis nach Sardinien, der kleine schwarze Hund läuft uns wie unser eigener SCHATTEN nach. Es soll so sein wie früher, sagt Jann, es darf nie vergehen, was schön ist.

Die Bucht - spiegelgekräuselt das helle, blaue Wasser, je nach Wind, manchmal fast sandweiß. Nachts die Stimmen aus dem brackigen Seegrund der nahegelegenen Villa, wo wir vor Anker lagen, Erstaunen: mein Gefühl des Wassers am Körper, Weiche, Nässe des sandglasklaren Wassers, schimmernd gebrochen durch die Lichtstrahlen, Fische wie schwarze Schatten, Gras, am Grund von uns nie berührt. Kühe mit rauhem Muhen am Strand, ein Stier leckt einer Kuh das feuchte Geschlecht, neben ihr wackelnd ein Kalb.

 

21.Juli 89. In Ungarn sind für die Flüchtlinge aus dem andern Deutschland die Grenzen geöffnet worden. Die neue Stunde. Null, wie ein riesiger Kopf ist zu erwarten, zum Glück oder zum Wahnsinn. Die Historie hat eine Erektion. Die Nachricht vom Tode des alten Gromyko ...

ER STARB MIT SEINER EPOCHE HEUTE

Andrei Andrejewitsch Gromyko, Mister Njet

der erhobene Zeigefinger, mißlaunig das Pockengesicht,

der Mund wütend herabgezogen,

verhandelte wie ein kleiner Krämer, sagt Kissinger,

und sagte zu einem Diplomaten: Sie meinen es aufrichtig Sir,

Regierungen nie. Stur und listig war er, ein Bauer aus

Bjelorußland. Nannte erst jetzt, so spät, seinen Herrn

Stalin einen wirklichen Verbrecher. Und Meinungsaustausch nannte er: Wenn ein Beamter mit seiner Meinung zu seinem Vorgesetzen geht, und mit dessen Meinung zurückkehrt.

Fünfundzwanzig Jahre setzte er keinen Fuß auf Moskaus Pflaster, so konnte er Politik treiben in ihrem Namen.

 

János Kádár starb gestern. Schon lang her, aber dem Augenschein nach, ist es eben jetzt. Er starb an

Altersschwäche in Budapest zu gleicher Zeit als Imre Nagy, sein Freund, den er hinrichten ließ, rehabilitiert wurde.

 

22. Juli 89. Nachrichten über Polen und die Sowjetrepubliken. Die Einführung des Alten schreitet voran. Und gestern durfte sich der amerikanische Präsident in Moskau aufspielen und dort den "demokratischen Kapitalismus" als "amerikanischen Traum" dringend zur Rettung empfehlen. ( Was wird am 22. Juli 91 oder 94 sein?) Die Zukunft hat, wie bei alten Leuten, drastisch abgenommen. Die Idee gehört nicht hierher, sie ist unvereinbar mit der materiellen Existenz und mit den in die Masse hineingesetzten Trieben, Gewalt, Sex und Geld. Nur mit List läßt sich die Barbarei eindämmen, mit der Gewaltenteilung, mit Kontrolle. Und sanfte Erziehungsdiktatur über alle Verkaufskanäle.

Planet Erde. Schlag die Zeitung auf, und du liest einiges, denk an deine Nächte, an das, was dich erwartet, denk an die arme Alte zu Hause, die sich in Krebsschmerzen windet. Denk an die Erschossenen, dir geht es zu gut, sagt Jann.

In Brasilien werden Häftlinge in fensterlosen Zellen zusammengedrängt, bis sie ersticken.

 

Das weichere Unrecht, das Geld, behält sein Schleimrecht. Was sie zerstörten, die Roten mit Sternen am Hut, das Recht beging andauernd Unrecht, Abzug, an dem sich der Zeigefinger krümmte, der Erde zu; sie versprachen den Himmel der Zukunft, der kam - natürlich Nie. Wir wissen es jetzt: älter und älter sind wir im Warten, der Tod ist die einzige Zukunft geworden.

 

23. Juli 89. 21 Uhr. Elba, Marina di Campo. Ich telefoniere mit meiner Mutter, ich erfahre, daß H., ihr Bruder tot ist, Hirnschlag am Nachmittag beim Kaffee. Er sackte plötzlich zusammen. Kommt viel, kommt keine Zeit mehr. Er überlebte den Krieg jung und starb jetzt beim Kaffee. - Schrecken nachts, ich träumte, daß Mutter krebskrank ist, Euthanasie von meiner Hand, um ihr Schmerzen zu ersparen, da H., Bruder und Arzt, nicht mehr da ist.

 

24. Juli 89. Der "Poeta otiosus", wie sich Jeffers in seiner Poetik beschreibt: Dieses Zurücktreten, diese Pause mit dem Denken, die Fessel des Hirns ruhen lassen, zurücktreten ins Gedächtnis der zerklüfteten roten Steine, des Meeresgrundes: Überall rasen Elektronen unsichtbar durch mater materia. In mir.

 

1. August 89. Sturmtag. Ich lese Kepler. Trost des Sternreichs. Ein Trost die Schönheit des Meeres. Im blauen Sturm, der Körper voller Salz. Der Geruch, die Macchia, der Felsaugenblick mit Platanensamen am Fuß. Und eine barbusige Frau am Strand. Später sausen die Luftgeister Shelleys mit Windstärke 10 der Sonne zu. Ein Wolkendrachen empfängt sie. Aber sie machen uns high, sie machen uns frei. Jetzt geht die Sonne unter. Niemand kann in sie sehen, nur die Schwärze - Blickpunkt jenseits der Augen.

 

Agliano, 17. August. RAI Bolzano für eine Aufnahme zu Besuch. Südtirol und Siebenbürgen. Ich höre von Norbert C. Kaser, dem großen Talent, der mit 31 Jahren an Leberzirrhose starb.

 

Agliano, 18. August. Brief von Mutter über H.s Tod. Die kleine schwäbische Stadt Aalen, ihr Flucht Ort, ein Boden, ein Haus, löst sich nun auf. Tabu-Gefühle und Selbsthaß beim furchtbar gewendeten und vertrauten Namen SS. Er hat dazu gehört. Und mischt sich unbewußt in alles ein.

Ihre Generation verlängert noch mein Gedächtnis, später wird es im luftleeren Raum sein, abgeschnitten. Bei der Schubart- Preisverleihung im Juni, sagte ich, es gäbe in der kleinen Stadt A. auf der Alb für mich "metaphysische Heimatrechte", da mein Vater, mein Großvater auf dem Waldfriedhof in A. liegen.

 

20./21. August. Lese Joyce` "Finnegans Wake", die Totenwache als Modell für meinen Roman, an dem ich jetzt arbeite. Immer wartet der Vicus-Zirkel, das Andere. Immer ist Umkehr, Rückkehr, unser Bewußtein ein Kreis, eine Variante. Das Modell der Sestine. Strudel, Wirbel, Sog, Trichter als Formen. Lese nach in der Eintragung über Oskar Goldberg vom 19. Juli, da gab es ähnliche Gedanken: 18./19. Juli, ich habe Oskar Goldberg entdeckt (Akzente 2/89). Er hat den Pentateuch nach Sprache und Zahl analysiert. Vor allem: Gott ist in allem `gleichzeitig` da, sichtbar und verborgen zugleich. (Spinozatradition). Mischpat (strenges Recht) der Naturordnung (die gnadenlos ist) und Gerettet-Sein im Zadakah; nur Konsonanten dürfen geschrieben werden, sie sind das Gesetz, im Vokal liegt das Assoziationvermögen, um das Fehlende hinzuzufügen. Das Fehlen aber ist Gott. Das Alphabet ist Teilnahme an der höheren Ordnung der Welt. Dieses muß jeden Augenblick gefühlt sein, der Einzelne muß drin sein in jenem "Strom". Denn G. ist im Zusammenklang beider Ebnen, auch im Schönen, verliert die Begrenztheit der Naturdinge, ihren Un-Sinn und wird sogar SPIEGEL DER ANDEREN EBENE, die uns befreit, und wohin unsere Sehnsucht geht, seit wir leben. Wut bei der Tücke der Objekte, die ich fast täglich empfinde, ist ein Zeichen der Schwäche, aber auch ein Zeichen dafür, daß dieses Band zerrissen wurde und so kam die Erniedrigung und Demütigung, die uns verletzt, die Tücke der Objekte... So wäre also dieser paradoxe Wahnsinnszustand dieser Furien in uns ein gesunder, wenn auch nervenaufreibender Anfall.

 

Singen, 22.September. Lesung mit siebenbürgischem Thema und Publikum. Aber meine Texte passen nicht in dieses Milieu, hier soll heimatlich geweint werden. Auch wenn es im Innern dieser Verse tatsächlich weh tut, ist es erstarrt, nichts löst sich so aufdringlich, so direkt. Die Sehnsucht aber, die bleibt.

 

Von Westen her täuschend

Ein Licht, gekonnte

Sonnenuntergänge

Rot/ Freizeit Ferienfreude Und

Zweihundertfünfzig Sorten Brot

 

Ein Blitz, eine Wolke

Als wäre Natur

Verführt und das Licht

Du mein halbes Auge

 

Schön dieses Mutter

Land

 

Woher wir kamen

Vor fast tausend Jahren

Dort kommen wir wieder an.

Mit Grabsteinen im Gepäck.

 

Dieses Zerbrechen ist ein Zustand, viel ernster und schwieriger, als die Leute es sich denken und gefühlig vorspielen; ein Modell für einen allgemeinen Zustand, Übersetzung unserer eignen Absenz im Späten, daß wir Abwesende und Posthume sind, es läßt sich kaum beschreiben. Und ich denke an Becketts "Molloy".

 

Aalen, 25./27. September. Auf dem Friedhof stelle ich mir auch H. vor und meinen Vater. Ihre Bewegungen, ihre Hände, ihr Gesicht, ihr Lachen vor allem. So sind sie wieder da wie in einem Hirn- oder Geisterfoto; unheimlich, und ich schaudere.

Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den Händen, ich habe das Grab angefaßt, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Blumen auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da.

Als ich wieder abfahre, sehe ich lange Mutters weißes winkendes Tuch vor mir. Und ihr "Behalt mich lieb", das in dies Winken fällt.

 

Stuttgart, 1. Oktober. Lebensriß. Ich saß im Zug nach München, sah zum Fenster hinaus, alles blieb andauernd zurück, diese Täuschung ist wahr. Ich saß still, nur meine Schreibhand und der Zug bewegten sich: Mit Jann bis zum Hochsieden im Wort "Trennung" gestritten. Es ging um Frau R. jemand hatte vom Tod der Alkoholikerin erzählt, es geschah auf dem Heimweg an einer bestimmten Ecke des Killesberges. Frau R. war von einer Nachbarin gefunden worden, Frau R.lag auf dem Trottoir mit Schädelbruch. Tot. Als ich nachfragte, wo das genau geschehn sei, hörte ich: Du hast bewußt weggehört. Stimmt sogar, das dauernde Alltagsgewäsch bei Tisch zehrt an meinen Nerven, hier aber ging es um den Tod. Der Streit war mehr ein Streit aus Scham gewesen. Und doch ein tieferes Indiz des Zustandes, daß die Ortsbeschreibungen und die Tatsachen hier wichtiger sind, als der Fall selbst: Meine Abneigung gegen diese besondere technische Art mancher Westdeutschen, ich habe andere Reflexe, die auch nach Jahren hier nicht nachgekommen sind mit dem topographischen Topfitsein, diese Absenzen, in denen ich anderswo bin, und ich weiß, daß mich nur in diesem Zustand Gedanken und Phantasien berühren, jetzt nicht der Ort, sondern der Tod: Frau R. geht eben vorbei und grüßt, und ich kann sie ortlos nicht vergessen. Leiden und sich nicht leiden können. - Schlaflose Nacht. Schwere Gedanken.

 

München. 1./2. Oktober. Mein Sohn hat Schmerzen, Bechterew. Aber er zaubert. Er zeigt die Diplome vor: Brüssel, Berlin, München. Studieren möchte er auf keinen Fall. Alles unnötig. Und am liebsten würde er "den Schalter abdrehen". Die Welt gehe ja sowieso unter, sagt er, das stehe auch in meinen Büchern. Er begleitet seine, inzwischen sehr sachlichen Begründungen mit einer leicht abwertenden Bewegung seiner gepflegten Klavierfinger. Sein schmal gewordenes längliches Gesicht ist unbeweglich. M. legt Tarot, während vor dem Fenster das Olé, Olé der Oktoberfestsäufer erklingt.

 

Am nächsten Vormittag Treffen mit Gertrud im Bahnhofslokal. Sie erzählt eine alte Geschichte, sie erzählt von ihrer verflossenen Liebe im Osten. Mircea hieß der unglückliche Mann. Als er entlassen wurde, sagte sie, nach sieben Jahren Haft, stürzte er sich verzweifelt aus dem Fenster. Sie kann es nicht vergessen. Die Erinnerung ist wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt.

Die Geschichten, die er erzählte, waren harmlos, viele aber behielt er für sich. Er schrieb seine Wut hinein in seine Erzählungen, die er in einer Kassette versteckte. Doch eines Morgens um die übliche Zeit, fünf Uhr früh, wurde an seine Haustür geschlagen. Dies Schlagen kennt jeder, mit Fausthieben und Fußtritten wurde er ins Polizeiauto befördert.

 

Alles, was so neu und jung und hoffnungsvoll erscheint, ist wie ein Köder, dann schlägt jene Fatalität der angehäuften innern und äußern Zeit, Leichengifte des Gewesenen und Verwesenden zu. Wie blendend neu erschien uns doch in den Fünfziger Jahren auch eine Art Revolutionspathos unserer roten Jugend zu sein. Die sich darauf entwickelnde totalitäre Seele war, wenn ich das eigentliche Leiden überdenke, eine relativ leichte Krankheit, die drang nicht sehr tief, da war der Zweifel, die Spaltung gleich mit dabei. Schwerwiegender war der Impuls, der mich überhaupt so weit gebracht hatte, das Offene, Neue zu überlagern, zu vergreisen: Als roter Idiot zu agieren war sozusagen nur ein Epiphänomen. Aber dieser Impuls, oder das, was dazu führt, sowas wie Ersatz zu brauchen, zu jener Kopfkrankheit zu kommen, die die Wirklichkeit aussperrte und simulierte, Lebens- Geschichts- und Schicksalsersatz war nicht nur irgendein äußeres geschichtliches Faktum, sondern eine innere Zerstörung, die die Brüche der Moderne mit sich gebracht hatte. Sie kam aus der Absenz eines festen Bodens. Wir, die Angeschlagenen, die beschädigte Generation, diese "Waisenkinder des Klassenkampfes" und Waisenkinder auch der Nazizeiten waren nur das extremste Produkt.

 

Apennin, 29.Mai 1992. Ausflug in die Berge. Antro di Corchia, eine tiefe Schlucht. Schickst zuerst einen Blick hinab, spürst jetzt beim Gehen zerbrechende Knöchlein, trocknes Geäst unter dem braunen Laut, und bei jedem Schritt Knacken. Und dachte bei diesem Loch an seine zwei Seiten: Die Sonne schräg ins Auge, vis-à-vis diese Falten des Berges, grau, braun, eine Lichtwelt, aber nur, wenn sie jemand sieht. Und auf dem Maultierpfad prallt mein Blick vom Fels ab. Kein Mensch hält dicht, keine Erde, fällst durch also bis zu den Tropen? Kopfstand und Aufdemkopfgehn, als Kind da Kopfstehn, auch auf den Händen ging es sich ganz gut. Wohin also, immer nach Hause? Und auf dem Maultierpfad prallte mein Blick ab vom Ästegewirr, dahinter die Schlucht, diese große Evidenz der Zwischenräume, die weich waren, darüber braune Blätter, keine weißen, unbeschriebenen.

Hie und da ein Flugzeug im Blau. Und blau und rot gekleidete Pulks der Amici della Montagna aus Perugia, beschwingt und ausgelassen. Einige sangen; wie angetrunken, übermütig. Viel Sauerstoff im Blut, hellrot. Kleine Kinder schrieen in den Tragtaschen der Väter, oben am Kamm eine Schlange; Schrei junger Ehepaare. Die Frauen gebären den Tod. Millionen Jahre lang und länger. Zurückfallen in meine Mutter, ins tiefe Gedächnis, dunkles Loch. Bevor du geboren wirst, spielt Zeit überhaupt keine Rolle.

 

Durch einen Alpen-Tunnel war ich mit Jann, meiner Frau, hierher in die Gegend von Lucca gekommen, die zwei Seiten des Tunnels, wie alles Abwesende - zwei Seiten oder ein Palindrom: Ton tut not! Im "Palindrom", das vor und rückwärts gelesen wie ein Tunnel ist: ton tut not, ton tut not, so zeigen sich beide Seiten, Zeit und Folge werden entlarvt, auch "ein" wird "nie" und "lieb" wird "Beil".

 

Agliano, 30.Mai 1992. TRAUM VON ZWEI FRAUEN, die mir das Offene zeigen. An einem dunklen Tor die eine, als wärs ein verkleinertes Brandenburger Tor. Die andere im Flugzeug. Als wäre es vor einem Jahrhundert gewesen: vor mir liegt aufgeschlagen mein altes Tagebuch: 28. November 1989.

Das Grün und Weiß auf den Feldern, die blaue Luftkugel des Südens über mir, Kirschen blühn, Knospen platzen, überall dicker Samengeruch in der Luft; Weiße, weißer Fleck: das Unbetretene, das nicht besetzt werden darf; alles nur ein Zeichen. Sie feiern auch hier, was zu erwarten war, den längst schon geschehenen Einbruch: Pfingsten; für mich ist es kein Fest mehr, und doch Sonntag. Auf den Feldern Feuer und Rauchgeruch.

Draußen vor dem Fenster ein Ave Maria und Vogelgezwitscher; wie einst im Mai. Gefühle zeigen noch einen Weg. Im Auge viel Grün: italienische Kastanien; und die Zeilen hier wie die Reihen der Reben. Ich sage mir, es gilt jetzt zu "Lesen, was nie geschrieben wurde". Denn wahr bleibt, daß nur die Zukunft Entwickler zur Verfügung hat, die stark genug sind, um das, was jetzt geschieht, im Nachhinein sichtbar zu machen, als Röntgenbild und Negativ und keineswegs als schönes Landschaftsfoto des beschränkten Gesichtsfeldes. Und ich lese neugierig geworden von meinem eigenen damaligen Zustand - als wäre es ein anderes Jahrhundert gewesen und ich ein Wiedergänger:

 

Stuttgart, 3. Oktober 1989. Jeden Abend Fernsehen in diesem erregenden Herbst. Auch dieses eine Umkehrung bisheriger Erfahrung: Der Katzenjammer am Morgen und am Abend nimmt ab. Diese "Achtuhrschmerzen", die vergehn mit dem Wein.

Der Osten ist in Bewegung. Ein Zentrum ist die Nicolaikirche in Leipzig. Leipzig. Warschau. Budapest. Prag. Eine Spannung, ein Warten. Ich warte auf Nachrichten aus Bukarest.

 

9./10. Oktober. Tagung an der Uni Marburg. Niemand von den Kollegen aus Siebenbürgen, aus Bukarest ist da.

Jemand sagt, ich sei übernächtig, blaß und wie ein Phantom, kaum anwesend. Die geistige Verve von früher fehlt. Ich habe einen "Ameisenhelm" um meinen Kopf. Doch die Neurologen finden nichts. Tomographie ergebnislos. Nur dieses Hirnfoto, schwarz, liegt seither in meiner Bücherstellage.

 

13. Oktober 1989. In den Messehallen erfuhr ich von einem aufgeregten Wolfram Schütte, der nach einer Zeitung suchte, daß Honecker gestürzt worden sei.

Abends feierten wir das Ereignis mit Hans Jürgen Schmitt und Christina Weiss in einem Philippinischen Lokal.

 

20. Oktober. Rückfahrt nach Agliano. Ich sah unten im Tal wie ein großes doppeltes S den milchigen Fluß. Der Wagen fuhr sehr schnell auf der Autostrada della Cisa in Richtung Versilia. Es war noch ziemlich warm. Etwa neun Stunden von Stuttgart bis ins Magratal; es war neunzehn Uhr, doch die Sonne schien noch sehr hell und blendete. Helle vom Meer auf die alte Kaiserstraße.

Castelvecchio war längst nicht mehr zu sehen, wir hatten es hinter uns gelassen; eine an den Bergen hängende Fata Morgana, Phantom Vergangenheit, sagte ich laut. Doch Jann mußte einen Laster überholen, und bei 150 ist alles wie ausgelöscht, eine einzige falsche Bewegung, und du bist tot. Die Landschaft ist immer noch schön, wie stehengeblieben, wenn man aussteigt. Und wir fahren hinauf in die Berge. Weinstöcke, Wiesen. Jann hat genau wie ich eine Sehnsucht nach der Sanftheit des alten Gartens. Doch jene Sehnsucht ist kaum noch zu erfüllen. Im Fahren ist die Wirklichkeit schneller und immer schon vorbei. Jetzt die FORTEZZA DI FIRMAFEDE, vorbei. Wie ein Mensch, alt und gewesen. Weiß der Käse im Mund, und Oliven schwarz, so stellt sich der Fremde Italien vor: ein Gauner-Paradies. Eine Schnitte weißer Käse, die fetta. Und die Schlösser der Lunigiana, nachzulesen die Sehnsucht in unserem neuen Führer, dem folgt ein zu Hause Unbefriedigter, wenn er kann, jederzeit. Alles bricht unter der Last der Vergangenheit zusammen, jetzt mehr, denn je, denkst du, wie oft ist es früher schon und immer wieder gedacht worden; am Turm dort die Straße der Gerüche, sonst nur Namen: Niccolo V. und Castruccio Castracane, der Condottiere aus Lucca (Machiavelli schrieb eine Biographie); und merk dir, du heißt DS. Du sollst die Zeitung kaufen, du sollst die Tagesschau sehen, sagt Jann; ich winke ab; ich möchte wissen, ob der Tod endgültig ist; ich habe große Lust, mich viel weiter zu entfernen, als es mit unseren schnellen Verkehrsmitteln möglich ist. Bei Lichtgeschwindigkeit steht die Zeit still, Chiliast, sie geht zurück in die Vergangenheit, jeder von uns lebt in jedem Augenblick schon in jenem Bereich, und muß es in jedem Augenblick auch sofort schon wieder vergessen, um hier leben zu können.

Nacht. Ich sah zum offenen Fenster hinaus in den Garten. Draußen schwarz der Schatten des Daches, vom Mondlicht wie abgeschnitten und auf das Gras geworfen, schwarze Flecken, und ich, projiziert mit Fensterschatten unter dem Pinienbaum. Alles wie früher, mit diesen schwarzen Schatten der Melancholie, so langsam, summend auch die Zeit, in Deutschland habe ich nirgends die Stimmung eines Raumes, eines Zimmers, Hauses, die Nähe der Menschen so stark gefühlt, kaum die Nähe meiner Mutter oder meines Sohnes. Woran mag das nur liegen?

Die Halluzination zu zweit ist schwer durchzustehen. Der Kollege Muschg hat Recht, der Krieg geht durch die Paare.

 

28. Oktober. Daß wir in der "Wirklichkeit" mit verrücktesten Dingen, auch den unwahrscheinlichsten rechnen müssen, kommt dem Bedürfnis nach Hoffnung sehr entgegen. Eine dieser Verrücktheiten ist zum Beispiel die Grenze. Nein, nicht jene zwischen Leben und Tod. Die Grenze, die Mauer in Berlin zum Beispiel. Oder: Die Grenze Spaniens zu Portugal mißt 987 km, doch Portugals Grenze zu Spanien mißt 1214 km. Ähnlich ist das bei Belgien und den Niederlanden. Wie ist das möglich? Je feiner der Maßstab, umso länger die Grenze. (Teilbarkeitsproblem: Zenon?) Endliche Grenzen können unendlich lang sein. Auch in der Zeit. Das wissen Leute, die im Osten leben mußten. Wie lang ist die Grenze von Ost- nach Westberlin!? Wie lang ist die Grenze Rumäniens zu Ungarn, die der Diktator befestigen und mit Stacheldraht ausrüsten ließ? Täglich, höre ich, werden Zäune gelegt. Kurven gebrochener Dimensionen nennt der Chaostheoretiker Mandelbrot "Fraktale".

 

30. Oktober. ZEITBRUCH IM OSTEN. HOFFNUNG IN LEIPZIG. 300 000 auf der Straße, 150 000 in Dresden auf der Straße, Zehntausende in Magdeburg, Plauen, Meissen. So etwas hat es in der deutschen Geschichte noch nicht gegeben. Das Volk bezwingt den Staat. Die Polizei, die Stasi, die Zensur sind entmachtet. Man sieht in Deutschland nicht mehr die "Tagesschau", sondern die "Aktuelle Kamera". Die Absetzung der Altherrnriege. In den Köpfen der Leute findet die eigentliche Revolution statt. Also waren die 40 Jahre nicht vergeudet! Also hatte alles einen Sinn. - Wer jetzt nicht nach Leipzig oder nach Berlin fährt, ist selber schuld.

 

Heute schreiben wir den 22. Juni 1992. Als hörte ich dieses Brummen der Flugzeuge, Erschrecken, Fliegende Festungen... 22. Juni ...Die Toten wissen besser Bescheid, vor allem die Opfer, sie haben das, was uns erwartet, längst hinter sich. Die Grenze zu ihnen ist offen ... offenes Ohr, heißt es. Die Toten wollen alle wieder leben. Ein leises weißes Rauschen vor allem nachts im Ohr. Schnell schloß ich das Fenster, denn draußen meinte ich wieder diese Stimme zu hören. Kalter Schweiß brach mir aus, blaß und transparent stands auf der Stirn; nur nicht draußen sein, nicht merken, was mit uns geschehen ist: Aus. Endgültig. Es wird nicht mehr gelöst werden, weil es so aussieht, als wäre alles gelöst. Und die Chance ist gewesen und überholt. Der Bruch scheint geheilt, so wird er nie mehr geheilt werden; so wird alles auch weiter gewesen sein werden. Was bleibt sind die Märchen:

 

2. November 1989. In Prag sagte einer der alten Achtundsechziger: was jetzt geschieht, geht weit über unsere Vorstellungen hinaus. Und die Jungen wollen eine totale Systemoffenheit, Pluralität. Komm ins Offne, Freund. Dazu reicht der Prager Frühling nicht mehr aus, keine Partei. Dubcek ist nur als Symbol noch gut. Symbole sind wichtig jetzt in Ermangelung eines anderen Ausdrucks für Sprachlosigkeiten, um etwas zu überbrücken. Dabei wären jetzt neue Formen wichtig. Es gibt sie nirgends. Eigentlich sind es überall nur Negative, Hohlformen. So auch das östliche Freiheitsgefühl: es ist das Zeichen für etwas Abwesendes, nämlich die Abwesenheit von Druck, jener jahrzehntelange unerträgliche Druck, der jetzt von allen in der DDR, in Prag abfällt. Mangel an Würde und Selbstbewußtsein höhlte die Menschen aus, Angst, Bevormundung. Das "Symbol" jetzt und der Drang: sich auf die "freie Erde" jenseits der Grenze zu werfen, ist nicht etwa nur Begeisterung für den Westen, nein, sondern kommt aus jenem Hochgefühl im Grenzraum, wo für Augenblicke alles, vor allem die Vergangenheit abfällt. Ungenaue Metaphysik, Zeichen für den Ausbruch von etwas Aufgestautem, Widerschein des Paradieses, das es auf der Erde nie geben kann, aber für Momente wie ein riesiges Glücksgefühl plötzlich wirklich wird in einem historischen Augenblick für Millionen. Auch hier wird also wieder dieser Blitz der schnellen Zeit, der einbricht, plötzlich kollektiv spürbar.

DAS LANGSAME UND ABGESTANDENE DES NORMALEN hier im Westen, es wird mir wieder als fade Zeitdehnung klar. Das "Bürgerliche" und Bruchlose, das keine Ahnung hat. Früher brachte mich diese Ahnungslosigkeit der Leute in Italien und in der BRD in Wut. Nein, nicht nur so tun, als wäre nichts geschehn, es nicht wissen, daß etwas geschehen ist, trifft auf viele zu.

Die Ruhe auf meinem Berg zwischen Oliven und Kastanien ist jetzt wieder unerträglich, das Meer fade. Wie ein Schnitt der "schnellen Zeit" kommen die Ereignisse, machen hier alles lachhaft und klein; Geldsorgen, daß das Segel des Bootes gerissen ist, daß wir eine neue Spülmaschine brauchen, dem Hund die Zähne geputzt werden müssen. Diese Westlersorgen.Mir war es wieder klargeworden, als vor Jahren P.s Bruder aus Argentien hier war, damals als die Todesschwadronen dort wüteten, wir über unsere "Sorgen" redeten und er uns besorgt ansah, als wären wir übergeschnappt, es auch sagte: In was für einer Welt lebt ihr, als wärt ihr verrückt geworden!

Und da es nichts Rätselhafteres und Ernsthafteres gibt als dieses, was JETZT eben wirklich geschieht (ein Wunder, daß es überhaupt noch weitergeht, Sekunde für Sekunde) - wende ich mich ihm wieder zu. Ich bin kleinmütig geworden. Und weiß doch, daß die Zeit, die diesen Kleinmut bewirkt, genau das Gegenteil nötig hätte.

 

Mein wirklicher Augenblick sitzt draußen vor dem (offenen) Fenster, Vogelgezwitscher, das ich aber im Kopf, meinem Echolot, wahrnehme; irgendwo freilich auch Feuer, Rauch in den blauen Himmel über dem Meer, ein Himmelsschreiber vom Militärflughafen Pisa zieht seine weiten Schleifen bis hin zum Apennin. Ganz nahe aber in meinem Ohr eine Prozession, Gemurmel von Ave Maria gratia plena. Es klingt als wäre es eine Montage ; aber ich schwörs, es ist alles "wirklich" - außerhalb dieser Zeile, die meine Sinne fesselt, etwas Nachträgliches. Eine Art Verlegenheit; Schicksalsschwäche. Als wäre eine Chance vertan worden.

 

31. Mai 1992. Ich lese bei Walter Benjamin: "Das Staunen darüber, daß die Dinge die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert `noch` möglich sind, ist kein philosophisches, es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der sie stammt, nicht zu halten ist."

 

Und ich überlege: wir haben es ja auch jetzt wieder, "JETZT" vor bald fünf Jahren erlebt: Berlin, 9. November. Nachts. 18 Uhr 45 hat es Schabrowski verkündet. In einer Pressekonferenz. Journalisten hatten ihn gefragt, was man zu tun gedenke, wenn die Flucht der Bürger über Ungarn und Prag kein Ende nehme. Die Antwort, etwas zerstreut: Wir haben schon etwas getan. Unsicheres Suchen in den Taschen. Da wurde ihm ein Zettel reingereicht. Und er verkündete die Nachricht. Die Journalisten erstarrten. 19,07 kam die Nachricht im Fernsehen. Erst eine Stunde später setzte der Massenandrang an der Grenze ein. Eine halbe Stunde lang wurde von den Grenzpolizisten die Öffnung des Gittertores verweigert, dann kam ein Hauptmann und sagte: Zeigen Sie Ihre Personalausweise vor. Doch nach einer weiteren Stunde mußte auch das ausfallen, der Andrang war zu groß: Nur einmal gucken, obs auch stimmt! Die Leute gingen einfach von Stadt zu Stadt spazieren. Umarmten sich. Blumen für die Grenzer. Jauchzen, Heulen, Klatschen der Berliner von der andern Seite, die gekommen waren, ihre Nachbarn zu begrüßen. Mit Champagner. Mit Tränen und Lachen. Ich war nicht der einzige, der Tränen in den Augen hatte, so viel gelacht und geheult wie in dieser Großen Nacht ohne Grenzen, so gefeiert, mit Champagner und Krimsekt, so geküsst und umarmt hatten sie noch nie. Wildfremde fielen sich in die Arme am Übergang Checkpoint Charlie, Bahnhof Friedrichstraße, Glienicker Brücke. Es war nach 45 Jahren gestundeter Zeit nun wie ein Umkehr-Wunder. Eine sagte als sie rüberkam: Wahnsinn, Wahnsinn, ich träume. Einer warf sich spontan auf die Erde, küsste, in Papstmanier, den freien Boden.

DIE GROSSEN AUGEN DER UNVERWÖHNTEN, sie sehn noch scharf. TRÄNEN in den Augen, als sei etwas gelöst. An diesem Tag in Berlin. Tränen, wie immer, wenn etwas Wahres, also "von unten", also spontan und ungewunden geschieht: die leuchtenden Gesichter der Ostberliner, die durch die Mauer kamen. Wie früher die Gespenster.

 

31. Mai 1992. So wenig wir den Augenblick der Mauer-Öffnung fassen konnten ("Wahnsinn, "Wahnsinn"), so wenig sind wir und die Sprache nun heute auf die Jubel- Hinterlassenschaft vorbereitet; denn im Zerfall des Imperiums wird an der Null-Grenze eine Summe von Unmöglichkeiten sichtbar und real, die mit Unbekannten umgeht, und uns verunsichert. Als kehre sich die Hoffnung um, das Längstgewußte und Längstvergangene allein scheint Zukunft zu haben. Und die dauernde Erwartung des Unheils. Utopie kann im Vorstellbaren nicht mehr helfen, sie IST das Unvorstellbare geworden, einziger Bezugspunkt - ein Diesseits der Gewohnheit und Sichtbarkeit. Denn das, was ist, wird nur unterbrochen, nicht ununterbrochen wahr! Und so gibt es die Zeitverschränkungen und Gleichzeitigkeiten: Jann hatte die Zeitungen gebracht.Ich las erschüttert von der Höhle in Jozovka, 1943, Kroatien. Dieses kleine ovale Loch. ... Die schweren Körper fielen wie Säcke auf die unten Liegenden, 40 Meter tief. Zwei Kommunisten, Partisanen standen am Eingang. Nonnen, Kinder, Frauen, kroatische Soldaten, deutsche Kriegsgefangene wurden hinabgestoßen. Eine Zeitlang wurden auf den Feldern Fotografien und Ausweispapiere gefunden, Todeszeichen für ihre Angehörigen heimlich weggeworfen. Es heißt, die Sträucher über der engen Öffnung seien verdorrt von dem Leichendunst und Gestank, eine Buche hat ihr Wurzelwerk ausgebreitet, und wie in winzigen Kammern hat sich dazwischen Erdreich gesammelt.

 

Jedes JETZT erhält zur Zeit eine unendliche Perspektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist ja nicht so, daß dieses Ich nun nichts mehr erlebt, es erlebt nur ganz anders. Ähnlich wie beim Tagebuchschreiben, das ja die Ereignisse eines Tages erst bewußt macht, sie an den Sinn bindet, der ungeschrieben verloren ginge, so aber gerettet wird. Die Hintergrundzeit wird zur Zukunft der Vergangenheit im Prozeß. Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die Unsterblichkeit der Personalpronomina der Sprache, die das Bewußtsein tragen, sich weiter erinnern zu lassen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen Bewußtseins-Horizontes es eigentlich erlauben. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossene, scheinbar abgeschlossene Vergangenheit eingeführt, mit dem bitteren Fazit und Urteil: daß wir uns selbst das Leben geraubt, weil wir es uns haben rauben lassen.

 

1987 entdeckten Astronomen eine Supernova in der Maghellanischen Wolke, und ihre Berechnungen ergaben, daß sie etwas gesehen hatten, was schon vor 163000 Jahren vergangen war, andauernd also nicht mehr ist. Wie wir jetzt auch. Unerträglich ist so etwas für den "gesunden Menschenverstand"! Was "inzwischen" an jenem Ort steht, wie der Zustand am Rande unserer Welt aussieht, kann nur mit Theorie notdürftig im Kopf wiederhergestellt werden, sich stützend auf Messungen an andern Supernova in sehr viel weiter, Millionen Jahre, entfernten Galaxien, die ungenau bleiben müssen.

 

1. Juni. 1992. Am besten Ironie, am besten Bilder- und Metaphernspaß am kleinen Abgrund... ach ja, der Bilderclown, da fält mir Reinhard Zabkas Ausstellung im März in der Akademie Schloß Solitude ein: Mit bunten defekten Regenschirmen den Hirschgang entlang. Zabka so schön altmodisch, auch sein Gesicht, er spricht nicht, aber er lacht oder strahlt heitere Ironie aus. Er ist "Bilderclown", "Wiederverwender", Direktor der "Geschichtsfälscherwerkstatt" Baba/ bei Berlin. Und da gibts das Niedliche als Monströses, wie "Pauls kleine Samenpumpe" (oder ists Erich?) Und "Margots Pädagogischer Schlüsselkäfig". Vor allem am Ende die Welt-Kunst-Leiter (Music for Mechanical Instruments) aus dem Kleinschrott. - Der lange Gang bis ans Ende war auf der Akademie Solitude mit Zabkas Kleinschrott vollgestellt; ich ging an den vielen Türen vorbei, alles in Weiß und links die lange Fensterreihe, wie ein durchlöcherter Raum, und unten im Tal die Stadt. Der Bus hielt an einem der Fenster, man sah die Leute ein und aussteigen. Es fiel mir auf, wie viele Türen sich andauernd bewegten. Und Augen, die alles ansahen, Welt herstellten, die ich sah.

 

3. Juni 1992. Die große Gefahr in unserem Beruf, "abgehoben" zu sein, zu "vergessen", also gewissenslos zu werden, im Ästhetischen zu versinken.

 

7. Juni 1992. Ent-Täuschung ist heilsam. Seit langem schon schlich sich dieses Gefühl ein: du denkst, schreibst, lebst aber nicht, verlierst "das Leben". Ohne jene Droge aber, bei deren Verlust Entzugserscheinungen auftreten, ein fahles Dahinschleichen und eine Sinn-Krise eintreten, Selbsthaß und Minderwertigkeitskomplex, wird die Alltags-Welt noch wertloser und schaler.

Am besten hatte mir die Wunderdroge Literatur in der Diktatur geholfen, und da schien es auch legitim, und ein Solidaritätsmittel, also heimlich sogar ein sozialer Akt, eine Ersatzöffentlichkeit im Untergrund zu sein. Aber dann, in die Einsamkeit des Westens entlassen, wo ja alles furchtbar "normal" war, es keine Ausnahme mehr für die Ausnahme Mensch gab, blieb sie "privat" .

 

12. Juni 92. Segelfahrt mit Jann nach Ligurien. Unser Segelboot durchfuhr den Wolkenschatten; windgejagt, der Schatten, den ich sah, meine Gedanken flogen mit.

Schon dort auf dem Boot versuchte ich, Jann hielt das Steuer, "das Sehen schreibend zu einer Beschäftigung zu machen", wie früher Shelley auf seinem Segelboot. Und ihr fiel auch, als sie die Wolken sah, ein Vers von ihm ein.

 

"Wie Wolken fliehen Hoffnung, Würde, Liebe,

Sie bleiben nur auf ungewisse Zeit. -

Da tauchte fünfzig Meter vor dem Boot ein schwärzliches Ungeheuer auf, das Wasser rann in Sturzbächen vom Beobachtungsturm, rauschte, ein Atom-U-Boot stellte sich quer, durchbrach das Klingen am Außenrand des Rumpfes, und ich warf das Ruder herum, die Segel flatterten, schlugen an den Mast... Bewegung im Schrecken aber, und höre schon das Knirschen des Holzrumpfes auf Stahl.

15. Juni 92. Ich ging hinab ins Eßzimmer, drehte den Fernseher an. Eine deutsche Stadt wurde bombardiert; Sirenen heulten, Krachen der Motoren... die Fliegenden Festungen flogen rückwärts über die Stadt, saugten die Bomben ein, die fast schon gefallen wären, die Flammen, die aus den Häusern schlugen, Phosphor! Und die rückwärts fliegenden Festungen saugten alle Trümmer auf, machten alles ganz und wieder gut, und eben unter den Mauertrümmern erschlagene Kinder und Frauen wurden von den Mauern befreit, die Trümmer setzten sich wieder zu Häusern zusammen, und die Leute standen auf, waren wieder am Leben. Auch deutsche Jäger und Stukas setzten die abgeschossenen Fliegenden Festungen wieder zusammen... Alles floß immer weiter zurück... Und der Endpunkt war schon da und wartete..

 

23. Juni 92. Der Morgen scheint so taufrisch jung zu sein, wie das Barfußgehen im Gras als Kind, Nähe als Distanz, "Einfühlung" ist wie eine glückliche Fügung des Augenblicks, das Vibrieren mit dieser umgebenden Duft- und Klang-Aura, auch schreibend, im Wort wird wieder frisch, wie gewaschen, was die Sinne blaß versäumen, Aufmerksamkeit als "Gebet der Seele". Es scheint der wichtigste Widerstand des Einzelnen in dieser Spätzeit zu sein, in der Nähe Ferne, ja, Fernweh zu fühlen; das Rätsel da zu sein... Alexander Kluges Frage fällt mir ein: Gibt es einen in der Geschichte bezeugten Sinn, der die Enteignung der Sinne wieder gutmachen kann. Antwort: Der Eigensinn. Bei Enzensberger sind es die "antiapokalyptischen Reiter" der Erosion "die da heißen Gelächter, Schlamperei, Zufall und Entropie". "Püree". "Nie, nie schnell werden" (Handke). Zeit-Verlieren wäre zu üben: Reisen, Abtasten der Städte und Landschaften... Zärtlichkeit, schon mit den einfachsten Dingen des Alltags durch die, wenn wir es merken, etwas Undenkbares durchscheint.

Jann ist entmutigt; man sehe nun auch außen überall, nicht nur innen, die völlig verwandelte Zeit. Alles werde neu gemacht, pompös und reich, glitzernd und protzig. Schau dir nur an, was für Häuser die jungen Leute in unserer Umgebung in die Landschaft gestellt haben, die Kinder der früheren Bauern. Alles so gelackt, daß sich die Kastanien schämen, einer hat sogar eine elektronische Anlage an der Garage - mit Fernbedienung. Oder die schöne alte Apotheke an der Ecke, die ist nun ein kleiner pütscheriger Marmorpalast, und nicht wiederzuerkennen. Das geht rapide. Die Tante-Emma-Läden sind nun kleine Minimärkte, und alles ähnelt immer mehr Bigmac und den Ketten der scheußlichen bunten Pop-und-Plastik-Kultur des McDonald. Und schau dir die neuen Moden an, dies Gestylte, dieses Computerfreakhafte mit Juppyeinschlag. Alles kleine Bankkaufleute mit nichts als Geld im Hirn! Ein Reichtum im Teuren und Künstlichen! mir ist es schleierhaft, woher die soviel Geld haben. Die letzten alten Dinge sind jetzt endgültig "erneuert" und ersticken in ihrer Verpackung. Jetzt erst haben wir die Konsumkultur, leichtgewichtig die totale Wegwerfwelt. Wir sind hoffnungslos veraltet mit unserem hundertfünfzig Jahre alten Haus, das noch Zeit in seinen Wänden hat.

Ist es dieser Sog, der Riesenunterschied dazu im armen, verrotteten Osten, der die Jungen die Revolution hat machen lassen, kein Opfer war dafür zu groß, auch der Tod nicht, Sterben für diese Schöne Neue Welt?

 

November 1989. Von Moskau kommt die Nachricht, daß die Ostdeutschen aus dem Warschauer Pakt austreten können, wenn sie es wollen. Nur - die "Wieder"-Vereinigung, wer will die wirklich. Was soll denn da wiedervereinigt werden? Das Bismarckreich, das Hitlerreich, die 14 Jahre Weimar? Das "Reich", ein Spuk. In Wartha wächst zwischen den abgerissenen Schienen Gras übers Deutsche Reich. "Drüben" besteht jetzt wirklich die Chance für ein anderes Deutschland. Wehe, es wird in den Geldeintopf West als Konkursmasse verrührt!! Die Ungarn haben ein selbstironisches Wort zum eigenen Status gefunden: schmerzlich und lang ist der Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.

Nachsatz in Trauer. Meine südöstliche Heimat Siebenbürgen hat Pech mit der Balkanisierung; ich höre einen Witz dazu: Der Diktator wurde 8 Stunden lang operiert. 4 Stunden bis der Schädel durchbohrt werden konnte; vier, bis endlich das Gehirn gefunden wurde.

 

8. Juni 92. Das Schreiben ist auch eine Droge, sagt der Sieger! Jene Droge, mein Lieber, hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Politik der Diktatoren, ihre totalitäre Enklave aufzubauen, indem sie die banale Realität, "die einzige", die wir selbst bauen, Spiegel unserer Unfähigkeit, überspringen, ausklammern, vernichten und Hoffnung vorspiegeln, wo es keine gibt. Und jeder, der sich mal als Traumtänzer sein Phantasie-Anwesen, ein dauererfundenes Fest via Kunst errichtet, sich damit eingelassen hat, ist nach Jahren unheilbar süchtig; und wenn er dieses Spielzeug, den Glauben daran verliert, gar sich traut, erwachsen zu werden, ist er ziemlich verloren: November 1989. "Mir lachte das Herz und es gab mir einen Stich", schrieb Wolf Biermann an Sarah Kirsch über die Demo einer Million Deutscher in Ostberlin. Biermann ist traurig, denn sie brauchen ihn nicht mehr. Sie brauchen die Intellektuellen nicht mehr. Die aber brauchen das Volk. Und jetzt, welch ein Verlust: die liebsten, die zuverlässigsten Feinde gehn: Die Funktionäre. Und die Intellektuellen haben wenig Anteil am Sieg. Ich entdecke einen unbewußten schlimmen Reflex bei mir: daß ich Argumente suche, warum Ceausescu nicht fallen kann. Noch habe ich meine Feinde. Noch bin ich nicht dabeigewesen, wenn sich das Volk ohne uns befreit. Biermann trauert darüber, daß die wichtigsten Dinge genial auf schiefe Pappe gepinselt wurden, die Knüttelverse von Nicht-Dichtern im Demonstrationszug: Oktoberrevolution 89. Und wir können sagen, wir sind NICHT DABEIGEWESEN. Der Altemigrant von Deutschland nach Deutschland zitiert sein Gedicht "A Paris" im Buch "Verdrehte Welt, das seh ich gerne": "...Mit Pariser Luft im Koffer/ Werd ich dann nach Hause fahren/ Rüber! in die DDR/ An der Grenze - pas de problème -/ Durch! klar, ohne Paßkontrolle!// Und ich werde wie besoffen/ Durch vertraute Straßen rennen/ Aber keiner wird mich kennen/ Keiner kann sich groß erinnern/ Und kein Schwanz kann mich noch brauchen/ Und dann bin ich ganz am Ziel: /Dann beginnt erst das Exil."

Monika Maron, die am 4. November in Berlin mit dabeigewesen war, schrieb mir begeistert über diese elektrisierende Atmosphäre; das könne sie nie mehr vergessen, da versäume jeder viel, der nicht dabei gewesen sei. Ich weiß es, und schrieb darüber einen langen Brief nach Hamburg an meine Freundin Monika.

 

25. Juni 1992. Als hätte sich die Zeit, wie ein Roman, zu Ende geschrieben. Literatur ist nicht mehr möglich. Der Roman ist eigentlich eine Tragödie. "Wer hätte das gedacht." Ich heiße Niemand. Jann sagt, dieser Niemand wirke auf seine Umgebung "verrückt" und "unmäßig", ja, sage ich: denn er ist einer, der Widerstand leistet, der Gewöhnung an die Gemeinheit widerstehen will, die von "oben", die vom neuen, ach, so alten so elastischen, nun ungeteilten und feindlosen Lebensstil verlangt wird, und das sich im Leben der Menschen dann so oft als ihr eignes Ausbrennen niederschlägt. Dieser Niemand kämpft gegen dieses Ausbrennen nach 89, er ist DER VERWESER, einer der unaufhörlich das, was ist, voller Schrecken als das Gewesene und Verwesende erkennt, jetzt vor allem, wo sogar der Osten in die Vergangenheit rückt, die Kindheit während der Nazizeit in die Vorvergangenheit, immer im Abschied und voller Trauer, wie schon gestorben, zwischen Leben und Tod, das in sich spiegelt, was die Zeit ist: alles noch da und schon längst vergangen, egal, ob er bei seiner Heimkehr in Siebenbürgen sein Elternhaus betritt, die Reihe der Weinstöcke auf seinem Berg sieht oder durch die Straßen Luccas oder Stuttgarts geht, und merkwürdig, daß z.B. das 16. Jahrundert nun näher jenen selbsterlebten Vergangenheiten steht, als die Gegenwart: wann war das? Und darin zeigt sich ein millenarer Zeit-Bruch, absurderweise begann er mit jenem kindlichen JUBEL von 89, dieser Zustand der weltweiten Mauerlosigkeit.

Der Autor ist vielleicht einer der stellvertretend eine uralte Stellung hält, jene Traurigkeit, von der Walter Benjamin sprach, aufzuheben, die das erzwungene Mit-Spielen mit dem Sieger in uns hervorruft. In Zeiten, wo die Dinge noch klar waren, noch "Wirklichkeit" existierte, endete der Autor in der Zelle oder eingemauert in einem wirklichen Turm, auf dem Schafott, auf dem Scheiterhaufen. Heute aber ist im neuen Okzident der Widerstand ontologisch, denn die stärkste Macht ist der menschenvernichtende Irrglaube, daß das Sichtbare "alles", der Tod ein endgültiges "materielles" Aus sei. Und das stärkste Tabu, von der Psychiatrie bewacht, der Einsatz für das neue fällige Paradigma, wo die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist, die raumzeitliche materielle Welt sich als Illusion erweist, wird im Buch probehandelnd vorgeführt; die Strafe aber ist der Lebensverlust, das Eingesperrtsein in der selbstreferentiellen Phantasie des Buches.

Jener Niemand, den ich meine, gehört noch in jene Zeiten, die überholt, aber zurückgeblieben sind und es immer sein werden, als Flaubert noch in einem Brief schreiben konnte: "Lesen Sie um zu leben oder leben Sie um zu lesen?"

Doch schon damals im großen Rausch und Jubelfest hatten manche jene mauerlose Wüste der Chronokratie nicht vergessen können:

 

Agliano/Westberlin 10. November 1989. Telefonwelt, Telefonfurie. Und Fernsehfurie, und Radiofurie, und ich nicht mehr da, Agliano wie gelöscht; meine Absenz hatte endlich einen Namen: Berlin. Aber bei meiner alten Freundin H. in West-Berlin hatte sich eigentlich nichts verändert durch das Ereignis dieser Nacht vom 9. auf den 10. KLEIN und zerschlagen fühle sie sich, sagte H. am Telefon. Blick durchs Fenster. Sie glaube nicht an die Wirklichkeit, sagte sie. Und jene da draußen an der Mauer wollten alle bei dieser historischen Stunde dabei sein, etwas SEHEN, sagte H. wütend, auch die zwei- und dreijährigen Kinder und der Hund. Sie sollen sich nach 5o Jahren noch daran erinnern können. Auf dem Bildschirm war es zu sehen: Die Ossis standen vor der Vitrine, da drehte sich ein Mercedes auf der Scheibe. Unseren Trabant tauschen, sagt einer, vielleicht kriegen wir eine Stoßstange West dafür. Mensch, sagt ein anderer, im Kempinski, wo Gratis-Kaffee ausgeschenkt wird, da gibts eine ganze Mappe als Speisekarte. Sie nehmen bunte Prospekte mit, Zeitungen vor allem, als Beweis, daß sie "drüben" gewesen waren, als wäre das sonst nicht glaubhaft zu machen, daß sie nun Wissende sind. Einer sagt: 28 Jahre habe ich darauf gewartet, ich war noch nie im Westen. Ja, wie alt bist du denn? 26. Lachen.

Die Heimkehrenden kommen meist erst drei Uhr nachts nach Hause zurück, winken andern, die von der Frühschicht kommen, mit der Zeitung zu. Um acht setzt ein neuer Menschenstrom ein, jene kommen, die es jetzt erst erfahren haben. Sie kommen in Schaffneruniform, mit der Werkzeugtasche, mit Aktenköfferchen. Den Schülern und Studenten wurde freigegeben mit der Anweisung: Einmal Kudamm und zurück. DIE BEIDEN BÜRGERMEISTER mitten unter dem Volk, geben sich die Hände. Mompert sagt, heute seien die Deutschen das glücklichste Volk der Welt. Er habe die ganze Nacht nicht geschlafen, immerzu gefeiert.

 

11. November. Ich aber bin ein Bildschirm-Gast, wie Millionen Europäer und Amerikaner auch. Eine Art erlebte Bilokation als Spaltperson. Mein erster Impuls: - du mußt dir sofort nach Berlin nach-fliegen. Meine italienischen Freunde riefen mich an, wunderten sich, daß ich noch da war. Dann hörte ich von West-Berliner Freunden, daß auch sie am Bildschirm... Nur eine kurze Stippvisite ans Brandenburger Tor zu den Jubel-Massen, Atmosphäre schnappen. Das beruhigte mich etwas. Wir sahen alle, die am Fernseher saßen, wie am Brandenburger Tor eine etwa 40-jährige rief: ich will endlich einmal durch das Tor und wieder zurück. Ein Offizier führte sie auf dem Bildschirm persönlich hin- und- zurück. Auf der Mauerkrone standen zwei Jungen und schlugen mit Krampen auf die Mauer ein. Alle klatschten. Eine Zeitlang spritzten die VOPOS und Grenzpolizisten von drüben mit Wasserwerfern, schließlich war hier kein Übergang, dann aber gaben sie auf. Ich dachte, vielleicht ist alles getrickst.

Feuchte Augen. Eins weinend, eins lachend? Ein 0stberliner Junge ging an der Kamera des französischen Fernsehen vorbei und küßte ins Bild und in die Luft, eine Geste im Vorübergehn, diesen Kuß der ganzen Welt.

Am 11.11. 11 Uhr 11 wurde der Karneval in den rheinischen HOCH BURGEN eröffnet. Mit dem Glockenschlag, freilich.

 

12. November. Seit drei Tagen ist es wie ein Rausch. Die Welt hat sich völlig verändert, auch mein Gefühl für sie. Und doch bin ich unendlich traurig. Mein Zuhause hat sich nicht verändert. Mein Leben, das in diese Bahnen gelenkt wurde aus den gleichen Gründen, die die Mauer wachsen ließ, ebenfalls nicht. Mein Sohn, rief an. Er muß wieder in die Klinik. Er hat Schmerzen: Unheilbar sind die Folgen.

Rom, 13. November. Das Aus jetzt der sozialen Utopie. Darüber jubeln wir? Nachrichten über Polen und die Sowjetunion. Die Einführung des Alten. Warum freue ich mich nicht? Meine bisherigen Feinde jubeln. Die Erde ist eine Hölle, wer versucht, daraus ein Paradies zu machen, verstärkt die Hölle.

 

Agliano, 15.November. Die wirkliche Umwälzung von unten, diszipliniert, mit Vernunft ist im andern deutschen Staat da. Und erstaunlich auch die Reaktion der Beamten. Der Grenzer, der Polizei. Kein Obrigkeits- und Machtdenken an diesem kritischen Tag der Öffnung. Nichts Vorgefaßtes, kein Wutausbruch, kein Machtmißbrauch, kein Schießen, kein Anschnauzen. Sogar die Wasserwerfer am Brandenburger Tor wurden nach kurzer Zeit abgestellt, und die Leute durften auf der Mauer tanzen. Obwohl doch hier schließlich kein Grenzübergang war! Und hätten die Vopos auf die Hunderttausende im Oktober in Leipzig geschossen, wie es die Altherrenriege befohlen hatte?

19.November. Da sangen die alten Genossen hier. (Die KPI hat sich in diesen Tagen selbst aufgelöst, will nur noch ein Sammelbecken der Linken sein!) Und auch in Ostberlin, da sangen sie das Jugendkinderlied, die Internationale. Und die alten Genossen hier weinten. Oh, der arme einsame Honecker in Wandlitz mit Margot allein dem Alter entgegendämmend. Und nun soll ihm auch noch der Prozeß gemacht werden! Wie Schiwkoff in Sofia. Erzwungene Volksbeglückung. Korrupte Selbstbeglückung am Schluß? Ceausescu aber wehrt sich mit seinen Sicherheitskräften, umgibt sich mit Stacheldraht, schließt die Grenzen, ruft die Chinesen um Hilfe. Korea. Cuba. In Europa ist er allein. Nicht mal mehr Prag steht ihm bei, auch wenn sie in Prag mit Schlagstöcken und Hunden gegen die Fünfzigtausend auf dem Wenzelplatz vorgegangen sind. Der rumänische Tyrann weiß, sie werden ihm den Prozeß machen - später. Und sie werden ihn lynchen.

 

Agliano, 21.November. Ich lese E.M.Cioran, den Rumänen aus Paris, um das Negative wieder ein wenig zu üben, die Skepsis, die angebracht ist. Zuschlagen können im Satz. Zeit ist kurz, kurz muß der Satz sein. Vom Geborenwerden und vom Tod lese ich, Leben ist die Spanne dazwischen, an der man schwer trägt. Und jetzt dieser frische Wind, er löscht plötzlich alle andern Sorgen, erlöst. Aufbruch, eine Begeisterung auf diesem alten Kontinent. Und täuscht. Gibt es einen Gott am Anfang jeder Freude? Aber wie oft sind wir von Göttern und Revolutionen betrogen worden? Der Alltag wird stärker sein. Das Geld. Und die alten Infektionen. Der Augenblick jetzt ist super, sagt mein Sohn. Und erstaunt lese ich aus Moskau die Nachricht, daß Mitarbeiter des Instituts für sozialistische Weltwirtschaft, die dem Kreml Expertisen über die Lage in Polen, der DDR, Ungarn ausarbeiten, sagen: sie empfänden Deutschland als das große Experiment unseres Jahrhunderts.

Man muß nur warten können; es staut sich innen, es entsteht ein Druck, der muß raus. Es ist wie ein Dammbruch.

 

ABER DAS ALTE IST JA NOCH DA. In Ost und West! Hat es sich versteckt? Ist das Mißtrauen gegenüber der ostdeutschen Revolution hier in Italien berechtigt? sagt Jann, die sich wundert, daß ich plötzlich so hoffnungsvoll bin, was die Deutschen betrifft, und so euphorisch. Muß man also mißtrauisch bleiben? Ja und nein, sage ich. Ich bin überzeugt davon, daß etwas Neues entsteht, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Prag, in Budapest, in Warschau, in Moskau, sogar in Sofia. (Und wann endlich in Bukarest?) Und daß der Westen nachhinkt, - ratlos die alten Männer in den Machtzentralen. Ungelüftete große Räume. Dumpfheit. Privatheit. Und den Herrn in Bonn fällt nichts anderes ein - als "Kredite", natürlich mit Schlag-Wort-Auflagen. So wird dümmstens im Klischee gedacht: Geld regiert die Welt, Finanzen, Milliarden, damit auch diese unheimliche Bewegung, die sie fürchten, kaputtgemacht, in uralte Ordnungsbahnen gelenkt werden kann. Als hätte es die vierzig Jahre DDR gar nicht gegeben, die jetzt überhaupt diese Explosion von Bewußtsein und unverbrauchten Kräften möglich gemacht haben. Die Herrn des alten Denkens (West) haben sicher viele (die nicht auf die Straße gehn) auch "drüben" hinter sich, die Ressentimentalen, die Konsumfetischisten, die autoritären alten Deutschen (die auch in der SED saßen und sitzen), und mit denen hätte man sich, in "kleinen" (keinen) Schritten eher verstanden, denn auch sie waren gegen das Neue: das Offene, die Öffnung, den Gorbi-Effekt: das Wagnis dem, was an der Zeit ist, freien Lauf zu lassen, damit die Wahrheit herauskommen kann, spazieren gehe: Hunderttausende auf den Straßen der deutschen Städte. Die Ängste, nicht nur in Bonn, sind verständlich: Schließlich soll ein Europa des Kapitals, nicht etwa ein Europa der Völker, der Leute, mit den fälligen radikalen Veränderungen und Wahrheiten aufgebaut werden.

Der gute Georg Lukács in Budapest fällt mir ein, der in seinem großen Essay über Solschenizyn einmal gesagt hatte, im Osten wachse durch den täglichen Zwang, sich moralisch gegen staatliche Eingriffe wehren zu müssen, durch Leiden und Angst eine neue Charakterstärke, Widerstandskräfte und ein neues Bewußtsein heran, das später einmal zur europäischen Revolution, auch im Westen, führen könnte. Er hat 1956 selbst mitgemacht. Er war in Gefahr. Walter Janka wollte ihn nach Berlin holen, und saß deswegen 5 Jahre in strenger Haft.

Wer also jetzt von einer deutschen Gefahr spricht, wirft alles in einen Topf, und tut jenen, die in Berlin, Leipzig, Dresden, Schwerin, Magdeburg, und ich sage auch: in Prag, in der Sowjetunion, in Polen auf die Straße gehn, ihr Land radikal verändern, und damit für die Zukunft Europas etwas tun, Unrecht!

 

Agliano, 23. November 1989. Die Angst der Europäer vor den Deutschen bricht auf. Ich erlebe es täglich in Italien. Gestern war F. Hernandez, die Triestiner Bildhauerin hier bei uns zu Gast. Dazu ein Londoner, ein Neuseeländer, eine junge englische Bildhauerin mit ihrem französischen Freund. Wir saßen am Kamin. Wir sprachen über die Ereignisse in Deutschland, in Prag, in Budapest. Sie trennten das Geschehen in Deutschland von den Umwälzungen im Osten. F. sagte, sie habe Angst vor den Deutschen. Sie erinnere sich an zwei SS-Leute in Triest, die ihr die Pistole in den Nacken gehalten hatten, sie erschießen wollten. Ich beschwatzte sie, in Todesangst, sagte die Bildhauerin. Wie durch ein Wunder kam ich frei, sagte sie. Doch sie waren nicht alle so. In Santa Anna hier in der Nähe, wo das Dorf als Racheakt gegen die Partisanen ausgelöscht wurde, da gab es Deutsche, die ließen, wenn sie allein waren, in den Häusern Frauen und Kinder am Leben. Jetzt werden die Deutschen wieder stark, 80 Millionen, sagt der Londoner. Sie werden Europa beherrschen wollen. Auch Piero, der Mailänder Betriebswirt, sagte gestern, sie werden uns mit ihrem Geld alle niederwalzen.

Die DDR schlucken, vorgeben "zu helfen". Das Kapital ist hungrig. Geld und Nationalismus gehören auch historisch zusammen. Aber die sogenannte Wiedervereinigung wird jetzt nicht stattfinden, sagte ich. Da staunten sie. Wieso? Es sind zwei verschiedene Länder mit zwei verschiedenen Entwicklungen und Erfahrungen, sagte ich. Und die Leute, die jetzt auf die Straße gehen, wollen das, was sie in leidvollen 45 Jahren aufgebaut haben, nicht Westdeutschland in den Rachen werfen, sie haben ihr eignes Land, und arbeiten jetzt an der eigenen Identität, die niemals eine westdeutsche Identität sein kann, es sei denn, sie gäben sich selbst auf!! Wir können nicht alles in einen Topf werfen, auch hier in unserer Diskussion nicht, sagte ich. Und was die Angst vor SS-ähnlichen Entwicklungen betreffe, sei das eine Verwechslung: die jungen Deutschen von 1989 sind nicht die von 1933, sagte ich: sie sind genau wie die jungen Leute anderswo in Ost und West, vielleicht noch weniger als Italiener, Briten, Franzosen national eingestellt, sie sind eher neutral, Europäer und Weltbürger.

 

24.November. 20 Jahre seit meinem Weltwechsel. WARTEN. In der Eisenbahn, da wird einem Zeit geschenkt. Da hat Warten etwas Paradiesisches. Weniger in der Haft. Im Osten wars so, da hatte man zwischen Eisenbahn und Gefängnis Zeit. "Zeit ist das Leben der Seele" (Plotin). Aber Warten kann etwas Quälendes haben. Extremfall: die Zeitstrafe, Haft. Das Zeittotschlagen. Leben ist die WARTEZEIT auf den Tod, das Urteil steht fest. Daher sind Revolutionen, Ausnahmezustände, sogar gute Feste das Gegenteil von Warten. Ausnahmen für die Ausnahme Mensch. Humaner Grundzustand: der Mensch ist ein zum Tode Verurteilter, der doch immer auf ein Wunder wartet. Also ist dieser Todeskandidat Mensch auch dazu verurteilt ans ewige Leben zu glauben, und unter Höllenqualen daran zu zweifeln. Es gibt keinen Ausweg; es sei denn auf das nicht zu warten, was Nie kommt. Aber dieses Jubeln bei einem Aufstand, ist es nicht ein Durchbruch?

Daher stehn die Herrn der Begriffe jetzt sprachlos da; und jene, die sie mißachteten, jene , die nahe am Alltag sind, wo dauernd Unmögliches geschieht, mit dem sie gelernt haben, schutzlos umzugehn, sind ihnen voraus, das sogenannte Volk. Da "unten" ist ja der Augenblick immer das Unwahrscheinliche, das Volk hat pragmatische Erfahrung damit.

RE-VOLUTION heißt ja Umkehr, wohin? Schnell geschieht ein Zustand, der "fällig" war.

HASE UND IGEL. Krenz, "bekrenzen", "bekränzen" "krenzenlos" "Krenzen Los" usw. stand auf Transparenten, nun wirklich TRANSPARENT. Aber die alte Partei rennt in ihrer Flucht nach vorn den Oppositionsbewegungen davon. Sie sagen es selbst. Hat diese Alte begriffen? Eingeübt ins Reden von Revolution, in allen Schlagworten, ist vorweggenommen, blind und unverstanden, ausgedrückt worden - sogar was jetzt geschieht? Das wäre eine enorme Nachholübung Unfähiger, ein Auflösen der Spannung zwischen Tun und Wort, Realität und Zukunftschwindel, eine Spannung, ein Abgrund nur durch die Zensur und Sicherheitspolizei in Schach gehalten, ein elendes Spiel, das nun umgekehrt wird: jetzt muß die Realität spuren. Und die Revolutionsgreise lassen sie spuren. Daß es jedem den Atem benimmt. Heute kündigte der junge Greis an, der immer unbekrenzter und unbekränzter wird, daß auch Artikel 1 der DDR-Verfassung, die SED als staatsmächtigste "führende Kraft" abgeschafft werden soll. Das "Neue Forum" sammelte dafür Unterschriften, auch für freie Wahlen. Sie rechneten mit einem Entwicklungstempo, bis es so weit sei, von mehreren Jahren. Und nun ists schon realisiert und geschehen, bis du mal kurz hinguckst: längst beschlossen. Die Maueröffnung hätten die Oppositionellen gar nicht gewagt zu verlangen. Usw. Bis zum 9. November übrigens waren sie der Igel, jetzt sind sie der Hase. Das Märchen ist ja wahr, hebt die Zeit auf: Ich bin schon da, sagt der schlaue Igel: Es ist als geschehe, was geschieht wie die wirkliche Zeit, nicht die Uhrzeit, als stehender Sog, nicht als Ortswechsel, Zeitbewegung im Raum, und genau diese schnelle Zeit, ist die der U-Topie, und sie ist allein wahr. Man kennt diese Aufhebung der dauernden Un-Zeit, des Nachhinkens aus der Definition des JETZT in der Quantenphysik. Bei C.F. von Weizsäcker läßt sich Erstaunliches dazu nachlesen. Oder, ironisch zitiert, bei Rilke: "Sei allem Abschied voran".

 

28. November 1989. Hat die DDR den Krieg verloren und bezahlt, die Bundesrepublik ihn gewonnen? Wer ist schuld daran? Jene, die meinten, mit Utopien die Welt zu verändern? So haben die Leute dort zwei Kriege verloren? Nicht nur einen?

 

Wollen die Westdeutschen nun DDR-Putzfrauen, anstatt türkische oder polnische. Sie sind ja sauberer. Sprechen auch deutsch, stehlen nicht. Gastarbeiter made in DDR? Kolonialherrnmanier. Heiner Müller sieht Kohls Erklärung als "kriegerischen Akt". Die DDR nun die Neue Kolonie; nachdem der alte Kolonialherr abgezogen, wird der neue als Befreier gefeiert.

 

29.November 1989: JETZT in Berlin bricht das Absurde auch als Spaß und Freude, ja, als Witz ein, nicht nur als Schlag, wie die Kriegs-Greuel aus der Erinnerung. Oder wie vor 3 Jahren Tschernobyl. Das POSITIV ABSURDE etwa: daß zwei Ostberliner Jungen durchs Brandenburger Tor bis zum Alex surfen; wo doch bisher nur Hasen durch den Todesstreifen durften; daß eine Oma im Morgenrock nach Westen hastet, daß die Grenzer zusehn, wie junge Leute im Todesstreifen rocken. Oder Grenzpolizisten ihnen helfen, auf die Mauer zu klettern. Eine Kette von Westberliner Polizisten und Vopos eingehakt den Ansturm der Menge stoppen. Oder der Generalsekretär Krenz sich in seinem Wohnzimmer von einer Journalistin interviewen läßt, auch sagt, Honecker habe bekannt, er nehme die Schuld für viele Verbrechen auf sich; oder der ehemalige Spionagegeneral Wolf, dessen Gesicht jahrzehntelang niemandem bekannt war, nun mit Hunderttausenden Berlinern, Ost und West, als Freiheitsheld vor dem Mikrophon im Freien steht und sich für freie Wahlen einsetzt, ist irre und ungut.

 

ZEITGESCHICHTE läßt sich nur im Ausnahmezustand, wenn sich Zeit ballt, erleben, heute ist sie rasanter denn je, diese Zeitgeschichte, schnell, außerhalb der Zeit. Und erlebbar in der Absenz, im Exil, auf Grenzstreifen, in Grenzräumen, nicht in der verdeckenden Normalität, so wird sie nur in starken Intensitäten und Schmerzen plötzlich erhellend wahrnehmbar, vielleicht wie in der Todesstunde, irreversible Momente, un-privat. Umso deutlicher wurde diese blöde "bürgerliche" Welt der Ahnungslosigkeit, die da zuschaute, sie sich die Ostereignisse schon als Hit und zu verkaufende Sensation, als Bundestagsrede und Wahlkampfthema aneignete, als Schlagzeile, oder privat als Genuß der eigenen "Überlegenheit" des Reichtums: etwa im Kempinski in Berlin zuschaute, wie sich die armen Vettern zum Gratis- Frühstück schlangestehend drängelten. Und begriff nicht, daß diese "Überlegenheit" zur alten Zeit vor 89 und zu ihren falschen Wahrnehmungen gehört.

 

Biermann nennt Krenz einen Kretin. Mit ewig lachendem Gebiß. Totenkopf, der noch lebt? Er ist flink. Ein Wendehals, na gut. Aber er wirkt überzeugender mit der neuen Philosophie, von Gorbatschow abgekupfert: risikoreiche Öffnungsinitiativen. Wieder-Vereinigung? Was solls. Er sagt: Verantwortungsgemeinschaft. Vertragsgemeinschaft. Der Souverän: die Masse des DDR-Volkes. - Deutsche Konföderation? Nein, danke. Die DDR ist kein Bundesland, als das es von der westdeutschen Regierung schon angesehen und behandelt wird. Die deutsche Frage wird nun als altbacken, unpassend für die neue Wahrnehmung hinweggefegt. Ein neues Bild von den Deutschen (Ost) entsteht. Sie haben sozusagen die Ehre der ehemaligen Nation gerettet, diese Nation endlich einmal überschritten. Will sich das politisch antiquierte und träge Westdeutschland nun so bedienen, es sich, wie alles auch sonst üblich - kaufen?

 

Auf einem Transparent in Leipzig stand ein Celan-Zitat: ES WIRD ZEIT, DASS ES ZEIT WIRD. Und ein anderes: DASS SICH DER STEIN ZU BLÜHEN BEQUEMT! Wie kommt Celan als einziger Poet, der Komplizierteste von allen, so unter die Menge? Genau deshalb meine ich, weil er der einzige ist, der jene "schnelle Zeit", die das Volk dort langsam begriffen hat, zur Sprache bringt! Heute begreift man auch eine Bemerkung Walter Benjamins gut, und sie stimmt genau mit unserem Gefühl überein: daß nämlich während der Julirevolution in Frankreich am gleichen Tag und an vielen Stellen von Paris auf die Turmuhren geschossen wurde.

Wer meint, es gehe den Menschen nur um das "Begrüs- sungsgeld", um Eingang zu finden in den "Wohlstandschauvinismus" der Westdeutschen, der denkt alt.Der peinliche Auftritt Kohls in Berlin, sein Ausgepfiffenwerden am Tage der Revolution (9.November) hängt damit zusammen. Brandt: ob seine politische Sprache der Gemütslage der Nation gerecht wird? Aber ganz sicher - Nein.

Die Leute müßten nun auch hier, und überall im Westen aufbrechen. Freilich, der Wohlstandspanzer ist dick. Und es besteht ja für die meisten Leute keine "Notwendigkeit", ihre Trägheit zu überwinden: Wie "drüben"; als wären die "von drüben" im Jenseits gewesen. Gespenster. Das wollen sie nicht mehr sein. Nicht nur wegen des enormen Druckes, von staatswegen, ja, der so offensichtliche Gewalt- und Lügen- Staat als enormer Vakuumerzeuger hat durch den Druck erst dies Herausschießen aus der Alltagsnormalität mit ihren faden und zähen Mechanismen möglich gemacht, sondern auch, weil sie alle nur einmal leben, und jeder Angst hat, daß seine Lebensinvestition fehl gelaufen sein könnte. Das ist der eigentliche Druck. Es stecken 4o Erfahrungsjahre, vielleicht auch verlorne Lebensjahre dahinter. Denn wohin nun mit dem Erarbeiteten?

 

29.November 1989. Es ist wirklich für jede Überraschung gesorgt. Es scheint wirklich alles möglich zu sein, und dies mit größter Geschwindigkeit. Eine Zeitlang war ich ganz hingerissen vor Bewunderung für das "Volk" und für seine sanfte Revolution, wollte meine Meinung, von Canetti gelernt, daß Masse und Macht die beiden größten Übel seien, vor denen man sich zu hüten habe, voller Scham revidieren. Die Massen-Übertritte an 9o Grenzdurchgangstellen sah ich als legitimes Konsum- Nachhol- Bedürfnis und als Neugierde an. In Leipzig, der "Stadt der Revolution", der "Heldenstadt" (Hein) tauchen nun die Transparente "Deutschland, einig Vaterland" auf. Mein Gott. Und Rufe, Pfiffe, Buhs gegen jene, die Bedenken anmelden, wie das "Neue Forum", der OB von Hannover u.a. Die einzige Rettung, so die "Revolutionäre", seien die Wirtschafts-Bosse der Bundesrepublik, so sagen die Arbeiter.

 

Kohl hat heute seine 10 Punkte zur Einheit bekanntgegeben. Er wird noch Geschichte machen, der mieseste aller Kanzler. Doch wenn, dann haben es "die Deutschen" wohlverdient.

 

Adieu, gute Hoffnung. Wie enttäuscht müssen Leute in der DDR sein, die darauf gesetzt hatten, einen "dritten Weg" zwischen Stalinismus und Geschichtsmephistophel Kapital zu finden.

 

1.Dezember. Prag, Das Unvorstellbare auch im Politischen, das Offene. Dubcek soll Staatspräsident werden. Havel. Doch sie wissen, sie sind für eine Übergangszeit nur Symbole. Daß sie es wissen, schon dies ist bemerkenswert.

In Bukarest aber läßt der Verrückte Raketenrampen in seinem neuen Palast einbauen. Und Türen aus purem Gold. Und unterirdische, geheime Gelasse, atomsicher. Auch die Zufahrt, als Schutz vor dem Volk und der Zeit, ist unterirdisch, ein Höhlensystem. Diese genaue Umkehrung, als wisse der Mann Bescheid, daß alles ver-rückt ist, und sichert sich nicht nur ab, sondern nimmt die Verrücktheit in die eigne Abwehr mit hinein.

 

2. Dezember.Fast heulend erwacht, so gegen halbsieben. Gestern die Decke weiß gestrichen, Haussorgen, Hausvaterdinge. In Lucca: Lampen gekauft. Wein in Monte Carlo. Jann sagte, sie habe wieder optimistische Gefühle. Mitten in den "wirklichen", also den Phantomdingen? Es ist nicht nur dieser Hirnring, diese Lähmung im Kopf, wo weniger Lichtpunkte und Wahrheitszellen in der Vernetzung sind, es ist auch die Verführung dieser "Wonnen der Gewöhnlichkeit": Es ist die langsame Mineralisierung. Und was ist das Sozialleben, Familienleben, Gesellschaftsleben anders?! Diese unsäglichen Mittagesesen bei der Bildhauerin F. Normalität, Normalität.

 

5.Dezember. Stefan Heym hat Recht und Un-Recht zugleich: Im "Spiegel" schrieb er, daß nun die Gier, daß Wühlen im Tinef der Kaufhäuser beginne, der Freibeuterstaat BRD das DDR-VOLK erledige. Und versucht, diese plötzliche Vernichtung der "Revolutionäre", die nun in Reih und Glied das "Begrüßungsgeld" kassieren, ( fein ordentlich, wie beim Schlangestehen früher, das haben sie gelernt, die Konsum-Sonden in ihre Seele reinzulassen, sie selbst einzuführen ins Hirn) zu entschuldigen, die Schuldigen bei den Verbrechern der Staatspartei zu suchen, die den Massen den gerechten Lohn für ihre jahrzehntelange Leistung vorenthalten hat. Soll dies der Lohn sein? Haben sie sich denn je etwas anderes gewünscht, die Massen? Mit Panem et circenses. Und jetzt brüllen sie schon auf Leipzigs und Ostberlins Straßen "WIR SIND EIN VOLK".

 

6.Juli 1992. Vielleicht gehört auch der neue Massenaufstand der schweigenden Mehrheiten, der Völkerwanderungen bis hin zu den Regungen der innern Dämonen wider die dünne Schicht der Zivilisation und nicht nur die ökologische Gegenwehr zu diesem erschreckend gewalttätigen Durchbruch der innern und äußeren "Natur". Eine alte aber treffende Einschätzung von Jean Baudrillard fällt mir dabei ein: die Massenverachtung jeder Kultur, jeden Sinnes, ihre Brutalität im Trivialen sei die Zukunft, sagt Baudrillard ("Im Schatten schweigender Mehrheiten", Freibeuter, 1/79). "Sinnproduzenten" spüren seit 89 eine deutliche Umkehr, die seit langem läuft. Der "Sinn" wird immer mehr aus dem Bauch, bestenfalls aus dem Portemonnaie geholt, auf eine Koalition zwischen beiden dürfen wir noch hoffen.

Den Giften freien Lauf lassen, der Trägheit, dem Gewinnstreben, dem Drang, die andern zu übervorteilen? Also auch die Mafia als "normal" anzusehen, mit "Toleranz"; jede Änderung, jeden Eingriff, jede Kritik mit größter Skepsis als Blauäugigkeit anzusehen? ALLES IST DOCH SO WIE ES IST! Peter Kammerer (Rom) beschreibt es im "Kursbuch". Enzensberger in "Achtung, Europa". Und beide wollen nicht mehr intellektuelle Besserwisser und Miesepeter sein. Nur zu mit der "Realität"! Erlaubt ist allenfalls leise, möglichst romantische Ironie. Der Ausverkauf der Vergangenheit heute. Der Mensch ist für dieses Leben nicht schlau genug (Brecht).

16. Juli 1992. VIELLEICHT geht der neue große Riß heute mitten durch jene, die schreiben. Alle Illusionen sind gefallen: Das schmerzliche Zerfallsprodukt Subjekt allein ist inmitten und zeitgerecht: Denn nachdem der letzte, der ostwestliche Rahmen, ein Brett vor dem Kopf, zerbrochen ist, wird der Zerfall von mehr Wahnsinn besessen, als sich je eine "Postmoderne" ausdenken konnte. Doch dieser Zerfall bringt den vernachlässigten Kern des Einzelnen zum Vorschein. Er ist wieder allein und ausgesetzt, aber es gehört viel Mut dazu, ihn dem Zerfall und dem Zynismus entgegenzusetzen. m Nullpunkt Lähmung. Aber auch der Riß - spürbar wohl von jedem, der sich selbst noch nicht verloren hat. Die Schreibtätigkeit, bei der jeder einsam für sich, den Riß, die Wunde zu erweitern versucht, bis da ein Tor, eine Berührung möglich wird in der langsamen Zeit, diese Tätigkeit schien lächerlich und ans Ende gekommen zu sein, wie das abendländische Ich. Jetzt stehn wir zwar jenseits dieses Ich, doch im neuen Bezug, die "Unmöglichkeiten" sind von Einzelnen erfahren worden, und auf neue Art strömt Lebensgeschichte ins Vakuum, auch in das der westlichen Todeszone der "Schönen Neuen Welt". Literatur steht nicht mehr nur vor einem riesigen Berg des Schlaraffenlandes, an dem sie sich überfressen hatte. Der Berg ist ein anderer geworden. Eine merkwürdige neue historische Transzendenz beginnt sich zu zeigen, die das Faktische durch Überraschung angreift. Und jene Transzendenz arbeitet seit eh und je zeitungerecht mit Langsamkeit. Sie arbeitet in uns; wie die Schreibzeit fließt sie sehr langsam, eine Intensität, ein Wirbel, der sich in sich selbst bewegt, Sog jener Zeit, die schon jetzt jene ist, die vielleicht auch nach der Zukunft gilt. Das Akute gilt, nicht das Aktuelle, wie es lebensfressend täglich da ist als Oberflächeninformation. Die Zeiträume sind wieder bis in die Jahrtausende offen und im Querschnitt des JETZT erst "aktuell". Widerstand gegen diese Evidenz und den Schein des Linearen, der zur letzten Ideologie geronnen ist, und dieses Wahnsystem "Realität" begründet, ist schwer, aber existentiell notwendig, um geistig zu überleben. Und mit unserer Langsamkeit bekommen wir als typische Zeitschizophrene diese Angst, "Zeit zu verlieren", weil wir sie "verlieren" müssen, um "hineinzukommen" in jenes Tun, das - um wieder Boden zu gewinnen - Schreiben ist, Surrogat der andern Zeit. Ich weiß, daß ich oft wie ein Verräter lebe: in der schnellen Zeit einer Öffentlichkeitsmaschine, die mit wenigen Ausnahmen zu einer geistigen Wegwerfmaschine geworden ist.

 

19.Juli 1992. Morgens war ich erwacht; voller Lebensüberdruß, der Gedanke war entsetztlich, weiter in dieser Verödung leben zu müssen, und keiner weiß, daß es unbekannte Kräfte sind, die uns dann beherrschen. Und ausgerechnet heute, wo wir doch nach Rom fahren wollten zur Sixtina, ich möchte wieder aufs Gerüst, neue Seharbeit leisten, leider ist meine Arbeit an den Bildmeditationen für das große Kunstbuch beim Faksimile -Verlag zu Ende gegangen.

Es war einen Moment still, nur ein Auto hupte, die Wildschweinhunde vom Kanal am Brunnen erhoben plötzlich ein Geheul und Gebell. Unerträglich, sagte Jann, da müßten wir etwas tun! Sieh, sagte sie, um die Glyzinie ist ein Tiefblau zu sehen, die Blätter sind spitz.

 

Jann wollte unbedingt mit dem Zug fahren, das anonyme Autofahren, im Glaskasten eingesperrt, das habe sie satt. Man atme doch anders in einem Abteil und gemeinsam mit andern Menschen. Ich hatte immer noch dieses sandige Gefühl des Unausgeschlafenseins in mir, nachts Sorgen. Und dann dieser Druck auf der Brust, dieser andauernde Schmerz und die Schuldgefühle.

Wir waren nach V. gefahren, warteten drei Stunden auf dem Bahnsteig, anonyme Anrufer hatten Bombenattentate angekündigt. Das langweilige Herumstehen am Bahnhof. Dann kam endlich der Zug. Ein junger bärtiger Schaffner verlangte die Karten. Er hatte müde Augen. Gegenüber von uns im Abteil saß ein älterer Italiener, Beamtentyp, er las IL TEMPO, das Gesicht von der Zeitung verdeckt, seine Nachbarin, eine dickliche Blonde, las einen KRIMI.

 

20.Juli. In Rom wohnen wir in der Villa Massimo, Spottpreis: zwanzigtausend Lire die Nacht, und auf dem bläulichen Schein das bärtige Gesicht Michelangelos, es kam direkt von der Banca D`Italia. Der Schein war mit der Zeit immer wichtiger geworden. Im Hof, wir hörten zuerst nur den Kies, wurde Jann von Hunden der Frau Wolfen überfallen, sie zerrissen, zerbissen ihr fletschend den Jackenärmel, und wollten ans Fleisch; als wärs nur jener Satz des Hundes, brutal, zerfetzt etwas, immer wieder der Sprung, Cave canem stand auf einer antiken Kachel, darauf gemalt der bellende Hund. Wolfshunde, Sklavenjagden, Lagerjagden im Moor, oder Weimar? Das Todesgelände?

Ein Freund wollte uns unbedingt das Physikalische Institut mit "dem Goldfischteich" zeigen, hier sei der Zerfall erprobt worden, schon vor 1933; 1932 die Entdeckung des Neutrons. Und dann erst das Wunderjahr 1934! da hatte der junge Enrico Fermi, weil ihm die Zeitschrift NATURE eine Arbeit über Betastrahlen abgelehnt hatte, einfach so aus Spaß und per Zufall die erste Kettenreaktion ausgelöst, er hatte aus Langeweile die Neutronen aller möglichen Elemente bombardiert; bei Fluor tickte der Geigerzähler; nur eine Minute lang Strahlung, so daß Fermi und sein Kollege D`Agostino in ihren langen ölverschmierten Mänteln wie Sprinter zu den am andern Ende des Korridors gelegenen Messinstrumenten rennen mußten.

Am Colosseum also vorbei mit dem redseligen Freund zur Via Panisperma. Ha, lachte der Lange und sah Jann an. Panisperma. Erstaunlich sei auch die Jahreszahl 1933/34. Gott würfele nicht. Er zeigte auf das Straßenschild PANISPERMA: Pulverisierung, Explosion. Oder in der Sixtina das "Jüngste Gericht". Ich sagte: das müßt ihr unbedingt sehen.

Am nächsten Tag mit dem Bus zum Bahnhof, von dort mit der Linie 106 zum Vatikan. Wir stiegen kurz vorher aus, gingen am Tiber entlang, der Blick in gelbem Brackwasser, ich sehe die hohe Mauereinfassung, Grasflecken schwimmen oben, Platanenzweige nach unten hängend, leer, stachlige Früchte an dünnen steifen Zweigen; wir spannten den Schirm auf, Nieseln und etwas Gemütlichkeit, weil die Lichter angingen, braune Hände der Platanenblätter, ein raschelndes nasses Gehen, halb vegetal und gedämpft. - Vom Corso dann auf den Ponte Vittorio Emanuele, geflügelte Wesen auf dem Geländer, die mühsam ihre Kreuze schleppen, den Rücken uns zugewandt, als stürzten sie sich in den Tiber, schräg links aber das Ospedale Santo Spirito, und rechts die Piazza Pia, da stehst du davor: Mole Adriana, Castel Sant` Angelo ... Museum ABENDLAND, JETZT.

Die ENGELSBURG, o wie alt: Hadrians, ach, nein, das Mausoleum des Abendlandes, da liegst du begraben, du Schöne, Europa. Und dazu Sirenengeheul des Unfallwagens oder der Polizei, Blaulicht, Sirene. Rom: Castel Sant` Angelo, das Todeskastell: Pest mit dem Papst Gregor, hör ihn, den monotonen Gesang in Katakomben, und Beten, der Engel aber oben auf der Zinne steckte verlogen sein Schwert in die Scheide.

Frauen kommen und gehen und schwätzen so/ Daher von Michelangelo, mit Stöpseln im Ohr, akustische Führung. Wie reimen wir weiter, Sonette in Kasematten, unten Verliese: Als ich mit Jann gestern am Campo di Fiore stand, an Giordano Brunos Todesplatz, begann ich zu zittern, hier in den Verliesen hatte Bruno vor der Verbrennung, man stelle sich vor: Zelle um Zelle im Feuer - in der Folter gelegen, und oben über ihm der Prunk der Päpste. Es ist noch Zeit, ja, für Zeugung, Mord, Zeit für Werk und Hand. Säle Clemens` VII., und dann die östliche Hälfte der Terrasse, Ölhof mit der Zisterne Alexanders, des Borgia, Öl- und Getreidespeicher sind zu besichtigen und die Hinrichtungsstelle. Hier wurde enthauptet, gehenkt, erwürgt, ersäuft, erdrosselt, verbrannt, lebendig begraben, sagte der Freund, er ist Horror-Maler, malt gerade an einem riesigen zerfressenen Totengesicht, und redet jetzt sehr schnell mit seiner hohen Tenorstimme: Häretiker, Philosophen, Dichter, und Giordano Bruno wurden gefoltert, ließen sich nicht brechen.

Und ich überlege, warum wohl die Herrn Bischöfe und Päpste solche Angst vor den freien Energien des Geistes hatten.

ICH blieb zurück, wollte allein sein, sah die Alpträume in den Schlafzimmern an die Wand gemalt, festgehalten: Libellen mit Frauengesichtern kamen aus der alten Mauer, aus ihrem Gedächtnis: dort eine Frau mit einer Brust in der Leistengegend, und ich legte verstohlen die Hand auf einen Buckligen mit einem pompösen Phallus, meinte, meine Hand da nicht mehr herausziehen zu können, in die Wand zu schmelzen, durchzustoßen mit dem Finger wie durch Butter.

 

23.Juli. Gestern sagte meine Freundin Luigia, sie habe Totenwache bei einer Bekannten gehalten; im Zimmer sei ein Frost spürbar gewesen, der sie habe erzittern lassen; sie wollte hinausgehen, habe sich dann aber "überwunden" und sei im Zimmer geblieben. Der Chock weckt auf, sagt sie: Ja, wir vertun unser Leben mit unwichtigen Dingen, anstatt uns jenen zu widmen, die auf unsere längste Zeit eingehen, nicht auf unsere 70-80 Jahre hier, sondern auf die längste Zeit, die uns bevorsteht. Mich dem zu widmen, habe ich vor, sagte ich, doch komme ich trotz selbstgewählter Einsamkeit kaum dazu. Ich bin zeitkrank.

Auf unserer Reise zu den nordamerikanischen Indianern, den Hopis und den Sioux, staunten wir, als bei einer Heilprozedur mit Sandpaintings, diese wunderschönen kosmischen Mandalas, die unsereiner ja für "Kunst" hält, nach dem Heilvorgang einfach ausgelöscht wurden, sie hatten ihren höheren Zweck erfüllt, nämlich den Patienten, der aus dem göttlichen Ganzen "herausgefallen" war, so daß er erkrankte, wieder in dieses "Ganze" hineinzuführen.

Das Werk der längeren und langsamen Zeit, die nicht vergehen will, nimmt zu, je mehr die angemaßte Schnelle und auf die Schnelle voranschreitet. Sie bewirkt das Gegenteil, unaufhaltsame Unordnung und Gleichgewichtsstörungen, eine riesige Gegenwehr und Insurrektion der Natur scheint im Gange zu sein wider jene planmäßige Flucht mit den großartigsten Mitteln. Aber die Welt ist nicht vom Menschen emacht. Das ungewohnt Uralte, das jeden Augenblick geschieht: die Erde ist Jedermans Zukunft.

 

Grund des Okzidents: die Gewalt, der Tod. Die Toten und die Natur sind nun gegen ihn und seine totalitären Bastarde aufgestanden; durch den einzelnen, durch die Opfer in seinem Gedächtnis, durch die Weigerung der Natur, sich in dieses mörderische System einspannen zu lassen, sie kippt um, genau so wie die menschliche Natur, die sich nicht vergewaltigen läßt. Revolution und der Krieg sind Zeichen dafür; die Apokalypse als Umweltkrieg durch den Krieg dicht bezeichnet.

Seit Mallarmé gibt es dieses Erschrecken, daß die Dinge aus ihrem Namen fallen, das naive Bewußtsein meint, die Dinge durch den Begriff im Griff zu haben, es ist zerstört; die Natur, die Dinge, ja, die Apparate, vielleicht sogar die bisher eingesperrte Geschichte und ihre Zeit sind gegen uns aufgestanden. Aber dieser lebensgefährliche Untergang der gewußten Wahrheit und der alten raumzeitlichen Außenwelts, ihre Ver-Endung heute ist zugleich eine Chance, die Welt so zu sehn, wie sie wirklich ist, im Grunde nicht vom Menschen gemacht, außerhalb und jenseits unserer Erfahrung. Es scheint so. Der Abgrund wäre ein Ab-Grund, Epoché - ein Los-Lassen, so kämen wir vielleicht zum Unverfügbaren, die Dinge fielen aus ihrem Namen, mit denen wir sie vergewaltigen, ein neuer Reichtum, eine unerschöpfliche Fülle wäre möglich. Tun, was geschieht?

 

NACHTS Alpträume. Angst. Das Licht war ja nicht allein, und hatte innen mehr, es kamen Differenzen da raus, Figuren, und jetzt fürchte ich, es wären nur meine eigenen Bilder, die ich aus dem Ereignis machte, um es in seiner Umgebung überhaupt aushalten zu können, und verständlich, nicht: hier! Ausdrückbar ist es ja nicht. Es war vielleicht ein Fahrzeug, und Leute, die blendeten, hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand meines Zimmers, als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da - hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung, und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, wie wenn jemand Schubladen auf und zumacht. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Unmöglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren natürlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, etwa anderthalb Meter groß, sie hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis. Als Kind hatte ich so etwas schon gesehen; in Form eines Lichtkegels, der sich durch die Türe auf mich zubewegte, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Jetzt war es ähnlich, ein vibratorischer Übelkeitszustand, und Gedächtnisfetzen kamen hoch. Ich war befremdet... Und meinte noch rechtzeitig aufzuwachen...

Ich spreche mit Jann wieder davon, daß in der Heilanstalt und im Gespräch mit den schreibenden Patienten das tägliche Zeitparadox ganz nah gerückt sei. Jeder könne dies "Irre" der Zeit chockartig erleben, wenn er das, was geschieht, nach innen beobachte, den Bruch zwischen Innen und Außen zuließe. Vor allem in meinem Arbeitszimmer auf dem Berg in Agliano komme dieses Unheimliche körpernah auf mich zu ...

Und das Tagebuch liegt aufgeschlagen vor mir:

 

 

 

II

 

16. Dezember 1989. Begräbnis von Lisa, der Schäferin. Ich erinnere mich an Glücksmomente hier im mulattiere mit ihr, ich war aufgeräumt, ausgelassen, scherzte mit ihr, mit Alfredo, mit der Alten, ihrer Schwester, die jetzt nur noch mit wackelndem Kopf, im Weingarten, im Obstgarten Gras für die Hasen schneidet. Hallen der Steine beim Beten, und das Abendmahl, Transsubstantion, ich dachte beim Schlucken der Oblate, tatsächlich daran, daß Fleisch und Brot gleiche Atome haben.

18. Dezember. Nachricht vom Temesvarer Aufstand. 36 Kinder, die mit brennenden Kerzen in der Hand vor der Stadtkathedrale standen, sind niedergemäht worden. Sie wurden in einem Massengrab verscharrt, einige wurden verbrannt. Alle Toten sofort beiseitegeschafft, verbrannt oder in die Bega geworfen, drei Kinder aber haben die Mörder zur Abschreckung um die "Statuia Libertatii" liegen gelassen.

 

18./19. Dezember. Den ganzen Tag am Radio. Tränen. Diese Immobilität am Schreibtisch macht mich verrückt.

 

Es heißt, die Sicherheitskräfte hätten mit Wasserwerfern und Tränengas "gearbeitet", mit Maschinenpistolen in die Menge geschossen. Eine Frau wurde von einem Panzer niedergewalzt. Auf Anfrage von DPA behauptet Agerpress, nichts von den Ereignissen zu wissen. Im rumänischen Rundfunk Aufrufe, "die Legalität" zu wahren.

Arad und Temesvar sind völlig umzingelt, abgesperrt. Die Grenze zu Ungarn und Jugoslawien gesperrt. Eine Swissair-Maschine wurde zurückgeschickt.Ausländische Passagiere am Flughafen festgehalten. Ein Zug mit Bulgaren zurückgeschickt. Nur Diplomaten und Wirtschaftsleute dürfen noch einreisen. Keine Journalisten und Touristen. - In Budapest demonstrierten 40.000. In Paris 10.000 vor der rumänischen Botschaft.

21.12. Unsägliche Rede Ceausescus. Er beschimpft die toten Aufständischen von Temesvar. Bis vier Uhr nachts RFE. Die hoffen wohl, daß sie von Temesvar oder Arad angerufen werden. Nichts geschah, nur gegen zwei Uhr mischte sich eine Männerstimme auf Russisch ins Programm. Ich konnte noch das Band hören, das kurz vor dem Massaker in Temesvar aufgenommen worden war: Fratilor, schrie eine Frau, - Kindergeschrei dazwischen, Fratilor! Sinteti romàni ca si noi!! Dann ging alles in den Salven unter, das Schreien und Rufen wurde schwächer, verstummte zuletzt ganz. Stille, Entsetzen. Als wäre auch das Band durchschossen. Das Ohr, das dieses hört, unser Bewußtsein durchschossen, wie das der jetzt Toten, die vor einer Sekunde noch gelebt hatten, wie die Frau, die geschrieen hat, und ihr Kind. Drangen jetzt die Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett auf die Menge ein, schlitzten sie ihnen die Bäuche auf? Nahkampf gegen Frauen und Kinder...

Gemischte Gefühle aus Stolz und Entsetzen, Scham, daß rumänische Soldaten so brutal wie SS- Leute vorgegangen waren. Panzer zermalmten Lebende und Tote. Man hörte das erstickte Schreien, die Knochen brechen. Blut floß über die Straße.

Gestern am ruhigen Meer, das Boot, ich dachte zu träumen, schämte mich, hier zu sein. Aber nun ist es ja wieder einmal das "Volk," das ich bewundere. Und vergesse alles, was ich von Leipzig weiß. Es scheint ein Lebenshöhepunkt zu sein, der nun auch verstreicht, erst mit der Zeit wirklich wird. Aber was erinnere ich später? Fernsehilder, Zeitungslektüre, Radiostimmen, Tonbänder? Und Telefonstimmen, wie Geister im Ohr? Doch dies war ja die Revolution: auch jene, die dabei gewesen waren, sahen vor allem Fernsehbilder, was auf der Straße geschah, war meist kleiner, unwichtiger, auch wenn geschossen wurde. Oder sie lagen, wie in Hermannstadt Christines Schwester mit Mann und Kindern, tagelang auf dem Bauch im Wohnzimmer, weil in die Fenster geschossen wurde.

Ich sagte Jann, daß ich plötzlich diesen Leichengeruch rieche, diese rumänischen Begräbnisse vor mir sehe, die bocete, das Schreien vor der Bahre eines Toten höre, eine Bahre, die aber jetzt leer ist, sie begraben Abwesende, sie begraben das Nichts, das ihnen der Schlächter beschert, die Toten fließen den Fluß hinab, schwarze längliche Dinge, wie abgesägte Holzstämme. Sie brennen am Stadtrand, Geruch von Menschenrauch. Und sagte zu ihr: diese paradiesische Landschaft hier, in der Ferne das Meer, kommt mir wie eine irreale Zeichnung vor: wie nicht da. Und wenn ich die Ruhe spüre, den Kontrast zu diesem dichten Schwarz, dem Schrei, ists als wärs ungehörig, wie ich hier lebe. Entferntsein ist jetzt wie eine Schande. Doch auch, wenn ich "nach Hause" fahre, bin ich ein Tourist oder ein Fälscher.

 

Letzte Nachricht: Viele Bauern bewegen sich auf Bukarest zu, Generalstreik. Gesungen wird "Desteaptáte Románe". Und gerufen wie in der DDR "Noi sintem poporul, armata e cu noi." (Wir sind das Volk, mit uns ist die Armee.) Und "Noi sintem poporul, voi pe cine aparati". (Wir sind das Volk, und wen verteidigt ihr?!)

 

Gestern sind plötzlich Bananen und andere Südfrüchte in Bukarester Läden aufgetaucht. Ha. Die Läden füllen sich nun, je bedrohlicher die Lage wird, umso voller die Läden.

 

21./22.Dezember 1989. Bis 1 Uhr RFE. Ich war davon überzeugt, daß der Tyrann in dieser Nacht fallen müßte. Rumänien ist heute Zentrum der Welt. Stolz und zugleich Grauen hat alle erfaßt.

Die Nachrichten überstürzen sich, das Tempo ist rasant, von Stunde zu Stunde neue Ereignisse. Schon sind die italienischen, englischen, deutschen, französischen Zeitungen von gestern und vorgestern überholt. Durch meinen Kopf flimmern die Bilder und Worte aus dem Ohr ins Hirn, in die Buchstaben jetzt, vernetzt auch in mir, aber das Netz verändert sich ständig. Welches sind die Leuchtpunkte, die mir einfallen? Daß Truppen mit weißen Fahnen zu den Aufständischen übergelaufen sind? Dann aber auch die Nachricht, daß in Hermannstadt, wo der Säufer und Idiot Nicu C., der Kronprinz, herrscht, Soldaten in koreanischer, chinesischer und lybischer Uniform gesehen worden seien?! Ostberlin, Prag, Warschau, Sofia, Budapest haben Partei- und diplomatische Beziehung abgebrochen. Paris, Bonn, London, Wien die Botschafter abberufen.

 

Überall die abendlichen Demonstrationen mit Kerzen, Transparenten, Sprechchören. In Ost-Berlin riefen die eben Befreiten, denen heute das Brandenburger Tor geöffnet wird: "Internationale Solidarität," in New York eine riesige Menschenmenge, überall sind auch Minister dabei und Politiker, in Paris, in Frankfurt. Mitterand sagt in Ostberlin den Studenten, daß C. fallen müsse, da er überhaupt keine, nicht einmal mehr eine ideologische Legitimität habe, er herrsche nur noch im Vakuum einer rein personalen Macht. Bomben in Tel Aviv und Stockholm auf die rumänischen Botschaften, in Frankfurt flog die ONT-Geschäftsstelle in die Luft.

 

Und jetzt der große Moment: um 10 Uhr früh ist Ceausescu gestürzt worden. Der "Außenminister" hat die Macht übernommen, Corneliu Mánescu. Radio Bukarest in der Hand der Aufständischen. Vor dem "Intercontinental", Piata Universitätii sitzen die Studenten. Die Securitate und die Armee greifen nicht ein. Bis zum späten Vormittag schien alles ruhig. Dann hört man, daß Milea, der Verteidigungsminister, Selbstmord begangen habe. In Wirklichkeit hat er sich gegen das Massaker gewehrt. Und auf persönlichen Befehl Ceausecus wurde er exekutiert. Sein Generalstab hat revoltiert, die Loyalität aufgekündigt. Und die Soldaten fraternisieren mit der Bevölkerung. Blumen in Gewehrläufen.- Und im Sturm nimmt die Menge das ZK.

12 Uhr. Ceausescu, seine Frau am Arm, mehr getragen von ihren Gorillas, als gehend, mit verängstigten Gesichtern stiegen sie in einen Hubschrauber, und hinter ihnen kamen schon die jungen Demonstranten mit Fahnen, doch die hatten keinen Blick für die beiden Alten, sondern gaben von der Brüstung der Masse unten Zeichen, daß sie nun gesiegt hätten.

Ich habe das Foto mit dem abfliegenden Hubschrauber hoch am Himmel Bukarests und die vor Wut gereckten Hälse und Fäuste der Masse oft gesehen.

 

Eine Pikanterie, daß in Ostberlin Angehörige der Grenztruppe und der Polizei ihre Kollegen in Rumänien aufgefordert haben, nicht auf ihr eigenes Volk zu schießen. Das kehrt dann auch alle Vorstellungen um, alle Vorurteile. Die Deutschen haben nicht einmal einen Schlagstock gerührt, die guten Rumänen erschießen Frauen und Kinder. Das hat man nicht einmal von der SS gehört, die nie Kinder ihres eigenen Volkes umgebracht hat.

Ich versuche mit den Freunden in Bukarest und in Klausenburg zu telefonieren. Ich komme nicht durch, Wartezeit 6 Tage. Die Telephonistin sagt, da kommen Sie schneller zu Fuß nach Bukarest.

In der Nacht vom 22./23. Dezember sind Hunderte junger Leute ermordet worden. Um das Fernsehen und Radio wurde heftig gekämpft. 23 Panzer der Armee schützten das Gebäude. Doch die Sondereinheiten, nun "Terroristen" genannt, schossen von den Dächern mit Maschinengewehren. 3 wurden gefangengenommen, einer niedergemacht.

23. Dezember. Tannenduft und Olivenbäume hier. Blauer Himmel über dem Meer. Wie weit weg liegt jetzt Weihnachten. Leichter Schneefall, Stiefel knirschen. Sternsänger gehn durch die Straße. In Forte dei Marmi an einer Straßenecke vor dem Turm ein Auto des Italienischen Roten Kreuzes "Solidaritate con il popolo rumeno" steht da.

 

24. Dezember. 16 Uhr. Dinescu ist jetzt mit Ana Blandiana, Dan Desliu, Doina Cornea, Aurel Dragos Munteanu u.a. Mitglied des "Comitetul national de salvare". Ich hörte heute wie jeden Tag stundenlang Nachrichten von Radio Free Europe über Waffenverstecke, über geheime Flugplätze und Tunneleingänge, ein Netz, das sich anscheinend durch ganz Bukarest zieht. Alles kreiste um diesen Stahlgeschmack, um diese eiserne Leere, mit Fahnen und Gewehren, diese Kugel, dieses Bett im Gewehrlauf, oder im Kopf die Zelle. Es ist ein ganz besonderes Gefühl. Staub auch. Sitzungssäle, Angstschweiß. Eisengitter, Eisen flüssig...

Doch jetzt warten wir auf Nachrichten über den Diktator, es heißt: er ist verhaftet worden! -

Ich werde unterbrochen durch den Besuch unserer Freunde Hannes und Tina. Wir sitzen gemeinsam im Esszimmer, das Fernsehen läuft. Wir reden nur noch über das, was auf dem Bildschirm geschehen ist und weiter geschieht; Scheibe, die die Welt bedeutet. Die Nähesinne fad und bedeutungslos.

Ein paar Augenblicke später, rief Francesco D. aus Florenz an, sagte, daß die "drei Ratten" (Frau, Mann, Bruder Ilie) verhaftet worden seien. Ich war also gerade nur einen Augenblick nicht am Radio, und nun kam die Nachricht übers Telefon. Wir sind im elektronischen Netz gefangen wie in einem Spinnennetz.

25. Dezember. Den ganzen Tag klingelt das Telefon. Anrufe von Freunden. Aus Florenz, aus Hamburg, aus Berlin, aus Lugano, aus Mailand und aus Frankfurt, sogar aus London. Was kann man tun, wie kann man helfen. Einige wollen ihre Häuser für Waisenkinder, für Verwundete, für Kranke zur Verfügung stellen. Viele wollen spenden.

 

Wir Emigranten werden aufgefordert, ins Land zurückzukehren. Die Staatsbürgerschaft wird wieder anerkannt. Die Todesstrafe ist abgeschafft.Die Fünftagewoche bald eingeführt. Alles ist gelöscht also, auch die "ungesunde Herkunft", wir sind keine Vaterlandsverräter mehr.

 

Ausflug mit den Freunden nach Castagnori, dort hatte das Vorbild zu einer meiner Romanfiguren, ein Hexenmeister, Zauberer, Magier und Verführer aus Lucca, der öffentlich hingerichtet worden war, seine Villa. Vor einem verfallenen Haus in Castagnori lachten wir, ließen wir unsere Phantasien laufen.

Doch lange ist die Gegenwart hier nicht zu ertragen; schon im Auto höre ich wieder Nachrichten: Im Süden Bukarests schwere Kämpfe. Ungarn bietet Munition und Ausrüstung. Ebenso Jugoslawien. Die Hilfe aus dem Ausland ist enorm, Geld, Lebensmittel, Ärzte. Schweiz, Finlannd, Dänemark, Jugoslawien, DDR, BRD, Bulgarien: 250 Familien bieten eine Not-Aufnahme für Kinder an. In Kronstadt haben sich die Bluthunde in die Karpaten zurückgezogen. Partisanen neuen Typs. Der Warschauer Pakt ist bereit einzumarschieren. Die USA, Frankreich würden ihren Konsens dazu geben. 500 Tote in Bukarest, 300 nur auf der Piata Romaná. 2000 Verwundete. Blutkonserven aus dem ganzen Land werden nach Bukarest geschickt. 150 Liter Blut spendet die Bevölkerung. Auf der Piata Romaná tanzen die Aufständischen, schließlich ist Weihnachten, Cráciun, sie tanzen um einen großen Tannenbaum. Aber der Kampf geht weiter.

Ungarn bietet Munition an. Die Messe in der Kirche der Metropolie ist zu sehen, die Menge steht draußen, weil nicht genug Platz im Innern ist; ein Bandit mit Handgranate hätte fast ein Blutbad angerichtet. Er wird verhaftet. Keine Lynchjustiz. Zum erstenmal wird die Messe im Radio übertragen. Auch die katholische. Die Bücher Ceausescus werden aus den Buchhandlungen auf die Straße geworfen. Doch sie sollen nicht verbrannt werden, das Papier ist geduldig gewesen, Schulbücher können darauf gedruckt werden. Neue Zeitungen werden gegründet: România Liberá, Adevárul, Gazeta Sporturilor. Die Fahne ist nun eine Fahne ohne Wappen. Rot, Gelb, Blau. Vier Securisten, die die Donau durchschwommen haben, um zu fliehen, sind von jugoslawischen Grenzpolizisten gefaßt worden.

Es gibt wieder schönes weißes Brot, schöne weiße Milch - wie noch nie. Und es ist warm und hell.

Wir warten auf Bilder des Prozesses. Das "Tribunalul militar extraordinar" hat den Prozeß, sogar mit Verteidiger, geführt, 19.40 die Nachricht, daß die beiden zum Tode verurteilt und exekutiert worden sind. Ich frage mich: Darf man überhaupt auf Hinrichtungen freudig warten? Und die ganze Welt, nicht nur Rumänien, wartet auf diese Exekution eines Ehepaares. Mein Gott, welch ein Ehepaar. Und welch ein Sohn, welch eine Tochter!

 

26.12. Radio Bukarest gibt bekannt, daß die Filme des Prozesses und der Hinrichtung nicht gezeigt wurden, weil der Transport zu gefährlich gewesen wäre, und ein unersetzliches historisches Dokument hätte so verloren gehen können. Es soll nun heute gezeigt werden. Komisch, man hätte doch ein Standfoto machen können, es dem Volk zeigen, das fiebernd darauf wartet. Denn insgeheim fürchtet doch jeder, schon wegen der dauernden schweren Kämpfe, er könnte wie ein Alptraum wiederkehren, dieser Dämon. Ich sehe ihn andauernd vor mir, er ist in uns allen, das hat er geschafft: dies gewellte, eitle Haar, dieser trotzig geschürzte Mund, vom Losungsleiern ganz trocken, dieser Haß aufs eigene Volk, wie der italienische Botschafter gestern im Fernsehen sagte. Haß, weil sie alle gegen ihn waren. Er dopte seine Gorilla-Armee, rüstete sie mit Spezialwaffen aus.

 

Ich rufe bei der Frankfurter Rundschau an. H. Köpcke sagt, absolut kein Platz für dieses Thema, Beckett sei gestorben. Ist das eine Antwort? Beckett-Situation. Beckett hat die Fernsehbilder noch gesehen. Ein für ihn passender Abschied von dieser Erde.

 

Dieses Gerede hier von blauem Himmel, von Autos, von Fressen. Peinlich diese Sylvestervorbereitungen. Im Fernsehen wird Pizza gebacken, im nächsten Kanal Panama und das Warten auf die Hinrichtungsfotos. Auf den Straßen von Bukarest wird immer noch gekämpft. Die Auslandskorrespondenten des Fernsehens wagen sich nicht auf die Straße, berichten aus ihren Botschaften. Es werden Geschütze eingesetzt.

 

Auf dem großen Platz der Republik steht ein Paar, eng umarmt, weinend. Allein stehn sie da, im Hintergrund die Panzer. Vor ihnen ein Transparent: "Nu vrem politicá", wir wollen keine Politik mehr! Studenten demonstrieren. Die permanente Sprechmaschine, die Losungsfabrik hatte ein ganzes Volk gequält. Diese Qual verstärkte eine alte Skepsis der Rumänen: Alles Kopflastige ist ihnen zuwider.

 

26. Dezember 1989: 19 Uhr zehn: endlich der Film. Mitleid mit dem Alten da, verzweifelt das sonst so angespannte Hochmutsgesicht. Woher der noch den Mut nimmt. Legte bei der ärztlichen Untersuchung säuberlich den Rock ab. Stand in Weste da. Der Arzt wies auf einen Stuhl, im Bild der Arm eines Bewaffneten, grau, man sah den Lauf der Maschinenpistole. Der Diktator, gebückt, gehorchte brav. Der Arzt maß den Blutdruck. Armeearzt mit Brille, horchte auf etwas, was aus dem Körper des Diktators kam. Dessen ausgestreckter, ohnmächtiger Arm, den der Arzt hielt, der letzte Doktor, den der Alte noch sah. Was? Noch Haltung wahren? Wenigstens die letzten Augenblicke noch ganz Herr der Vergangenheit, die er meinte gemacht zu haben, für alle, nicht nur für sich. Man sah es doch jetzt ganz klar, und es war nicht genug, nicht scharf genug durchgegriffen worden. Spione und Diversanten, diese gekauften Schreier in Temesvar und heute noch in Bukarest. Der Staatsstreich war gelungen, kein Zweifel. In Schulbänke wurden sie hineingezwängt, er im dunklen Mantel mit Pelzkragen, sie im hellen Mantel. Das Kopftuch hatte sie abgenommen. Es wurde ein Dialog zwischen Taubstummen.

Doch als die beiden da im Türrahmen erschienen, da traute ich meinen Augen nicht. Wieder ein Summen, Surren wie bei einer Pause in der Zeit oder einer Todesstunde. Und ich konnte kaum zuhören. Es wurde gefilmt,das Fernsehen war dabei. Das gab den beiden letzte Kraft, und sie traten auch auf, sogar fest, gewohnte Show. Eine Farce? War alles ganz anders verlaufen?

Es brach auch aus dem Ankläger heraus, dem Staatsanwalt, er konnte sich nicht beherrschen, obwohl er nur eine ihm zugedachte Rolle in diesem Schauprozeß spielte, er schrie, schrill manchmal seine Stimme: Angeklagter Ceausescu! artikulierte er mit Lust den Namen: - Sie haben uns zu Sklaven gemacht.

Ich sehe meinen alten Bekannten, den Regisseur Paul Barbáneagrá, er ist völlig grau geworden. Er hat mit Bukarest telefoniert. Der Premierminster Petre Roman habe gesagt, es sei eine Großoffensive der Secu geplant gewesen, um den Diktator zu befreien. Daher habe man ihn schnell hingerichtet. Vierzig Jahre Terror im Herzen. Er das Symbol. Und ist mit seinen eigenen Gesetzen zum Tode verurteilt worden.

 

15 Uhr 15. Auch Antenne 2 bringt die Bilder der völlig versteinerten Elena und des hochmütigen Nicolaie, der versucht, seine Hände auf ihre schön leblosen Hände zu legen, soll das Streicheln sein? Hebt den Blick leer zum Himmel, dann macht er eine wegwerfende Bewegung.

 

Eine ältere Frau, sie spricht gut französisch, sagt, sie sei unzufrieden, denn dieser Bestie hätte man nicht so ein elegantes Ende (Erschießen) bereiten dürfen. Alles hätte öffentlich geschehen und er hätte dabei leiden müssen.

 

Darf man jetzt nach Tragik suchen, bei so einem Massenmörder? In der "Repubblica" steht: è stato la vittima di se stesso. Sein Charakter: er duldete keinen Widerspruch, er wurde fast krank, zitterte, wurde bleich, wenn ihm jemand widersprach. So war er besser geeignet als jeder andere, die institutionalisierte "Parteiräson" zu verkörpern, wo das Schweigen, das Monolithische durch Spitzel und Sicherheit "geschützt" wurde und durch Folter. Eine Spinne, un páianjen, sagt eine Frau auf dem Platz der Republik, der jetzt Platz der Revolution heißt.

 

Hofpoeten und Speichellecker bauten ihn auf. Von Adrian Páunescu (Paun= der Pfau), meinem ehemaligen Kollegen, wäre zu erzählen, einem Panegyriker-Genie. Sie machten NC zum "Genie der Karpaten", zum "Titanen der Titanen".

Gerüchte auch über die Hinrichtung kursieren, schießen ins Kraut; alle von Augenzeugen berichtet: Ein Freund, der beim Prozess dabeigewesen war, erzählt, daß die hohe Dame einen Wutanfall bekommen habe, als man ihr (neben die Goldarmbänder) Handschellen anlegen wollte, sie habe ein zu zartes Handgelenk. Und dann: sie wären im Hof wie Mäuse herumgelaufen, die beiden Verurteilten, denn ohne Kommando hätten alle 300 anwesenden Soldaten auf den "geliebtesten Sohn" und die Akademikerin geschossen. Daher auch dieser Eindruck der Verwesung im Gesicht des Diktators - es war Mauer-, es war Schuß-Staub.

 

27.12./30.12. Die Leute der provisorischen Regierung leben immer noch im Untergrund, versteckt, sie werden in Panzerwägen, und von Tanks begleitet, zu ihren Konferenzen gefahren.

Casimir Ionescu, Mitglied im Consilium, erzählt, daß die Killer überall seien. Einmal als sie das Fernsehen attackierten, riet jemand, das Licht zu löschen. Als das Licht wieder da war, lagen mehrere Personen mit einer Kugel in der Stirn am Boden. Im Dunkeln können die Heckenschützen mit dem Infrarot ihrer Spezialwaffen treffsicherer schießen.

28. Juli 1992. "All jene, die das Vertrauen in die Menschheit und in die Geschichte verloren haben, kehren ihr Gesicht, - falls sie nicht der Apathie und der Vertierung oder dem Zynismus der verbrecherischen Kontingenz des Alltags verfallen - Ihm zu. Sie überleben in seinem Schatten, leben weiter, indem sie sich an ein treibendes Holz im großen Schiffbruch klammern..." So schreibt Ion D.Sirbu in seinem "Tagebuch eines Tagebuchschreibers ohne Tagebuch", Bukarest 1991. Sirbu starb noch vor dem Dezember 89; er war politischer Häftling von 1957-64.

Er war erst vor einigen Tage in diese Zelle gebracht worden, er, noch äußerst geschwächt und kaum fähig, jenen Strom von Halluzinationen, der ihn im Bunker am Leben erhalten hatte, von der "Außenwelt", dem geschlossenen, vergitterten Kellerraum zu unterscheiden, dieser hellerleuchtete lange Schlauch mit den quietschenden eisernen Etagenbetten und dem Gestank nach Menschen und Schimmel, nach Menschenschimmel und Fäulnis, nach Exkrementen und verbrauchter Luft; er war hierher verbracht worden am Dienstag (heute war Freitag), hierher also verbracht mit der Duba, jener "Grünen Minna", die nie grün war: mit der Aufschrift "Fleisch", und es stimmte ja auch: für die Wärter waren diese Menschen hier zu mißhandelnde Leiber, für die Securitateoffiziere, die Verhörexperten: Haut und Haar und nichts als Nervenbündel und verstockte Tiere, die man schlachten konnte. Er war nach den Verhören beim Innenministerium mit der schwarzen "Brille" vor den Augen, die blind macht, schweren Handschellen, eiternden Handgelenken, mit beschädigter Wirbelsäule, hier angekommen, direkt aus dem Bunker, wo sie ihn eingelocht hatten, ihn, der es gewagt hatte, durch Hungerstreik alle an das wirklich Entscheidende zu erinnern, und wider das FLEISCH den Schmerz zu setzen, mit dem Tode zu drohen, der sein bester Freund war, so ihnen allen, diesen Bestien des Staates, den Beamten der Folter, klargemacht, daß sie keine Macht über ihn haben konnten.

Am schlimmsten war die Eiseskälte im Bunker gewesen, schlimmer als Hunger und Durst, als die Schläge; und er zitterte immer noch, Frost in den Gliedern, reißende Schmerzen vom wochenlangen schlaflosen Stehen. Vor der Zellentür war ihm am Dienstag die Brille, waren ihm die Handschellen abgenommen worden, und mit einem Tritt ins Gesäß wurde er in die GemeinschaftsZelle befördert; er hatte da gelegen, geblendet vom Sonnenlicht, daß die Augen tränten und schmerzten, und nur vorsichtig konnte er sie öffen, und er blickte auf, sah zum erstenmal nach Jahren in ein menschliches Gesicht, in das eingefallene Gesicht von Weiß, das übersät war mit blauen Blutergüssen. Der Neue lag am Boden, richtete sich nur halb auf, lag Weiß zu Füßen, dessen Gesicht sah von unten unendlich lang aus, wie ein verdichteter Lichtstrahl. Weiß hatte ihn gefragt, ob er nicht aufstehen wolle, und ihn schon hilfsbereit gestützt; er aber hatte gebeten, ihn so liegenzulassen, bis die Schmerzen nachließen und er vielleicht wieder allein auf eigenen Beinen stehen konnte; so lag er da bis zum nächsten Morgen, dann stand er zitternd auf, stand auf den eigenen Beinen und sah durchs Fenster hinaus ins blendende Morgenlicht, blinzelte erstaunt, schloß dann die Augen, als traue er diesem hellen Schein seiner Iris, seines Hirns nicht, traute dem Blick nicht: seinen Körper entlang streifend und dann auf den Boden sehend, über den er sich beugte, als ob er ein Trug sei, und er da hindurchfallen könnte. Und erzählte nun, nachdem die Schläge der Uhr verhallt waren, eine Geschichte, Satz für Satz sich und den zehn Mitgefangenenen eine Geschichte, so daß alle die Angst zum Verhör geholt zu werden, oder auch nur: das deprimierende Gefühl, eingesperrt zu sein, vergaßen. - Von der Freiheit des Gefangenen, von all dem, was diese miese Körperexistenz, die sie gefangenhielt, sprengt, erzählte er, von einem Gefährten aus einem andern Jahrhundert, der doch ihm, dem heute Lebenden glich, hatte er oft geträumt, der hatte ihn getröstet, von ihm wollte er erzählen und allen diesen äußerst seltsamen Erinnerungen, die ihn auch jetzt wieder überfielen, notfalls erfinden, was wahr ist, das alle hören sollten. Sie saßen auf den Pritschen, jeder in seiner Haltung, und angespannt, als wäre dieses hier der Alptraum, dem es in die Wirklichkeit zu entrinnen galt.

 

Nach solch einem Abend kamen regelmäßig die Alpträume. Auch jener Untote, der mich so lange beschäftigt hat, weil er mit Gewalt in meine Erinnerungen und in mein Leben eingegriffen hatte. So träumte ich wild: Wie ich den schwarzverkleideten Block und den Henker betrachte. Der Wächter aber hält alle Stricke in der Hand. Jetzt legt der erste Verurteilte tapfer den Kopf dort auf den Block, das Beil blitzt auf. Knirschender, dumpfer Laut, Blut spritzt. Und der Kopf rollt herab. Ich werde der nächste sein, es schnürt mir vor Angst die Kehle zu; jetzt stößt mich der Knecht da zum Block, sie zwingen mich nieder, und plötzlich erkenne ich klar, daß nicht ich das bin, der dort knien muß, sondern er. Und ich sehe von oben nur zu: sie halten ihm den Kopf fest, da schüttelt er sie ab. Ein leichter kurzer Schmerz am Hals. In der Nackengegend. Und er schwebt. Ganz leicht ist er. Sieht dann von oben, sieht wie der Tote zuckt, der nächste den Kopf auf den Block legt. Und plötzlich spricht er neben mir und lacht: Siehst du, wie dumm die bürgerliche Obrigkeit ist, unsere Feinde, die Imperialisten, diese Affen in ihren Roben, tun so, als hätten sie Macht über uns. Und sagt, er werde den Präsidenten besessen machen, als Teufel in ihn fahren, Tag für Tag.

 

Als ich dann erwachte, war mir klar, woher diese Vermischungen kamen, ich hatte gestern den ganzen Tag in meinem Tagebuch vom Dezember 89 gelesen, und es war ein besonderer Reiz gewesen, genau den gleichen Tag, ja, die Stunde vor drei Jahren zu rekapitulieren: 27.Dezember 1989, NACHTS: Diese Hinrichtung des Diktators geht mir nicht aus dem Sinn. Auch nachts kam dieses Grauen in meine Träume. Da war er seiner Rollen und Funktionen entkleidet, alles, was ihn schützte, erhöhte, gab es nicht mehr; er war nackt: jene, die vor ihm bisher stramm gestanden hatten oder auf den Knieen vor ihm gerutscht waren, stießen ihn nun grob vor sich her, redeten ihn mit Du an, er, von einem Soldaten mit Kalaschnikow bewacht. Fast demütig wirkte er, geduldig, ein wenig freilich wie im Halbschlaf, in Trance, wie er da bei der ärztlichen Visite den Rock ablegte, sich den Blutdruck messen ließ. Oder wie er aus dem Panzerwagen kroch, ein Offizier half ihm, er hatte die Pelzmütze schief im Gesicht, er rückte sie zurecht. Nur einmal setzte er an, schrie los. Beim Prozeß, der nur zwei Stunden dauerte, soll er die Mitarbeit verweigert haben. Er sei der Präsident des Staates, und nur die Große Nationalversammlung könne ihn richten. Die aber ist doch längst aufgelöst, genau wie die Regierung oder das Politbüro, wurde ihm gesagt. Er glaubte es nicht. Auf Fragen, ob er wisse, in welchem Zustand sich das Land befinde, schwieg er. Bestritt dann, am 17. Dezember den Schießbefehl gegeben zu haben. Weshalb haben sie ihn nicht gezwungen, den Terroreinheiten einen Befehl zur Feuereinstellung zu geben?! - Alle Geheimpolizeien werden darauf gedrillt, ihren Hauptfeind im eigenen Volk zu sehen. Die Frau soll kurz vor der Exekution zu den Soldaten gesagt haben: Ich bin doch wie eine Mutter für euch gewesen. Du, eine Mutter? antwortete der Soldat, du, der du unsere Mütter hast erschießen lassen? Ihre Leiche an der Mauer sah man nicht. Nur die ihres Mannes mit roter Krawatte und der roten Einschußwunde an der rechten Schläfe. Seltsam verwischt das Gesicht, wie schon verwest im Todesaugenblick, als sei tatsächlich ein längst Toter, der sich nur mit furchtbarer Gewalt gegen alle Lebenden atmend erhalten konnte, der Herrscher dieses Landes gewesen. - Es heißt, ein Toter sei erschossen worden, der Diktator sei durch die Folter umgekommen.

Klagelieder an den Särgen - Parks sind in Friedhöfe umgewandelt worden. Ein ganzes Volk weint, ich sehe es, ich höre es, ich bin seit Tagen in einem starken Erregungszustand, doch das Mitleid mit dem einsamen Diktator, der plötzlich nur ein Mensch war, von Angst gelähmt, erscheint mir fast obszön. Tod, Hinrichtung, Schuld, Todesstrafe - die Worte wirbeln mir durch den Kopf: Notwehr, ja Notwehr war es in einem Bürgerkrieg, und doch bleibt etwas Unaufgelöstes, wenn man Ja zu einer Hinrichtung sagt. Auch verletzte dieser Prozeß alle Rechtsnormen.

 

29. Juli 1992. Kann eine Hinrichtung ins Schreiben hereingenommen werden? Natürlich kann sie das, die Literatur "arbeitet" mit Hinrichtungen, mit Grauen, Schmerz und Schrecken; Katharsis als ästhetischer Schrecken, Todesgefühle, Chock zur Reinigung? Und die Geschichte "arbeitet" mit dem Tod, er ist ihre Synthese, steht an der Grenze der Geschichte, an der wir heute auch wirklich angekommen sind. Der Diktatorentod bündelt ein geschichtliches Ereignis, zeigt, wie nah wir ihm waren, aber auch, daß er in uns war, wir, ein Teil von ihm, samt der zugehörigen Schuld, die da ein Ventil bekam, als wäre er für alle gestorben.

 

Alexander Kluge und Peter Weiss gehen als Filmer mit Sequenzen um. Bieten Querschnitte, keine erzählten Längsschnitte. Momente. Oft Schreckmomente, wie Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstandes" Géricaults "Fluß der Medusa" beschreibt. Ein Hadesbild der Überlebenden, die wir ja sind, ein Hadesbild, das die Todestiefe im Moment des Schreckens spiegelt, ein Schrei des Untergehenden wird sichtbar, quer zum historischen Prozeß. Es ist der unendliche, andauernde Moment des Entsetzens, der alle diese Momente der bisherigen Geschichte zusammenfaßt, Zeit anhält, wie das Summen in einem Todesmoment.

 

...manchmal habe ich Skrupel im Tagebuch das DATUM einer "höheren Ordnung" zu opfern. Und ich erinnerte mich vor Tagen daran, wie wichtig für Celan das "Datum" war; versuchte mich zu trösten: Diese Verschränkung hier im Buch ist MEHR. Denn es gibt doch nichts Älteres und Verschlisseneres als eine alte Zeitung. Ich werfe täglich ganze Haufen von gelesenen Zeitungen auf den Müll. Ich schneide immer noch viel aus. Ganze Haufen von Mappen. Und lese sie viel später wieder. Genau so wie die Notizen und Tagebuchaufzeichnungen. Langsam aussortiert mit verändertem Blickwinkel werden sie dichter, als wären sie nach Jahren, erinnert, gereinigt, persönliche Dokumente: näher am Jetzt. Ist da ein Kern wie ein Stamm mit Monatsringen? Der veränderte Blickwinkel nämlich, ist der nun reicher als z.B. der vom Dezember 89? Was für ein Gedächtnis wächst da mit? Wächst es wirklich? Ist mehr Wissen nun da? Kann man ruhiger werden, gibt es schon eine Tradition, eine Erinnerung der "neuen Zeit"? Was geht da durch dieses Papier hindurch? Ich streiche alles, manchmal mehrfarbig, an. Letter nochmals von mir überschrieben, hineingewachsen diese Linie, wie hier auch: als könnte ich mich mit dem Ereignis vermischen, da eingehn, mithalten. In Gedanken Gängen, denn jetzt erfordert es keine einengende Tat mehr. Dort, nah sein, hineinkriechen in die Zeile: berührt durch Gedankenbilder, die dabei auftauchen oder Assoziationen, die ich an den Rand schreibe. - Probehandeln, das erst viel später wirklich wird, wenn auch die Taten irreal und erinnert werden, sich mit jenem Nichtgeschehenen ununterscheidbar vermischen.

 

...so habe ich die "Repubblica" vom 27. Dezember 89 durchgesehen, da ich intensiv an diesen Zeitbruch und an diesen Riesenunterschied von heute und damals - auch im Bewußtsein, denken mußte. Dann werde ich neugierig auf mein altes Tagebuch vom 27. Dezember 89; wie naiv-begeistert ich doch damals war; und murmele das schöne Wort "Idiot": 27. Dezember 1989. Stahlhelme, Uniformen. Bukarest ist auch hier in diesem immer, in allen Zimmern, es gibt keine abgeschlossenen Zimmer mehr, der Raum ist im Kopf, Bukarest, die Kämpfenden im Kopf, die Grenzen fallen, ich sehe die Kämpfer, sie schießen, einer mit einem Zielfernrohr, Scharfschütze mit Trikolorearmbinde auf dem großen Platz der Republik, Aufständische mit Kalaschnikows sitzen an Ceausescus Nobelschreibtisch; den Staatsrat gibt es nicht mehr, das Innenministerium nicht mehr, nichts mehr ist, wie es bisher war, der Scharfschütze mit Zielfernrohr hat es im Fadennetz: er versucht, Geheimpolizisten aus einem rauchenden Fenster herauszuschießen. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, einem Menschen den Tod zu wünschen. Ein Gewehrlauf, eine weiße Fahne, ein Taschentuch, das herabflattert. Ich atme auf, mein Bewußtsein bleibt zurück, Zeit summt, das Auge ist dort, der Kopf ist hier, auch wenn sich jener Raum in ihm dreht. Schwindel. Sie kommen mit erhobenen Händen heraus. Neben den Soldaten bewaffnete Zivilisten mit blaugelbroten Armbinden, es ist "insurectie armatá" es ist nun wirklich Befreiung, es ist nicht wie 1944, als man ganz ähnliche Bilder sah, die Vorhut des russischen Einmarsches. Zitternde Furcht, das Herz klein. Jetzt: Auf der Straße Milizmänner im Kampfanzug, Soldaten der Armee,Patriotische Garden. Sie rollen sich auf der Straße unter den Kugeln der Heckenschützen. Aber die Kugeln drehn sich in der Luft, kommen nicht an, prallen ab. Seit heute haben alle wieder ein Land, so schnell wie ein Gedanke, der zurückrollt, und löscht die Jahre aus, dann bleibt das Bild stehn. Mein Heimweh steht still, und wird entlarvt. Doch sicher nicht nur das Heimweh. Und plötzlich fällt mir dieses Bild ein, das nicht nur ein Bild ist, weit über den Rahmen, den Rand des Papiers hinausreicht: Eine Frau weint im Schnee der Steppe vor dem Gefängnis Jilava. Panzer fahren, Soldaten marschieren auf der Landstraße. Die Häftlinge mit einer weißen Fahne schreien auf der Mauer Losungen. Seit dem 22. Dezember schreien sie. Eine geöffnete Zelle, ein blutiges weißes Tuch, ein zerrissenes Ceausescu-Foto im Blut. Zwei Häftlinge zeigen rote Ceausescu-Bände, die einzige Lektüre, die sie bisher haben durften. Der Gefängnisdirektor sagt, sie haben die Barrieren durchbrochen, überschritten. Ganz aufgeregt ist er. Die Frau im Schnee weint. Wo ist mein Mann, mein Sohn? Nur 70 Gefangene wurden freigelassen. Und Pitesti? Was ist mit den Folterzellen von Pitesti?

Es schneit und schneit in Bukarest, aber es ist ein milderer Schnee als bisher, auch wenn er auf Tanks liegt, die vermummten jungen Soldaten mit weißen Flocken in den Augenbrauen lachen. Es ist fast so, wie es nie war.

Der letzte politische Gefangene, ein früherer Diplomat in Washington, der es gewagt hatte, den Diktator zu kritisieren, ist nun frei; er war schon wegen Spionage zum Tode verurteilt, wartete auf das Erschießungskommando. Stattdessen hörte er draußen die Schüsse, die Lieder, er meinte zu träumen oder schon tot zu sein. Dann öffneten sie seine Zelle, er war frei.

Das Sichtbare scheint wieder gerettet, zwischen dem, was man da sieht und dem, was wirklich geschieht - eine schöne Harmonie. Was wir sehen, gerade auch im Fernsehen scheint die volle Wahrheit zu sein. Im Fernsehen. Ha. Ferne Bilder. Bukarest, meine Stadt. Popen singen. Viele weinen. Im Freien, in den öffentlichen Anlagen, dort werden die Toten begraben. Sarg um Sarg. Kerzen, auf dem Asphalt, an den Gräbern, in den Händen Kerzen, knieende Jugendliche auf der Piata Romaná, am Institut für Ökonomie. Jetzt leuchtet das Land von innen, Stearin fließt in Strömen, Wachs fließt, so weich sind die Knieenden. Und das Blut auf dem Stein ist noch frisch. Es kann auch nicht abgewaschen werden. Der Schnee ist rot. Die Wände sind rot. Und in Hauseingängen, auf einsamen Straßen, im Wald, hinter Büschen - überal findet man Tote, zum Teil sind sie vom Geheimdienst verstümmelt worden. Kerzen und Zeitungen haben die Leute in der Hand. Sie kaufen vier-fünf verschiedene neue Zeitungen. Sie stehn an der Bálcescu-Statue vor der Universität, die Zeitung aufgeschlagen an der Haltestelle Universitátii. Sie weinen auch lesend, ihre Tränen fließen über das Papier, sie sickern ein, werden von den Buchstaben aufgesaugt, darauf schneit es, große stille Flocken fast lautlos auf der Zeitung rascheln. Die Zeitung ist weich geworden, Löcher entstehen, langsam zerfällt der Satz mit der Träne, mit dem Schnee.

31. Dezember 1989. Endlich bekomme ich mit Bukarest eine Verbindung: ich höre die Stimme von D. Anstatt Jubel - Verzweiflung. Er sagt: nur zwischen zwölf Uhr mittags, nachdem die "Ratten" mit dem Hubschrauber abgeflogen waren, und sechs Uhr abends, als die Terrorbanden das Feuer eröffneten,gab es eine Pause, konnten die Leute aufatmen. Alle umarmten sich in dieser kleinen Pause auf der Straße, man sang, man rief: Olé, olé, olé, Ceausescu numai e! Doch abends begann die Secu wieder in die Leute zu schießen. Und die Nacht vom 22. zum 23. war die eigentliche Höllennacht. Wir aber haben eine kollektive Depression, sagt er: wir sind gar nicht froh, daß Ceausescu nicht mehr da ist. Und wir haben Angst, von der Securitate erschossen oder nachts abgeholt zu werden. Seit Tagen gibt es keinen einzigen Moment der innern Entspannung, wir leben wie die Höhlentiere. Und freuen uns nicht. Und wir feiern nicht. Heute werden wir gemeinsam wachen, aber wir feiern nicht. Wir wissen nicht, was geschehen wird, wir müssen wachen, damit nicht Furchtbares geschieht, damit nicht alles umsonst war. Und die Toten nicht vergeblich gestorben sind.

Erstaunlich, wie gleichgültig und fast wie Roboter diese Staatsterroristen sind, wenn sie gefangen werden, wirken sie wie in Trance, als wären sie gedopt. Auch C. selbst und seine Komplizin wirkten wie unter Drogeneinfluß: hatten sie schnell eine Droge geschluckt, um eine gute Figur abzugeben? Das Gesicht zu wahren, denn das Fernsehauge war ja andauernd dabei. Alles geschah live, auch die letzten Minuten des Paares live. Aber einer, der so ausgeklügelte Irrenhaus-Foltern anwenden läßt, wie der Diktator, raffinierte westliche Luxusprodukte und Pornofilme besitzt, hat auch "sportliche" Dopmittel, um der elenden Psyche aufzuhelfen. War nicht auch ihre Flucht wie das Drehbuch eines Gangsterfilms, mit zweimaligem Wagenwechsel? Von Kojak abgekupfert? Als hätten sie sich mit ihrem Leben selbst simuliert, schlechte Romanfiguren.

 

Ceausescus Luxusvilla in Floreasca. 40 Zimmer. Das hohe Paar wohnte hier allein, auch die Kinder durften hierher nicht kommen. Wände aus Marmor, Goldhähne die Wasserhähne. Und das Klo. Zu dieser Villa soll es unterirdische Straßen geben. Nicht nur das noble Bett in den 40 Zimmern, sie sind ja die Königin und der König, sondern auch teure Pelze in den Schränken, 80 Seidenpyjamas, 365 Anzüge, für jeden Tag einen. Teure Bilder aus den Kunstgalerien, natürlich "geliehen", d.h. gestohlen. Eine Bibliothek mit besonderen Büchern: zentimetergroße Buchstaben für den Analphabeten. Besucher mußten sich einer Speichel- und Blutkontrolle unterziehen, um den Gott nicht anzustecken. Kaum auszumalen dieser Kitsch, die größte pornographische Sammlung des Landes hatte dieses Paar.

Und Nicu, der Sohn, über den es die meisten Legenden und Gerüchte gibt: aß Austern, heißt es, pisste dann auf die Schalen und vergewaltigte anschließend die Stubenmädchen. "Casa Primáverii". 200 Leute bedienten das Haus. Gärtner, Köche, Kammerdiener, Chauffeure, Sekretäre, Sicherheitsleute, Boten usw. So leben die Führer des Proletariats. Eine Art Minigöring, der ehemalige Aktivist NC. Pornohefte gebunden, mit Gold verzierte Buchdeckel, Blut, Gewalt. Sex und Crime im Hirn? Man denkt an Saló, an D`Annunzios ekelhafte Villa am Gardasee. Parvenüs. Der Diktator ließ heimlich von der Secu seine Kinder beim Sexualakt filmen. Badete nur in Mineralwasser, das eingeführt wurde, das einheimische Borsek war nicht gut genug, es ging wohl um die Jungerhaltung der Haut. In Tankwagen wurde das Trinkwasser mitgeführt, wenn er auf Reisen war; wie bei den römischen Kaisern gab es Vorkoster und Vortrinker, um Giftattentate auszuschließen.

Heute ist Altjahr letzter Tag, und die italienischen Zeitungen bringen Bilanzen von 1989. Die rumänischen Ereignisse wie immer vorn im "Corriere", in der "Repubblica", wir fahren schnell hinunter zur Pieve-Bar, wünschen noch Buon anno, kaufen die Zeitungen, gehn im Garten in die Sonne, das Meer glänzt.

Gestern abend Gequatsche über Hund und Haus und Gefresse und Rezepte, während im Fernsehen die Massaker gezeigt wurden.

30.Juli 1992. Der Countdown läuft! Unser Leben bewegt sich wie zwischen zwei Mühlsteinen: Vergangenheit will nicht vergehen, sie ist nun nach dem Ende der schönen Gleichgewichtsklammer "Kalter Krieg" aufgebrochen, und eine Zeitbewegung geht weit in die Geschichte und noch weiter zurück. Eine andere Zeitbewegung rast in eine Zukunft, der unsere Wahrnehmungen nicht folgen können. Zwei Bewegungen überkreuzen sich: die zentrifugale in die Vergangenheit, zerfallende Staaten und Imperien, Landkarten wie um 1918, haßgeladene Identitätssuche; die andere zentripetale Zeitbewegung erzeugt Welthandel und Staatenbünde, aber auch jene hochgerüsteten Waffensysteme und unvorstellbaren Möglichkeiten der Technik, die, miniaturisiert, schon auf dem Trödelmarkt in Moskau oder Budapest zu kaufen sind. In Schließfächern Plutonium, in einem Bahnabteil erster Klasse ein kleiner Raketenkopf. Haß, der SO explodieren kann! Kreuzung der beiden Zeitbewegungen, der beiden Entwicklungen, dies ist der eigentliche Sprengstoff der Epoche, unfaßbare Polychronie in Ost, West, Süd und Nord, Astrophysik und gleich nebenan die Steinzeit.

 

31.Juli 92. Ich stehe in Pisa auf der Piazza dei Cavalieri vor der Scuola Normale, im Rücken der Hungerturm des Grafen Ugolino, Hungertod, damals fast "privat"; kein Grauen mehr, wir sind "abgehärtet", die alte Bestialität, an die die Militärkirche Santo Stefano mit Galeeren (hier nun schon als "Kultur" erinnert), ist wie ein grausames Märchen; in Bosnien werden Kinder lebend ins Feuer der wiedererstandenen Öfen geworfen.

Mittagessen im Restaurant "La Grotta" mit Mario Pezzella, Hochschullehrer an der Scuola Normale. Unser Gespräch dreht sich um die neuen Terroranschläge. Die Mafia und - die Schulkinder sind aktiv. Einem Afrikaner wurde unter einer römischen Brücke von Halbwüchsigen die Haut abgezogen. Pezzella erzählt, daß bei seinen Studenten die Ausdrucksfähigkeit, ja die Worte für Dinge fehlen, die sie fühlen. Wortmarken werden hin- und hergeschoben. In Deutschland heißt das: Super. Total gut.Oder: Scheiße. Spracharmut aus Mangel an Gemeinschaftsformen des Zusammenlebens. Es ist nirgends so schlimm, wie in den Familien, wo oft die einzige Verbindung zwischen den Eltern und Jugendlichen das Spickbrett in der Küche ist. Was außen geschieht, wird gekonnt formuliert, aber für "Zustände", Erregungen, persönliche Wahrnehmungen gibt es keine Sprache mehr.Rasch auftauchende und wieder verschwindende Reflexe,Gefühle, Weltfetzen, die sich nicht binden. Daher kann heute auch niemand mehr erzählen, wie noch unsere Eltern und Großeltern.

Wir sprechen darüber, daß heute nichts mehr "wirklich" ist, alles nur Vorführung, Theater, die Welt ein Gespensterwerk. So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berührten, damit auch Fülle. Heute stellt die arme Künstlichkeit auch die Alltagswelt her: Verkehr, im Wohnzimmer elektronische Haustiere, im Büro der Computer, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvorgänge, in der Liebe Aids. "Draußen" AKW, Raketenkriege, Satelliten. Aber in der Familie, in der Politik, im sozialen Leben, in der Wirtschaft, und im Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so gehandelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.

 

2. August. Mit all der alten Sprache und Begrifflichkeit ("Marktwirtschaft" etc.) wird die Tragödie zugedeckt, die zunimmt. Zumauern der letzten Reste des gefühlten Lebens, Resultat: Terror, Haß, Mord, bei wachsender Kälte, Gleichgültigkeit, Kommunikationsunfähigkeit, Liebesunfähigkeit. GELDGIER, Warengier, "Güter" zum bequemen Leben. Katastrophe der jüngeren Generation: Die Leere, entlädt sich in Gewalttaten, barbarische Umkehrung der Zeit, Aufstand der Sinne und Instinkte, der pervertierten Gemeinschaft und "Kameradschaft" als wärmendes tierisches Nest: Faschisierung überall in der Welt. Tabula rasa auch im Osten: Hier war die zerstörte Übereinkunft durch eine ideologische Höllenmaschine ersetzt worden, die alles zusammenhielt,auch als Moralersatz funktionierte, sie kam aber so sichtbar auf den Hund, wurde so tiefgreifend als Verbrechen entlarvt, so daß das dazugehörige "System" wie von selbst verfiel.Und: Hoffnung, Entwicklung, Zukunft sind so deutlich widerlegt,daß jede Gesellschaftsordnung, jedes Denken, das sich darauf beruft, fallen muß.

 

10. September 92. Der EINFALL aus dem noch Unerkannten, Unverbrauchten, ja, noch "Unbetretenen" scheint heute möglich geworden: Ich suche Fakten, ich versuche an Ereignissen, an Berichten etwas "abzulesen". Plötzlich wird mir klar, daß ich überall "vor Ort" sein müßte, heute im Zeitalter der weltweiten Vernetzung "vor Ort"? Fakten, selbsterlebt, um sich ein "Bild" machen zu können, keine abgehobenen Theorien mehr, alles Gesagte müßte mit Selbsterlebtem eingelöst werden, gedeckt sein.

 

Ich erinnere mich an ein Buch, Richard Rortys "Kontingenz, Ironie und Solidarität", Frankfurt/Main 1991, das den noch uninterpretierten Ereignisaugenblick als Non plus ultra für ein neues Weltverhältnis preist, Zeugenbericht, Erzählung ("Oralhistory" kannte man ja schon lange) als Quelle der Erkenntnis. Überraschung, der offene Augenblick, keine schützenden Gedankengebäude, keine zugerichteten "Nachrichten" mehr. Das Erkennen des Unbegrifflichen ist heute wichtiger als zugreifende Theorie, Dichtung ist heute wieder wichtiger als Philosophie. Rätsel der Einmaligkeit, des Details. Und dieses geht freilich noch weiter: der Einzelne, Millionen Einzelne haben ihr "Naturrecht" gefordert und so die Welt verändert, wider das Machtsystem der tödlichen Abziehbilder von Welt als falsche Heilslehre: Das Rätsel der Zukunft ist unfaßbar; die ganze alte Literatur und Geschichte ist von Propheten und Orakeln bestimmt.

 

 

 

 

III

 

1. Oktober 92. Mein Hunger nach selbsterlebten Menschen und Fakten nimmt zu. Der Bruch zwischen Selbsterlebtem und Information ist schmerzlich, sie können nicht mehr miteinander kommunizieren, ähnlich wie unsere Ratio nicht mehr mit dem Unbewußten, mit den Träumen schon gar nicht mehr spricht, die Verbindung ist abgerissen; ich versuche sie wieder herzustellen. Und sie ist auch meist da - während des Schreibens.

Ich erinnere mich an eine Reise kurz nach dem Fall der Mauer: ich wollte die aufgehobenen Grenzen sehen, sie mit Händen greifen. An der alten DDR-Grenze im Thüringer Wald stieg ich aus dem Auto, sah mir die von wütenden Anwohnern zerschlagenen Grenzanlagen an, die mir früher diese Angst eingejagt hatten, billige "Plaste", Wellblech, Holz, viel Beton, viel Stacheldraht, der häßliche Wachturm mit den zerdepperten Scheinwerfern. Ich stieg über den Zaun, um mir das verbotene Gebiet anzusehen, die Wohnräume und Amtsstuben, die ebenso demoliert und trostlos waren, wie die Rampen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir, ich erschrak, als wäre ich ertappt und gestellt worden; ich wartete in einer endlosen Sekunde auf das "Halt oder ich schieße!" Dann erwachte ich in der Gegenwart, sah mich um und in das lächelnde Gesicht eines andern neugierigen Besuchers. Nur ganz an der Oberfläche ist unser Bewußtsein mit den Ereignissen mitgekommen, das Unbewußte aber bleibt zurück. Das Unvereinbare erzeugt Verrückungen im Bewußtsein, irre, schockartige Traumzustände, die ins Wachbewußtsein einbrechen, mich bei Reisen in den Osten heimsuchen.

 

Prag, 20. Oktober 92. Auf einem der umliegenden Hügel ist anstelle des früheren großen Stalin-Denkmals eine riesige Uhr mit Glockenwerk aufgestellt worden, das unaufhörlich in einem, rotgestrichenen Glockenstuhl die neue Zeit verkündet. Dieses Kunstwerk im Freien mit einem herausragenden Arm und dem auf Metall schlagenden Klöppel, wirkt wie eine gefährliche Höllenmaschine, und man wartet unwillkürlich auf den nächsten Schlag, zuckt zusammen, und bald wird der metallisch in den Ohren erklingen. Die im Standbild arretierte Zeit fließt wieder, dachte ich. Die Uhr jedoch paßt nicht mehr zu jener Welt, die: so der Schein jetzt: im Osten begonnen hat, denn nicht die alte Normalität der Uhrzeit, sondern die Computer-Zeit bestimmt, was geschieht: Atomräume, Informationsräume, Konstellationen. Es heißt, Coca Cola habe vor, hier ein Reklame-Satellitenbild aufzuziehen, so werden wir am Firmament Nacht für Nacht in der Milchstraße die SCHRIFT der FIRMA leuchten sehen.

 

21. Oktober 92. Es war unser letzter Tag in Prag gewesen, Prag und schon gewesen, Etwas enttäuscht also unter diesen Umständen, fuhren wir in Richtung Dresden weiter; Dresden aber war jetzt viel näher, vergangen und doch ganz anders nun wieder wirklich alt und wie früher "da." Es hatte seinen verrotteten Ausnahmezustand verloren. Dresden also dann, und natürlich der Zwinger, der Zwinger freilich. Am alten Schloß ein Andenkenstand, Fotos, Postkarten über das große Dresdner Unglück; das ebenfalls nie vergangen sein wird. Die Toten. Etwa eine Million Menschen gab es am 16. Februar 1945 in der Stadt, 135000 starben in jener Nacht. Tote, die wieder hören und sehen.Und es gibt viel aufzubauen und zu reparieren in dieser Stadt. Vergangenes als Zukunft wartet.

Jetzt im Zwinger wieder keine Kunst, keine alten Meister, keine Porzellane, vorlieb nehmen mußten wir mit dem Staatlichen Mathematisch-Pysikalischen Salon und dem Münzkabinett. Wobei ich mich vor allem an den Kunst & Automatenuhren nicht satt sehen konnte; Jann aber musterte sie kritisch, etwas gelangweilt; ob ich denn den riesigen Unterschied zu den Prager Kabbalisten oder zu Abulafia nicht sehe? Ich wollte sie dahingehend belehren, daß der Computer die Zahlenmagie ja weiterführe, sie aber winkte ab und setzte sich auf einen blauen Sessel vor eine Vitrine, in der eine runde, trommelförmige Tischuhr mit aufgesetztem Weckwerk von 1527 aus Prag zu sehen war, die ich sehr poetisch fand (rundes Skelettwerk und zifferblattseitige Vollplatine aus Eisen, die Werkteile schön verstiftet, Federhaus sowie Schnecke aus Messing mit Darmsaite, und die Spindelhemmung ursprünglich mit Waag (Foliot) als Gangregler). Jann las lachend den böhmischen Spruch darauf: ESS KUMBT DIE ZEIT DU MUST DARVON DU HABST GUCT ODDER BES GEDAN. DA MAN ZALT 1527 JAR DA MACHT MICH JACOB ZECH DAS IST WAR.

Jann blieb auf dem blauen Sessel sitzen, müde des Messens, als ich weiter zu den großen Fernrohren ging und andere Messgeräte in Augenschein nahm, Maße und Gewichte, englische Maße, alte, sogar ägyptische und syrische Maße, Meter, Zoll, Kilo, Elle, Gramm, Dezi usw., falsche Garantie der Garantie, Waagen, und arbeitet doch mit den okkulten Qualitäten der Zahlen.

Vor der Ruine des Schlosses eine Fotowand, eifrig kaufende Touristen, in allen Größen Februar: der Versuch, Dresden auszulöschen; ein Engel ist noch heil, sieht vom Rathausturm auf die ausgebrannten Mauern, die geschwärzten Fensterhöhlen.

 

NACHTS. Lebhaft geträumt. An diesem Abend ließ ich mich von einem Taxichauffeur, der mir ein "Abenteuer" versprach, verführen, die neue Unterwelt kennen zu lernen. Der Chauffeur flüsterte: Die haben alle keine Arbeit, und sie verkaufen auch Liebe und Tod; "Wiedervereinigung", mein Herr. An der Ecke eine schäbige Kneipe, davor einige gestiefelte und kurzröckige Huren mit ihrem: "Na, Kleiner." Trübes Licht drinnen. Abfall ringsum, abgeblätterte Fassaden. Eine Vorstadt irgendwo im Osten. Jedenfalls wäre der Mann mit der Haetera Esmeralda hier jetzt völlig unbrauchbar, auch wenn seine Zeit, die Stunde Null, wieder einmal geschlagen hat, so möchten es jedenfalls die neuen Machthaber. Eine der Dirnen, eine Ältliche, war mir gefolgt, sie setzte sich an den Schmuddeltisch sehr neben mich. Und vom Nebentisch luchste einer, der wie ein Handwerker gekleidet war, zu mir herüber: Seht, das ist der Weihnachtsmann. Fehlt dir was, Weihnachtsmann?

Ein anderer, ein kleiner Dicklicher, schien`s als Stichwort zu nehmen, seine intelligenten Augen blitzten, er wisperte asthmatisch: Ein schönes Paar!

Und der Dickliche hatte einen groben Sack dabei, holte gleich einen Gegenstand halb raus, zeigte ihn vor; entsetzt wich ich zurück. Und die Hure neben mir schrie auf.

Na, gefällt er dir nicht, Mann? Immer nur schöne Geschichten erzählen. Hab da was Wirkliches ... Hab da eine Auswahl, einige Exemplare aus Buchenwald, vielleicht ehemalige Politkommmissare oder Rote vorn, ist ja jetzt erlaubt, keine Angst mehr, die Zukunft muß aufgearbeitet werdn; einige Exemplare auch aus der Nähe hier, Völkerschlachtdenkmal, leider nicht direkt ein Napoleon, aber vielleicht ein alter Russe, und manches gibts noch aus den Bombennächten unter dem Schutt. Alle Größen und Lebensalter, alle Farben, einige noch mit Haar und Zähnen. Bewegliches Gebiß, garantiert haltbar. Dieser da aber, das ist was besonderes: vom alten Judenfriedhof. Ein MEMENTO MORI für das neue Heim. MITTEN WIR IM LEBEN SIND/ VON DEM TOD UMFANGEN.

Pardon, teuer ist die Sache nicht, 200. Bei zweien gibts Rabatt. He, Alex, noch einen Klaren.Bin leider nicht flüssig, nimmste den Klugen da in Kommission?

Schön Mann, sagt der, doch bei der Auferstehung wird der eingelöst, bin dann der Gelackmeierte. Woher haste den wieder, schlägst sie wohl alle selber tot?

Nein, Mann, ich arbeite doch beim Tiefbau, sozusagen, und Friedhofs-Transport unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Umbetten, wie es in der Sprache der Hinterbliebenen heißt, und sind wirs etwa nicht. Ich bin ein Hinterbliebener, klar, und ich bette um. UNDER BLOUMEN UNDER GRAS. Arbeiten nachts, unter Alkohol wegen der Infektionsgefahr. Sieht zur andern Hur am Nebentisch rüber; GRAUT LIEBCHEN EUCH VOR TOTEN? Wir werden doch alle später diese sein. Was ists Gewimmer, oder was sind schon vierzig Jahr, gar tausend Jahr angesichts des Ewigkeits- Immer, aus dem wir kamen?! Was kann ich tun? Freund, arbeitsloser Historiker von der SED- Journalistenschule, die ham mich abgewickelt, bis nichts mehr von mir übrigblieb, eine alte Drahtspule, kennst Odradreck wohl. Nichts also, Genosse Freund. Da vergehn dir alle Ideale gründlich, die die alten Kameraden noch übriggelassen ham. Brüder zur Sonne zur Freiheit. Ein Fehler in der Periodisierung, Tausendjähriges Reich neu, oder vierzigjähriges alt, begreifst du das? Nun bin ich historisch auf den Friedhöfen der Wiederbereinigung tätig , Kamrad Gosse. Und nun scheint mir der theologische Aspekt der Schädel unwichtig, auch das Gift der Verheißung, und das Goldene Zeitalter hinter uns, hinter der Mauer. Die Zeit wird sich jetzt wirklich auflösen, das könnt ihr mir glauben: Ob 1592, 1789 oder 1918, 1941 oder 1945, 1956 oder 1968, 1984, 1989 oder JETZT: es wird ein KRIEG DER ERINNERUNGEN sein. Jauchzen aber wäre ein Fehler: zurück, Zorn muß bleiben, und der dauernde Abschied ist da, das Modell...

 

Wir blieben nur einen Tag und eine einzige Nacht in Dresden, mieden diesmal Weimar und Buchenwald und fuhren über Karlsbad und Marienbad ( Museum: eine schwarze Binde und vergilbte Briefe der Ulrike von Levetzow, Marienbader Elegie), dann über Stuttgart, Singen, Zürich südwärts in Richtung Lucca, nach Agliano, in jene Gegend, wo ich wohne, aber nicht zu Hause bin.

Meine Hoffnung, jetzt wieder nach Hause kommen zu können, jetzt endlich: nach dem Fall der Diktatur, erfüllte sich nicht; ganz im Gegenteil, die Unwirklicheit, die Fremde nehmen überall, vor allem aber im Osten zu.

 

23. Oktober 92. Auch in Ostdeutschland gibt es dieses Gespaltenseins zwischen der "neuen" Außenwelt, die alle zu "Fremden" im eigenen Land macht, und den "alten" Bewohnern. So schrieb Elke Erb (in "Neue Literatur, Bukarest, 1991): "Wie blickt die vertraute Umgebung auf uns?/ Anhänglich? mitfühlend? Fremd? Schon vergessen?// Wenn du noch sitzt, auf dem Sprung, schon fort/ bist im Grunde, wie blickt der vertraute// Umkreis vorm Tausch mit dem Fremden.../ Reißt du die Fäden kurzerhand ab?/ So gut angezogen sieht so gut aufgelegt aus!/ So präpariert sieht so proper aus!/ Reißt du die Fäden/ ab bis zur Wiederkehr,/ bis du sie wieder aufnimmst.../ Langhin in das gewechselte Sortiment? Wickelst um dich,ein Kokon?// Um dich etwas Heimat-/ Verbundenes im Fremden, wie Heimat/ etwas wie Haut?// Ach, es geht schon, es geht, man knüpft auch/ Verbindungen neu..."

 

Die Unzahl und Masse der inneren Zeit, die gesammelten Innenräume von Millionen, die die Aufstände im Herbst 89 noch möglich gemacht hatten, sind jetzt wirklich zerstäubt. Nach außen war die Gemeinsamkeit sowieso nur Illusion, Produkt des Druckes, nicht persönliche Entscheidung. Die bisher gemeinsame Diktatur-Erfahrung ist jetzt unbrauchbar geworden. Und der Einzelne, der im Alleinsein erhöht war, sich als Opfer sah, ist in seine eigene Unmöglichkeit und Tristesse der unendlichen Mauerlosigkeit und Wüste, die das Leben heute "wirklich" ist, entlassen; ein Zustand, den nur Naivlinge Freiheit nennen können.

 

25. Oktober 92. Der neue Zustand des Verlustes bisherigen Lebens ist wie ein Todeszustand; nichts mehr gilt. Da ich am eigenen Leib und Leben beide Systeme, Ost und West, erfahren durfte, den schmerzhaften Umbau der Psyche und eine neue Sozialisation im Erwachsenenalter mitmachen mußte, glaube ich ahnen und nachfühlen zu können, was mit einem ganzen Volk, ganzen Völkern nun geschieht: Millionen sind zwar zu Hause geblieben, nicht emigriert, sie werden aber im eigenen Haus enteignet und zu Fremden gemacht. Es geht ihnen so, wie uns Emigranten als wir in den Westen kamen: wir hatten mit einem Schlag zwei Länder verloren! Das oft mit Schuldgefühlen verlassene, und das neue, den bisherigen Ort der Sehnsucht, nun, ein unter Hohngelächter verlorenes Paradies.

Der Chock für diese "kollektive Emigration" ganzer Völker, ist groß, ja, verheerend. Als könnte man mit der bisherigen Erfahrung gar nichts mehr anfangen.

Im Osten gab es bisher einen genau definierten Feind, der sichtbar war. Und eine Hoffnung, zum Feind dieses Feindes zu kommen, mit ihm paktierte man auch heimlich. Jetzt gibt es nur noch diesen. Und nun erweist sich, daß er gar nicht unser Freund ist, im Gegenteil, daß er im Tabula rasa nun mit den negativen Eigenschaften des alten Systems auch seine positiven wegwischt, eine wilde Freiheit einsetzt, wo nur noch Masse und Geld gilt, das was der bisherige Feind ständig entlarvt hatte, jetzt gelebt werden soll: der krasseste Materialismus und dazu noch der Egoismus. Aber der neue Feind ist schwerer zu fassen, er tritt als Wolf im Schafspelz auf .Und man ist desorientierter denn je.

 

2.1. 1990. Eine seltsame Zeitverschiebung in meinem Bewußtsein, die den Eindruck hinterläßt, als vergehe Zeit gleichermaßen sehr rasch und sehr langsam: alles in Einem, und ob dieses nun nähergerückt ist? T. rief mich an, er war in Temesvar gewesen. Immer noch werden Tote gefunden, Gräber entdeckt. Trotzdem ist die Stimmung gehobener. Die Leute sehen nicht mehr so grau und trübsinnig und müde aus, ihr Gang sei nun freier, stolzer. Man hat seine menschliche Würde, die innere Sicherheit wiedergewonnen, sagt T. Schlangen werden geduldiger ertragen. Und jetzt gibt es auch Schlangen vor den Kiosken. Die Leute sind politisch interessiert und neugierig, sie wachen wie aus einem langen Todesschlaf auf.

Zu Jann sagte ich, nun habe ich mich selbst überholt. Wieso, fragte sie. Nun, jener, der sich zurückgezogen hat, der im Inkognito lebte, in aller Ruhe, wo Zeit noch das Leben der Seele war, wird von meinem neuen Bewußtsein ausgeschaltet. Nun kommt von außen der Zeitwirbel, dem steht jener alte, sicher angenehmere Zustand entgegen, seine Grenzen werden aber aufgelöst, und er kommt schutzlos in den Sog, vermischt sich damit, kommt da neu und völlig verändert, voller Unrast zum Vorschein.

Wir erleben diese Entlarvung jeden Augenblick als kleinen Irrsinn im Voranrücken der Sekunden und als Zurückbleiben der Gedanken. Ich "stehe" in solchen Augenblicken an der Grenze, ich habe Schwierigkeiten, den äußern Bildern nachzukommen. Entscheidende Täuschung im Kleinen, im Großen aber, die nun zur Ent-Täuschung wurde, klassisch schon:

Der blinde Faust hält die Geräusche der Lemuren beim Graben seines eigenen Grabes, für das Geräusch, das die Arbeiter machen, um den Kanal zu graben, bald "mit freiem Volk auf freiem Grund" zu stehen. Das haben zu viele allzulange geglaubt.

 

Können wir auf eine in der Erfahrung noch unentdeckte Paradoxie hoffen, daß es eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart ist, da die Vergangenheit vor uns liegt und die Zukunft, die in der Gegenwart eingeschlossen war, hinter uns?

Und nun der neue Wirklichkeitssinn? Auch er in aller Einsamkeit und neuem Ausgeschlossen-Sein schon alt und bekannt.

In Kafkas Schloß lese ich: "Da erschien es K., als habe man nun alle Verbindungen mit ihm abgebrochen und als sei er nun freilich freier als jemals und könne hier auf den ihm sonst verbotenen Ort warten, solange er wolle, und habe sich diese Freiheit erkämpft, wie kaum ein anderer es könnte, und niemand dürfe ihn anrühren oder vertreiben, ja, kaum ansprechen; aber - diese Überzeugung war zumindest ebenso stark - als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses Warten... "

 

26. Oktober 1992. Eine Epoche ist zu Ende gegangen. Manche meinen, es sei das Zeitalter des Begriffes, die naive Verwechslung der Welt mit ihrer Benennung, worauf auch jene Halluzination als "Realität" beruht: eine von Geräten, Begriffen und Namen simulierte Außenwelt, zusammengehalten vom Geld; doch pardon, nicht die Namen, die "Markennamen" bestimmen, was sein soll und zu sein hat! Und diese "Realität" wollen uns die neuen Ideologen der Anpassung heute als einzig mögliche aufdrängen: es ist das platt Vorfindliche, das jetzt DIE "Realität" sein soll, und dieses hat da wider jeden Veränderungsversuch angeblich gesiegt, soll weltweit als "Modell" dienen . In der edlen Tiefdruckbeilage der FAZ (2.Nov.91) wird der neue Anpasser-Zeitgeist gefordert: "Es gibt kein falsches Leben mehr, das nicht `ins richtige` eingeholt würde. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus..." Anstatt der Namen, nun die "Markennamen", "die Welt ist nur noch durch Markennamen zu erkennen." "Banken vertreiben Ethik-Founds genauso wie Kunst-Fonds..." Die Wirtschaft integriert "immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens," der "öffentliche Diskurs aber (folgt) immer mehr den Spielregeln der Markenkommunikation." "Nur eine Kritik ist noch möglich: der Warentest." Wirtschaft, "Umweltschutz, Literatur, Gastronomie, Philosophie, Wissenschaft, Ethik, KRIEGSKUNST und Stadtplanung - die engste Kommunikationsgemeinschaft." Und das Fazit: "Bei aller Vielfalt gibt es keine Zerrissenheit mehr. Wer da noch unzufrieden ist, dem kann niemand helfen." Na also.

 

Wenn wir nach Nietzsche ("Unzeitgemäße Betrachtungen") monumentale, antiquarische und kritische Geschichtsschreibung als Typus annehmen, ist letztere scheinbar gescheitert. Doch wieder ist es eine Sache der Perspektive, mit welchem Typ man sich verbündet. Und ich will mich mit der Wahrheit des Chocks und der Querschläger weiter verbünden, während die "Sieger" das "Ausmalen" möchten, eben des Details, den beschränkten Horizont des "Antiquarischen", Kleinen, Regionalen, Landschaftlichen - man sieht, wohin das im Südosten führt. Nach Nietzsche ist dies "in Moderduft gehüllt", auch wenns noch so neu marktwirtschaftlich glänzt, als Mercedesstern leuchtet. Sie will "nur" Leben sein, diese antiquarische Geschichte, eigentlich kann ihr Geschichte gestohlen bleiben, es gäbe sie ja gar nicht, würden wir das vorhin Zitierte mit der Macht der Markennamen als letzte Wirklichkeit akzeptieren, als wären wir schon im Paradies der ewigen zukunftslosen Spießer! Ich plädiere für Geschichte im Dienste der Unterdrückten, der Mühseligen und Beladenen, und diese dürfen über sie zu Gericht sitzen. Immer nur im Interesse der Besiegten, die noch etwas zu gewinnen haben, nie der Sieger, die einfach nur das, was sie schon haben, behalten wollen. "Über Sieg und Niederlage wird erst im nachhinein entschieden, und das heißt: Diejenigen, die Geschichte schreiben, entscheiden zuletzt über diejenigen, die Geschichte machen". (Konersmann). Sehr tröstlich, denn "alles Geschehen vollendet sich in seiner Interpretation". Nur "dem, der eine gegenwärtige Noth die Brust beklemmt" hat ein "Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurtheilenden Historie", sagt Nietzsche.

Dabei ist es wichtig , ob man zu den Siegern oder zu den Besiegten gehört. Ich gehöre sicher nicht zu den Siegern (und befinde mich da in bester Gesellschaft von Thukydides bis Marx), spüre es auch täglich, sogar im Haus mit Jann, die sich als Westdeutsche zu den "Siegern" zählt, ich spüre diese Niederlage in den Gesprächen, in dem; was ich schreibe. Der Beweis bei den Siegern ist der Erfolg. Unsereiner aber steht in Beweisnot. Die Geschichte ist anders verlaufen, als erhofft. Nun aber wollen pötzlich alle zu den Siegern des "Alles- ist- so- wie- es- ist" gehören. Weiter: Auch ob einer zur Handlungseinheit gehört, über die er berichtet, ist entscheidend für seine Perspektive.

Und als Emigrant und Zwischenschaftler gehöre ich nicht mehr dazu. Lukian freilich verlangt, ein Berichterstatter müsse außerhalb stehen, müsse apolis sein, um besser sehen zu können.

 

Bukarest, 3.Januar 1990. Schon gibt es Schlangen vor Kinos, Theatern und Konzerten. In den Schaufenstern Kaffee, Südfrüchte, Fleisch. Zwei Mädchen vor dem Atheneepalace binden einem Lämmchen ein Trikoloreband um den Hals. Es ist wohl Mioritza, das prophetische Lamm mit dem weißen Flaum. Revolutionskitsch und Trikolore. Die neuen Gefühle sind alt. Schnee liegt auf den Tanks der Armee.

 

4. Januar 90. Zeitung, Radio, Fernseh-Nachricht fälschen den Zusammenhang, die Ereignisse werden immer noch nach altem Muster zusammengesetzt. Sie müßten nach dem Prinzip einer unbekannten Zukunft gesehen werden, das aber könnte nur der Liebe Gott, der tot ist, für uns jedenfalls war er bisher tot.

Der Versuch, in die Wirklichkeit durchzubrechen; ist von der Hochstapelei des künstlichen Bildes eingeholt worden; doch wohin sollen die Millionen Menschen durchbrechen, in welche "Wirklichkeit", "draußen" irgendwo außerhalb des zerschlagenen Systems ? Irgendwohin in eine Wirklichkeit, die nach 45 Jahren der Leere nun auf die Leute wartet, parat liegt, plötzlich wie mit einem Zauberschlag da ist?

 

5.Januar 90. Am Hafen von Viareggio. Auch im Auto höre ich andauernd Nachrichten und Kommentare. Nachrichten verwandeln sich mehr denn je in Gefühle.

Das Exil ist aufgehoben. Sogar die Kindheit ist befreit? Des Diktators Leistung: - ein Vakuum geschaffen zu haben, - jetzt strömt es in diesen enormen Sog ein: Eliade gehört wieder dazu. Und Cioran, der das Negative liebt, die Absenz zu schätzen weiß, die ihm nun wieder zum Weg ins ehemalige Zuhause verholfen hat, ins "Walachische Nichts".

6./7.Januar 90. Fahrt nach Florenz, um mit Francesco und Luigia meine Gedichte über den Maler Carlo Mattîoli zu übersetzen. Keine Lust an der Landschaft. Mit Jann ein wichtiges Gespräch. Gemeinsames Nachdenken über das, was jetzt geschieht, die neue Lage muß durchdacht werden. Jemand hat es richtig ausgedrückt: Soviel Anfang war noch nie. Wir sprechen darüber, Jann gibt mir gute Tips.

Wir sprechen über die falsche AUTONOMIE und das MAUERN, es ist wider die Natur, ich kenne es, habe es nach innen und nach außen erfahren: die TOTALITÄRE SEELE, sie ist abendländischer Provenienz. Als erstes ist nun ihr Extrem im Osten gefallen. Damit auch das ideologische Zeitalter, das Abblocken des geschichtlichen Prozesses, des offnen Augenblickes; wieder im Kopf gefangen, anstatt die Berge im Autofenster zu sehen; in uns ist es das enge Ego-Fenster, diese Vergiftung durch Kopflastigkeit, durch ständiges PLANEN, ein Sich- nicht Öffnen-Können aus mangelndem Vertrauen in die Kräfte, die uns tragen, Kräfte, die im Hirn, in den Atomen, in jedem Grashalm, in den Sternen wirken. C.F. von Weizsäcker sagt, Heidegger habe daran gelitten, daß das Denken im "Ge-Stell" angekommen sei, die Welt als Systemteile. Ich habe Weizsäckers Buch dabei und lese Jann die Stelle vor: "Diese Wahrheit ist zugleich Unwahrheit, denn die als selbständig vorgestellten Teile... sind selbst Produkte des Begriffs... Das Zutrauen in die Sicherheit durch Planung... ist ein Mittel, der rettenden Wahrheit den Zutritt zu verwehren."

Und nun bin ich schon wieder vom eben gelebten Augenblick weit entfernt: Die Landschaft bei Florenz ist wunderschön, Wie eine Fata Morgana in der Ferne die Wolkenschichten , wir kommen aus einem Tunnel, die Sonne blendet; und wie eine Parodie kommen mir die Gedanken dazu vor, die alle Zypressen draußen nun überlagern, und ich sehe sie nicht mehr, auch die alte Burg nicht:

Die Intelligenz des offnen Augenblickes zählt, sage ich, die Intelligenz des Unerwarteten, die Gnade erfüllter Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die sich als Überraschung wie neu und unverbraucht zeigt, aber nur dem begegnet, der bereit ist für sie, sich nicht dauernd sperrt. ( Und genau diese Worte sperren mich aus). Ich kenne es, kennst du es nicht auch - diesen schmallippigen, verkniffnen Arbeitseifer, Terminkalender, Verplanen des Lebens, sich absichern. "Apperzeptionsverweigerung" nannte es Heimito von Doderer.

 

12. Januar 90. Fahrt nach Rom, um meine Bildmeditationen zur Sixtinischen Kapelle weiter zu schreiben. Der erste Band ist schon da, der zweite wird bald erscheinen. Seit zwei Jahren lebe ich mit diesen Bildern. Und nun wird auch die Sixtina von den Ereignissen neu interpretiert; vor allem das Ereignis hinter der Altarwand, diesem Grenzstein der Welt: Das Jüngste Gericht wird plötzlich aktuell. Luigia, die Analytikerin aus Florenz, hatte mir geschrieben, sie lese jetzt in meinen "Vaterlandstagen," und zwar mit dem Bewußtsein von heute, im Kopf der Aufstand. Und sie denke an meine geplante Heimkehr, die jene im Buch umkehre. Und jetzt begreife sie, weshalb die Grenzen zwischen ich, du, er und sie fließend sein müssen!

 

Und dann der Horor von zu Hause: Im grünen Haus mit dem grünen Zaun in Temesvar leben schattige Gerippe von Kindern, wie in Äthiopien, sagt die Ärztin. Hungerkinder. "Zukunft der Nation... sie stellen den Kommunismus dar."Zitat von NC. Hier sind die abgelegten und kranken Menschenkinder. Sie wurden gezielt unterernährt, bis sie starben. Gerippe mit grauen Menschengesichtern. Krank, auch weil alle Frauen unterernährt waren, aber gezwungen wurden, Kinder zu haben. Alle 3 Monate die schamlose Untersuchung. Eine Securitate-Agentin war mit dabei, die Agentin von der "Menstruations-Polizei". Bis zum Jahr 2000 sollten 30 Millionen Untertanen dem Tyrannen zujubeln. Er war ja viel zu groß für solch ein kleines Volk, hatte seine Frau, die Vizepräsidentin ihm eingeflüstert. Wer abtrieb, bekam 4 Jahre Knast. Gebärsoll 5 Kinder. Etwa 500 Frauen starben bei Engelmacherinnen jährlich. Seit 1966 hinterließen sie etwa 20000 Waisen. Die Janitscharen, die Killerschwadronen Ceausescus.

Was wird mit den unterernährten Menschen? Den Schulkindern brachen die Knochen beim Turnen, ihre Aufmerksamkeit wurde immer schlechter, das Hirn funktionierte nicht mehr, weil sie zu wenig Vitamine und und zu wenig Kalzium hatten.

 

20. Januar 90. Symposion in Viareggio über Rumänien. EROTIK UND REVOLUTION. Eine gutaussehende Frau kam auf mich zu, wollte mir ihre Telefonnummer geben. Und über die vier Punkte: Revolutionen sind auch heute möglich, die Medien haben sie möglich gemacht, wir leben im Zeitalter der Öffnung, und was heute geschieht, bewegt sich an der Grenze unserer Vorstellung, zu debattieren. Ich machte mit ihr eine Begegnung für übermorgen aus; diese seltsame erotische Ausstrahlung, diese Erregtheit jetzt in einem Zeitwandel... Hat "die Geschichte" , in uns natürlich, tatsächlich eine Erektion? Alles will schneller weitergehn, als wärs Frühling und erwacht. Wie war das bei der Maueröffnung im November, da müssen eine Menge Wiedervereinigungskinder entstanden sein.

 

28.1. Andauernd Telefonanrufe. Loretta F. rief an. Ich hatte sie beim Symposion in Viareggio kennengelernt. Wir redeten eine Stunde lang am Telefon. Vieles läuft jetzt über Erotik. Es prickelt, "es" regt an, verjüngt. Die Beziehungen sind ausgeweitete Beziehung. Wir waren sofort in einem verlängerten Traum, einem Gesprächsinnenraum, der ent-scheidende Gefühlsdinge, auch meine Gedichte, meine Kindheit berühr-te. Und meine "poetische Religion." Ihr Ex-Mann von der Democrazia Proletaria, Stadtrat in Pietrasanta, will unserer Initiative vom vorigen Sonntag: dem Centro libero Poligrafico in Bukarest helfen. Unsere Freundin Anty rief im gleichen Augenblick an, als das Gespräch mit Loretta beendet war, ich aufgelegt hatte, Anty von Versileuropa. Wir sollen die Sache mit dem Polygraphischen Zentrum in Bukarest betreiben,sagte sie. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als sei nichts mehr Zufall, sondern stamme aus einem rätselhaften Bereich der vielfältigen Beziehung: Gedankengespinst und Emotionen. Musil hat seinen Roman auf solche änigmatischen Zusammenhänge aufgebaut, sie sind da, wenn man sich ihnen OFFEN aussetzt, Zeit "verliert"; jetzt ist der Moment dafür geladen.

 

4.2. 90. Ich stehe pünktlich jeden Morgen um sechs auf, um Radio zu hören. Ist das nun wirklicher, als die unmittelbare, inzwischen so abgestandene "alte" Olivenbaumumgebung?

MEINE ZONE KOMMT NÄHER. Ich sprach heute mit Dinu, unserem Bauern, der wußte über alles, was in Rumänien jetzt geschieht, gut Bescheid. Als hätte der Wechsel der Wirklichkeiten, der dort in der Ferne stattgefunden hatte, auch seiner Erwartung entsprochen, so daß chockartig eine neue Perspektive möglich wurde. Es ist kaum nur Neugierde oder Fernseh-Lust. Sie sind alle im Innern ihrer verschütteten Hoffnungen angerührt worden, es ist Mitleid, das offensiv werden kann. Sie hatten alle eine Sendung gesehen, in der über die Misere auf den Dörfern berichtet wurde. Besonders beeindruckt hat sie, daß die Leute nur 3 Hühner halten konnten, weil bei einem vierten die Abgaben an den Staat fällig geworden wären. Diese praktische Erwägung kam ihrer Erfahrung, ja, der ihrer Vorfahren so nahe, daß auch ihnen Rumänien wie ein Zeichen für den Schmerz der Armen erschien.

 

7.2.90.Wieder eine Aufnahme beim lokalen Radio. LEGENDEN. DIE ERFUNDENE WIRKLICHKEIT. Christina, die Bukarester Ingenieurin berichtet, sie hat sich ganz schwarz gekleidet, als wäre sie in Trauer. Wie Christina gibt es wohl viele jetzt; sie sei aus Bukarest geflohen, sie gibt sich als politischen Flüchtling aus, sie hätte Lebenslänglich riskiert, erzählt sie, wäre sie im Land geblieben. Warum geht sie jetzt nicht zurück? Sie glaubt inzwischen selbst an ihre Legende.

Ein anderer erzählt blumenreich von seinen Heldentaten. Ich erinnere mich an meine Unfähigkeit, früher als ich noch in Bukarest lebte, in diesem phantastischen Labyrinth der erfundenen Wirklichkeit mitzuhalten.

Es gibt mehr Gerüchte, Übertreibungen als Tatsachen in Bukarest, man kann keiner Nachricht trauen, die wichtigsten aber bleiben aus. Über die Zahl der Toten weiß niemand Bescheid. Einmal, beim Prozeß gegen den Diktator waren es 60 000, dann hieß es, dies sei die Gesamtzahl der Ermordeten, die der Clan auf dem Gewissen habe, es seien nur 7000 Opfer der Revolution zu beklagen, und jetzt sind es plötzlich nur etwa 760. Alles scheint manipuliert. Man spricht sogar von alten Toten, aus alten Gräbern ausgegraben, im Fernsehen vorgezeigt, um die Wut der Bevölkerung zu steigern, ihre Gefühle für die neuen Herren zu steigern, die nun als Retter des Vaterlandes umso höher in den Befreierhimmel steigen. Wo ist der Bär, der mir, der uns allen aufgebunden wird? In Iliescus Umgebung, beim Mundfunk, bei den westlichen Alleswissern und Aufschneidern, die aus Gerüchten ihre Berichte zusammenstoppeln... gesammelte Dramatik gesammelter Märchenerzählungen? - Doch ich wage in der Sendung aus Scham und Rücksicht auf die Toten und die Aufständischen nichts über diese Dinge zu sagen.

 

Und dann hier ein wirkliches Karnevalsereignis: 10.2. 90, nachmittags. Carnevale di Viareggio, eine Temesvarer Gruppe und "combattenti" werden im Festzug der Masken mitmarschieren, teilte mir die Pressabteilung des Karnevalsvereins mit. Nun kommen die Innenwelten andauernd wie eine Parodie auch außen auf mich zu. Eigentlich müßte ich mich freuen, doch es ist eher eine Enteignung. Und da zeigt sich jetzt, wenn ich anstatt zu schreiben, mir in der Außenwelt Prosa inszenieren lasse, daß ich kein Solipsist mehr sein darf. Tatsächlich aber ist es: als träumte ich. Und muß gar nichts mehr erfinden. Erst heute sehe ich die Hintergründe: Revolution - Maske des Todes. Und die Maske beim Karneval soll ja traditionsgemäß den Schein ent-larven .

 

11.2. Es ist natürlich Unsinn, Falschinformation; der Junge neben mir bei der Pressekonferenz, sagte, was soll der Bürgermeister hier, der hat jetzt anderes zu tun. Ein Journalist vom "Corriere" verließ wütend den Saal, als er sah, daß keiner von der "Front" da war, die Jungen auf seine Frage, warum denn keiner über die Zahl der Toten eine Antwort geben könne, schwiegen. Die jungen Leute sagten, sie wüßten nicht mehr als wir. Gestern aber habe es die Nachricht gegeben, daß der Oberst Moraru, der für die Massengräber und die Einäscherung der Leichen verantwortlich gewesen war, in der Zelle Selbstmord begangen habe. - Und dieses alles auf einer Karnevalssitzung; mein Gott. Ein Holländer, der einmal zu Besuch in Rumänien gewesen war, führte den Vorsitz; die jungen Revolutionäre, zweiundzwanzig aus Bukarest und Temesvar, alle zwischen 18 und 25 Jahre alt, dazu zwei Journalisten, ein Funkjournalist und einer von der Zeitung "Libertatea" aus Bukarest, standen vorn, wurden beklatscht und geehrt. Totentanz? Nein, auch ein Zeitzeichen: sogar der Karneval hat ein anderes Bewußtsein heute. Vero? Mit Narrenkappen auf dem Kopf, sprachen die Narren von der Revolution. Mihai neben mir, ein typisches rumänisches Gesicht, schwärzlich, Schnurrbart, erzählte, daß am 22. Dezember alle aufgerufen worden waren zu kämpfen, etwa 100 hätten sich in Temesvar gemeldet , sie bekamen Maschinenpistolen und Gewehre. Temesvar war umstellt, die Rohre der Geschütze auf die Stadt gerichtet; sie sollte auf Befehl des Diktators samt den Menschen ausgelöscht werden. Da machte die Armee nicht mehr mit.

 

Beim Umzug im bunten Karnevalszug trugen die Kämpfer nur ihre Trikoloreschärpen als "Maske", und einer trug die Fahne mit dem berühmten Loch voran. Es wurde ihnen aus allen Fenstern und vom Trottoir zugeklatscht und zugewunken; sie waren die Helden des Tages. Und sie wirkten ein wenig wie absent oder wie hypnotisiert. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag im Westen. Sie alle waren zum erstenmal jenseits der bisher so streng bewachten Landes-Grenze, und dazu auch noch am Mittelmeer. Im Flug zwei Welten. Mihai sagte, er wisse immer noch nicht, ob er hier in Italien sei, oder ob er träume. Ja, sagte ich, mir gings vor vielen Jahren ebenso. Aber ich hatte dazu noch Angst, im Flugzeug zurückgeholt zu werden. Wir auch, sagte er. In Bukarest haben sie nicht alle Temesvarer fahren lassen, sondern 10 Bukarester mußten mit. Die Konkurrenz zwischen den beiden Städten ist groß. Sie sind eifersüchtig aufeinander. Andererseits wissen wir genau - ohne die Revolution in Bukarest wäre unsere versandet.

Andrei, der sensible Junge, der dann die Fahne mit dem Loch voran trug, sagte: aber für Sie muß es ja noch schlimmer gewesen sein als für uns, hier, so weit weg und Tag und Nacht am Radio. Ja, sagte ich erstaunt, so ist es. Mihai will eine Adresse von einem "Wolfshundverband", er habe einen Wolfshund zu Hause. Ich gebe ihm meine Nummer. Er aber sagt, er habe ja kein Geld, er könne hier nicht telefonieren, er rufe dann von zu Hause an. Er nimmt die 200 Lire nicht, die ich ihm geben will. Sie sind alle sehr stolz, wirken stark, charakterfest, haben eine natürliche Würde.

 

Emil Jurcá, der Journalist von der "Libertatea" schenkt mir die erste Nummer seiner Zeitung vom 22.Dezember, als sie noch illegal erschien. Ein kleines Blatt, wie eine Kinderzeitung. Wissen Sie, sagt er, daß die Zeitungen, daß die Ethik der Journalisten inzwischen eine starke Währung geworden ist? Und unsere Leute haben von Anfang an unter Lebensgefahr gearbeitet, auch am 21. und 22. In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember wurde in die Menschen, vor allem in die Studenten auf dem Universitätsplatz und auf dem Palastplatz geschossen. Er erzählt, daß dann am nächsten Tag in Bukarest etwas Unvorstellbares geschehen sei: Um 10 Uhr am 22. Dezember waren die Straßen von Bukarest so voll, alle Bewohner waren unter freiem Himmel, vielleicht über eine Million, so daß hier keine Armee, keine Securitate mehr agieren konnte, ja, nur ein Bombenangriff wäre möglich gewesen, aber welcher Pilot hätte sich dazu bereitgefunden... Man weiß nicht, wie der Diktator reagiert hat, man wird es nie mehr erfahren. Jedenfalls waren wohl alle gelähmt. Der Verteidigungsminister wurde erschossen.

Wie war das möglich, es ist in der Geschichte noch nie und nirgends geschehen, daß eine Hauptstadt sich so erhebt? Es waren die Gedanken, die jahrzehntelang gehegten geheimen Wünsche und die Hoffnung, daß diese Stunde endlich eintritt, sagte er.

 

13.2. 90. Ich denke an das höllische Bombardement Dresdens 1945. Was wird mit den 20, nein, den 40 Jahren, die jetzt widerrufen werden sollen? Mit ganzem Herzen mache ich bei dieser Restauration, die immer noch "Revolution" genannt wird, nicht mit. Es ist auch erstaunlich, wie wenig die Autoren, z.B. in der DDR mitmachen. In Rumänien weiß ich noch nicht, wie sie darüber denken! Die FAZ hat dazu ihre hämischen (und falschen) Bemerkungen. Carl Amery sagt, wir müssen den Kollegen aus dem Osten helfen, die Coca-Cola-Mentalität zu durchschauen. Es ist nicht nötig; die aus dem Osten haben ein angeschärftes Bewußtsein. Meine rumänischen Kollegen sind, wie Tschechen, Polen, Ungarn, Russen viel naiver, die glauben noch an den Goldenen Westen. Die meisten aber sind haßerfüllt, daher auf einem Auge blind. Doch es gibt ein unverlierbares Innenleben der gelebten Überzeugung, der Lebenserfahrung, die uns von den Westmenschen unterscheidet, da diese Glücklichen keine Brüche mitgemacht haben, ihnen vieles "erspart" geblieben ist.

 

Wer beschützt diese Erfahrung, das Innenleben von Millionen Menschen aus dem Osten vor der Nivellierung? Christa Wolf sagte in ihrer Hildesheimer Rede (zur Verleihung des Ehrendoktors), "die ungeheure Wucht unserer Erfahrungen in den letzten Monaten droht uns nun zu trennen von wie immer wohlmeinenden Betrachtern außerhalb unserer Grenzen." Diese Erfahrung ist anders, als sie je von Leuten aus dem Westen nachvollzogen werden kann. Die Entfremdung wird subkutan wohl noch weiter gehen, meint Christa Wolf, zwischen jenen, die sich als Sieger fühlen und den andern, die in hingebungsvollem Anpassungsstreben sich selbst wegwerfen. Die Revolution ist schon vertan, gescheitert, die Chancen eines Neubeginns zur revolutionären Umgestaltung aufgefangen, ja, vom eigentlichen Feind dieser Erde zur Selbstbestätigung mißbraucht und zur Ausweitung der Macht und des Marktes eingesetzt, indem es nun "Hilfe" genannt wird!

Die moralische Desintegration schreitet fort, Masse und Kapital können so WiederVereinigung feiern, aus einer chaotischen Atomisierung und einem totalen Nihilismus nach dem Machtvakuum im Osten, nach der Zersetzung aller bisherigen Werte, steigt aus der Asche der Weltbewegung nach 1968 der große Moloch und beherrscht nun ganz allein diese Erde. Ja, meine Feinde haben gesiegt. Alles ist nur noch so wie es ist. Auch der Rückhalt, den die zwiespältige Lage im Osten gab, einerseits die Hoffnung auf Veränderung, andererseits aber die Diktatur, die bekämpft werden mußte, dann die Gefahr für das westliche System, die von dort drohte, daher dieser Gratisbonus und Blankoscheck an Aufmerksamkeit für die Ostautoren und auch für das Exil, das ist vorbei. Sogar die letzte Phase, als es nur noch Kampf gegen die Diktatur gab, jeder Autor, ob zu Hause oder in der Emigration, eine Legitimation frei Haus hatte, ist vorbei. So ist die Situation Null für das Schreiben eingetreten, nichts mehr gilt.

28. Oktober 92. Aber die Vergangenheit muß verändert werden, da sie unseren neuen Erfahrungen und dem gegenwärtigen Bewußtsein nicht mehr entspricht, das aber heißt, sie immer wieder als neuen Rohstoff zu verwenden. Dieses wird mir klar, wenn ich etwa an das heroische Jahr 1917 denke, wie ich es 1960 sah und wie ich es heute sehe. Es steht unter dem Druck eines Erfahrungswandels und hat sich völlig verändert.

 

29. Oktober 1992. Wie schön abgehoben sich meine eigenen Krankheiten und Schwächen beschreiben lassen! Doch das Kind in mir, das verletzte, läßt mir keine Ruhe. Mit dem Älterwerden ist es am schwierigsten, aus der Gewohnheit des Bösen herauszukommen, ihrer langsamen Mineralisierung und dem Versinken in ihrem Leib Widerstand zu leisten, weil die spirituelle Kraft abgenommen hat, die Flamme, also auch die Hoffnung, mit dem, was an Zukunft abnimmt, ebenfalls ganz schwach wird; Zukunft haben ist nicht nur Sehnsuchtspotential, sondern reine, unverbrauchte geistige Energie; es gibt ja an sich keine andere, nur die Frequenzen sind verschieden. Jung sterben ist eine Gunst, da haben die alten Dichter recht, denn solch ein Glücklicher dringt beinahe mit einem Schlag bis ins Herz der himmlischen Dinge vor. Die jungen Toten waren immer schon den Engeln nah.

Die Alten aber hängen vor lauter eingefahrener Gewohnheit zu sehr am realen Alltag; Alltag macht dumm, weil er an dieser Täuschung der Tatsachen, dem "Gewesenen" fest hängt. Was Alten bleibt, ist dann das Lesen und Schreiben: Schreiben bringt erst den Zusammenhang der Bilder, den das Auge (ohne Engel) eingibt. Schuldgefühle, wenn sie nicht aufgelöst werden, das Werden und dann das Wirkende, die eigentlichen Wirkkräfte im Hintergrund gesehen werden.

 

Ich war gestern bei Berman Fischer, dem fast hundertjährigen Nachbarn zu Besuch, er ist eine Ausnahme, er hat sich wunderbar rein erhalten mit einer "himmlischen Geduld" und guter Laune; er sagte, er habe seine tote Frau plötzlich in einem blendenden Licht gesehen, vor ihm stehend, WORTLOS, und genau dieses Licht gehörte zum STUMMEN Ansehen! Nachher pechschwarze völlig lichtlose Dunkelheit.

30. Oktober 92. Ich schreibe an den letzten Seiten meines Romanes "Der Verweser"; die Fiktion dient mir als Hohlspiegel für das Zeit-Geschehen, das so nahe ist, daß ich mir wie blind vorkomme. Die Organisation des Romans aber braucht einen Standort jenseits der Zeit, und muß aus dem Zeitfluß herausgehoben sein. Erzählen ist erst möglich, wenn ein Ereignis, ein Leben oder eine Kultur abgeschlossen sind; Hegels Eule der Minerva. Und das ist jetzt in Ost und West der Fall.

 

Und ich vermute, daß dieser Zustand, wo die Figur nicht weiß, ob sie lebt oder tot ist, generell als wichtigster ästhetischer Ort heute angesehen werden muß, als Apriori jeder Erzählung.

16. November 92. Vielleicht müssen wir nun in der Zeit weit zurückgreifen, um diese leidvolle Zerstäubung und Bodenlosigkeit fassen zu können: zurück zur Moderne in der Literatur (denn wir sind jetzt ungefähr im Jahr 1918 angekommen, mit allen Lebens- und Denkkonsequenzen); gehen wir also z.B. zu Kafka nach Prag, der den Zerfall dreier Kaiserreiche, das Chaos nach 1918 und als Jude noch zusätzlich, die eigene Fremdheit als Einzelner erlitten hatte, die er radikal in der Parabel "Die kaiserliche Botschaft" beschreibt, von der im säkularisierten Westen angenommen wurde, daß es sie nie gegeben habe, diese Botschaft; auch dieses ein Grund des Desasters; eine Botschaft, die heute Millionen im Osten erwarten, daher gibt es sie jetzt ganz real auch wieder. Die "Botschaft" aber ist nun dem Einzelnen, für den sie bestimmt war, ohne andere Instanzen und Sinn-"Könige" gerade nicht übermittelbar, der einzelne Bezug in der Zerstäubung uneinlösbar in seiner Singularität. In dieses Vakuum stießen die beiden Diktaturen. Und heute ist es wieder: der Nullpunkt der Absenz, und dies die Bedingung von Millionen Einzelnen, die nun neue Pseudobotschaften suchen, denn die letzte ist gefallen, die rote. Das ordinärste Mittel eines Zusammenhalts und Kitts, gewachsene Form zu erschleichen, ist infektiös und gefährlich: die abgetakelte Minination, Grenzkrieg und Haß das Resultat.

Früher im Osten wurde ich beschattet, der Feind war erkennbar. Jener Feind gehörte noch zur letzten "Klammer", war Pseudoinstanz, wenn auch negative, doch Vexierspiegel genug, um die "Könige" aus der "Kaiserlichen Botschaft" zu ersetzen. Nicht zufällig begann der "Prager Frühling" 68 mit einer Kafka-Tagung. Jetzt geht die Schattenlosigkeit um. Ich höre, ich lese: im Talmud seien sich die Worte "Schlemihl", der Schattenlose, und "Schlamassel" sehr nah.

 

17. Januar 1990. Gestern habe ich den ehemaligen König Michael samt Frau und Tochter im Französischen Fernsehen gesehen. Er ist eine Kindheitserinnerung, er kommt mir vertraut vor, damals war er 25, jetzt ist er 7o. Er ist keine Leuchte. Er spricht langsam, müde und schlecht Französisch, der Hohenzoller, in Bukarest geboren, ein Wissens- und Geschichtsträger trotz allem. Am 23. August 1944 hatte er im Radio mit "An mein Volk" den "Zusammenbruch" angekündigt, vier Jahre später wurde er aus dem Land gejagt. Emigrant, königliches Exil. Er wirkt wie ein geschlagener Mann, als hätte ihn tatsächlich das Heimweh, die Fremde stark mitgenommen.

Der König, nun kommt der König wieder, heute am 16. Januar 1990? Eugène Ionesco in Paris, der mit dem absurden Theater, meint, der alte König wäre über das Vakuum hinweg ein Anknüpfungspunkt, eine Geschichts-Kontinuität? Dabei hat er doch "Der König stirbt" geschrieben. Trister Aufguß, eine leerklingende Nostalgie. Die Prinzessin Margherita ist Politologin. Königin Anna, seine Frau, ist energisch. Der alte König ist müd. Das Haus ist schön, große Fenster in eine Genfer Idylle. Trockne Reminiszenzen dazu, daß der König 1941 vom Angriff auf die Sowjetunion nur aus dem Radio etwas erfuhr, protestieren wollte, und ihm dies nicht gelang, daß Antonescu die Macht hatte, nicht er, Ohnmacht auch heute; und das Volk hat ihn längst aus den Augen verloren. Eine ururalte Stimme aus einer nun seit zwei Wochen zur Vorvorvergangenheit gewordenen Zeit.

Zweimal erschien in meinen Träumen der König. Und ich wunderte mich. Bei der letzten Balkonrede des Diktators soll in der ersten Reihe der Demonstranten eine Studentin ebenfalls "Es lebe der König" gerufen haben, und der unsichere Stotterer mit heiserer Stimme, dachte, womöglich sei er damit gemeint.

 

Treffende Zitate bei Julien Gracq: Das "revolutionäre Hochgefühl bei Marx." Der Ausnahmezustand bringt gaia scientia: Apokalypse. Nietzsches Sympathie dafür. Auch für Trotzki. "Sobald, auch nur von Ferne, Stalin auftaucht, senkt sich über den Funken Schalk, der Gott vor dem siebenten Tag im Nacken gesessen haben mag, für immer ein saturnischer Panzer wie im achten Kreis Dantes, der bleierne Mantel zur Bestrafung der Heuchler und Fälscher."

Oder: "Nichts lastet zynischer als der Stiefel des früheren Revolutionärs, der sich als Staatsbestie entpuppt: Hat die Ordnung wieder Einzug gehalten, erinnert er sich immer an den Zeitpunkt, an dem, unter ihm, alles im Menschen aus den Fugen geraten ist: Stalin, Fouché. Daher weniger der Eindruck eines grenzenlosen Despotismus als vielmehr einer unbegrenzten Widerstandslosigkeit; der von den nachrevolutionären Diktaturen ausgeht: Bei den Regierenden (die Revolutionäre vergreisen frühzeitig, genauso wie die Lebemänner) überleben nach der Konvulsion nur schlaffe Seelen, die sich zum moralischen Instinkt verhalten wie nach dem Liebesakt der Körper zum Begehren - bei den Machthabern blieb nach dem Zeitpunkt der hohen Ansprüche nur mehr die Erfahrung des Freibriefes..." Diese Bestien in all ihren Abstufungen, bis hinab zum kleinsten Jugendfunktionär kennen nur die Möglichkeiten grenzenloser Nötigung; meine Jugend ist davon geprägt.

 

24.1. 1990. Vaters Todestag. Dieses Verschwinden hat sich beruhigt. Seither hat aber die Welt für mich, mit dem Älterwerden, immer mehr abgenommen. J. Gracq beschreibt es als Überhandnehmen des eingeblendeten Gewesenen und die gespenstische Entzifferung des Palimpsestes. Er zitiert Chateaubriand, dessen Beschreibungen nach seinem vierzigsten Lebensjahr immer nur Übermalungen der ersten Zeichnung gewesen seien. Ich habe vieles an diesem Verlust der Frische und der Aura der Mattscheibenwelt zugeschrieben, das ist zu einfach. Ich erinnere mich an eine Szene mit Jann im Königsforst bei Bensberg, da sprachen wir über einen knackenden Trockenast im Unterholz, und die Reflexe der Sonne darauf. Die erste Erinnerung daran aber ist viel stärker, ich habe sie in S. gehabt, sagte ich, daß diese jetzt eine Erinnerung der Erinnerung wird, eine Übermalung. Ja, sagte sie, ich habs auf der Alb zum erstenmal erlebt, dieses Geheimnis des Gedächtnisses.

Nur das Meer fege diese erstarrten Schichtungen weg, sagt Gracq. Auch die Distanz zu alten Bekannten und Freunden nehme zu. Ja, das spontane Verhältnis nimmt ab. Man hütet sich sogar, ihnen zu begegnen, weil man nicht weiß, was man mit ihnen reden soll. Alles wird lau. Auch diese Angst vor der Begegnung mit alten Bekannten hatte ich auf den Weltwechsel geschoben, diese langsame Vergreisung. Ich bin nicht mehr der, der ich war, schrieb ich ihnen, ich fürchte jede Begegnung. Vor allem bei meiner Freundin, der Malerin K., mit der ich früher ganze Nächte durchgezecht und durch-geredet hatte, spürte ich es.

Und jetzt kommt noch die gescheiterte Wiederbegegnung mit der Kinderlandschaft in Siebenbürgen dazu, die ich schon bei meinem ersten bisher letzten Besuch vor 16 Jahren gespürt hatte. Beim mit Erregung geplanten Besuch im März droht ein doppelter Abgrund, die gestockte Zeit und jetzt die fließende werden voraussichtlich mit der Erinnerungszeit zusammenprallen .

 

Auch Gedichtfragmente sind im Zerfall heute lyrische Möglichkeit der Abbreviatur komplexer Verhältnisse und Einsicht vermittelnde offene Orte, oft auch Kinderorte, die sonst mit Sprache kaum erreichbar sind, wie Träume, die sich entziehen, wenn man sie begrifflich und direkt angeht. Die Abbreviaturen aber tun was geschieht, da sie die Flüchtigkeit des Lebens beibehalten, offen zu einem unendlichen Sinn, der nur kurz aufblitzen kann im Fragment: Was Vergangenheit wirklich enthält,/ Wird erkennbar erst,/Wenn sie zerfällt.

Plötzliche Schau eines Sinn-Ganzen, eines Symbols, das durch ein Ereignis hindurchscheint, momenthafte Begabtheit einer Wirklichkeit, Denk-Bild zu sein. Im-Bild-Sein, das das Ereignis eigentlich nahezu selbst ist, das Denkbild in sich schon Denkergebnis. Am schönsten aber, wenn das Unerkennbare ahnbar wird in aller Offenheit, und auch, daß alles noch aus steht:

 

Was wirklich wahr ist, gibts noch nicht.

Und alles andere ist vergangen.

Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages

setzt du auch morgen nicht zusammen.

 

 

ES GEHT UMS LEBEN, was bleibt

so in letzter Zerstörung, fern glänzend

und eisig der letzte Punkt.

Man stelle sich vor, Flecken für

Flecken, angesammelt, so nähe ich hier

buchstabengenau und unsinnig

Naht für Naht das Zerfetzte,

den kleinen Mantel des Lebens:

aus/ dem, was nie sein wird.

 

Der schnelle Augenblick, das ständig Neu-Ankommende ist das Wirkliche, von dem wir aber nichts wissen können, keiner ist je in der nächsten Sekunde GEWESEN, und man sehe, wie schon die Grammatik den Wahnsinn verrät; sprachloses Perfekt, anstatt des Futur. Daß wir immer nur im Nachbild dabei sein sollen, ist unerträglich, denn dieses macht schon von Anfang an jeden zum Greis, im andauernd Gewesenen. Daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen; ich sehe die Reben hier in meinem Garten, das Meer, und bin erschrocken, die Landschaft ist "übriggeblieben". Und ich bin es auch.

Und doch ist es so, als wäre generell keine Zeit vergangen, alles tatsächlich auch geschichtlich "übriggeblieben" wie eine gestundete Zeit, jetzt scheint es fast, als wären wir in der Vergangenheit angekommen:

 

Jetzt erst Erschrecken

nach Tagen, Jahren.

 

Dann küßt einer die Braut, sieh,

er kam eben aus dem Krieg,

Ziehharmonikaglück,

schon ein Greis, jetzt, mein Gott

der Krieg ist nicht aus, Zeit Lebens

steht, was war auf deiner Haut.

 

Der Versuch, Rhythmus beim Schreiben einzusetzen, wie früher, hält nicht, was er verspricht, jetzt, durch die Öffnung, sind wir näher am Boden, den wir bisher vermißten, und alles wird , auch die Gedanken, konkreter, dieser "Wagen des Rhythmus" war nötig, um über alles hinwegzufliegen,wie Nietzsche sagte, sind die Gedanken, die im Gedicht so festlich daherkommen, zu schwach, um zu Fuß zu gehen.

Die Banalität liegt lau daneben. Nachmittags aßen wir Strudel, tranken Tee. Draußen regnet es nicht mehr. Es ist warm, fast 15 Grad. Paolo setzt die Doppelfenster ein. Kopfweh, wie bei Föhn. Starker Südwind. In Hamburg gab es einen Orkan.

 

14. Februar 90. Welch ein Umdenken ist da überhaupt noch möglich? Das ideologische Zeitalter ist tot, was soll da jetzt leben?

Einerseits die neue Nähe; Christa Wolf spricht von der Möglichkeit des verantwortlichen Handelns in der "selbsterrungenen Freiheit", es ist eine andere, als jene verrottete fade Pseudofreiheit des Geldes, die das Kapital zu bieten hat: eine "Vielzahl von Bürgerbewegungen, in Wohngebieten, in Rathäusern, Kommissionen" decken Übel der Vergangenheit auf und "verwirklichen beharrliche, nützliche Projekte und erarbeiten konkrete Entwürfe für einzelne Gesellschaftszweige: Basisdemokratie." Welch zartes Pflänzchen, wie schnell das brutal weggefegt werden wird, von aalglatten Managern, Botschaftern der weltweiten FIRMA.

So bleibt nur noch jene andere Hoffnung, daß die materielle Wirklichkeit immer mehr von der Kommunikationswelt und den produktiven Kräften, der Wissenschaft, daß die "feste Welt" des Wohlstandsparadieses als Schleier der Maya entlavt wird, und damit die Mächte, die sie beherrschen, als Fälscher nackt da stehn, wie der Kaiser im Märchen. Aber so bald wird das nicht sein.

 

Gibt es das Neue, das jeden Augenblick mit uns geschieht? Was sind Revolutionen - oder auch nur Revolten? Kann man von Zeit-Brüchen sprechen? War Lenin zum Beispiel ein Dadaist? Erleben wir eine unausdenkbare Zeitwende, die alles in Frage stellt, was bisher war, oder ist nur die Nähe der Ereignisse daran schuld, daß wir, auch in der erfahrenen Skepsis einer der nüchternsten Epochen, die es je gab, einen großen existentiellen Bruch und nicht nur einen politischen zu sehen und zu erleben meinen?! Und doch alles in einem unglaublichen understatement, nur noch mit Tatsachen rechnend? Tun, was geschieht?

Ist dieses so, weil die großen Utopien, die bisher nur Gedachten, keinesfalls tot sind, sondern nun die Realität erreicht haben? Und diese Realität "aufheben"? Es scheint so. Und zwar auf dem Umweg der durch Technik fertiggemachten Ideen, über die Vernetzung der Erde und über eine enorme Beschleunigung der Zeit, ausgerechnet durch den Teufel oder das Mephistopel Kapital. Die Immaterialisierung und das langsame Verschwinden der sinnlichen Natur hat in seinen Zentren und Metropolen eine vernichtende Chronokratie errichtet. Erst jetzt wird die Katastrophe voluntaristischer Machbarkeit und Freiheit in einer neuen Teilung der Erde in hochexplosive Ballungsgebiete und Leere, in arm und reich, imVakuum der Zweiten Welt erkennbar. Und vor der endgültigen Explosion wird uns noch kurz und wie zum Hohn ein Hoffnungsschimmer beschert: die "Revolution?" Sollen wir nochmals an die verpaßten Chancen drastisch erinnert werden? Und Wer oder Was versteckt sich hinter diesen Prozessen, die uns gemacht werden? Ein ungesehener Weltgeist, der sich zur Zeit andauernd auf Geschäftsreisen befindet?

 

Aber was kann das heute überhaupt sein - die Re-Volution? (Das Wort ohne Trennung ist heute unmöglich!) Fast sieht es aus, als wäre sie nur ein gar nicht so heimliches Produkt jenes Geschäftsreisenden als Weltgeist, der letztendlich gesiegt zu haben scheint! Doch dieser Sieger? Wer ist das. Und welch Pyrrhussieg wars!? Es fällt mir schwer, der Paradoxie gerecht zu werden, daß hier einerseits eine enorme Masse von blinden und blindwütigen Kräften da ist, die die Erde bestimmt, ausraubt und der Vernichtung zutreibt, und andererseits es der Einzelne, ja, die "fertiggemachten Ideen" von genialen Erfinder-Köpfen sind, die diese Entwicklung möglich gemacht haben? Daß ursprünglich auch die ReVolution etwas mit dieser Kraft des Einzelnen, mit einer Macht, die jenseits unserer Erfahrung liegt, zu tun hat!

 

16. Februar 90. Wir sind schon in der Aufregungs-Phase der sehr konkreten Vorbereitung unserer Reise nach Rumänien; in dieses neue Land. Die Nervosität ist groß. Ich versuche das Schreiben ins Zentrum zu stellen, um mich an irgendetwas festzuhalten.

Neues Ausgeliefertsein, nicht gegenüber der Securitate, nein, sondern gegenüber der großen Unbekannten "ZEIT"; und diese Begegnung ist froher, aber auch schwerer zu ertragen. Was jetzt vergangen ist, ist doppelt vergangen. Was vor sechs Monaten war, gehört schon einem andern Jahrhundert an. Aber sei froh, sagte ich zu Jann, das bisher eingesperrte Private löst sich auf.

 

 

IV

 

18.2. 90. Fahrt nach Stuttgart. Jann fährt, ich lese Ciorans "Lacrimi si sfinti" (Tränen und Heilige), eingestimmt auf Rumänien, die Toten... Außen die Autobahn, es surrt, es kracht, ich höre nichts mehr. Jann ist lieb. Sie fährt, sie sieht mich besorgt an. Ich denke an meine erste Heimreise 1974, da war ich allein.

Bei Cioran: Die Absenz Gottes. Ich müßte Cioran wieder in Paris besuchen. Jetzt hat er zum erstenmal rumänisch geschrieben, über das Erwachen der Rumänen.

Ich müßte den Rest meines Lebens diesem Konzept der Absenz, das bei den Orthodoxen besonders ausgeprägt ist, widmen. Dünnes Rinnsal. Etwas Transzendenz in den von der Materie-Illusion verstopften Windungen meines Hirns. Trotz und Wut, bei idiotischen kleinen Störungen im unmittelbaren Umkreis. Zu wenig Luft im Rad. Einfahrt in eine Tankstelle. Mittagessen.

Während des Essens in einem kleinen Gasthof sprechen wir über dieses neue Konzept der Absence. Und ich schreibe es nachher im Auto auf: Ist es nicht gerade jetzt nötig "im Herzen der Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren diese Absenz zu erkennen, wo jetzt die Kluft zwischen jener Ausnahme: Transzendenz in den Aufständen etwa und dem "Leben" so groß geworden ist, zugleich aber zueinander strebt, wie bisher noch nie, zueinander strebt durch die Immaterialisierung der Welt, und auch hier auf der Zeile als öffnender Ausdruck geschieht und mitwirkt? Und daß so die Absence kein Hirngespinst mehr ist, daß etwas Recht behält, was bisher nur gedacht werden konnte, nie wirklich war? Oder vielleicht der Kern der Wirklichkeit ist?! Der jetzt sogar zum Vor-Schein kommt, aber noch nicht wirklich ist?!

 

19.2. 90. Nicht nur die Krawalle und das Blutvergießen in Randzonen der Sowjetunion, auch dieser "Sturm" auf das Außenministerium in Bukarest beunruhigt. Die Menge "eroberte" den Regierungssitz. 20 Fallschirmjäger wurden verletzt. Mobiliar zertrümmert, Bücher, Dossiers auf die Straße geworfen, Fahnen verbrannt. "Tod dem Kommunismus", der Securitate. Iliescu soll abtreten. Gewalt. Legionärsdenken.

 

Kant 1784: "Durch eine Revolution wird vielleicht ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen."

Was kommt, ist "brutale Freiheit", mit der "der Haufen" nicht umgehen kann.

 

20.2. 90. In Berlin Unter den Linden, Grüppchen von Demonstranten. Einige Mädchen schwenken unter dem trüben Himmel, manchmal eine Sturmbö, deutsche Fahnen mit Hammer und Zirkel. Die Mädchen haben Angst, "enteignet" zu werden , wie sie sagen. "Wir haben keine Chance zu sagen, was wir wollen". Ihre Stärke ist sicher nicht dieses verrottete Symbol, das sie freilich zu dem machte, was sie sind. Ost-Berlin, verlorener Augenblick zwischen den Zeiten? Da sagte einer ganz richtig: Das Ergebnis der Vereinigung kann doch nicht einfach nur eine vergrößerte Bundesrepublik sein, sondern es müßte ein völlig anderes, ein verändertes Land sein.

 

26.2. 1990. Die Fernehjournalistin H. will ein Kinderdorf in Temesvar gründen. Mein Zahnarzt war mit einem Hilfstransport in Siebenbürgen. Überall dieser Vergleich mit dem Jahr Null. 45. Für persönliche Gefühle bleibt wenig Platz.

 

28.2. 1990. Brief von Monika. Der Wechsel von Ostberlin nach Hamburg hat sie sehr verändert. Und sie merkt es nicht.Aber es ärgert sie, daß ihre DDR-Leute nun "mindere Deutsche" sein sollen. - Die intellektuellen Enklaven werden jetzt von der Realität überholt. Wir hatten es uns darin zu bequem gemacht.

Paul`s "Druckzentrum" in Bukarest scheitert natürlich. Diese Überheblichkeit, dem "armen Land" helfen zu wollen. Als gäbe es ein Tatvermögen, das wir nur einzusetzen bräuchten. Wir sind ohnmächtiger denn je.

1. März. Lebensmittel sortiert. Janns Mutter will ihre Schuhe und Mäntel dem armen Land spenden. Die Schwägerin schleppt abgetragene Sachen herbei. Da bricht noch einmal die hier sonst kaum noch mögliche Hilfsbereitschaft durch.

Der Diktator sei kein "richtiger" Rumäne gewesen, sagen die Rumänen, sondern ein Zigeuner. Der Rassenhaß im Osten. Die seelische Kloake öffnet sich.

 

Besuch bei meinem Bruder. Meine Schwägerin sagt, ihre Freundin schreibe aus Siebenbürgen sechzehn Seiten lange verzweifelte Briefe. Depressionen. Der Schwarzmarkt blühe. Auch mit den Hilfsgütern werde fleißig gehandelt. Und die Exilrumänen machen Geschäfte, lassen ihre Autos im Land, kaufen Villen in der Schulerau. Hunderte von nichtabgeladenen Zügen auf Verschiebebahnhöfen. Und die Gerüchteküche blüht.

2. März. Greuelnachrichten. Helmut S., der Kollege, behauptet, die "Eiserne Garde" sei neu gegründet worden. In Mercurea-Ciuc am Fuß der Ostkarpaten sei der Kommandant der Miliz bei lebendigem Leib gehäutet, in einem Szeklerdorf ein Securitateagent gepfählt worden.

 

Zu den Denkformen der Unmündigkeit gehört heute vor allem die (eingeredete) "Freiheit" im Privaten; oder besser: die Verantwortungslosigkeit, das eigene Leben und das Leben anderer nur im engsten Horizont bestimmen zu müssen, dies auch zu können. Nicht fremdbestimmt zu sein. So entsteht im Wohlstand eine Taubheit, die das Wichtigste nicht wahrnimmnnt, nämlich jenes "FEHLEN", den Mangel. Erst die Krise, der Krieg bringt ihn wieder zum Vorschein, die Hautnähe zum Tod.

Biermann schreibt in der ZEIT (2.3), er habe anderes im Sinn gehabt, aber die Weltgeschichte nehme auf die Wünsche des kleinen Biermann keine Rücksicht. Die "friedliche Selbstvernichtung" sei jetzt gefragt. Ein NVA-Offzier sagt über seine Abschaffung, da sei nichts zu machen: "wir haben doch den kalten Krieg verloren!"

Biermann-Zitat über die ÖFFNUNG: "Aber der Anfang von vorn, erweist sich als Anschluß von hinten... Nun muß ich endlich nichts mehr besser wissen. Nun bin ich nicht mehr im Besitze der oppositionellen Wahrheit, nun habe ich endlich nicht mehr recht. Das alte Stück ist aus. Die vertrauten Bösewichte und ihre Widersacher gehn gemeinsam von der Bühne, und das neue Stück schreibt sich erst... Doch bin ich immer noch meiner Meinung..." Und dann dies: "Der Kommunismus ist am Ende, nicht nur in der Wirklichkeit, nein, wirklicher: auch im Traum."

Bei einem Besuch in der Chausseestraße pinkelt er in den Hinterhof, um eine "Duftmarke" zu setzen. Der jetzt in der Wohnung lebende Seidel weiß nichts von Biermann. Es sei ein bei Schalck- Golodowski beschäftigter Beamter, geht das Gerücht.

Ich habe mir freilich noch ein Fernweh erhalten, das nicht erreichbar ist, so auch nicht kaputt gemacht werden kann. Es geht mit dem Tod als Unmöglichkeit um. "Die wirkliche Freiheit des Dichters ist die verantwortungsbewußte Wahl seiner schwierigsten Möglichkeit." Es ist Biermanns bester Satz.

 

In Dresden wird eine Demonstrantin die ein Transparent trägt, auf dem steht "Vom Stalinismus gleich in den Kapitalismus - ohne mich!" von Jugendlichen und Gaffern verprügelt, Sie wird bespuckt und als "Rote Staasi-Sau" beschimpft, dabei ist die Frau selbst von der Stasi gefoltert worden.

 

3.März 90. Warum freue ich mich jetzt über den Sieg der DDR-Leichtathleten in Split, die die Wessis gedemütigt haben. Und doch soll jetzt vom Westen der ganze Sportbetrieb übernommen werden, nur die Trainer werden nicht mit übernommen. Alles wird abgeschafft und zerstört. Und ganze Horden von Bürokraten brechen in Rostock, Ostberlin, Leipzig, Dresden ein, Jungmanager, Soldaten. Und sogar die Panzer und Schiffe, Flugzeuge etc. dieses Staates werden verramscht.

 

Sie bringen ihre Umgebung, ihr System, das stärker ist, mit in den geschlagenen Osten, sind völlig ungebrochen, naiv. Es ist grauenhaft nun, so schwach zu sein, wie die Menschen in Ostdeutschland im eigenen Zuhause, das stelle ich mir aus eigener Erfahrung vor. Freilich - ich war ein Einzelner, als ich in den Westen auf ihren, auf fremden Boden kam, nackt, ausgesetzt. Dazu ist viel Phantasie nötig, um diesen Zustand zu begreifen. Wie soll die vierzehnjährige Gör, Janns Nichte, die uns jetzt besucht, solch einen Zustand begreifen, verstehen in welches "Zuhause" ich jetzt fahre, und was das bedeutet. Dieser Perspektivenwechsel. Für sie fährt Jann nach "Rumänien", in eine Art Afrika, ich bin mit dabei unter "ferner liefen". Die Gast- und Fremden-Lage ist unbegreiflich für Einheimische. Das Namenlose, etwa solch einer Autoren-Existenz, das Schreiben über einen Zustand, der vom Verschwinden eines Landes bestimmt wird, hat bei jenen, für die ihr Land eine Selbstverständlichkeit ist, keine Chance ins Blickfeld zu geraten. Unser ewiger Konflikt auch mit Jann: ihre heile Welt - und meine zerbrochene stoßen zusammen, Zeitbrüche und Schläge, die im ziemlich schmerzhaften Umbau der Person einen Menschen völlig verändern, ihn zum Un-Normalen machen, so daß er sich lächelnd anstrengen muß, doch noch in die stärkere, heile Welt zu passen, sind von ihr nicht nachvollziehbar. Es kommt mir aber oft vor, als wären diese Naiven hier sehr antiquiert, nie sind nach dem Krieg kollektive Schmerzen durch sie hindurchgegangen, immer nur private, alles andere erfahren sie nur außen, aus der Zeitung und aus dem Fernsehen.

Genau dieser Unterschied scheint auch Ost- und Westdeutsche zu trennen; fast wäre zu sagen: die Ostdeutschen übernehmen im alten Gegensatz Künstler-Bürger die Rolle des Künstlers - wider Willen und als Danaer-Geschenk. Persönlich können sie ja nichts dafür und sind auch nicht besser oder schlechter als die Westdeutschen, nein, oft sind sie gröber, ungeschliffener, auch spießiger als Person, und im Umgang miteinander rauher, rücksichtsloser. Schlechte Erfahrungen und Erinnerungen steigen in mir hoch, und ich gebe Monika durchaus Recht, die Aggressionen wider ihre ehemaligen Landsleute entwickelt, wenn die Rede auf diese Unterschiede kommt.

Doch sie haben ein Atout, sie leben im Offenen, ausgesetzt und ausgeliefert, völlig ungesichert. Ob sie die Chance auch wahrnehmen und nützen können, ist eine andere Frage. Ein transzendentaler Moment des Menschenlebens wird so im Offenen jetzt spürbar: Keinen Augenblick wissen wir, was der nächste bringt, es ist also für Überraschung gesorgt, wir müßten sie nur annehmen, wie wir uns selbst als eine Überraschung annehmen müßten. In der Revolution bricht die Überraschung die Gewohnheit, die dieses Neue verstellt, auf, doch was schon geschehen ist, die fertige Welt also, holt wie immer, das Überraschende ein, vernichtet es wieder, die stärkere, zum Lebenssystem geronnene Gewohnheit hier schlägt zu.

 

Doch auch dieses Offene wird blockiert, von innern Zweifeln besetzt. Denken wir nur an den kaum künstlerischen, sondern ideologischen Futurismus im Osten: Mit Vertröstungen auf die Zukunft haben die Diktatoren dort mehreren Generationen auf diverse Weise das Leben gestohlen. Im realen Gefängnis oder in jenem der Angst, der Not, der Finsternis. Im Gefängnis der falschen Töne und Ideen. Millionen und Abermillionen haben in ihrem Arbeitsalltag ihr Leben vergeudet, soll nun alles vergeblich gewesen sein?

Es ist wie in einer Geschichte von Maupassant, "Das Collier", wo eine arme junge Frau von einer Reichen für ein Fest ein Collier leiht, das ihr gestohlen wird, sie kauft ein gleiches zurück, und zahlt ihr Leben lang die Schulden ab; am Ende ihres Lebens trifft sie ihre Gönnerin wieder, erzählt den Vorfall. Die ist bestürzt und teilt ihr mit, daß jenes Schmuckstück ein falsches gewesen war. (Den Vergleich bringt Tzvetan Todorov in: Lettre 9,). Es ist nicht nur ein verlorenes Leben, sondern verlorene Vergangenheit, eine furchtbare diskreditierte Erinnerung und eine entwertete Zukunft. Das Zeichen: ein großes Umsonst. Doch für mich bleibt die Frage offen: Ist das wirklich so?

 

18. November 1992. Abend beim Ehepaar R., begüterte Kulturbeamte mit fetten Renten. Er hielt einen Diskurs: daß nun endlich das "hocherprobte Normale" angebrochen sei; daß bei Ostmenschen sowohl Denken als auch Leben völlig fehlgelaufen seien, daß Denken und Leben im Westen das "Richtige" und immer schon gewesen sei; je länger der Abend, umso wüster das Vokabular, von "Ostschweinen", die nun "einbrechen" und "uns" alles wegnehmen, bis hin zu den "Zigeunern", die stehlen, betteln, überall hinkacken, waren alle Requisiten da. Also auch hier, nicht nur in Sarajewo, Bukarest, Ostberlin und Rostock, ist das Unbewußte aufgebrochen. Aber Westmenschen - ins Private entlassen - ohne "historische" Schmerz- und Angsterfahrungen, sind relativ harmlos, so kamen sie mir anfangs vor: ihre Interessen winzig, redeten andauernd über Autos und Preise, Hunde und Häuser, Urlaubsreisen, über Beziehungskisten, eine Normalität des "Alles ist so wie es ist", utopielos, trostlos und geistlos, das barbarisch "Deutsche" gezähmt von der D-Mark.

 

In der Diktatur aber gab es früher diese innere Solidarität wider den Staat. Ich erinnere mich voller Scham, wie hier in Italien der Bruder eines Freundes, der aus Argentinien kam, wo die Junta wütete, uns entgeistert zuhörte, als wir über die dringend nötige Anschaffung einer Badeleiter für unser Boot sprachen.

Doch diese innere luxuriöse Grenze im Westen ist mit der äußeren langsam löchrig geworden, die Unsicherheit nimmt zu: Arbeitslosigkeit, Geldmangel, Scham wegen der Neonazis - die Leute sind jetzt auch im Westen geschlagene Leute. Die zweite, dritte, vierte Welt steht vor der Tür. Die brutale Reaktion der Neonazis ist nur die Spitze des Eisberges. Jeder, der weiter seinen Lebensstil behalten will, wird mitschuldig! Aber auch der Einsichtigste wird, sollte es dazu kommen, mauern, vielleicht sogar als "Grenzwächter" mitmachen, man könnte sich ja mal so einen GRENZKRIEG und Abschottungskrieg gegen die "Eindringlinge" der zweiten und dritten Welt vorstellen, den Wohlstand zu erhalten. "Wer zweifelt daran", schrieb Peter Sloterdijk, "daß die Androhung von Automobilitätsentzug in der gegenwärtigen Gesellschaft einen Bürgerkriegsgrund darstellt".

Doch immer noch wird die bundesrepublikanische Biedermeierzeit hochgehalten, so getan, als wäre noch alles im Lot. Dabei gibt es nicht nur den alten Osten nicht mehr, auch der alte Westen ist verschwunden. Es ist eine Enormität, doch was dem Okzident einmal im Ideellen zugestoßen ist: Gottes Tod, und das Verschwinden des alten Wertsystems, dies scheint sich nun mit der "Realität" zu wiederholen: sie ist zum Phantom geworden.

 

WIE ES WEITERGEHT

Tritt aus dem Bild heraus

 

Erzählungen

vom alten Herrn

Der Welt

Wie er regiert

Was sichtbar ist

Doch nicht mehr existiert.

 

Das "Neue" ist das Uralte, zwingt jeden wider bessere Einsicht, dem eigentlich nicht mehr existierenden Herren zu gehorchen.

 

25. November. Ich erinnere mich an eine durchdiskutierte Nacht mit Jugendlichen in Halle (Herbst 91),da war die Wut dieser jungen Leute wider die "neue" Ordnung spürbar, ja, rabiat. Und warum tut ihr nichts, fragte ich sie. Gegen die Stasi, gegen die Genossen war Widerstand möglich, sagten sie. Aber gegen das Geld? Das brauchen wir doch, sagte einer. Und in Bukarest hörte ich: Wir müssen jetzt alles daransetzen, uns vom Westen ausbeuten zu lassen!

Aber das ist leider nicht alles: Das Alte, das Verdrängte kommt wieder, wie wir sahen. das "Ursprüngliche", die bisher nur geheimen Wünsche. In Deutschland ist dieses "Alte" besonders abscheulich. Der Philosoph Arnulf Baring sagte in der Martin-Schleyer-Halle: Es sei "uns" nun in den Schoß gefallen, was in zwei Weltkriegen nicht erobert werden konnte! Ich erinnere mich: Im Jugoslawien der Siebziger Jahre (an einem Neckermann-Mittagstisch) hörte ich von einem ehemaligen SS-Offizier, der seiner Frau die Stätten seiner Jugend ("Bandenbekämpfung") zeigte, wie er sagte: "Mit der D-Mark haben wir den Krieg nun doch noch gewonnen."

 

29. November. Ich hörte im Südfunk einen Vortrag von Gernot Böhme, Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt über "Lebensbedingungen in der technischen Zivilisation". Auch das "Projekt der Moderne" sei nun schon überholt, sagte Böhme: Äußerer Zwang, der anfangs immer mehr durch inneren Zwang ersetzt worden war, so der Knüppel durchs Gewissen, werde nun heute wiederum überholt durch mechanische Sachzwänge. Gewissen wird obsolet. Wer sich dem neuen Zwang nicht unterordnet, etwa beim Autofahren, wird durch einen Unfall, u.U. mit dem Tode bestraft. Diese westliche Grundverfassung (Streß) beruht auf der Funktionslosigkeit von Gefühlen, Moral, "alten Werten".

 

Ich erinnere mich an den Fall des Pietro Maso, er stammt aus einem Nest bei Verona. Er und drei Freunde hatten seine Mutter, seinen Vater ermordet, kaltblütig geplant, erschlagen mit "Mordwerkzeugen". Ganz cool redete Maso. Es ging umgerechnet um ca. 1,2 Millionen D-Mark, die er "brauchte", um ein "gutes" Leben führen zu können. Vielen fehlt der Mut, das gleiche zu tun, sagte einer in der Diskothek des Ortes. Es ist die Generation der 16-20- jährigen, die gleiche Generation, die auch in Mölln aktiv geworden ist. Die Eltern klagen über die "Leere und Gefühlslosigkeit" ihrer Kinder. Die psychischen Energien, auch die des Gewissens sind da, nur werden sie nirgends mehr gebraucht.

Im Osten dagegen war Moral noch gefährlich, Gewissen ebenso. Diese millionenfache Innerlichkeit war dort nie "funktionslos", sie wurde ängstlich von der staatlichen Überwachungsindustrie beobachtet, war Staats-Feind Nr. 1 des Systems, und konnte, unter Druck, 1989 explodieren. Heute aber wird dort die gleiche "postmoderne" Seelenlage aus dem Westen importiert, totalitäre Charakter-Verbiegungen, Identitätsverlust, materielle Misere und Zukunftsangst kommen noch hinzu. "Dort, wo die Zukunft der Vergangenheit angehört, hat die Vergangenheit eine große Zukunft." (G.Dalos in: "Neue Literatur", Bukarest 1/92 ).

Der Westen kanalisiert sozial unbrauchbare Energie durch Ästhetisierung, Markennamen als höchster Wert, wichtigstes Kriterium der Wahrheit: Kosten, VerKosten, Geschmack ist Sein, Welt zum Stil hin-gerichtet. Hinter gestylten Fassaden die Barbarei. Der Soziologe Gerhard Schulze hat diesen wichtigsten Aspekt des Westens vor kurzem genau beschrieben. ("Die Erlebnisgesellschaft", Campus Verlag, Frankfurt/ New York 1992.)

Beide Systeme aber gediehen im Abgrund des Tranzendenz-Verlustes. Totaler Mangel an Ethik oder eine angestrengte Moral führen zu ähnlichen Gewaltorgien:

 

Eine "objektive" Moral aber liegt in der Sache selbst. Und wenn wir heute überlegen müssen, daß das sogenannte "Sittliche" ohne diese Verbindung mit dem Wirklichen der Transzendenz, Betrug sein muß, ein Mäntelchen der Macht, so folgen wir Nietzsches Gedanken, sind aber als Späte besser dran, weil Nihilismus, der eigentlich in gewendeten moralischen Kategorien gefangen ist, von Forschung überholt und abgelöst wird, die das Fehlende herausstellt, das Nicht-Wissen fast schon kalkulierbar macht wie in der "Unschärferelation". Und wenn Carl Friedrich von Weizsäcker sagen kann, daß Friedfertigkeit, auch im Politischen, nicht möglich sei, ohne mit dem Tode im Reinen zu sein, dann zielt das auf die mangelnde Transzendenz, die nicht nur mit der Glaubensbedürftigkeit eines alten Mannes zu tun hat, sondern mit dem soliden, dem negativen Wissen eines Forschers, der weiß, daß begriffliches Denken, den eignen Grund nicht denken kann, dieses Manko sogar in die Forschung mit einbeziehen muß, damit diese exakt sein kann. Das Sittliche kann zum Bösen werden, ja, möglicherweise haben Intellektuelle und Diktatoren mit ihm erst das heutige Elend verursacht, denn "das Sittliche ohne das Heilige ist nicht lebensfähig; es ist die Forderung ohne ihre Ermöglichung. Die selbstverzehrende Anstrengung der bloßen Moral kann kaum umhin, wenn sie wahrhaftig bleibt, böse oder verzweifelt zu werden." ("Im Garten des Menschlichen," München, 1977, S. 163).

 

Agliano, 24. Dezember 92. Leere, Gleichgültigkeit. Keine Weihnachtsstimmung. Als wäre die Fähigkeit zur Kindheitserinnerung verloren gegangen. Meine persönliche Angst wächst. Ich bin überall ein Ausländer. Meine erste Frau ist Rumänin. Mein Sohn also nur ein "Halbdeutscher". Der Mann meiner Nichte ist Schwarzer, ihr Kind ein Mulattenkind, das "Fremde" ist bei ihm wie ein Stigma sichtbar. Aber als ich seinen Vater fragte: Etienne, du hast ja nun bald einen deutschen Paß, was bist du nun eigentlich? Da antwortete er ungerührt: ICH BIN ETIENNE!

 

Agliano, 25./ 26. Dezember 92. Gestern waren zwei Freunde zu Besuch, er Grieche, sie Pisanerin. Beide Psychoanalytiker und Hochschullehrer. Sie, ebenfalls einem "Staatsvolk" angehörend, gesteht ihren Antisemitismus ein. Eine weitere Hierarchie der Verachtung: ganz unten die Sarden, Calabreser, dann Neapolitaner, Römer... oben - die Toskaner, Lombarden. In Siebenbürgen gab es ein ähnliches Rassenschema: Zigeuner, Rumänen, Juden, Ungarn, ganz oben die Deutschen. Faschismus heißt, sich in seinen Instinkten ohne rationale Kontrolle gehen zu lassen. Als käme die Masse jetzt wieder schrecklich "zu sich". Wir entdecken mit Erstaunen, daß unsere alten Erzfeinde, Staat, Kapital und ihre Institutionen als Schutz und Ratio (nicht Moral) zu akzeptieren seien. Die Regierungen sind fast überall besser als die Mehrheit ihrer Völker. Von der Gesetzes-Vernunft der Verfassung ganz zu schweigen. Nicht Personen, schon gar nicht subjektive Willkür einer momentanen "Volksstimmung" dürfen herrschen, Macht bestimmen (durch falsche Alternativen bei Wahlen, bedürfnissteuernde und produzierende Werbung, kulturvernichtende Einschaltquoten), sondern die Verfassung. Ich erzähle von meinem Herbstbesuch in Dresden. Privat einquartiert in einem sterilen, nach Weststandard eingerichteten Appartment, ließ die Vermieterin, (neues "Staatsvolk" zweiter Klasse) Typ SED- Amtsleiterin, ihre Aggressionen gegen Russen, Tschechen, Polacken, Zigeuner und Neger los, Bewußteinsmuseum:Spießerstandards bis hin zur "deutschen Tüchtigkeit". Bei der Weiterfahrt schockierte uns nach der Grenze die unveränderte Armut und geschichtslose Stille im Nachbarland - und die lauten deutschen OstReichen mit alt-neuem Selbstbewußtsein in den teuren Nachtlokalen von Karlsbad.

Hatte nicht schon der Dr.Goebbels gesagt, "wir dachten primitiv, weil das Volk primitiv ist". Ich erzählte meinen Freunden vom Skandal am 9. November 92 in der Frankfurter Paulskirche, als der Hauptredner Manfred Frank Goebbels zitierte und davon sprach, das Wesen der Demokratie komme niemals in der Forderung zum Ausdruck, sich dem Druck der Straße zu beugen, wie das in Deutschland jetzt geschehe. Darauf verließen die Honoratioren die Paulskirche unter Protest, das Stadtparlament distanzierte sich eilfertig. Der Hauptredner hatte an den Verfassungskonsensus erinnert, daß dieser Konsensus mehr gelten müsse, als die Anpassung ans "gesunde Volksempfinden" der Wähler.

"Volkssouveränität" ist etwas anderes als Parteienherrschaft oder gar Massendiktatur des schlechten Geschmacks, eine Art DEMOKRATUR, es ist auch keine "Volksgemeinschaft" (von der die eilige ostdeutsche Bananen-Mehrheit 1989 - "wir sind ein Volk," ausging, die die Revolution zur Restauration machte), sondern sie ist "Rechtsgemeinschaft". Und das Prinzip Rechtsgemeinschaft wurde bei der "Wiedervereinigung" mit Füßen getreten. (Vgl.dazu Ilse Staff "Wiedervereinigung unter Rechtsgesetzen" ZRP, Heft 12.) Sie ist kritische Öffentlichkeit, der vernünftigen "institutionell abgesicherten Selbstkontrolle einer offenen Gesellschaft". Die erste Phase des Volksaufstandes im Osten wider den "Glückseligkeitsdespotismus" war gewaltfrei und öffentlich, enthielt sogar in der provisorischen Institution des "Runden Tisches" (auch in Polen und Ungarn etwa) Elemente der Verfassung. Das grundgesetzwidrige "Stasiunterlagen- Gesetz" wird weder den im Westen geltenden Rechtsnormen von Persönlichkeitsrechten etc., noch den Realitäten eines völlig unterschiedlichen Sozialisationsprozesses im Osten gerecht, und macht die Ostdeutschen zu Fremden im eigenen Lande, anstatt ihnen die Chance zu geben, jene durch sie erkämpfte Freiheit und Öffentlichkeit nun sich selbst und auch den Westdeutschen zukommen zu lassen. "Gesundes Volksempfinden", "common sense" etc. sind die Lebenslügen einer stupiden Anpassung an das, was uns umgibt, (alles ist so wie es ist), dem wir angeblich ausgeliefert sind. Es läßt sich aber nachweisen, daß diese so verfaßte "Wirklichkeit" ein gefährliches Wahnsystem war und ist, das im Laufe der Zeitgeschichte immer mehr von der primären Natur in ein sekundäres System verwandelt, Natur auffrißt und zu Abfall macht. Jene innere Grenze, die Literatur immer und überall von den Verfechtern der "Normalität" und dem "gesunden Volksempfinden" in all ihren wuchernden und krebsartigen Formen trennt, macht jene Autoren, die Literatur in ihrem eigentlichen, das Wahnsystem Realität überschreitenden Bereich, schreiben, letztlich zu Menschen der "Dritten Art".

3. März 1990. In der letzten Nacht vor der Heimfahrt, ich war lange Jahre nicht in meiner siebenbürgischen Heimatstadt gewesen, - Träume; die Stadt hatte sich ja mit Träumen vermischt, als gäbe es sie nicht mehr wirklich; irre Substantive vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanzgraben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, Frühjahr, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropfte ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Güterzug mit Panzern vorbei. Ein Leichenwagen schien alles einzusammeln, Gras für Gras, und darüber flirrten die grünen und farblosen Libellen. Heiß der Stein. Und ich fuhr über die Brücke, das schwarze Auto blieb zurück, konnte nicht folgen. Ein schmaler Weg führte zu einem Haus, die Tür stand offen, ich trat ein. Da war das Vorzimmer meiner Kindheit mit dem Spiegel, ich sah hinein, und sah dort den Bekannten, Niemand; ich war also da. Nicht? Mit einem harten Schlag fiel die Haustür zu, und ich erschrak gar nicht. Draußen hupte es unterdrückt, Kastanien fielen prasselnd vom Baum vor dem gelben Zaun, Staub wirbelte auf. Da kam aus dem Speisezimmer durch die Diele ein Fremder, er ging auf mich zu, er sagte, ich müsse ausziehn. Ausziehn? Nein, mich ausziehn. Und schnell entkleidete ich mich und fühlte mich so nackt sehr leicht. Auf der Terrasse vor dem Haus standen schon andere Leute, ebenfalls so ausgezogen wie ich, zögernd standen die da, die Terrasse hatte kein Geländer mehr, nur der Maulbeerbaum sah über den Rand, man erkannte die Krone. Die andern sprangen einer nach dem andern in den Abgrund. Ich schaute ihnen nach, aber sie stürzten nicht, sondern sie schwebten...

 

4. März. JETZT ist es, als käme ich in eine vergrößerte Zeit. Was vor 1944 gewesen war, ist nun mit angeschlossen, meine Geburtszeit nicht mehr von mir getrennt; das Vorgestern, also die dreißiger Jahre und mehr noch Siebenbürgen als k.- und k.-Land, Großvaters Zeit, gehören wieder zur Gegenwart - wenn auch noch verborgen; und doch, es ist im verwitterten Schein zugleich auch alles gelöscht, als gäbe es nun eine leere, weiße Seite. Wie in Deutschland jetzt alles wieder da ist, und es keine Bundesrepublikaner mehr gibt, auch ich, als der, der ich nie war, bin nun auf einem andern Löschblatt! Zweifach der Schein. Wie das östliche Land, die östlichen Länder: "Es wirft sich weg und seine magere Zierde./ Dem Winter folgt der Sommer der Begierde./ Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst./ Und unverständlich wird mein ganzer Text/ Was ich niemals besaß, wird mir entrissen./ Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen." (Volker Braun).

Die Chance jener im Land, denke ich: den Bogen wieder schlagen zu können zum Anfang der Tyrannei, zur Null-Stunde? Oder? Bei den Emigranten ist das unmöglich, die andere, liegengelassene Hälfte ihres Lebens ist jetzt endgültig vorvergangen, die 20 Jahre trennen uns von ihr.

 

Vor der Grenze, in Ungarn also - noch schnell ein Gulasch, Urangst, zu Hause nichts zu Essen zu bekommen? Draußen fährt ein Paar mit dem Fahrrad unkontrolliert über die Grenze. Ich staune. Dies ist ein neues Land, sage ich mir. Ja, wußte ich es denn nicht? Bilder sind stärker als der Kopf. Zöllner suchen Waffen, Drogen Landeswährung. Hineinfassen in den Kofferraum. An der Mauer die neue SCHRIFT: Jos...Nieder! Starke Emotion, die nicht mehr abreißt:

 

Klausenburg. Wir wohnen in einem kleinen Hotel gegenüber der Hauptkirche und der Matthias-Statue. Gleich gegenüber beim Hotel "Continental" scheint jetzt das Zentrum der Stadt zu sein. Blumenkränze, Tannenzweige, Kerzen. Betende Menschen. Stille. Die Namen der 32 Gefallenen. Darunter 5 Soldaten. Bilder, wie junge Menschen vor Gewehrläufen stehn, ihre Brust entblößen. Ein großer blonder Junge aufrecht vorn. Doch geschossen haben nicht die Soldaten, ihr Offizier wurde verwundet; geschossen wurde aus den Fenstern, dirigiert von Leuten in Zivil; Ceausescus getrimmte und gedopte Roboter seiner Spezialeinheit, von der nicht einmal die Securisten etwas wußten.

6.März 90. Über Zuckmanteln und Nadesch kamen wir durch das bekannte "Weinland". Über die Schiedsspruch- Grenze 1940. Ich erkenne das Bild, aber ich bin nicht da. Soll ich eine "Scholle" in die Hand nehmen? Die Felder sind bebaut, es ist gesät. Ich entdecke die Kontur der Berge. Schmecke Weißwein im Glas. Weißen Speck und Brot. Fühle den Holperweg mit Drecklöchern. Vor den Häusern sitzen Frauen und Kinder, sie sehen uns nach, ihr Blick ist verloren, als wären wir eine Hoffnung aus einer unvorstellbaren Ferne. Ihre Blicke müde. Was suchen wir hier?

 

In Marienburg sehen wir die Kirchenburg von außen. Sie ist abgezäunt, Treppen führen wie früher hinauf, der Pfarrhof ist leer. Nachts auch kein Licht? Der Blick ist abgeschnitten, ein Gedicht von Hodjak fällt mir ein:. "Den Kirchberg herunter kommen Grabsteine. Heuschober... Die Stille abends ist so tief/ wie kurz vor dem Weltuntergang."

Nur noch einige Kilometer bis zu meiner Heimatstadt, am Herzberg vorbei. Viel zu rasch geht alles. Die Distanzen sind so klein. Früher der Pferdewagen. Da brauchte man Stunden. Zu schnell sind wir in der Kindheitslandschaft, der Wench: Wiese, Fluß, Wald. Die Wench, sie ist es, und sie ist es nicht, wie ihr entstelltes Gesicht: Eine Müllverbrennungsanlage. Berge von alten Autoreifen unter dem verlassenen jüdischen Friedhof. Und das Bild erfaßt mich: Rauch darin, Abfall Haufen brennen am Ufer, an der Wenchbrücke, die der Fluß bei der letzten Überschwemmung mitgerissen hatte, jetzt steht eine neue Betonbrücke da, neben einer Abfallwüste. Ich steige aus, versuche zu sehen; alles ist kahl. Am Ufer der Stadt zu, die man noch nicht sieht, sie ist hinter dem Berg versteckt, am Ufer eine verlassne Industrieanlage, Röhren, Gestänge, dahinter die Bergkuppe, früher Schußfahrt auf Schiern. Die Gegend war ja einmal dicht mit meinen Erinnerungen besiedelt, mit jenem Kind, das ich nicht mehr bin, das aber immer noch in mir ist. Schneegeruch? Was löscht mich aus? Wir biegen rechts ab, da an der Stelle, wo mir Großvater auf dem Pferdewagen die Himmelsrichtungen erklärte, und Hüh, Tschea, wo "links" und wo "rechts" ist, ich fühls noch an den Armen, der Hand, seinen Griff, mit dem er das Wort an der Hand festmachen wollte. Wir biegen rechts ab, fahren an Viehställen entlang, ein Zigeunerlager. Ich denke plötzlich an den Abfall in Haiti, in Mexiko City, während wir den alten Bezeichnungen nachfahren, die in meinem Hirn platzen: Hula Danesului, Atelshill, Attilas Höhe. Die "Gottesgeisel" soll da gewesen sein! Der Wald lebt noch, Grün. Stämme. Sogar Blumen.

In der harten Heimat außen gefangen, ich, kaum glaublich: wirklich da. Dann nach der Kurve: endlich ist die Wench außerhalb des Blickfeldes: wir fahren hinauf am Wald Rand, Gras Böschungen, Erd- und Blattgeruch wie nach dem Regen die Elemente: zur vertrauteren Hülle, und biegen da in den Holzweg zur "Breite" ein. Parken, wir hatten vor 20 Jahren mit Jann hier gegessen, Sármálute cu mámáligutá,, Kraut, Mais Brei.

Und jetzt schämte ich mich, sah: Arme Ferienhütten, nachgemacht dem Wohlstand, wie Hundehütten. Nur mit Mühe zog ich Jann ins Lokal rein. Sie ist nicht hier, hat keine Erinnerung. Und sieht nur den niedrigen finsteren Raum. Bier, Rauch, langgezogen, innen langgezogen, grau, wie eine ausgeflossene Farbe: Tische, daran saß eine Hochzeitsgesellschaft, die sangen, hoben das Glas uns zu, Scham, mich abzuwenden, nickte, war wie ein Phantom plötzlich im Rauch verschwunden, zurück in den Schankraum, ein Bier, nein, ein Wein, nein, ein Brot, NEIN. Janns unwilliges, von Ekel verzogenes schiefes Gesicht...

Die Brutalität des Außen, das bis zum Äußersten geht, ist eine offne oder heimliche Materialschlacht. Wir wissen, es begann mit dem Ersten Weltkrieg; Bilder, die vor mir auftauchen: der Geruch nach Ledergamaschen, das Stifken meines Großvaters und die verstaubten Haufen der Weltkrieg-Eins-Illustrierten mit Schlachtenbildern, Dicker Berta, Rotkreuzschwestern...Seither - anstatt Erfahrung, Leben, Erinnerung: Industrie, Masse, das irdische Inferno. Was Jahrtausende galt, Gedächtnis, liegt nur noch in den historischen Nebenräumen, wo Vergessen aufgehoben wird: Literatur.

 

Ich vergesse sogar, woher alles gekommen ist, ein ganzes Buch vergißt es jetzt, und fängt in diesem Prozeß immer wieder von neuem an, "gestört" vom letzten fahlen Lichtstreif des "Außen", denn es verbindet mit dem, was wissender geschieht. Es ist ähnlich wie mit dem Wetter, dem genügt das leichte Schwanken einer Blume, der Rauch einer Zigarette, der Flug einer Möwe oder hier eines Spatzen, damit es sich für einen andern Verlauf seiner unerschöpflichen Phantasie entscheidet, die hier aus einer andern Zone widerscheint, zur Sprache kommt.

 

Erst als ich die Silhouette der Burg sah, unverändert alt, war wieder dieser Stich freudigen Erschreckens da.

Von der Albertstraße bogen wir in die Holzmarktgasse ein; Und ich erkannte das Erinnerungshaus wieder; grünverblichene Jalousien, wie altgewordne Augen, niedriges Gassentor, gelbverblichener Zaun, Farbe vom Wetter verwaschen, abgeblättert: unser Haus. Wieso steht es so vor mir, wie eine Kreatur und wie ein Schlag ins Gesicht. Im Garten arbeitete ein Mann mittleren Alters, sah über den Zaun, mißtrauisch. - Wer sind Sie, was suchen Sie? Ich zögerte, stotterte, sagte: Ich bin DS.

Freude auf seinem Gesicht? Kommen Sie bitte herein, meine Frau wird sich freuen.

Er ist nicht mehr tabu, dieser Ort. Früher: das Haus der Securitate. Der ehemalige Folterkeller daneben, der Schrei, nachts, die frühere Landwirtschaftskammer, sie ist jetzt eine Klinik. Erinnerungen fließen, die Wand ist weg. Und da bricht WIRKLICHKEIT durch.

 

7. März.Zwei Nächte schlafen wir im ehemaligen Herrenzimmer. Die Bewohner, sie heißen Agapie, kümmern sich um uns, als wären wir zerbrechlich. Ich tastete die bekannte Tapete ab, die Wände.

Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht möglich. Das Wesentliche der Vergangenheit verschließt sich, das Außergewöhnliche scheint nun verschwunden; was jetzt da ist, das Herrenzimmer, die Gasse, sind in eine fahle Normalität getaucht und wie verlassen, nur Trümmer, Relikte - es ist wie eine Stadt nach einer Überschwemmung, da ragen die Reste hervor. Wenn ich die Augen schließe, das Gedächtnis aufbricht, nah, wie ein Traum und unschuldig wie jedes vergessene Erleben... fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein, die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen, am Zaun entlang auf ihrem Beet neben der Laube, bis hin zum Kompost und den Abfalleimern in der Gartenecke zur Landwirtschaftskammer, Camera Agricola, vor der es mir grauste, wo aber damals die Familie Márgineanu wohnte, zwei Töchter und ein älterer Sohn; aber wenn ich die Augen öffne, und nicht ab sehe davon, ist nichts mehr da.

Echo des Zeitbruches, jahrelang nur in der Phantasie. Durchbrach den Boden des Bewußtseins und es lag jahrelang irgendwo im Dunkeln. Furcht, es könnte durch diese Begegnung vernichtet werden. Weiterleben wäre dann unmöglich. Eine endlose innere Wüste.

Geruch und Geschmack. Und ich fand nur eine kalte abweisende Wand. Die Augen sehn zwar diesen Zaun, wo einst der Rappe des Hauptmanns stand, aber wie durch mattes Glas; der Rappe wiehert, der Bursche striegelt mit einer harten ovalen Bürste den Pferderücken, der deutsche Offizier hebt mich aufs Pferd: ich reite; vier Jahre später zogen Russen durch die Gasse, ein Major kam ins Haus, Erschrecken, aber er verlangte nur weiße reine Leinwand, ein Flintenweib hatte geboren, die Nachgeburt, das Blut, da, auf einem der kleinen Panjewägen, Stroh, Klappern, endlose Kolonnen von Panjewägen, die durch die Albertstraße zogen, arm; bei den Deutschen waren es Panzer, waren es Kradfahrer gewesen, die rasten da die schnurgerade Straße entlang, berührten kaum den Boden, flogen, sagte Mutter, durch die Kindheitsstraße, wo der Kastanienbaum fehlt, jetzt ist die Staubstraße asphaltiert; keine Bilder kommen, nichts regt sich; sie kommen beim Wachliegen nachts, das Kissen am Kopf, weich, ein Tier, das alte Schlaftier, und der Rost der Eisenstäbe und Gitter der Laube, an der zarte hellviolette Klematis hochwuchsen, rissiger Holztisch, sein Rund, diese rauhe Oberfläche an der Hand, kommt hoch, die Schaukel am Apfelbaum, niedere Äste im Beet, Astern, Löwenmaul gepflanzt nach der Schnur, Erdgeruch dick, und weiße Engerlinge, die sich winden, am Kopf bräunlich wie Zacken Fresswerkzeuge, er wird mit der blitzenden Klinge der Schaufel halbiert, windet sich in der Furche beim aufgegrabenen fettigen Beet; wir lebten, wir waren da, Prickeln, die Angst im Bauch, in der Nase Schulbodengeruch, schwarz...

In der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer...Und dann die Nacht.

Ein Pferdewagen rollt vorbei. Und ich denke daran, wie sich der Bogen schlagen ließe zu 1944 oder wenigstens zu 1950. Wann? Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein, auch hier im "Speisezimmer". Ich sitze neben dem gelben Kachelofen, der summt nicht wie früher, die Glas- und Schiebetüre zum Herrenzimmer ist offen, dort haben wir zwei Nächte geschlafen, keine Träume, nur fiebrige Erinnerungen. Alles noch da, die Vorhänge, das Rauchereck, sogar das alte Spiegeltischchen meiner Mutter, braun, an das ich fasse, als wollte ich so den `Durchbruch` erzwingen, die Zeit zusammenfallen lassen in einer Fingerberührung, Kindermagie. Obwohl die Agapies sich rührend bemüht haben, alles so zu erhalten, wie es einmal war, weshalb eigentlich? - ist über allem eine fremde Schicht von Unerkennbarkeit, die Jahre, die Atmosphäre; es sind nicht nur die Nägel, die die Securitateleute, die einmal hier gewohnt haben, in das Furnier der Schiebetüre geschlagen haben, oder die Parketten, die von ihnen mit Linolöl eingelassen, nun schwarz wie ein Schulboden aussehen, nein, es liegt auch in mir selbst...

 

8. März. Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, diesen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte, nicht-lebend.

Die netten Agapies lebten, so schien es mir, in der Wüste meiner eignen Empfindungen.

Die Zeit so lang abgelegen, unbewegt, bis sie sauer geworden war, auch in den Gegenständen, ein unendliches fades Warten. Verfaulte Zeit, auch in den Mauern, den Läden, den Stühlen, da schwingt nichts. Die Dinge sind kaputt, auf dem Weg zum Abfall, ihre Zeit ist vorbei, und es gibt keine neue.

 

Ich wollte nicht allein sein. Aber die Kluft läßt sich durch Gespräche nur mildern, nicht überbrücken. Wir haben uns alle auseinandergelebt: In Gesprächen kann ich auch zu meinen Geschwistern nicht kommen, obwohl sie ähnliche Erinnerungen haben müßten, aber sie haben sie nicht oder eine andere Disposition, denn sie sind nun alle Bundesdeutsche geworden.

Die Einsamkeit meiner Kindheit wächst, je älter ich werde, nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es Niemanden gibt, durch mich noch spürbar. Wie es wirklich war, ist weniger wichtig. Aber die Hausfrau fand es sogar richtig, sich zu entschuldigen, daß es den Kupferofen nicht mehr gebe. Und daß die Tür vom Schlaf- zum Badezimmer, zugemauert worden war, dafür gebe es ja eine Türe aus der Küche ins Schlafzimmer. Sie zeigten mir die blaue Bemalung mit den goldnen Sternen in der Diele. Die ist geblieben, sagte sie, die ist uns kostbar. Nur die Diele mußte abgetrennt werden vom Treppenhaus, das hinauf in die Mansarde führt, dort wohnt eine andere Partei^; Partei? - das Haus ist geteilt. Wie das Gedächtnis, denke ich.

Aber langsam bevölkert sich jetzt, wenn ich so die Zeile entlangschreibe, der Gedanken Gang: weit weg in andere Räume.

Oben auf dem Wiesenhang, wenn die Nacht einbrach, blies Onkel Georg, den sie sechs Monate später nach Rußland verschleppten, blies in die Nacht hinein den Trompeter von Säckingen: "Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein." Ich sagte zu Jann, versuchte es ihr zu erklären: Wie ähnlich diese Vergeblichkeit, doch dem abgrundtiefen rumänischen Nu a fost sá fie": "Es hat nicht sollen sein" ähnelt. Es gibt im Rumänischen etwa 10 Optative. Im Lateinischen, aus dem das Rumänische herkommt, nur einen, dazu einen geliehenen. Eine Wunschform wie den "Presumtiv" gibt es in keiner andern Sprache: "Va fi fost sá fie, kaum übersetzbar": Auferstehungshoffnung der längst vertanen Gelegenheiten und des Lebens, denn es wird da etwas gewesen sein, was noch kommen müßte.

Im Familienfoto stand die Zeit still. Und ging bis zum Dezember 89 nicht mehr weiter. UND NUN? - Der König, kommt nun der König wieder? Unsin der Symbole. Aber lies doch nach, DS, der KÖNIG, der ganz Andere, der steht für das Fehlende. "Im Nichts - wer steht da? Der König. Da steht der König, der König. Da steht er und steht." Ort der jedem einmal schien, wo aber noch niemand war. Gefühle gehn langsam und besser die Zeitspanne hinab, und kommen ins kommende Nirgendwo nach Haus, das so wahr ist wie mein eigner ausstehender Tod. Und kaufe das Sommerhaus ganz sicher nicht, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, dieses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirkliche zu holen. Ins Wirkliche?

Dieses Land gehört nur erinnert noch mir, in der Wirklichkeit hat es sich viel weiter von mir entfernt, als ich von ihm.

Sternlieder. 3 Könige, mein Gott, wandern dem Lichtjahr der Kindheit entgegen. Doch nicht der Genfer.

 

9. März 90. Da, ein Stück blaue Wand, alte Ölfarbe, oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA: so daß zu viele Einzeldinge und Eindrücke auf mich zukamen, voller Zeit noch, bekannt also, doch sie banden sich nicht mehr, fielen aus der Gegenwart, diesem Alltagsgefühl: heute. Dagegen die Namen: Dr. Filipescu, der Nachbar, Kuales, der andere Nachbar, der mit dem Wolfshund, sein Bellen nachts, Blumennamen: Klematis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses Namen, sie allein sind geblieben, sie wecken Gerüche, Gefühle retten Absenz über Abgründe etwas Anderes, ich kann es mitnehmen, ich brauche nicht hier zu sein! Aber im Bad fehlt der alte Kupferbadeofen, jetzt ists ein Boiler. Der abwesende Ofen ist realer als der Boiler.- Aus dem Badezimmer kam der Lichtschein, Fiebertraum des Kindes, der heiße Kupferofen, der Dampf, dazu die Märchen. Versuchte, den beiden Lehrern, den Heutigen, versuchte ich, das Phantom, zu erzählen, "alles" zu erzählen; und ließ auch meinen Roman zurück, die beiden Töchter sprechen gut deutsch, hier kommt dieses Haus vor! Und ich zeigte ihnen: dieses Kapitel in dem wir uns eben befinden..

10. März. In der Stadt: Wahre Augenblicke, wie ein Traum, fast vergessen ein Gebäude vor mir, das "Dampfbad", davor hohe Bäume, Bänke vom Regen ausgewaschen, die Rillen wie winzige grauschwarze Straßen im Holz, und eine Straße mit Schanzgraben vor meinen Augen, nah, wie ein Geruch nach nassem Holz, es hat aufgehört zu regnen, Nebelschwaden ziehn ins Tal; die Bilder überlagern sich wie Wolken, kennen keinen festen Ort, die Männer im weißen körpernahen heißen Nebel, glänzende schweißnasse Haut, kein Wort, nur "türkisches Bad" fällt mir ein, denn als die Bilder in unseren Köpfen waren, hatten wir die Worte verloren; manchmal einsilbig Dialekt, und der Kopf meines Großvaters mit großer Glatze, ein redender Mund, darüber die grauen Augen, die mich beim Schweigen forschend ansehn und erwartungsvoll, fast neugierig, obwohl sie lange tot sind. Bei seinem Begräbnis war ich nicht dabei, ich durfte die Grenze nicht überschreiten. Er, in fremder Erde, ausgewandert, also in Deutschland, unter einem Holzmal, siebenbürgische Eiche, ohne Kreuz, eine Art Menhir. Ich sehe die andern Steine hier nahe am Bad, jenseits des Parks, an der Bahnhofsstraße, die Körper unter der Erde, ohne Kreuz, Steine gefallener Rotarmisten, ihre Sterne, die längst untergegangen, sind auf den geraden Reihen des Grabmals in fremder Erde. Die im Gefühl so unterschiedlichen Toten über den Wolken unterhalten sich noch heute über den Unsinn des Ersten und Zweiten Weltkrieges und über die Entfernung vom Heimweh in uns.

Sprache, die sich fortbewegt, jetzt, spät und nachher; damals, als der Schrecken nicht vergehen wollte, fühlte ich mich als ein verdämmerndes Geräusch irgendwo im Kopf, der nie kühl war. Wir saßen gefangen in der Nähe, in den Häusern, die noch fest schienen und schützten, so glaubten wir es ihnen, bis die Sprache durch die Mauern drang, und sie langsam entfernte, als wären sie nie gewesen.

Alles ein Märchen, wir sind lange versteckte Kinder, keiner gibt es zu, hart ein Mann, der alles vergessen will. Die Träume scheuchen nachts wieder auf. Und ich hör sie fast höhnisch lachen. Immer wieder kehren sie an jene Orte zurück, wo wir noch am Fluß oder an den alten Brücken wartend liegen, bis der Tod die Träume endlich vertreibt, die Orte sind ja längst tot und warten nicht mehr. Aber, aber, was wartet denn da, was so versäumt wurde? - Das Sichtbare hier ist wie eine Kulisse, wie ein summender Alptraum: eine arme Idylle. Um mich das vertraute Rumänisch, Ungarisch, manchmal noch Sächsisch, klingt und sieht mich an wie aus weiter Ferne: Viele Zigeuner. Kinder betteln. Restaurants, Konditoreien, Geschäfte überfüllt, die Regale leer, das Angebot mager. Auf der Hauptstraße eine graue Menschenmenge, kaum Autos, im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben. Langsame Zeit fließt hier zäh durch die Stadt. Und sie ist zugleich von etwas Unsichtbarem zerstört. Die Leute. Die Häuser. Mir gegenüber eine ältere Frau mit ihrem Neffen: die Frau, von bundesdeutscher Aura schon umhüllt wie von einem Tarnmantel, sagt "oben" in Deutschland, da gibts das "Aufbaudarlehen", zinslos, die Rückzahlungsraten,die zieht man von deinem Konto ab, da spürst du nichts. Oben in Deutschland, da bekommst du, wenn du zwei Kaffeepakete kaufst, das dritte geschenkt.

Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu träumen, aber ich bin nicht da. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluß tauchen; das zweitemal ists etwas Anderes. Leerklang. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters ist jetzt eine Konditorei. Auch da seh ich und erkenne Einzelheiten. Es gab nur einen unbeschreiblichen trüben Saft zu trinken, sonst nichts. Konditorei. Und alles so klein und verkommen, stillos öde und unbewohnbar. Woran liegt das? Auch in Klausenburg wars so. Graue Masse. Erstaunlich, denke ich, daß die Menschen hier keine Neurose bekommen. Und jemand sagt: Aber sie sind ja alle nervlich erschöpft. In einem Sparkassenraum komme ich mir wie in Afrika vor. Keine Heimatgefühle können aufkommen. Es ist anders, als ich mich erinnern kann.

Sonntag, ein früher Morgen oder Ostern schienen hier nicht mehr möglich. Auch die Käuzchen, die ich in der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl.

Voller Trauer denke ich an einen Vergleich: DDR - Siebenbürgen, und schreibe es auf:

ALTE KISTEN, DIE IHR NOCH HABT, betrachtet ihr, hie und da einen Holzspan unter dem Nagel, einen Balken im Auge. Leben, vor dem Kopf ein Brett; Wir haben den Sarg längst vernagelt, wie diesen hellen Kopf, der Tote darin ist in der Erde schon solide zu Hause.

Es ist schwierig, das was hier geschieht, auch in mir geschieht, zu beschreiben. Ungewohntes im ehemals Vertrauten kann nicht auf gewohnte Weise erzählt werden! Herabgeholt ins Gewohnte ist es tot.

 

27. Dezember 92. Wie aber entgehen wir dieser "Einfühlung" und kommen zu jenem BLITZ.

Wir müßten bei den "Erhellungen", beim FLASH bleiben, dem Einfall der Transzendenz. In der kurzen Form aber, in einem Aufblitzen und Einleuchten, ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und Sinnnähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis.

 

30.Dezember 1992. Heute in Pieve, in der kleinen romanischen Kirche: Dort ist jener Engel, der Erstarrte in der Kirche, und ich dachte wieder an meinen Traum und an die neueren Folgen in unserer Zeit einer andern Magie; dort oben in der Kapelle, nackt, glotzt der alte funktionslose Engel. Und blöd soll er sein, blöd, um unschuldig zu scheinen. Genau gesehen: Ein Papier verbrennt, langsam frißt sich der weiße Rand voran, krümmt sich wie eine "alte Frau", wird Asche, dünn und dünner, fällt ab,als wärs eine Zigarette gewesen. Nichts.

 

In der Nacht bin ich empfänglicher für diesen Schrecken des ungetrennten Zustandes: Außersinnliches, aber nur nebenbei, als zum unwahrscheinlichen Zustand aus lauter Überraschungen. Phantasie und Zeit sind aufgebrochen. Das Unheimliche ist eine historische Kategorie geworden, genau wie früher schon der Tod.

Genauer aufgezeichnet ist er in den Tagebuchnotizen jenes Jahres: Die Hinrichtung des Diktators griff tief in die Träume, ins Unbewußte aller Betroffenen der Diktatur ein, wurde aber dann im Privaten liegengelassen. Und der innere Prozeß ist ausgeblieben, der wie ein eigener Tod und endgültiger Abschied enden müßte, radikale Abschiedsfähigkeit von dieser "alten Welt" müßte geübt werden, die alles mit einbezieht, was wir bisheriges "Leben" nennen. Doch schon damals mitten im Ereignis, war das sehr schwierig: 30.Dezember 1989. Ich habe Mühe, die Vergangenheitslast, den Staatsterror, das Schmarotzen am Leben von Millionen, wie an meinem eigenen mit diesen Bildern zu verbinden: Der Erschossene da. Vorher: der alte Mann geduldig bei der ärztlichen Visite vor der Hinrichtung, die zu Exekutierenden müssen kerngesund sein; aber dann: wie eine Last fällt alles von mir ab, auch die Jahre, für Augenblicke wenigstens, dieses Trauma, das mein Leben war. Und nun? Ich: Der Alte - ein Zehnjähriger? Was besagt das schon, daß sie jetzt abgeschafft ist, ihre Lieblingsquälerei: der Plan. Gestern ist auch die Kollektivierung der Landwirtschaft rückgängig gemacht worden, der Boden wird an die Bauern zurückverkauft. In Dunnes-Dorf, in Zuck-Manteln, in Denn-Dorf, in Scornicesti. Die Leute in der Kirche, in der Schule versammelt, auf der Straße, im Wirtshaus, im verrauchten armen Schankraum bei einem Glas Schnaps - sie wissen nicht wie ihnen geschieht. Sie haben Angst. Die Secus sind zwar abgehaun, der Dorfpolizist gibt sich loyal. Doch kehrten sie zurück, käme es zu einem Blutbad, gäbe es Exekutionen. - REPUBLICA ROMÀNIA heißt nun das Land. Die Polizei heißt Polizei. Die Partei heißt nicht Partei, sondern gar nicht mehr.Die Secu, der Sicherheitsdienst heißt nun einfach "Informationsdienst" und gehört dem Verteidigungsministerium an.

 

31.12. 1989. Welch ein Jahr! Nichts mehr ist so wie es ist. Die bisherige Ratio meiner Existenz ist gefallen. Ich bin ein Emigrant in Pension.

Was alles aufbricht, hinzukommt. Bilder kehren sich um. Revolutionsbücher, revolutionäre Situationen sind jetzt plötzlich aktuell. Wie weit waren sie noch vor einem Vierteljahr von der Gegenwart entfernt. Erst die Katastrophe, erst der Schmerz, ja, der Tod entsprechen dem, was wirklich ist, - in Zeitlupe und als Zeitspanne bis zum Ende gedehnt, und immer schon vorbei.

Immer neue TODESNACHRICHTEN. In Wien hat sich Marin, der Bruder des Diktators erhängt. Er soll das Spionagenetz im Westen aufgebaut haben. Er soll die Valutaschiebungen erledigt haben. Er hat ein richtiges Verbrechergesicht. Er war Botschaftsrat für Handel. Seit 1973 in Wien.

 

31. Dezember 1992. Ich lese Verse, die die Kollegen zu Hause den Dezember- Toten in Bukarest gewidmet hatten, ihr Tod erscheint heute absurd und gerade deshalb darf er nicht vergessen werden darf, eine Machtkomödie hatte sie umgebracht; im Nach-Hinein im Posthumen der eigenen Begeisterung und des Todesmutes, (als wäre auch er Farce im Dienst der ersten Telerevolution des Planeten), ist es möglich, das zerrissene Gefühl im paradoxen Gedankenbild aufzuheben, das sich selber mit den Toten löscht, ihre Verse schienen mir schmerzhaft aus den Zeilen herauszutreten...

 

Letzter Tag des Jahres. Stimmungen, Vorgefühle, Vor-Gedanken, sie sind heute ganz anders als 1989. Leerer, lascher. Immer noch sitze ich vor dem Bild-Schirm, das Auge auf dem Lichtpunkt, Zeile. Mein kleines tiefes Haustier, die Schrift Bernstein, der Hintergrund pechschwarz, da müßte ich hineinstürzen. Dann hebe ich den Blick zum Fenster, sehe hinab ins Grün, sehe in der Ferne das Meer, es ist eine Panoramaschau, ja, aber vergangen. Längst, so scheint es - vergangen. Doch nicht nur der Körper funktioniert weiter, sondern auch Es geht in mir auf rätselhafte Weise weiter, Sekunde für Sekunde. Bin ich noch der alte unverbesserliche Optimist des Nachher? Ich bin es, solange ich vom Text nicht entlassen werde! Er ist immer noch mein Lebens-Mittel, Hoffnung und Einstieg, Flucht aus der Wüste. Er nimmt mir das ganze Leben, braucht es auf, und schenkt es mir wieder. Vielleicht sitze ich hier aus alter kreatürlicher Angst, um allem Abschied voran zu sein, vielleicht, weil meine ost-westliche Lebenserfahrung mir den Zustand des Zwischenschaftlers beschert hat, den ich immer noch lebe, auf einer nicht mehr existierenden Grenze. So bin ich davon überzeugt, daß der Aufbruch im Osten, trotz allem, ein Zeichen aus jener andern, noch un-faßbaren Niemandszeit der Zukunft war. War? Keiner, der es nicht erlebt hat, kann begreifen, was dort geschehen ist. Vor allem eines nicht: Daß dort noch, und vielleicht zum letzten Mal, unverstellt und schmerzlich aufbrach, was im Westen durch unfühlbaren Ersatz zugeschüttet worden ist: der Schmerz verlorener, vernichteter Lebenszeit. Daß daraus der Irrtum entstand, verlorene Lebenszeit könnte vielleicht durch die beschleunigte Westzeit wieder aufgeholt, deren Konsum- und Freiheitsversprechungen eingeholt werden, gehört zu den Unvereinbarkeiten und trauatischen Irrtümern, die noch ihre Folgen haben werden. Dadurch, daß der Einzelne, der Vergessene, Träger aller Rätsel unserer Existenz, aus dem Vergessen wieder aufgetaucht und wider Apparate und Staaten, ja, wider die Abstraktheit der Gesellschaft aufgestanden ist, SO wurde ichtbar, was auf andere Weise schon die Beschleunigung der Zeit und die Immaterialisierung im Westen fertiggebracht hatte, was also an der Zeit war: die Einsicht, daß die Welt Wissen, Information - oder besser: Geist ist, der nicht als Geist erscheint.

 

 

 

 

V

 

2.Januar 1993. Nichts mehr ist so, wie es vorher gewesen war, auch hier auf dem Berg nicht: hier kam mir alles so klein, unbedeutend und

privat vor: Heute früh war meine Frau nach C. zur Bank gefahren, und ich hatte noch einen Scheck ausgeschrieben, endlich, wie sie sagte, etwas "Wirkliches" geschrieben! Ich war erstaunt über die Wirkung dieses Tiefsinns. Ich konnte keine Zeile mehr zu Papier bringen, ging in den Garten, und begann die Brennesseln zu schneiden,wie früher als Kind, als wären sie imaginäre Feinde.Ich holte die alte Sichel mit dem fettigen Stiel aus der Cantina und begann die haarigen Halme der Brennesseln zu schneiden, wie ungeschickt bewegte ich im Grünen die Hand, und die war schon verbrannt, wie Feuer pelzig der Finger, die Handfläche, vielleicht wars auch die Ameise. Es brannte jetzt, fleischige Stiele lagen kreuz und quer, doch der Fluch, wie früher auch der kleine Kinderfluch dazu... ich rieb die Hand mit Speichel ein und roch daran, es roch nach Sperma, ich ging ins Haus, und im Schrank fand ich etwas Schnaps, und die Hand roch nach Fusel, nahm auch einen Schluck oder zwei, und sah von der Flasche auf, sah das Bild, die Malerei von JPF, vom ehemaligen Freund, der mich verraten hatte: ein Gesicht an der Wand, als explodiere ein Berg; doch kein Fluch mehr hilft, eklig löst sich auch die Flasche, der Salzburger Schrank mit seinen verschlungenen Ornamenten, der rechteckige Tisch jetzt von dem, was ich von ihnen weiß, und heißt gar nicht mehr "Schrank" oder "Tisch", und das "Bild" fällt aus dem Rahmen, wie gestern schon.

Als könnte ich alles auflösen, die Jahre rückgängig machen, nehme ich abends das alte Tagebuch, lese tagesgleich die Tage, die Jahre, die Jahrestage, überspringe ein Jahr; damals gab es noch tröstliche Gedanken:

Agliano, 2. Januar 1991. Mehrschichtigkeit der Zeit wider das Datum. Es muß erlaubt sein, so zu arbeiten wie Wittgenstein: Auf der einen Seite die persönlichsten Gedanken, der Tag also, der verwirrende Moment, das "Leben", auf der andern Seite die Einfälle. ("Der Geist sei bei mir": in den "Geheimen Tagebüchern 1914-16"). Sein Grenzgang, Grenzfall, seine "negative Theologie" ist jetzt offenbar. Wittgenstein zeichnet die Umrißlinie einer Insel auf; doch wichtiger sei die andere Seite der Umrißlinie, nicht das Festland: - "Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann keine Frage mehr, und eben dies ist die Antwort."

Sie anzugehen, diese Fragen, dafür ist das Tagebuch da, die Literatur. Und ich finde dazu ein schönes Zitat von Reiner Koselleck: " Jedes historisch erinnerte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion der Tatsachen, die Wirklichkeit selber ist vergangen."

Ich erinnere mich an jene 40 Amerikaner, die mit einer CONCORDE nach Paris flogen, um dort Sylvester zu feiern, dann zurück nach Washington, in der Concorde wieder einmal Sylvester, und bei der Ankunft in Washington zum drittenmal Sylvester des gleichen Jahres. Zeitverschiebung! Manipulierte Zeit, Aufhebung der Zeit, ihre Entlarvung als ein Gespenst unseres Kopfes, Gewohnheit und Uhr? Kann man denn stolz darauf sein, auf dieses Geschenk des Bodenverlustes, der jene Gewohnheit in Frage stellt? . Der Boden ist eine Zelle. Dann fällt mir diese andere Bewohnerin von Zwischen- und Zeitzonen ein, auch sie, wie ich, Grenzmensch: - eine Verrückte, Sarah Krasnoff, floh vor ihren Psychiatern in einer KLM 5 Monate lang, ununterbrochen war sie in der Luft, den Atlantik 160mal überquerend, und an diesem Übernächtigen, der andauernden Zeitverschiebung ging sie zu Grunde, starb in einem Amsterdamer Hotel.

 

Wenn die Erfahrung Geschichte überholt, kann man Standbilder gießen, im umgekehrten Fall bleibt das Abheben, bestenfalls der Dialog mit den Toten. Welch ein Betrug aber waren unsere Standbilder, Standrecht der Zeit bereitet, inadäquat und daher eindeutig Kitsch.

 

Bukarest, 11.März 90. Ich gehe am leeren Lenin-Sockel vorbei zum Pressehaus an den Herestràuseen, vorbei an der Strada Primàverii, wo die Prunkvilla des Diktators immer noch steht. Die Lenin-Absenz vor dem Pressehaus fällt mir wieder auf, und ich erinnere mich: mein Kollege und Freund Marin Sorescu, der witzigste Poet und Stückeschreiber unserer Generation, der mit gesundem Menschenverstand und hintergründiger Ironie in seiner Literatur alles Aufgesetzte, alle Lügen des Regimes schlau in Parabeln ans Publikum bringen konnte, ohne sich erwischen zu lassen, hatte eben in der Zeitschrift "Contemporanul" einen saftigen "Statuennekrolog" über den von seinem Sockel geholten Lenin geschrieben, jenen, der mit den Marx- und Engelszungen an der Zerstörung der Wirklichkeit und der Psyche mitschuld war: "Adieu, wir werden dich nicht vergessen!" In meinem Kopf taucht gleich neben Marins Spott ein altes Gedicht Marias auf: "Sei milde, wenn du fortgehst./ Mein Volk wird ausgelöscht,/ Es kann nicht umgehen mit seinen Statuen."

Heute endlich hat sich die starke außerparlamentarische Opposition von Temesvar aus gegen das Iliescu-Regime gemeldet. Die Proklamation von Temesvar. Ich habe die Zeitung in der Tasche. Ich werde sie heute abend lesen. Man stelle sich vor: Iliescu war einmal Ceausescus "Kronprinz" gewesen. Das ganze Land ist durchseucht mit "gewendeten" alten Funktionären.

Während ich die breite Marmortreppe zum Verlag "Litera" hinaufgehe, überlege ich, wie ich das Gespräch mit einer Runde junger Kollegen beginnen soll. Die Schuld meiner Generation liegt nicht nur in den Gedanken und Taten, sie liegt in den Versäumnissen, im Abblocken, dem Nicht-Wahrnehmen-Wollen und Nicht- Wahrnehmen-Können dessen, was sie geschehen ließ, ja, sie war oft genug selbst dieses Geschehen. Dieses ist der jetzt erst erkannte Verrat. So zu tun, als hätten wir die Welt noch zu erschaffen, und als wäre dies möglich - dieser irrigen Auffassung, daß die Welt noch "vollendet" werden müsse, war meine Generation allerdings nur am Anfang, in ihrer romantischen Phase; sie hat auch ihre "realistische" Phase zu verantworten. Und dieses ist der eigentlich Verrat, ja, ihr Verbrechen!

Dann sitze ich mit den jungen Kollegen im Kreis und höre ihnen zu, wie sie meine Generation heftig attackieren. Nun sind sie an der Reihe. Welche Fehler werden sie machen? Sie haben die Revolution hinter sich, sie haben den Gewehren der Securitate getrotzt. Doch nicht einmal diese mutige Tat ist vor Lügenkonsequenzen geschützt, vielleicht sind sie ebenfalls einer Illusion zum Opfer gefallen.

Ich treffe Carmen Francesca Banciu wieder. Merkwürdig, wie sich der Eindruck, auch der der äußeren Erscheinung, wie sich der erste Eindruck langsam mit der Vertrautheit verändert; bei der ersten Begegnung wirkte sie sehr klein, zart und damenhaft auf mich, unberührbar fast und distant. Jetzt beim Reden zeigt sich, daß sie auch timid ist, und doch sehr selbstbewußt. Sie durfte seit 1984 nichts mehr veröffentlichen, denn sie hatte für ihre Erzählung "Leuchtendes Getto" einen westlichen Literaturpreis erhalten. Sätze wie diese wurden ihr übelgenommen: "Die Erniedrigung ist wie ein Stein... Unser Fenster atmet den stickigen Geruch aschenen und klebrigen Mülls...Ich kann keine Gedichte mehr schreiben, kann nicht glauben an das ewig Gute. Und kann ganz allgemein an nichts mehr glauben. Damit ist jetzt Schluß." Lange Jahre hatte sie im Elend gelebt und drei Kinder aufgezogen - eine zierliche, grazile junge Frau, der man den verhaltenen Schmerz, die Last ihrer drückenden Lebenserfahrung und ihren stillen aber energischen Protest dagegen in jedem Satz anmerkt, sie sagt im Kreise ihrer Kollegen: "Das, was ich bisher getan habe, muß nicht geändert werden, glaube ich. Ich glaube nicht, daß ich mich selbstzensiert habe. Immer wird eine Opposition des Autors notwendig sein, auch jetzt nach der Revolution. Liebe und Elend bleiben. Worüber ich schreibe: - Über die Rettung des Menschen durch Liebe. Ich schreibe ein Buch, das Der Käfig heißt, es ist ein Roman."

Ich sehe auch Mariana Marin wieder, die ich schon kennengelernt hatte, Herbert G. hatte sie mir vorgestellt, sie wolle mich interviewen, alle heimkehrenden Autoren wolle sie sprechen, und ein Buch über ihre Schicksale herausgeben, es lohne sich. Ohne die Medien- und Aktionshilfe der Exilierten, sagt sie mit ihrer rauhen, leidenschaftlichen Stimme, wäre die Revolution nicht möglich gewesen. Sie ist am 20. Dezember 89 verhaftet und mißhandelt worden. Und an ihrem Hungerstreik ist sie fast gestorben. Alle behandeln sie mit Respekt. Ihr Gedicht über Anne Frank fällt mir ein, ein Gedicht über das Warten auf die Häscher: "Ich friere. Habe Angst. Bin gelähmt. Die Uhr in deinem Innern frißt dich auf...Das tägliche Irresein,/ eine Handvoll Kieselsteine, die du langsam zermalmst./ Und was du rausspuckst, sind zerquälte Nächte..."

Für sein Wort mußte man mit dem eigenen Leben einstehen. - Und Mariana attackiert unsere Generation, die den Mut zum Aufstand nicht gehabt hatte, die sich in der Kunst, in der Metaphysik versteckte und mit der Macht ihren Pakt schloß.

Vor allem Nichita Stanescu, meinen toten Kollegen und Freund, den sie auch liebe, griff sie gnadenlos an. Sie sagte: - Der Poet Nichita Stánescu war der Repräsentant dieser ceausistischen Epoche, hinter seinem breiten Rücken gab es das schöne Loslösungs-Spiel von der Realität. Als die Dinge waren, wie sie waren, schrieb er über Wunderpferde. Mehr noch, er hat seine Kollegen an die Drehbank geschickt.

- Wir waren schizophren, das ist wahr, sagte ich: Wir haßten das Regime und verteidigten es zugleich. Ich weiß, daß Nichita seinen Freund Paul Goma, der offen gegen das Regime aufgetreten war, der diesen Schleier mutig zerrissen hatte, bei einer Sitzung im Schriftstellerhaus aus der Partei ausgeschlossen hat, und das mit allerlei komischen Bemerkungen wie: "Was sollen wir machen, und dies ist der Auftrag, du bist mir ja nicht böse ..." Und doch wurde im Versteckspiel mit der Metapher damals die Diktatur attackiert, ihr innerer Zustand unterlaufen, sagte ich. Am deutlichsten wurde diese Bewußtseinsspaltung und der verwirrte Geisteszustand bei einer Verhaftung, bei der man zu Recht fürchtete, nun "entlarvt" worden zu sein, denn man versuchte ja mit allen Mitteln, seinen Haß zu verschleiern, doppelbödig, "schlau" zu denken. Aber ohne diese Etappe, ohne diese, auch stilistische Vorbereitung in jenem doppelbödigen Schreiben, das zu einer erheblichen Verfeinerung des Stils beigetragen hat, wäre auch die nachfolgende Literatur heute nicht möglich, jene ästhetische Vorbereitung in einer Zeit, in der nichts anderes möglich gewesen war, hat nicht nur die rumänische Literatursprache verändert. Ich habe die Gedichte von Nichita damals aus diesen Gründen ins Deutsche übertragen, hört nur in diese paar Zeilen hinein: "Hüte dich o verliere dein auge nicht/ gleich werden sie dir die augenhöhle/ mit einem Gott vermauern/ der nun als steinbild in den höhlen aufsteht./ wir aber müssen unsere seelen kreisend/ aus dem lob bewegen./ auch du wirst ihn wie fremde/ in alle deine hymnen tragen und deine seele versetzen..."

- Eben, es war eine sehr talentierte Generation, sagte ein anderer Kollege Marianas, Ion Bogdan Lefter: Aber die Herrn Genossen waren sehr Bohème, in allem, was sie taten, auch in der Essayistik sind sie ausgewichen mit poetischen Koketterien.

Als ich wieder draußen unter dem grauen Smoghimmel Bukarests stand, die breite Allee dem Zentrum zu ging, die überfüllten Busse, auf dem Dach immer noch die stromsparenden häßlichen Aragasbomben sah, die Menschenmenge, schluckte ich, und fand mich ziemlich allein in meinem Bukarest wieder. Diese harte Kritik der Jungen an meiner Generation schmerzte, weil sie die Selbstkritik nach außen trug, sie unerträglich wirklich machte. Sie war berechtigt. Doch die Jungen sind zur Zeit besser dran, genau wie wir früher auch, als wir noch jung waren: sind von dem, was war, noch nicht so belastet wie die ältere Generation, auch haben sie den innern Dreck dieser Epoche erfolgreicher zurückgewiesen als wir, ihr Gedächtnis (mit allen Kompromissen eines bestimmten Lebensalters) muß erst noch entstehen!

Dieses sei auch der Zustand der Literaten, sagte Gabriel Dimiseanu, Literaturkritiker bei der "Romània Literará", als ich ihn in seiner Redaktion besuchte: seine Stimme war von Emotion wie erstickt:

- Einesteils scheints, als wäre alles neu, andererseits haben wir das Gefühl, daß von keinem Bruch die Rede sein kann, 20, 30 Jahre unserer Existenz können nicht einfach weggeworfen werden, ebensowenig die Literatur dieser Jahre. Wir stehen immer noch unter Schock, sagt er: Das Interesse gilt der Presse, es gibt einen Presseboom, inzwischen 9oo neue Zeitungen.

-Versuchen die Schreiber der zu schnellen Zeit beizukommen?

- Ja, sagt er: Sie arbeiten nun alle panikartig daran, das Ereignis vom 22. Dezember, das jede Phantasie überbot, zu erreichen. Aber diese Null-Situation ist eine enorme Herausforderung. Während der Diktatur hatten die Autoren ein Gefühl der Komplizität mit dem Leser, sie versuchten Formeln zu finden, um möglichst viel Wahrheit über die miese Wirklichkeit an den Leser zu bringen, besondere Formen dafür zu finden, um diese Wahrheit unter Bedingungen einer strengen Zensur bis zum Leser durchzuboxen. Eine Art Hinweis-Sprache wurde geschaffen, äsopischer Art. Und die narrativen Formen waren davon abhängig, so vor allem in der parabolischen Prosa. Es waren Bücher, die mit einer Existential-Metapher arbeiteten, mit der Absicht, das Unterbewußtsein des Totalitarismus erkennbar zu machen. Aber im letzten Jahr war es furchtbar anstrengend, ein Buch zu veröffentlichen. Es gab eine Liste von Wörtern, die als inexistent, als tot anzusehen waren, nicht erscheinen durften: Kirche, z.B. ,Tod, Titten, Dissident, Diktatur, egal in welchem Kontext.

- Wurde dadurch die Kultur nicht gedemütigt, um Jahre zurückgeworfen in eine abgeschottete Provinz, eine ÖFFNUNG verhindert, die fällig war? frage ich ihn. Er lächelt ein wenig müde und sagt:

- Es gibt auch Autoren, die meinen, ihr ästhetisches Bewußtsein sei dadurch geschärft worden.

Ich erinnere mich: Auch der Romancier Mihai Sin in Tìrgu- Mures hatte zu mir gesagt, Zensur sei bei seinen Büchern wichtig gewesen:"Ja, schon Borges wußte das. Wenn man nicht aufpaßt, sagt man viel zu direkt eine Menge von Dingen... die Zensur aber zwingt zur Metaphorisierung. Unsere Texte waren das ästhetische Endergebnis eines unerträglichen Druckes. Es war eine höhere Zwiespältigkeit, Unentschiedenheit, mit der die Literatur umgeht, die so stärker ausgeprägt wurde. Kundera hat einen schönen Essay über diese Ambiguität, die jede Literatur enthalten muß, geschrieben."

Ich hatte es, als ich noch hier lebte, in meinen Gedichten genau so gehalten, und es "Versteckspiel in der Metapher" genannt:

 

"Hier habe ich das Schweigen gelernt,/ das täglich mich vereiste./ Mein Mund will sich durchgraben./ Die Lippen brennen von bunter Leere.// Ein Tier aus Rauch, ein Schatten,/ geht die Angst barfuß über die Straßen."

Das Gedicht stammt aus meinem Gedichtband "Grenzstreifen", der 1968 hier in Bukarest erschienen war, nur weil eine Studienkollegin, die bei der Zensur arbeitete, ihren Vorgesetzten diese Gedichte als "Liebesgedichte" oder als Naturlyrik interpretiert hatte. Und auch als Redakteur bei der "Neuen Literatur" war ich in meinem Ressort nach diesem Prinzip vorgegangen und hatte mich dann mit der Chefredaktion, einem "engagierten" Kollegen und der Zensur gestritten.

 

Ich erinnere mich an Hanibal Stánculescu. Wir hatten uns bei der Runde im Pressehaus kennengelernt. Hanibal sagt, er schreibe einen Roman über die Selbstzensur: - Ich bin nun froh, daß das Buch nicht vor der Revolution fertig geworden ist: Denn bei mir hat die Selbstzensur funktioniert, sagt er, trotz der innern Auseinandersetzung. Und das Resultat dieses Kampfes ist nun eine Figur, die mich in vielem vertritt, ein luzider Schizophrener. Er ist nicht etwa nur gespalten, sondern völlig aus dem Takt. In letzter Zeit habe ich einige Artikel geschrieben, um so wieder zur Literatur zurückzufinden. Das aber ist schwierig, denn der Druck des Geschehenen ist enorm. Und Befreiung wird ja auch als oppressive Explosion spürbar, wenn man das so sagen kann, auch und vor allem für Autoren, denn niemand kann Prosa schreiben, ohne ein Sich-Lösen und Entfernen im Prozeß der Zeit, und ohne Distanz zum unmittelbaren kruden Geschehen zu gewinnen.

 

Die grobe Diktatur der Ideologie war nur die hilflose Kopie einer auch im Westen lustvoll betriebenen Simulation von Wirklichkeit. Jean Baudrillard schreibt in seiner "Agonie des Realen" (1978), daß wir in einem Raum leben, der weder dem Realen, noch der Wahrheit folgt, und alles sei nur "Simulation", es gehe um "Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen", das "Reale erhält nie wieder die Gelegenheit sich zu produzieren" in diesem "System des Todes", "wo dem Ereignis, selbst dem Ereignis des Todes, keine Möglichkeit mehr bleibt".

- Diesen Ersatz hatten schon unser Ion Luca Caragiale im vorigen Jahrhundert, dann Urmuz hier in Bukarest entdeckt, sagt Gabriel: und inwieweit Dadaismus über Tzara und das Absurde Theater über Ionesco hier Caragiale zum Vorläufer hat, ist noch nicht untersucht worden.

Der Bruch ist kaum bemerkt worden. Jene Kritik Caragiales oder Urmuz` hat mit der "normalen" Entwicklung zu tun, die im Okzident weitergegangen ist, hier aber hatte der westliche Bastard, die Diktatur, alles viel deutlicher werden lassen. Einzusehen wäre, daß jenes Epochenphänomen hier weitergegangen ist, nur viel drastischer und zerstörerischer. Es ist unmöglich alles, was geschehen ist, als eine Schuld der Diktatur abzutun. Junge rumänische Autoren, wie Iova oder Lácustá haben diese Tradition sozial sehr hautnah am Phänomen des bürokratischen Totalitarismus vorgeführt. Nun gut. Jetzt kommt das andere Absurde wieder: der levantinische Nihilisimus und seine Majestät des Absurden. Und noch ein Negativspiegel ist zu beachten: Ist die REVOLUTION nicht auch aus dem Irrtum und Mißverständnis heraus entstanden, die Diktatur sei an allem schuld... ? Zur romantischen Phase der Revolte gehört, zu vergessen, daß wir alle in einer sehr alten und kaputten Welt leben, die sich selbst in ihrer Künstlichkeit auffrißt, und daß man aus einer Enklave in die Große Welt des planetaren Wahnsinns gekommen ist, wo alles viel schwieriger und undurchsichtiger wird als bisher!

Noch ein letzter überschaubarer Spiegel wie ein Nachruf: Rumänien war durch die Revolution, durch Massaker, durch die Diktatur telegen geworden. Bildschirm-Revolution? So scharf sieht man es nirgends, was heute IST, die Masse als Handelnde und Zuschauer zugleich auf einer enormen Tele-Bühne als unbewußte Darsteller von Geschichte, wie das Medium diese haben will, handeln läßt nach neuen eigenen Gesetzen, die niemand mehr beeinflussen kann?! Ein neuer Herrgott? So wirklich tun, was bisher nur Erfindung war, auch im Buch? Vor allem durch diese Öffnung und Realitäts- Umkehrung wurde das östliche Staatskonzept und seine Ideologie historisch und bewußtseinsmäßig erledigt.

Und es war ja genau diese Generation, junge Arbeiter, Studenten, Schüler, die durch grenzüberschreitende Medien und einen neuen Zeitgeist der Öffnung, Europäer geworden waren, die Welt des Provinz-Diktators zum Lachen fanden. Sie trugen Jeans, hörten Rock, lasen Derrida und Eco, und empfanden den Stotterer als gefährlichen Dinosaurier.

 

Es ist recht aufschlußreich, wie sich in diesem Vorbereitungsprozeß das Verhältnis Literatur und Wirklichkeit völlig verkehrt hat. Der Surrealismus z.B., wurde hier ganz anders fortentwickelt als in Westeuropa, wo die letzten Ausläufer dieser provokativen Literatur und Literaturzerstörung in Happenings enden. Im Osten empfand man den Bruch zwischen Politik und Idee, Wirklichkeit und Ästhetik ganz anders, weil ideologische Vorfabrikate, die als Realität ausgegeben wurden, durch Zitatologie und Broschüre die Welt der "Träume" zu ersetzen suchten. Von der Alltäglichkeit des Schreckens, die in der westlichen Welt täglich durch Massenmedien vermittelt wird, drang nur wenig ins östliche Bewußtsein, blieb die Realität bei aller Angst "heil", nämlich bis zum Erbrechen geordnet und "überschaubar." Als Widerpart der Phantasie boten sich nicht die an sich schon "surrealen" Wirklichkeiten der kapitalistischen Metropolen an, vielmehr die ideologischen Fiktionen eines penetrant spießigen Denkens, das im Grunde von vielen Künstlern gar nicht ernstgenommen wurde. Es konnte allenfalls als eine durch die politische Macht aufoktroyierte Non-Realität akzeptiert werden. Und seit den sechziger Jahren wurde sie immer deutlicher erkennbar. Vor allem im Schreibprozeß und in der Reibung mit jener Non-Realität, die einem durch Zensur und Polizei aufgezwungen wurde, in der man leben mußte, entstand unter wachsender Lebensgefahr, indem man sein eignes Leben abschrieb, diese originelle osteuropäische Variante einer postmodernen Literatur: Literatur jenseits der Literatur, die die Grenzen des Erträglichen und der Vorstellung auslotete. Kein Wunder, daß die rumänischen Kollegen seit der Revolution alle sprachlos sind, niemand mehr schreiben kann. Ich erinnere mich an unser Rundtischgespräch im Pressehaus. Hanibal Stánculescu sagte: "Der historische Moment einer Umkehr in der Begriffsgeschichte ist ja längst da, mindestens seit Kriegsende radikal, jetzt aber fast schon verspätet..."

Wir kennen das sic et non besserer Literatur, und die brutale Diktatur lieferte für das Wissen von dieser Welt im Negativbild mehr Erfahrung, als jede andere Wirklichkeit, wirklich schmerzhaft erlebbare "Zeit", förderlich einer Zeit-Erkenntnis unter Lebensgefahr; die Absurdität wird jedem samt der dazugehörigen Sprache eingeprügelt!

 

18. März 1990. Abends. Enzensberger-Lesung im Goetheinstitut. Enzensberger hat einen Spürsinn für Dinge, die im Kommen sind; er hatte im Goetheinstitut einen Text aus "Ach, Europa" gelesen. Im Orwell- Jahr 1984 geschrieben, war dieser Text bisher reine Science-Fiction: die Hinrichtung Ceausescus und die Amerikanisierung Rumäniens. Literatur als Unterbewußtsein der Zeit, Sensorium für das Mögliche. Und Enzensberger sagte in der Diskussion, daß die Revolution wie der Einbruch eines Wunders sei, wie in der Hochzeit von Kanaan, wo auch Wasser zu Wein gemacht worden war, doch am nächsten Tag mußten die Leute wieder arbeiten gehen und das Wunder war vorbei, der graue Alltag kam wie auch bisher wieder.

Unvergeßlich die Begegnung heute in der Wahl-Nacht, die Kohls Triumph wurde, mit Angehörigen der DDR-Botschaft, als Hans Magnus den Botschafts-Ossis in lebhaften Farben das Glück ausmalte, nun in den Genuß der freiheitlich demokratischen Grundordnung Westdeutschlands zu kommen. Die drei Botschaftsangehörigen, zwei Männer und eine Frau, waren skeptisch, vor allem die Frau war sehr skeptisch. Und sie schlugen sich wacker, denn sie gehörten nicht zu jener Sorte "Volk", die das eilige Vaterland der Deutschen Bank wollten. Abgesehen davon, daß sie ja nun ganz konkret ihren Job verloren, arbeitslos geworden waren. Diese Banalität aber übersah der feinsinnige Dichter und Verteidiger des Banalen H.M. Enzensberger. Ganz im Stil seines neuen Mittelmaß-Konzeptes als Trend der Zeit redete er mit Floskeln auf sie ein. Er hat ein gutes Zeitgespür, jaja. Ich bekam mit ihm Streit, es war mir aber klar, daß auch die drei aus der DDR den Kürzeren ziehen mußten. Wir, die "dogmatischen Idealisten" ("Ich kenne den Jargon" - so Enzensbergers Wutausbruch), waren nun in seinen Augen ärgerliche Antiquitäten, er aber der Realist, das Genie des Spürsinns, des Zeitgeistes, hatte natürlich die besseren Karten. Nie hätte ich gedacht, daß H.M. Enzensberger, der in seiner "landessprache" gegen das unmoralische Geldvaterland genialisch angeschrieben hatte, nun zu dessen glühendem Verehrer werden könnte. ( Ein Dresdner, einer der Botschaftsangehörigen, der wohl mit seiner Frau telefoniert hatte, sagte, in Dresden seien unübersehbare Fahnenmeere von Sachsenfahnen zu sehen und in den Neubauwüsten Feuerwerk zu Ehren von Dr. Helmut Kohl, allgemeiner Bundeskanzler.)

 

Aber freilich, wie im Kunstwerk, wird der Schnittpunkt zwischen allen drei Zeitformen, der volle Augenblick als Jetztpunkt auf diese Weise zerstört, und damit die Hoffnung. Soll nun die einzige Hoffnung und Erwartung sein: das Glück, da anzukommen, wo wir schon sind?

"Die restaurative Vereinnahmung findet schon statt, wenn die Vergangenheit dem Augenblick sein Selbstverständnis raubt, ihn darin hindert, selbstreflexiv zu werden..." (Karl Heinz Bohrer, "Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins ", Frankfurt/ Main 1981.)

 

19.März 1990. Spaziergang durch Bukarest mit Enzensberger; er ist an Diktatoren und Diktatur-Zuständen sehr interessiert, er schreibt jetzt an einer Oper nicht für, sondern über Diktatoren ( aber fürs Fernsehpublikum). Ein wolkenloser blauer Himmel über Bukarest. Die halbe Redaktion der "Neuen Literatur" ist bei diesem Revolutions- und Diktatoren-Spaziergang dabei, und alle wollen dem Westdeutschen die Stadt zeigen und die Revolution erklären. In der schon vorzeitig frühlingshaften Stadt waren überall noch die Einschußlöcher und Brandspuren an den Gebäuden zu sehen; der westdeutsche Dichter betrachtete vor dem ZK interessiert den Eingang zum unterirdischen Tunnelsystem; das war schön, hier sah man fernsehgerecht das politische Grauen auf Schlafzimmerniveau: dieser makabre Secu-Untergrund endete direkt im Schlafzimmer des Diktators, sagte Herbert G.: Zugang zu seinen Alpträumen. Wir konnten da nicht hinabsteigen, der Eingang war vermauert. Aus dem ZK-Gebäude aber gebe es einen Eingang, von da aus könne man in dieses sichtbar gewordene Unbewußte des Landes kommen. Diese Zeit- und Todes-Tunnels sind ja wichtiger als das "Oben" und die Normaluhr des Wachbewußtseins, die geht ja falsch. Wir sprachen von "Antennen", die Autoren haben müßten, um in jenes Unbewußte hineinhören, hineinsehen zu können: Intuition allein sei an jene andere, an die Todeszeit angeschlossen. Daher haben Revolutionsereignisse Schreibende immer beeindruckt. Schon 1789 war das so gewesen. Klassik und Romantik sind ohne diesen Einbruch in die Zeit gar nicht denkbar. Weder Hölderlin noch Schiller, weder Heine noch Büncher.

- Und wie ist dieses Tunnelsystem entdeckt worden? fragte Enzensberger.

- Noch im Dezember 89 waren zwei Tschechen mit jenem Schnauzer-Hund eingetroffen, erzählte jemand: der nach dem Erdbeben in Armenien noch in 25 Meter Tiefe verschüttete Menschen gewittert hat. Dieser Schnauzer entdeckte unter dem Gebäude des ZK fünf unterirdische Geschoße und Gänge, und ein sechstes, das mit Wasser angefüllt ist. Vorerst traute sich noch niemand hinab. Es ist jenes unterirdische Tunnelsystem, aus dem die "Ratten" kamen. Proviant, Waffen, Verstecke gab es da. Als wäre es an die Alpträume und Vernichtungsträume des Diktators angeschlossen gewesen, ihre unmittelbare Fortsetzung.

Nichts sei ja hier eindeutig, sagte ich, fast alles paradox. Gerüchte, Okkultes, Irrationales, Absurdes ging in dieser offenen Niemandszeit um. Das Negative als Absurdität! Und das Positive als "Zufall"? Improvisation, die während der Revolution oft grotesk war, auch bei der "Front-" und Regierungs-Bildung, man "fand sich eben zusammen", jene, die gerade da waren (dieses "parallel" zum Staatsstreich?). Das Positive also: der Zufall. Einige behaupten, sogar ein Staatssekretär behauptet es, daß man von der Straße geholt worden sei, oder weil man gerade vorbeiging, dann Aufgaben übernahm, in Ministerien oder andern Institutionen, einfach "da geblieben" im Zentrum des damals Geschehenen!

- Hängt es mit den 12 rumänischen Optativen zusammen? den Wunsch- und Möglichkeitsformen, ein Wissen aus dem Mangel, hängt es mit dem Wünschbaren im Elend und der Behauptung, "románul e náscut poet", der Rumäne wird als Dichter geboren, zusammen, wie das Mögliche ja eine Domäne der Poesie ist, sagte jemand.

-Der Politik übrigens auch ("Kunst des Möglichen"). Und warum nicht der Revolution? Man kann aber auch sagen, daß das Mögliche eine Umgebung von Bedingungen hat, die sich häufen können, wie in Rumänien, daß es schließlich nur noch eines Tropfens bedarf, um das Glas zum Überlaufen zu bringen, und auch der Zufall so ein Tropfen ist, ein Katalysator sein kann. Sein Ausbleiben aber hieße, daß das Mögliche haascharf nicht realisiert wird.

- Und Literatur allein könnte es erlösen. Oder ein Traum. Und noch mehr: das offengehaltene Mögliche müßte auch in die Erinnerung, ins unerlöste Vergangene eingebracht werden, deren Kern und Hoffnung, oder auch Ratio erst jetzt im Nachhinein offensteht.

 

20.März 90. Zustände, selbst die irrealsten bilden Realität. Heute Begegnung mit einem Freund, der mehrere Jahre Einzelhaft erlitten hatte. Dieser Freund hatte eine seltsame Sehnsucht nach der Zelle, wie alle Häftlinge war er an einem Zellensyndrom erkrankt, das ausgeweitet werden kann auf die gesamte Bevölkerung des Landes. In der Zelle bist du wie Robinson, entdeckst sogar die Sprache neu, hörte ich von ihm: Meine Wände waren vollgekritzelt, ein abgebrochner Löffel diente als Feder, und ich war frei. Das Einfache, dieser grobe Sessel, die Wolldecke, sogar der Eimer, die Freundschaft mit einer Ratte waren Ereignisse, die ihre Spuren im Gedächtnis hinterließen. Ohne Ironie. Erst als ich freigelassen wurde, draußen lebte, hatte ich wieder Angst, nichts schützte mich mehr. Sogar der Wind zerrte an mir, der Körper war sterblich.

Ich hörte von Kollegen, daß einige von ihnen wieder überwacht werden. Früher, als ich noch hier lebte, war mein größtes Lebensrätsel an den Untergrund des Staates gebunden, Spinnennetz des Geheimnisses, das auch in mir war; man ahnte es, wußte aber nichts. Das "Geheimnis" - ein Flüstern. Da gab es Untergründe, Aktenschränke, ein Gewebe, Dossiers, Gutachten, ein unfaßbares Wesen, das alles bestimmte, doch niemand konnte es enthüllen, aufdecken, unser Leben war darin gefangen, davon bestimmt, wie von einem künstlichen Schicksal, das mit der Zeit Biographie geworden war, und nicht beeinflußt werden konnte, es sei denn durch Mit-Mache, seelenpolitische Kriminalität, Verrat, verschwiegen, um jenes "Wesen" gut und uns günstig zu stimmen. Fast alle haben irgendwie mitgemacht, Schuld auf sich geladen.

"Jordan" hieß der gefälschte Namen meines Schattens, der mir telefonierte, mich zu "freundschaftlichen Treffen" einlud. Wenn das Telefon läutete, ich arbeitete in der NL-Redaktion, wo ständig das Telefon läutete, da zuckte ich zusammen, den Tick habe ich bis heute behalten. In mir ist es nicht vergangen. Wie kann es in den andern vergehen, die bis vor kurzem (vor kurzem?) noch darin gelebt hatten?

Lügengespinst als Wahrheit; was gibt es faßbar Paradoxeres als jene Unterwelt, da braucht es keine Literatur, um die Majestät des Absurden in der Welt zu erkennen, diese graue, höhnisch grinsende maskuline Majestät, die lebte wirklich im Alltag, - dort der Mann, der mich beobachtete, einer, der mir folgte, ein Auto, das am Gehsteig eben hielt, ein Freund, der sich zu ausführlich nach meinen Briefen erkundigte, die ich ins Ausland schrieb.

 

21. März 1990. Am nächsten Tag hörte ich von Ioana C., der Fernsehfrau, daß die "Freiheit" "damals" 89 nur ein par Stunden gedauert hatte, von zwölf Uhr mittags bis sechs Uhr abends. - Nach sechs Uhr abends damals an >unserem< 22. Dezember, sagte sie, hörte man wieder Schießen, und zwar aus der Gegend des Securitate- Hauptquartiers, der Direktion 5. Und dann wieder sehr heftig vom Häuserblock der `Romarta`...Nach Einbruch der Dunkelheit traten auch die Terroristen des Palastes in Aktion, vor allem vom Flügel des Kunstmuseums her... Die Fakten aber, ja, die Fakten. Das Merkwürdige, hör gut zu: das Merkwürdige ist, daß dieses Schießen kurz nach dem Machtantritt der neuen Regierung begann:

Um 17,45 waren Ion Iliescu, Petre Roman, Gelu Voican auf dem Balkon zu sehen gewesen, sie stellen sich dem Volk als neue provisorische Regierung vor, und oh, welch ein Rätsel: fast genau zur gleichen Stunde begann die Aktion der Terroristen. Seltsam. nicht?

Einer der Neffen Ioanas, Mihai, ein 15-jähriger Schüler, und viele der Barrikadenkämpfer waren in diesem Alter, Mihai sagte, er sei um 17,30, als das Schießen begann, im Gebäude des ZK gewesen: - Ich hatte mich einem Spähtrupp angeschlossen, der vom siebenten Stock aus die Bewegungen des Gegners verfolgen sollte. Es wurde angenommen, daß sich in der Nähe ceausescutreue Truppen befinden müssen. Mit Feldstechern wurde die Gegend abgesucht. Dann fielen die ersten Schüsse, die immer zahlreicher die Leute bedrohten. Diese Schüsse kamen aus allen Richtungen: aus dem ZK, dem Kunstmuseum, dem Palastgebäude, der Universitätsbibliothek, von oben, von unten, von überallher. Heute wissen wir, es waren darunter viele Simulatoren! - Kontroll-Patrouillen wurden zusammengesetzt, die das Gebäude durchsuchen sollten. Die Soldaten waren in Kampfstellung, jedoch verunsichert, da sie von Leuten des Staatssicherheitsdienstes kommandiert wurden, die der berüchtigten 5. Direktion angehörten. Die Terroristen hatten besondere Waffen, die wie im Märchen unfehlbar zu sein schienen; ihre Kopfschüsse waren tödlich. Sie schossen, und es gelang ihnen immer wieder zu verschwinden, als hätten sie Tarnkappen, sie tauchten auf und gingen wie Phantome durch die Wand. Wir entdeckten dann, daß über den Toiletten Falltüren angebracht worden waren, sie sich an Seilen herabließen, und nach ihren gezielten Schüssen, wie durchtrainierte Akrobaten blitzschnell wieder hinaufzogen. Auch an den mächtigen Pfeilern auf den Korridoren befanden sich versteckte Aufzüge. Während eines Patrouillenganges wurden wir auf einem Korridor von zwei Männern angegriffen, trotz unserer Überzahl waren sie stärker, praktisch unverwundbar. Sie schossen sehr genau, auch im Dunkeln, trugen kugelsichere Westen und Helme. Neben uns fiel ein Kamerad. Grauen packte uns. Sie kamen immer näher, erst als wir zwei Handgranaten warfen, verschwanden sie.

Mihai erinnerte sich an die Kampfhandlungen, erzählte gern. Für ihn, den Fünfzehnjährigen war es ein Indianerspiel unter Lebensgefahr: er wurde jenen sechs Kämpfern zugeteilt, die auf dem Palastplatz gegen die Terroristen im "Turmblock" schossen:

- Der Flugkapitän, unser Anführer, und Bogdan stiegen hoch, erzählte er, zwei hielten im 2. Stock Wache, wir andern versteckten uns auf der Grünfläche gegenüber, um den Standort des Gegners zu beobachten. Die hatten das bemerkt und gingen auf die Balkons, schossen von dort. Die hatten Mut! Einer sprang von oben mit einer entsicherten Waffe ins Leere und schoß im Todes-Fall auf eine vorbeimarschierende Kompagnie, er tötete mehrere Soldaten, bevor er auf einen geparkten Wagen aufschlug. Tot. Ich habe ihn mir angesehen. Er war unauffällig gekleidet: dunkle Hosen, schwarzer Anorak, Adidas und auf dem Kopf ein Mützchen. Er sah ganz normal aus. Auffallend war seine Größe und das schwarze Haar. Und der wahnsinnige Todesmut. Kamikaze, dachte ich. Damals wußten wir nicht, wer sie eigentlich sind. Jetzt weiß man, es waren Sondereinheiten des Sicherheitsdienstes, Leibwache des Diktators. Auch dieser Securist war schwarz gekleidet, wie die meisten. Und auf der Brust hatte er eine Tätowierung, das Bild des Schiefmäuligen. Das sah komisch aus. In der Tasche, das fand Bogdan raus, trug er Ceausescus Visitenkarte mit vergoldeten Lettern. Und eine dunkelrote Schärpe mit einem roten Streifen trug er. Um den Mund, aus dem Blut floß, hatte er einen verbissenen Zug.

Die Stimme des 15-jährigen Schülers hörte sich immer leiser an: - Unser Chef, der Flugkapitän, sprang als erster hinter einem Bus hervor und auf das Gebäude zu ( von wo Terroristen auf die Leute schossen). Dabei lag er voll im Licht der aufleuchtenden Fenster. Und schon traf ihn eine Ladung direkt in die Beine... `Ich bin verwundet!` rief er uns zu, da rannte der Zweite los, um ihm beizustehen. Dieser wurde sofort getroffen und durchsiebt. Er blieb vor dem Bus liegen. Ich preschte vor und nahm ihm die Waffe ab...Bogdan und ein Junge in meinem Alter gelangten in einer Gefechtspause an die Gebäudewand hinüber, versuchten, im Schutze des Zaunes, den Gegner unschädlich zu machen. Dabei erhielt der Junge einen Kopfschuß, und wurde, sicher schon tot, dann ganz durchsiebt, er blieb mitten auf der Fahrbahn liegen...

Erst als alle Terroristen tot waren, kam ich wieder zu mir, und es wurde mir bewußt, daß ich und Bogdan allein überlebt hatten; kurz darauf erwischte es auch Bogdan. Er stand eng an den Bus gedrückt, und wartete auf eine Bewegung von oben. Er schoß. Er traf; doch dann wurde auch er tödlich getroffen. Ich gab meine Waffe an einen Panzerführer ab, schloß mich einem Jungen an, der heimwärts ging. Wir gingen gemeinsam bis zur Metro-Haltestelle Izvor, wo ich mich von ihm trennte. Als ich allein war, fühlte ich, wie ich ganz müde wurde, ich dachte, ich werde ohnmächtig. Ich setzte mich auf den Boden und sah plötzlich ihre Gesichter vor mir. Wir waren sechs gewesen, und nur ich war noch da, ich spürte, wie es mich würgte, ich sah die zerfetzten Leiber, das Blut und mußte mich übergeben. Ich begann lautlos vor mich hin zu weinen.

- Jetzt wissen wir es, sagte Ioana, das Fernsehen bringt ja sonntags jeweils eine halbe Stunde Videoaufnahmen aus dem Studio 4, wo der Widerstand angeblich von zwei Generälen koordiniert worden war. Rat mal, wer diese Koordinatoren gewesen waren?! General Guse und Iulian Vlad, der oberste Securitate-Chef, sie >leiteten< die Kampfhandlungen gegen die Terroristen!! Es heißt, sie hätten die Revolution verraten und das Volk betrogen, also ein doppeltes Spiel getrieben. Doch wirken sie, wenn man diese Fernsehbilder sieht, als wären sie in einem völlig verwirrten Zustand gewesen. Es sind Fernsehbilder, jaja; wurden sie etwa aus alten Filmen zusammengeschnitten und zusammencollagiert? Wir wissen, mit diesem Bild-Material kann jeder nach Belieben "Wirklichkeit" herstellen.

 

Flunkert auch Mihai? Stimmt seine Geschichte? Ist sie wahr? Wer kann es wissen? Ioana meint, Mihai könne erzählen, das verführe ihn freilich, alles "etwas auszuschmücken"; doch er war dabei, ich habe ihn ja dort gesehen, sagt sie, sichtlich bemüht, seine Glaubwürdigkeit nicht in Frage zu stellen. Heute jedenfalls behauptet auch die vertrauenswürdige Zeitung "Romània Liberá", keiner wisse, wer geschossen habe!

Der AUGENZEUGE bei Dürrenmatt, dachte ich, bei Dürrenmatt findet man die beste Verhöhnung des Augenzeugen. Daß alle etwas anders sehen, weiß man ja von Prozessen. Daß manche in Gefahrenlagen halluzinieren, auch. - Weißt du, was mir in Kronstadt ein alter Bekannter, der dortige Stadtpfarrer, über seinen Küster erzählt hat, sagte ich: Der behauptet, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Terroristen aus dem Turm der Schwarzen Kirche geschossen hätten, auch Tauben verletzt worden seien. Eine tote Taube wollte er mir zeigen, doch auch die gab es plötzlich nicht mehr, sie war verschwunden. Und oben auf dem Turm suchten wir gemeinsam mit Soldaten vergebens nach den Terroristen...

21. März 90. - Ja, sagte Ioana, mich hat das alles sehr aufgewühlt. Vor allem verändert. Es war ein merkwürdig doppelgleisiges Bewußtsein im Dezember. Das bisher Gewohnte lief neben einem neuen Zustand her, ähnlich wie bei einem Todesfall, nur war es ein freudiges Erschrecken, das nicht abreißen wollte. Die Toten, die kann ich nicht mehr vergessen. Und ich habe in jenen Nächten viel geträumt. Einer dieser Träume ist fast prophetisch: Ich war mit drei Freunden auf einem Lastwagen zu einem "Ereignis" unterwegs. Doch bevor wir ankamen, begann der Wagen rückwärts zu fahren, schneller und schneller, ich sah, wie er sich hob, eine schiefe Ebene bildete, und wir mußten uns an den Seitenplanken festhalten, um nicht herunterzufallen. Doch sie fielen alle herunter. Und schließlich stand ich allein da. Die anderen waren vom eigenen Wagen überfahren worden.

 

Am 22. März 1990 auf dem Universitätsplatz vor dem "Intercontinental", wo die Toten gelegen hatten, rufen sie ihre neuen Losungen, sIngen das Temesvar- Lied. Die alte Dame mit dem Pelzkragen hält ein Taschentuch in der Hand, sie weint. Die Popen zelebrieren die orthodoxe Messe vor einem riesigen Kreuz mitten zwischen den beiden Fahrbahnen, auf einer Insel, aber es gibt keinen Verkehr, die Masse flutet, Gesicht an Gesicht, Kerzen in der Hand: Durch das Loch der gesenkten Fahnen mit Trauerflor sind sie zu sehen: Flämmchen flackernd im Windhauch, die Toten. "Doamne miluiste", Herr erbarme dich, singen die Popen. Ungeduld. Schwarze Armbinden. "Ce pácat, ce pácat de sìngele vársat!" (Schade, schade, um das vergossene Blut.) Überall sieht man weinende ältere Frauen. Jeder weiß heute, daß ein Betrug stattgefunden hat. Die neue "Alianta civicá", die "Bürgerallianz", Intellektuelle, Studenten, Arbeiter und die wichtigsten außerparlamentarischen Oppositionsgruppen hatten zur Demo aufgerufen. Sie sagen es der Menge mit den Kerzen, den Blumenkränzen, den schwarzen Armbinden; mit kleinen Altären, mit Votivtafeln, - überall, wo jemand im Dezember ermordet worden war, ist die Toten-Stelle bezeichnet. Die Gebete sind Gebets-Revolten. Nichts ist vergessen. Hunger und Chaos. In den Nebenstraßen der Boulevards gibt es unendliche Schlangen. Plötzlich war zur Beruhigung der Gemüter Fleisch aufgetaucht. Doch wie vor einem Jahr ist das Warmwasser, die Heizung, das Licht rationiert. Alles fehlt, sogar Streichhölzer, Glühbirnen, Aspirin.

Viele Rumänen sind emigriert, die Mehrzahl Studenten, Abiturienten, Schüler, junge Ehepaare mit Kindern, ein Intellektuellenaderlaß, der nicht wiedergutzumachen ist. Sie schlafen in Paris unter den Brücken, ganze Familien in Zelten im Bois de Boulogne, auf Zeitungen und Kartons im Gare de l`Est, auf der Piazza Navona in Rom, in Schönbrunn. Es sind nicht mehr nur die Deutschen und die Juden, die das Land verlassen. Das Land wird entvölkert. "Hungertouristen". An der jugoslawischen Grenze bei Stamora stehen sie Wagen an Wagen einen ganzen Tag, um das Land zu verlassen, Flucht ins "Wahre Europa", das sie erträumen, mit Elementarwünschen wie die Auswanderer vor 100 Jahren nach Amerika; Freiheit und Brot.

 

Ganz andere Bukarest- Bilder sehe ich vor mir. Ich erkenne nichts mehr wieder: Den Basar in der Metro, der Untergrund am Universitätsplatz, fast wie das Tunnelsystem der Secu unter dem Palastplatz. Freiheit dem Schwarzhandel? Öffnung zerstört. Diktatur hält alles zusammen - mit Zensur, Gefängnis, Securitate. Wilde Freiheit: Orientalischer Basar; Gewusel. Wie auf dem Flohmarkt geht's nun überall zu, Gruppen von Leuten, Pelzmützen überall, Gestikulieren, Schreien, Schimpfen, Streit. Politik und Basar. Dazwischen Zeitungsstöße, Zeitschriften. Schundromane, Kerzen, Schuhbänder, Orangen, Blumen, Farbstifte. Die neue und immer wieder alte Levantinisierung Rumäniens.

Brechtzentrum/ Ostberlin, 10.März./11.März 1993. Meine zweite Lesung im Osten..Das Gespräch, vor allem von Barbara Wallburg angeregt, dreht sich um die zurückgebliebene psychische Last und die Hypothek der Millionen "kollektiver Emigranten". Wie soll man sich wehren gegen das Aufgesogenwerden. Es gibt nur noch geistige Möglichkeiten. Die einzige Hoffnung: Daß jetzt alles offen ist.

Diese ziemlich klare und von allen getragene Einschätzung wurde am nächsten Tag von einem M. Marten in der taz vom Weststandpunkt attackiert. Die Fronten sind klar, diese Verteidigung des eigenen Lebensstils und Denkstils, als einzig möglichen, intolerant und merkwürdig hysterisch - Macht Zeitgeist.

Die alte DDR war schnell tot; Westdeutschland stirbt sehr langsam, und befindet sich erst in Agonie - und doch möchten viele ihre gewohnte alte Enklave so gerne behalten.

 

Den Abend verbrachte ich mit Monika und Katja und einem Redakteur von der "Wochenpost", einer Zeitung, bei der Monika früher als Reporterin gearbeitet hatte.

Sie holte mich im "Literaturhaus" ab und wir saßen zwei Stunden unten im Café. Wir redeten über unsere Liebesgeschichten. Es ist kein Kraut gegen diese "Krankheit" gewachsen, sagte sie, doch vielleicht ist sie die Gesundheit, wir aber in unserem Zustand des Vergessens, beherrschen dieses Erwachen aller Lebensgeister nicht mehr. M. beeindruckt mich in ihrer Konsequenz. M. schreibt an einer Liebesgeschichte. Der Hintergrund - Saurier und Ameisen. Die Figuren Naturforscher oder Museumsleute. Und es soll deutlich werden, daß wir Menschen auch "nichts anderes" sind, als solche Kreaturen: Genau so pissen, kacken, essen, lieben. Ich versuchte mein Gegenbekennntis anzubringen, es gelang mir nicht, denn inzwischen waren wir mit M.s Auto in irgendeine Kneipe gefahren und hatten uns mit Katja und Max von der "Wochenpost" getroffen. Ich konnte eben gerade noch beschreiben, was ich unter dem "Apriorischen" verstehe, daß dies der Unterschied des menschlichen Sonderfalls zu Ameisen oder Dinosauriern sei, daß wir nicht nur Sprache, sondern auch eine Freiheit jenseits der materiellen Umgebung hätten, ja, daß wir Einfälle und Inspirationen haben können... Ich redete mit Katja über Rumänien, wo sie eben einen Monat lang gewesen war; auch dies eine Liebesgeschichte. Der starke menschliche Bezug, unsichtbar im Raum, das Empathische ist alles, gibt den Ausschlag. Doch von meiner alten Liebesgeschichte zum Land ist wenig geblieben, und Katja machte mir zusätzlich Angst vor dem endgültigen Verlust dieser Liebe; ach was , sagte sie: Hai-Maat. Als altem Segler müßte mir doch der Begriff geläufig sein! Zwar springen die Forellen in den Gebirgsbächen der Karpaten immer noch in Plastiktüten, wenn man die geschickt übers Wasser hält, man begegnet Karpatenbären... aber... du kannst weder Taxifahren, noch Essengehen, es ist teuer und gefährlich, und die Nomenklatura hat alles, bis hin zu den Immobilien in der Hand, sagte sie.

Eine Woche später: am 16. März 1993 dann wieder ein Flug Frankfurt-Bukarest. In den ersten Tagen in Bukarest ging es mir nicht gut. Von Buftea, der Filmstadt, wo ich im Schriftstellerhaus wohnte, auf der Fahrt mit dem Bus in die Stadt, sah ich die ungewohnten, aber nun wiedererinnerten Pferdewagen, Koberwagen, sah ich die kleinen Vorgärten, die alten Zäune, Tabakblumen in den Vorgärten, die sahen auf die Straße, die sahen mich als Fremde so vertraut an, Vertrautes, das ich lange nicht mehr gesehen hatte, jetzt kam es plötzlich mit schmerzhafter Gewalt hoch, Traumfetzen überschwemmten mich, ich sah das Gärtchen bei den Eltern eines Freundes, Tabakblumen, schmutzigweiß unmittelbar vor der Nase, ich roch daran, und die Mutter, die kam mit einem Stück gelbem Palukes auf mich zu: hier, du bist hungrig, Palukes mit Marmelade, das tut gut! Und ich nahm das weiche, gebratene Polentastückchen, es war weich und heiß, fühlte es ganz deutlich, und sah die füllige Rumänin vor mir, Bild auf Bild, jetzt ein Koberwagen, darauf saß mein Großvater, und ich hatte Angst, wahnsinnig zu werden, "erkannte" dort ein Gesicht im schnellen Vorbeifahren auf dem Wagen, durchs Fenster einen Jungen, der mir winkte, der war ganz fahl im Gesicht, hatte schütteres Haar, soweit ich es im Vorbeifahren erkennen konnte, war der Junge ein wenig geduckt, als erwarte er einen Schlag von oben und zog daher den Kopf ein... Wie ein Blitz, die Erkenntnis, das bist doch du! Als wäre ich selbst es gewesen, aha, der ANDERE also! Unsinn, beruhige dich doch; atme tief. Es rächt sich, schlägt auf dein Vergessen ein und zerstört jetzt eine Wand, die dich vor dir selber geschützt hat. Und alles war auf dem Weg von der Filmstadt ins Zentrum geschehen. Filmstadt, mein Gott. Hai-Maat!

Wie anders war doch die Erregung der ersten Rückreise (1990) kurz nach der Revolution gewesen, das Bewußtsein wund, geöffnet.

 

Damals hatte ich noch Ioana besucht, jetzt lebt sie, wie viele Freunde, in Paris.. Ich sah plötzlich Ioanas Gesicht vor mir, wir lagen in Snagov auf dem Waldboden, und der roch nach alten Blättern, es raschelte, nach dem Regen würzig, und ihre Rose blätterte auf, ihr Frauengeruch, und da kamen Leute vorbei und wir sprangen auf, Scham, Angst ... der Verrückte hatte ein Gesetz erlassen ... schon damals kamst du für Ehebruch ins Kittchen, wie in alten Zeiten: Pflicht war es, Kinder zu zeugen für den obersten Herren, denn dieses Volk war ja viel zu klein für den Karpatenriesen. Ein Bild nach dem andern kommt, taucht auf. Sommer am Herestráu-See, mit Maria. Mit Thus. Petre kommt in seiner gestreiften Badehose an. Und Ioana. Im Kahn zwischen Seerosen. Daß es ein Abenteuer war. Solch ein Kahnfahren, fader Wassergeruch. Ruder. "Vorwärts aber und rückwärts/ wollen wir/ Nicht sehn." In Snagov auf dem See. Oder im Donaudelta, Bráila. Das Grab von Marias Mutter. Alles nur Umkehrungen, wie diese, der See lebt ja - noch. Sonst lauter Tote. "Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie/ auf schwankendem Kahne der See." Nur der lebt, der sich von der Erinnerung befreit, höre ich meinen Vater sagen, der nach seiner Auswanderung nie mehr nach Hause zurückgekehrt ist. Aus. Und vorbei? Ach, nein, nur ein schöner, noch fühlbarer Alptraum. Ja, im Westen vorläufig ... Künstliche Spiegelung der Natur und des Ich ...

 

21. März 1990: Große Tränen rannen Ioana über die Wangen: - Und wir klammern uns immer noch an die "Revolution", sagte sie leise. Glaubst du vielleicht, alles ließe sich schön säuberlich und logisch ordnen, das "Logische" ist mit dem, was wirklich geschieht, überhaupt nicht eins, und wer nur geplant und wider die Ereignisse handelt, vergißt, daß es einen viel größeren Plan gibt., den wir nicht kennen, der nicht in unserer Hand liegt, jeder, der dieses vergißt, muß scheitern, wie unser Diktator. - Weißt du, wie ich hier vor der Revolution überlebt habe, und es jetzt wieder hervorholen muß? Indem ich mir immer gesagt habe, es gäbe so etwas wie ein äußerstes Wissen, und ich wiederholte es mir bei jeder Gelegenheit, unser großer Nihilist half mir: daß verglichen damit, keine Handbewegung, keine Geste, kein Wort so hinausgesprochen, wert ist, daß man dazu steht. Und nichts darf gar irgendwie überhöht werden, davor hab ich jetzt hier einen ganz großen Ekel. Das hat Tradition bei uns, daß man es längst weiß: alles, was "wirklich" ist, der Alltag, diese Tretmühle, dies ganze quälende Leben ist absurd und kann nur absurd sein, das liegt doch schon in seiner Definition! Doch vergiß nicht, im Spiegel dieses Absurden schimmert etwas anderes durch, kehrt alles um, macht etwas ANDERES sinnvoll und gut. Nur deshalb ist das Leben so absurd, weil es dieses Andere wirklich gibt.

22. März 90. Ich saß im Zentralpark Cismigiu. Meine Angst, Ioana wiederzusehen, war berechtigt gewesen, ich hatte mich verändert, meine Sinne waren alt, die Natürlichkeit dahin. Ich versuchte, diese vertrauten Gerüche wahrzunehmen, diese scharfe Märzluft, die immer noch nach Schnee roch, würzig nach Erde, und ein Vogel hüpfte da in den braunen Blättern unter den Büschen, es raschelte und knackte, Ästchen wie Knöchlein; ich versuchte, die Menschen wirklich zu sehen, die jetzt durch diesen kleinen Park gingen. Und wie durch eine Isolierscheibe kam alles langsam an, näher: Ioanas Geruch, ihr Levánticá-Duft, der Mantel mit dem kleinen Pelzkragen an meiner Wange, hier auf der Park-Bank, wo wir früher gesessen hatten, und ich weiß noch, sie konnte mitten im Trubel auf meinem Schoß sitzen; unter ihrem Rock, sie hatte kein Höschen an, glitt der Steife in sie ein, und vor aller Augen, ohne daß es jemand merkte, liebten wir uns wie zwei Verrückte, die den Schein wahren können, waren auch noch stolz auf unsere doppelte Leitung, nein, Leistung natürlich, lachten uns an und liebten uns, erregt von diesem Märzduft.

Kaum wagt hier jemand, ganz offen seine Nostalgie, ja Trauer, über die verschwundene Diktatur auszusprechen, die schließlich, wie Ioana sagte, jeder Sekunde wenigstens im Negativen Sinn verlieh, und daß sich seit der "unglückseligen Revolution" das ganze bisherige "sinnvolle" Leben der Eingesperrten auf einer Folie des Negativfilms zerschlagen habe. So paradox drückte sich diese Fernsehfrau aus: Der Sinn nämlich unter der Diktatur zu leben, war der eines permanenten, geschenkten inneren Widerstandes. Nicht jeder freilich hat Geschmack daran gefunden. - Die Jahre sind gelöscht, mein Lieber, doch ihre Spuren sind da, wir sind wie Wracks, nachdem das Meer sich zurückgezogen hat, nun liegt alles ganz nackt und bloß in einer Schlammlandschaft da. Und dann immer wieder das Bild des Zufalls, als besondere Zeichenpräsenz des Unerklärlichen. Mit dem Zufall verhalte es sich ähnlich wie mit dem Übel, sagte sie, denn auch das Übel sei das Fehlen von etwas, das sein sollte, aber nicht ist. Etwas Abwesendes also, und doch ungeheuer wirksam.

 

23. März 1990. Ich war im immer noch von Panzern und Fallschirmjägern bewachten Fernsehen aufgetreten. Ich wurde von einer Redakteurin abgeholt, wartete einen Moment im kleinen Vorraum, überall standen schwerbewaffnete Soldaten, Panzer vor dem Tor, Polizei. Ein Teil des Gebäudes diente als Kaserne. Ein großer knochiger Mann vom Deutschen Fernsehen, Berater hier, der mit Gerät und Kameramann angereist war, redete auf uns ein, er war fassungslos, er war gestern in Siebenbürgen gewesen, dort hatten sich die Rumänen und die Ungarn gegenseitig abgeschlachtet. Zwei Monate nach der Revolution!

- Bleiben Sie doch bei uns, spottete eine junge Redakteurin. Sie brachte mir Kaffee, bediente mich, ich wurde verlegen.

- Wissen Sie denn nicht, daß Sie jetzt hier im Zentrum der Welt sind? sagte die resolute Sprecherin, deren Gesicht im Land jeder kennt. - Ja, sagte ich, es heißt, daß in diesem Gebäude, und ihr wart dabei, ein Experiment stattgefunden hat: Die Telerevolution.

- Also Serien aneinandergereihter Bilder, die so schnell sind, daß unsere Augen den Betrug nicht merken..., sagte der hagere Herr von der ARD spöttisch.

- Das ist mir zu hoch, sagte die Sprecherin: Ich erscheine ja täglich wirklich im Bild, man kann mich sehen.

- Aber Sie verhalten sich auch danach, sagte der Hagere, auf der Straße lauter Bekannte, die Sie kennen, umgekehrt aber kennen Sie die, die Sie kennen, nicht.

- Ich lerne aber viele kennen.

- Alle aber lernen Sie sicher nie kennen, sagte ich.

- Verrückt, warf der Mann von der ARD ein, und schüttelte erstaunt das weise Regisseurshaupt: Das sichtbare, wahrnehmbare Ereignis, das wir noch lenken können, verschwindet, es ist wie Magie, jaja, ein magisches Bewußtsein kehrt so wieder, der Handelnde wird davon verzaubert, gelähmt, aus der Welt genommen, ohne daß der Zuschauer das bemerkt, vor allem während der Revolution wurde diese Grenze verwischt.

- Es ist wahr, sagte Maria, die Sprecherin, da konnte keiner mehr zwischen Wirklichkeit und Fernsehen unterscheiden, denn alle sahen ja nur Fernsehbilder während der Revolution, jeder dachte, das sei eine Direktübertragung, live, auch die Revolutionäre, die doch dabei gefilmt wurden, aber sich selbst auf dem Bildschirm als "Revolution" sahen. Und nach Anweisungen aus dem Studio 4 handelten. Ich bin von Anfang an da gewesen, ich habe genau gesehen, wie geschnitten wurde. Mein Mann auch, der ist oft im Studio 4 gewesen.

- Daß das Bild so "lebensecht" ist, kommt noch hinzu, sagte der Regisseur, anfangs waren die Fotos grobkörnig, sie hatten die Größe von Silbernitratmolekülen, sie wurden laufend verfeinert, jetzt können sie vortäuschen, Szenenabbilder zu sein, nicht Kalkulationen von Apparaten und Mosaiken. Sie lügen also nicht wie gedruckt, sondern wie das Leben selbst.

- Den Zufall gibt es ja als Unfall und Willkür sowieso nicht, sagte ich: daß dieses Einblenden des magischen Bewußtseins in die Geschichte, die so in Bewegung gesetzt und gleichzeitig aufgehoben wurde, kein Zufall ist, daß dies hier in diesem Land geschehen konnte... Ich müßte allerdings weit ausholen...

- Tun Sie das, tun Sie das ruhig, wir hungern hier nach einer Analyse des Selbsterlebten, alle versuchen es. Jetzt müssen wir endlich wissen, was eigentlich geschehen ist! sagte die Sprecherin.

- Hier ist Geschichte immer boykottiert worden: "Boykott der Geschichte", eine rumänische Spezialität. Daß das jetzt in den Nischen der Diktatur am Leben gebliebene magische Bewußtsein mit Hilfe der höchstentwickelten Technik gerade hier so radikal in die Geschichte eingeführt, diese gesprengt wird, ist eine schöne Ironie.

- Die Revolution war wie ein Wunder, Wunder aber dauern nur einen einzigen Augenblick, sagte Maria: Doch sie hat wirklich stattgefunden, das scheint ihr im Westen nicht mehr glauben zu wollen, und das finde ich infam. Der Ton der Sprecherin wurde scharf: Es war doch nicht alles nur vom Fernsehen geschnitten oder gar "getrickst", dies war kein politisches Mickeymousespiel, da sind Menschen gestorben... ein Freund liegt schwerverwundet im Spital, er wird nie mehr sehen können. Und die Toten, sollen die jetzt noch einmal sterben, ihr und Iliescus "Front" wollt, daß es die Toten nicht geben soll!

Ioanas Kopf tauchte plötzlich in der Tür auf:

- Ich wollte nicht stören.

- Kennst du Enzo Biagi?

- Freilich, er war ja hier bei uns; er hat ein asketisches, graues angestrengtes Gesicht, der Mann der Wahrheit aus Italien.

- Ich schätze ihn, da er andauernd, auch im Süden unheimliche Machenschaften aufdeckt. Weißt du, was Biagi im RAI, dem italienischen Fernsehen, nach seinem Besuch hier in Bukarest gesagt hat?: DIE WAHRHEIT LIEGT IMMER nur HINTER DEM FERNSEHBILD.

- Ich weiß, ich weiß, und du willst durch die Mattscheibe durch... Wollt ihr das Gespräch sehen, wir haben eine Kopie?

Wir sahen uns die Kopie an...

- Wir waren alle hier mit dabei, sagte Ioana, als das passierte, sagte es in den Film hinein: Vom ersten Stock hörte man vereinzelte Schüsse; Ceausescu war noch im Gebäude...doch nach einer Weile, als wir auf den Balkon vor die Menschenmenge traten, der Platz war voll, so weit das Auge reichte, hörten wir sie rufen: Olé, olé, Ceausescu numai e. Vom Dach des ZK hob ein Militärhubschrauber ab, der Diktator floh...

Im Film war der Major Malutan zu sehen, er erzählt ETWAS... dann ist ein Bild vom Palastplatz zu sehen, der Hubschrauber, von dem Malutan berichtet, ist zu sehen: am Himmel, er fliegt wie in seinem eben gesagten Satz davon ab... Parallelen. Aus den Worten steigen die Filmbilder, Malutans Worte, sein Gesicht, das graue Gesicht von Biagi, scharfe Brillengläser sehn Malutan an. "Gegen 12 Uhr sagte mir der Bordmechaniker, sie kommen!" erzählt der Major Malutan: "Ceausescu, seine Frau am Arm, mehr getragen von ihren Gorillas, als gehend, mit verängstigten Gesichtern stiegen sie ein. Auf den rückwärtigen Sitzen meines Hubschraubers saßen nun auch Manea Mánescu, Emil Bobu und zwei von der Securitate, den dritten warfen sie hinaus. Das maximal vorgeschriebene Höchstgewicht war längst überschritten. Ich atmete auf, als auch das Leitwerk der Maschine die Brüstung überwunden hatte." - - Es folgten Augenblicke höchster Erschütterung, sagte Maria, dieser Abflug war vielleicht der wichtigste Augenblick meines bisherigen Lebens, ich hörte die Zeit summen, ein Traum war Wirklichkeit geworden. Ceausescu geflohen, wir im Innern, im Zentrum der Macht. Ich habe noch einen Film hier, den wir gedreht haben, leider war kein Team dabei, als das ZK gestürmt wurde, so mußten wir uns mit Augenzeugen und Schwenks, Einblendungen und Musik begnügen. Aber wir haben eine sehr wichtige, gute Zeugenaussage, die von Dr. Tánásescu, dem Sportarzt von "Rapid". Doch eine Aufnahme gibt es schon, die vom ersten Balkonredner. Hier seht ihr ihn: (Der Techniker legte die Rolle ein.)

- Der erste, der vom Balkon, wo sonst der Diktator allein sprechen durfte, zu der Menge redete, war Dan Iosif, sagte Stefan, Iosif war die Seele des Aufruhrs.

- Wie man jetzt leider hört, sagte der Mann von der ARD, war Iosif Securitateoberst.

-Das stimmt.

- Aber die Herrn Genossen von der rumänischen "Firma" sollen bei der Revolution kräftig mitgemischt haben!

- Es gibt diese Version, sagte Stefan, der Schweigsame, daß gleichzeitig ein Putsch stattgefunden haben soll. Viele Fragen bleiben offen. War es ein Staatsstreich? War der Diktator völlig alleingelassen? Weshalb ist er allein mit Frau im Hubschrauber abgeflogen, aus Angst -oder weil er das Land verlassen wollte?

 

Man muß sich vorzustellen versuchen, in welcher absurden Welt der Paranoia und der Überwachung alle in den oberen Rängen jenes Staates gelebt hatten. Die primitive Psyche des Diktators, der sich einschloß und Kojakfilme oder das heimlich gefilmte Sexualleben seiner Kinder ansah, beherrschte alles, er war ein Genie des Kitsches, man sehe sich nur seine monstruösen Projekte wie den völlig funktionslosen, leeren "Pharaonenpalast" oder die 4 Kilometer lange Springbrunnenanlage (ohne Wasser) an; dieser schlechte Geschmack bestimmte alles. Form ohne jede Substanz; eine falsche Harmonie auf allen Gebieten, er, der halbe Analphabet ist der Größte, seine Frau, die Analphabetin ist Dr. Ing. und Akademiemitglied. Eine falsche Welt des Wahnsinns; er läßt Goldtüren einsetzen, das Volk lebt im Finstern und hungert, seinen Traum aber will er sich nicht stören lassen. Sogar der Wetterbericht wird gefälscht, damit die Leute meinen, weniger zu frieren. Jede Störung der Friedhofsruhe, jede Öffnung ist mit äußerster Gefahr verbunden, das weiß er, der totalitäre Großvater aus der Stalinzeit; überlebt hat er nur durch Lüge, Skrupellosigkeit und mit einem phänomenalen Personengedächtnis. Überall Gefahren, Komplotte, Feinde, Mißgunst. Den Staatsstreich haben aber Leute vorbereitet, die in der gleichen Atmosphäre aufgewachsen sind, die liberal-totalitären Söhne. Alle aber geschult im Komplottieren, also im Absurden. Das Entropie- Konzept, daß ein geschlossenes System unweigerlich in Chaos umschlägt, dieses wächst, paßt genau hierher. Bei Diktatoren muß das zu Paranoia führen, überall vermuten sie feindselige Kräfte am Werk, die komplottieren. Je mehr die Paranoia wächst, umso näher ist auch die Paranoia der Realität - absurderweise. Vermutete Zusammenhänge, überall Anzeichen, dafür war die Securitate zuständig, die Urheber aufzudecken; es gab ein enormes Spitzelsystem dafür, diese destruktiven Kräfte von innen und außen zu personalisieren. Hitler oder Stalin saßen in einem ähnlichen Spinnennetz, nur waren die technischen Mittel, vor allem die elektronischen, damals noch sehr beschränkt. Diese Welt reicht fast schon ins Gebiet der Ästhetik des Absurden: plot heißt ja Handlungsstruktur, ist aber auch verwandt mit dem Wort Verschwörung (Komplott).

 

- Am 22. Dezember wurde auf dem Platz der Republik in Bukarest die provisorische Regierung durch Zuruf aus der Menge zusammengestellt, sagte Stefan: So kamen die beliebten Poeten Ana Blandiana und Mircea Dinescu, dann Pastor Tökes oder Doina Cornea zur >Front.< Es war ein Augenblick wie 1789, die ÖFFNUNG, Wiederherstellung einer Öffentlichkeit, mauerlos, gemeinsamer offener Augenblick, wie ein unsichtbarer ORT, wo Leben und Politik zusammenfielen, ja Lebenszeit und allgemeine Zeit. Wie ein Zauber, dem wir kaum gewachsen waren, man spricht jetzt gern von einer Tele-Revolution, sagte er, aber sogar die Hauptakteure haben doch diese Revolution zum Teil vor dem Fernseher erlebt. So Andrei Plesu, der auf Mircea Dinescus Vorschlag Kulturministers geworden ist; der saß fast die ganze Zeit zu Hause vor dem Fernseher.

- Ich bin genau dieser Auffassung, setzte Stefan hinzu: Weil man die Leute im Studio frei ein- und ausgehen und ihre Meldungen direkt durchgeben sah, entstand der Eindruck, hier werde unverarbeitete Information geboten. Mehr noch, es schien so, als wäre das Studio selbst Schauplatz der Ereignisse. Auf den Korridoren der Sendeanstalt wurde geschossen, das Team, das die Nachrichten sendete, war in Panik. Man fühlte sich nicht als Fernsehzuschauer. Das war kein Programm, sondern eine Direktübertragung. So sah es aus. Und es war nicht mehr das Fernsehen im üblichen Sinn, das Medium wirkte nicht als Medium, schien reine Unmittelbarkeit. Und ich muß schon sagen, als Fernsehmann, der dabei gewesen war, konnte ich nichts von einem Betrug entdecken. Freilich, alles konnten wir auch nicht senden, sondern mußten selektieren!

 

Zum erstenmal in der Geschichte war ein Fernsehstudio, war dieser Nichtort par excellence, zum Ort des Geschehens geworden, zum Schauplatz der Ereignisse. Unter normalen Umständen bleibe ja das Fernsehstudio unsichtbar, meinte er, topographisch inexistent, ein leerer Ort, der mit dem, was zu senden ist, gefüllt werden müsse. Jetzt aber sei Kamera auf Kamera gerichtet gewesen wie bei der Enttarnung eines Kostümfilmes. Baracke, Ausstatter, Kamerateams werden sichtbar, ähnlich Fellinis Technik.

 

Aber das Fernsehen ist ja auch sozial ein enormer Machtort, das ZENTRUM des Geschehens auch im Westen, Früher war Nähe zum Herrscher, Nähe zum Hof, zum Diktator, zum Minister, usw. das Bestimmende in der Hierarchie, heute ist es der Auftritt im Fernsehen; und für dieses selbst hängt die Macht von der "Einschaltquote" ab. Lebenspraktische Leitwährung: Prominenz, die Zinsen trägt, wird durch Fernsehauftritte bestimmt: Markenartikel Name. Bekanntheitsgrad.

 

Ich verabschiede mich und bestelle eine Taxe; in der Taxe sitzen zwei Frauen. Sie reden haßerfüllt über die Ungarn, eine zitiert den Artikel eines bekannten Schriftstellers, der von "Hunnen" spricht, die man aus dem Land jagen müsse! Ich erzähle ihnen von meinen ungarischen Freunden, meiner Kindheit mit ihnen. Ich habe acht ungarische Ammen gehabt, sage ich. Sie sind gerührt. Sie lassen sich umstimmen. So ist es überall. Die Leute sind nicht gewohnt, eine eigene Meinung zu haben, und auch nicht, daß ihre Meinung zählt, mit zur Wirklichkeit gehört, Wirkung haben kann. Sie hatten bisher nur eine halluzinatorische Intimität der inneren Wahrheit gehabt, die nichts zählte, die sie verbergen mußten, ihre Wahrheit und ihre Meinung waren mehr ein Traum gewesen, der bisher nie Wirklichkeit werden konnte. Diese millionenfache verbotene Intimität ist dann freilich in der Revolution explodiert.

 

 

 

VI

 

23. März 1993. Ich schließe das Tagebuch, was soll noch dieses Geschriebene: Was heute möglich ist, ist der programmierte "Betrug". Was soll noch im Wort als historische oder soziale Realität gelten, wenn sie vom Fernsehen gemacht ist, von dem alles machbar ist.

15. Januar 1991, 17 Uhr. Warten auf den Kriegsausbruch im Golf. Nacht - und ich: schreibe und schreibe, als ließe sich etwas schreibend abwenden: "Es ist wie das Warten auf eine Hinrichtung," Im Fernsehen das Wort "guerra sporca", schmutziger Krieg. 15 Januar 1991. Es ist zu spät. - Es ist fast schon Dummheit, so auf diesem weißen imaginären Feld des Schreibens Widerstand leisten zu wollen. 1989 schon fast ein Märchen. Nach-Kriegs-Zeit-Ende? Und nun der Golfkrieg des Westens: löscht er alles wieder? Schlägt nun das "Alte", die zähe Vergangenheit überall zu?

Wie weit entfernt sind wir schon von jenem Zustand, den es noch Neujahr 1990/91 gab?! Wie weit entfernt vom Jahr vor der Wende im Osten?! Was bisher verhüllt wurde durch das allesbestimmende ostwestliche, mit Endzeit-Tod abgesicherte Ruhekissen, das "Gleichgewicht des Schreckens", der ebenfalls ein Schwindel des Aufschubs war, wird Wirklichkeit. Es ist aus mit der alten gemütlichen Zeit des "Kalten Krieges". Es gibt weder Ost noch West, beide sind eine machtgeschützte Illusion gewesen. Im Baltikum setzt die Sowjetunion Panzer ein, um ihr Imperium zu retten. In Bagdad zeigen die USA, die Apokalypse riskierend, ihre Militärmaschine in Aktion. Rohstoffkrieg.

Im Italienischen Fernsehen sprach der Philosoph Roger Garaudy von einer "Verteidigung des Kolonialismus" am Golf, davon daß z.B. die USA 5% der Weltbevölkerung ausmachen, sie aber 25% des Weltöls verbrauchen. In Westeuropa sind die Zahlen noch katastrophaler. Armut, Hunger und Rohstoffraub gehören zusammen. Und jetzt werden Milliarden Dollar zur Zerstörung am Golf eingesetzt, um diesen Zustand zu verteidigen, anstatt einen Schritt zur Lösung der lebensbedrohenden Zweiteilung der Welt zu machen.

16. Januar 1991. Fortsetzung der Gedanken von gestern zum Golfkrieg. Man kann alles sehen, oder besser, die Zeit wird annulliert, auch die Distanz zur Wirklichkeit, und es sieht aus, als wären wir wie im Märchen überall mit dabei: LIVE. Live auch auf den Kriegsschauplätzen. Und wir vergessen, daß wir Opfer sind, Opfer einer Kriegsberichterstattung der einen Seite, also mit im psychologischen Krieg des Weißen Hauses gegen den Gegner, wir aber sind ebenfalls Gegner, durch Simulation programmiert, denn Weltmeinung gehört mit zur Kriegsoperation. Wir haben es herrlich weit gebracht. Und dieses Sehen inszeniert sich mit Bildschirmen sogar selbst als Welttheater des eigenen Unheils, das dann wieder auf das, was wirklich geschieht, zurückwirkt, in einem höllischen Kreislauf.

Ist es nicht so, daß alle diese Verheerungen durch den Abgrund zwischen überholtem Bewußtsein und Technik ermöglicht werden.

Hier zeigt der Okzident die letzte Konsequenz seiner Historie: seine Fähigkeiten zum Jüngsten Gericht, sein wahres Gesicht! Hegels Satz "es wird eine Zeit kommen, wo der Tod ein menschliches Leben führt," ist wirklich geworden.

 

Wegen des kaputten Bad-Abflusses lag unten im Eßzimmer wieder ein See, Wasser durch die Decke runtergetropft. Badewasser auf dem Eßtisch. Neue Löcher, neuer Ruin. Da rast die Abnützung, schrie ich. Und hatte gestern unten in der kleinen Bank zu viele Leute gesehn, alle hatten einen Kopf wie ich, einen Schädel, und die Innereien, es stank. Schlechte Luft. Da kamen mir plötzlich diese armen Wesen, die Bankangestellten, und alle Leute im Raum, wie der klare Rotz Gottes vor: sie, die im offenen, gegen Terroranschläge völlig ungesicherten Schalterraum stehen, sitzen, sich bewegen, geisterhaft reden, mechanische Gesten machen: Geldzählen am Schalter 1, Handbewegung - Prego: zur Unterschrift, Lächeln. Abgenützt. Wir, die bibbernden, gallertartigen Wesen, leicht zerstörbar. Wer den Zukunftsröntgenblick hätte, die Illusion Zeit zu durchschauen, wäre mit lauter Skeletten zusammen - hinter Schreibmaschinen und Computern diese fahlen, ernsten, wichtigtuenden Gesichter - lauter Totenköpfe. Deckung "Gold", Abdeckereien der Welt, die Banken. -

Dann kehre ich zum Golfkriegs-Kommentar zurück:

Wie ist es möglich, eine Ganzheit nicht-körperlicher kosmischer Kräfte und ihre Gesetze in solch einer furchtbaren Aktion außer Acht zu lassen und doch mit ihnen, gar "erfolgreich" zu operieren?! Die Technik, der Knopfdruck, der alte Parlamentarismus mit seinen Fachidioten ringsum machen es möglich! Und der antiquierte Glaube an das, was man sieht: die anscheinend so feste Außenwelt! Dabei wird nie nach Sicht, sondern immer nur nach Radar gebombt und zerstört!

 

17. Januar 1991. Es gehört schon zum LEBEN: Jeden Abend Fernsehen. Seit dem Beginn des Golfkrieges stehe ich auch nachts auf und drehe das Fernsehen an, Angst, daß Giftgas verwendet werden könnte, biologische Waffen, daß der Atomkrieg ausbricht, und das will ich auch SEHEN, MITERLEBEN. Wie ernst und solid und verantwortlich ist meine Sorge? Auch dieses eine Umkehrung bisheriger Erfahrung. Doch der Katzenjammer ist da. Der Katzenjammer vor dem Fernsehen, diese sogenannten "Achtuhrschmerzen", die vergehen dann mit dem allabendlichen Wein. Leopardi hält den Abend für "traurig, verzagt und der Hoffnungslosigkeit zugeneigt." Und am Morgen soll man angeblich ein Stück der Jugend zurückgewinnen. Aber das Altern (und das Bewußtseinsaltern) nimmt zu: So sei es auch mit dem Universum, ja, mit den Generationen, die verjüngen sich immer weniger, sagt Brancati, den Jann in diesen Wochen übersetzt, den alten Kollegen aus Sizilien. Zwanzigjährige seien immer weniger jung. Heute ist das extrem. Auch die Söhne, die jetzt in den Krieg zu ziehen hätten, sind alt. Und sie weigern sich. Mit Recht. Ich sehe es an meinem Sohn. Naiv sind wir, die Fünfzigjährigen, noch naiver unsere Eltern, aber uralt, wissend und clever die Zwanzigjährigen. Was wird mit deren Urenkeln werden?! Doch genau diese Generation der Zwanzigjährigen hat den Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens begonnen. So ist es in der ehemaligen DDR gewesen. So war es in Warschau. In Budapest. In Prag. Und dann in Bukarest. Jetzt aber weigern sie sich in den Krieg zu ziehen. Oder demonstrieren zu Tausenden gegen den Golfkrieg. Ist dieses eine Hoffnung?

Sie möchten den neuen Frieden, die offene Realität, und wissen (noch) nicht, was sie da als "Frieden" und "Realität" gewählt - und im Osten erkämpft haben, nämlich den älteren Dinosaurier des seit langem bekannten Prinzips: HOMO HOMINI LUPUS.

 

So ist nun im Westen das Gegenteil passiert, das Gegenteil von 1989. Es bestätigt die Möglichkeit des Untergangs. Die Entropie ist wahrer als die Hoffnung. Der Tod dauert länger als das Leben. Und dieses neue Unglück nimmt seinen Lauf; das bisher schützende "Gleichgewicht des Schreckens", der schützende Rahmen des Kalten Krieges ist zerbrochen, der die Zeit und die enormen Vernichtungspotentiale im Patt neutralisiert hatte. Er war aus dem Lebenstrieb entstanden; nun aber scheint dessen Zeit abgelaufen und es schlägt uns die Stunde der Todessucht.

Ein Mann mit der Todesenergie Hitlers dient jetzt als Auslöser.

Wir sehen es auf dem Bildschirm, in den Zeitungen, wir sehen "ES" als Panzer, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, tote Soldaten, Blut, zertrümmerte Häuser, Kinder auf Tragbahren, weinende Mütter, verendende Wasservögel im schwarzen Öl. Das auseinandergenommene und wieder zusammengesetzte Spielzeug Welt als Maschine, der Stolz des Westens ist der Tod.

 

Die Natur hat uns längst den Spiegel vorgehalten, unsere eigenen Mittel und Instrumente informieren uns über unser Nichtwissen; nichts läßt sich isolieren, der Beobachter nicht von dem, was er tut oder beobachtet, das Gerät nicht von seinem Objekt, die Waffe nicht von ihrem Ziel. Washington nicht von Bagdad. Der Irak nicht von der Welt.

Weder diese Trennung noch das geruhsame Einrichten in blinder Kausallogik oder "gegebener" Anschaulichkeit, in der das Humane meint, sich bequem und sich grenzenlos bedienend, "für immer" eingerichtet zu haben, genügt den tieferen Gesetzen der Wirklichkeit. Diese falsche Weltsicht gerät in tödlichen Konflikt mit den Grundprinzipien nach denen z.B. die im Krieg eingesetzten Techniken funktionieren und sich auf die Umwelt auswirken: Kleine "Objektive" zu zerstören, die man wie bei einer Operation einfach herausisolieren zu können meint, Raketen, Radar, Elektronik gegen "feste" sichtbare Objekte zu richten, sonst gar nichts.

 

Schon der Wahnsinn von einer möglichen Isolation beim Angriff auf einen Atomreaktor oder auf eine chemische Fabrik zu reden, angeblich ohne die nebenstehenden Häuser zu zerstören, die Natur zu verseuchen, verweist auf eine geradezu apokalyptische Dummheit. Denn auch wenn dem "Augen- Schein" nach solches vorerst möglich wäre: - Menschen und Tiere sterben in den für das Auge intakt gelassenen Häusern - nur zeitlich versetzt, später also - eines qualvollen "unsichtbaren" und langsamen Todes, also wirkt der Schlag nicht sofort, sondern vielleicht erst nach Monaten oder Jahren. Zeit und Ort spielen ja heute überhaupt keine Rolle mehr. Ebensowenig die alte Logik, vor allem aber das geopolitische Denken nicht, denn die Strahlung, das Gift, das ausgelaufene Öl gehn in die Erde, in die Zellen, in die Zukunft, um die Welt und in die Weltmeere, breiten sich langsam aber sicher aus. Und bei der Explosion der Erdölraffinerien Kuwaits werden mit der Zeit 60 % der Ozonschicht zerstört. Das Klima würde sich drastisch und todbringend für alle verändern.

 

19. Januar 1991. Der Berliner Alexanderplatz ist voller Zigeuner, Roma und Sinti. Sie wandern wieder. Orientalischer Basar in Berlin. Der Bahnhof Lichtenberg ein Zigeunerlager. Mobile Glücksspieler schröpfen ihre Kunden. Glücksspiel. Zeltlager in der Wulheide, bisher FDJ-Lager.

Bald wird das leere "Mitteldeutschland" von Roma, Polen, Tschechen, Ungarn, Russen, Rumänen besiedelt sein. Osten. Ähnlich wie die USA von Südamerikanern. Ich erinnere mich an New York, Schrecken der Bronx, der Fensterhöhlen in Harlem. Krebs der Stadt, Verbrecherbanden, Drogenabhängige, die Bewohner flüchteten, ließen die Häuser zurück, die wurden zu Ruinen. So wird der Vorschein, die Täuschung der festen normalen, bürgerlichen Welt gelöscht, von innen her. Revolutionen können ihr nicht beikommen, sie hat das bessere Rezept, das Geld, das alle anzieht, vernichtet. New York ist auf andere Art unbewohnbar als Klausenburg in Siebenbürgen. Die Zerstörungseffekte sind ähnlich.

Jetzt der Ost- Zerfall. Der Beginn, der Auslöser des Ganzen, war der Schrecken Tschernobyl. Die erzwungene Öffnung kam also vom Atom. - Es decken nun keine Ideologien mehr den Schrecken zu. Und diese Leere soll "Glück" heißen? Ordnung des Profanen, das sich aufzurichten habe, so Benjamin "an der Idee des Glücks"? Sie sei aber dem "Messianischen" entgegengesetzt.

 

Da fällt mir unsere Amerikareise ein... das trockne Flußbett des Ohio River; wo sonst Lastkähne fuhren, da sah ich anstatt des Wassers Fußgänger, von Ufer zu Ufer in der Öde, Hitzewelle von 100 Fahrenheit in den Städten New York, Boston, Los Angeles, Chicago. Und die Felder in Dakota, Wyoming, Kansas oder Montana graubrauner Staub, Pflanzen und Früchte verbrannt. Viele Farmer geben den Hof auf. In den Städten sind ganze Viertel verlassen. Fensterhöhlen. Gangsterbanden. Der Stadtkrebs. Die Atome in uns und auch draußen sind krank, winzige Monstren im DNS, aus mit dem Hohelied Sex. Du oder ich. Überall sind die Immunkörper gekillt, auch im Hirn. Wie schön, Florenz noch, idyllisch die Pest unter Oliven im DECAMERONE. Jetzt die Erde rissiggrau, zurückverwandelt ins Nichts. Treibhausgas, Co2, das Ozonloch an den Polen; in Berlin und Mailand tragen die letzten Bewohner Gasmasken. Die Farben seltsam irreal, wo das Sichtbare umschlägt, die Grenze nach drüben erreicht wird, wo die Wand aufbricht: schillernde Körper verendender Robben, changierende Regenbogenfarben der Ölpest im Sonnenuntergang.

Und im Fernsehen sehe ich jetzt die ölschwarz und fettig verschmierten sterbenden Wasservögel am Golf, riesige schwarze Rauchwolken am Himmel, die brennenden Fördertürme in Kuwait. Eine Ölbombe riesigen Ausmaßes. Hier wird das Jüngste Gericht noch einmal zeitverdichtet näher gerückt.

 

DOCH ALLES ÜBERHOLEN SIE/ die Erde geht als Ball schon/ ins Exil// Glaubst du vielleicht/ es reimt sich noch/ denn was du sahst und glaubst und hoffst/ war viel zu viel.// Die Zeiten ändern sich/ entdecken schneller jetzt/ daß dieser Ball kein Fest/ Nichts als ein Schein// womit du jetzt bezahlst// Der Tod ist wahr/ und Wissen wichtiger als Erde/ und alles wird da unter deinen Sohlen schon global// Die Sinne zählen nicht/ wer früher in die Themse fiel/ erstank normal, Pariser Häuser/ waren von Urin zersetzt/ die Nase vom Geruch das Auge/ stach der Kot der Gassen// Jetzt aber ists so schön vernetzt/ was soll der Vers, schreib/ eine Formel auf, Chemie im Brot,/ dem Wein von gestern abend/ der kleine Bauer: auch/ beim alten Abendmahl und/ das Atom, du siehst es nicht,/ ist wirklicher als jedes Jetzt/ ... es war einmal.

 

24. März 1990. Carmen Francesca hatte den Westen noch nie gesehen; jetzt durfte sie reisen, wir hatten sie in unserem Auto nach Deutschland mitgenommen, als wir nach drei Wochen Rumänienaufenthalt wieder zurückfuhren. Vor Erregung wurde es ihr auf der Reise mehrfach übel, sie mußte sich am Straßenrand übergeben. Diese erregende Vorstellung vom "Westen" als einem andern Planeten, war zu groß. Wie zum Schutz erzählte sie ununterbrochen von der Revolution. Wir übernachteten in Budapest, alle drei waren wir erschöpft, und nahmen kaum etwas von der Stadt wahr.

Carmen schien sehr enttäuscht, als wir die Grenze zwischen Ungarn und Österreich passierten, den ehemaligen "Eisernen Vorhang" überschritten, jetzt also der Blick frei war; wie das eigene Leben, um zu seinen Wundern zu kommen, die bisher für sie nur in der Phantasie, in der Erwartung, in der Hoffnung existiert hatten. Aber es geschah nichts Außergewöhnliches, alles blieb beim Alten. Wir fuhren an Wien vorbei. Die falschen Glitzer-Paradiese mit den Tempeln des Kapitals, dachte ich: sie wurden merkwürdig alt und irreal, jetzt nach dem Umsturz im Osten wirkten sie gespenstisch.

 

Bald spürten wir auch den Unterschied, ohne das Auto verlassen zu müssen; schon in Rumänien hatten wir in diesem Gefährt, in diesem "Westinnenraum" auf der Rückreise gestritten. Vorher nie. Auf der österreichischen, dann bald der bundesdeutschen Autobahn ging der Streit um Nichtigkeiten weiter. Als kämen wir nun in eine Welt, wo nur Nichtigkeiten zählen und die Trennung anderer Art ist, jeder ist von jedem getrennt, und zusätzlich noch von den Dingen. Wie sagte doch der Kollege Ortheil, einen Liebesroman in der "platonischen Höhle" West, könne er nicht schreiben, denn es gäbe hier keine Personen mit einer gemeinsamen Sprache mehr, zwei Liebeskinder auf einer einsamen Insel, die sich alles erzählen, die im Rausch, wie ich das zu Hause erlebt hatte, Welt durch die Sprachsinne verzaubern, ist im kalten Labyrinth der Interessen unmöglich; im Westen gäbe es nur Beschneidungen, schneidet dir jeder das Wort ab, verbieten sich alle gegenseitig das Wort, klagen sich gegenseitig an, betrügen sich, so der Kollege Ortheil. Ich stimme ihm zu: Keine Chance, ein Gespräch gelingen zu lassen. Konkurrenz überall, auch im Gespräch, wo sich jeder aufspielt, nur sein Interesse einbringt und vertritt! "Normalität"? - Doch dann kamen mir große Zweifel, ob meine und Ortheils negative Einschätzungen nicht auch ein Spiegel des eigenen Zustandes seien. Oder Spiegel des Spiegels, des zerbrochenen. Nun ja, das Ego ist so frei.

 

11.April 1993. Jann würde sich sofort an die Piazza bei der Kirche Santa Croce in Florenz erinnern: sie weiß es, wie ich es weiß und erinnere, viele gemeinsame Erinnerungen: Ich habe dazu keine Tagebuchnotiz; obwohl ich seit 68 regelmäßig Tagebuch schreibe und einen ganzen Kasten davon besitze, habe ich die Szene nirgends mehr gefunden, doch das Gedächtnis ist relativ genau: Wir traten damals aus der Kirche ins Freie, eine Zigeunerin bedrängte uns; wir wandten uns ab; als wir unten an der Treppe standen, kam die Zigeunerin wieder, überreichte zeremoniös Janns "gefundenen" Geldbeutel, und erhoffte Belohnung, die sie auch bekam. Die Piazza war wie eine Stube, ein Hof mit fußballspielenden Kindern, Liebespaaren, Spaziergängern, tröstlich die Stimmen an jenem Nachmittag, der Platz umgeben von sienafarbenen Häusern. Und dabei fiel mir auch das sonnige Bischofgärtchen an der Nôtre Dame de Paris ein; und die im Mondschein ballspielenden Kinder hinter dem Dom San Martino in Lucca. Es fällt mir ein Platz in Venedig ein, wo abends die Schritte auf dem Pflaster fern in einem sonderbaren Mauerecho hallten, und sich nur drei späte Spaziergänger flüsternd unterhielten, wie eine kurze Erleuchtung war der Augenblick, ein Widerschein der innern Außenwelt, die mit den Jahren in uns, in ihr, in mir gewachsen ist, und sogar damals in der Kirche Santa Croce, als ich gemeinsam mit ihr, und dies nicht zum ersten Mal, auf den toten und noch lebenden Christus des Cimabue gesehen hatte, war es auch eine gemeinsame Erinnerung, als ich den Blick mit hinausnahm auf den Platz. Und als wäre der Kreuzweg mitten in diesem Moment unseres Lebens, wie ein Licht des Empyreums, das die Sekunden berührt.

Nach jenen Erinnerungsaugenblicken gingen wir in eine Tavola calda, und das Inferno begann, der Riß und Bruch, auch mit ihr, als wäre sie unter anderen Menschen ganz plötzlich brutal zur Außenwelt geworden; und ich weiter innen geblieben, außen ein Idiot, und nur lächerlich. Es mußte so kommen. Ich versuchte natürlich, ihr aus dem Mantel zu helfen, fand aber den Kleiderhaken nicht, drehte mich verzweifelt im Kreis. Nur ruhig; sagte sie. Ja, genau so war es auch: Nur ruhig, sagte sie, der Haken ist über deinem Kopf; blickte aufwärts, dort war der Haken, rasch den Mantel, und setzte mich aufatmend an den Tisch, setzte mich auf den Mantelsaum, riß den Mantel herab, sie kicherte, ich wurde unter dem Mantel vergraben, die Wut stieg in mir hoch. Was nimmst du, höre ich ihre Stimme von "draußen", sie kann sich das Lachen kaum verbeißen. Der Kellner wartet, ich weiß. Aber sonst bestellt ja sie, über meinen Kopf hinweg, warum heute diese Rücksicht? Doch ich wickelte und wickelte, vielleicht hatte sie das Mitleid gepackt für diesen Wickelmenschen, der aus sich nicht herausfindet. Verlegenheit und Unsicherheit, zu langsame Reflexe und mangelhaftes "Auftreten" ; Klotz, du Transsylvan. Dabei ist Florenz doch eine Stadt voller Ticks und Psychopathen, aber der elegante Tick verlangt das selbstbewußte Auftreten, er ist nur mit erhobenem Kopf erlaubt, mit nonchalanten Gesten, nicht geduckt, gefangen und in Schweiß gebadet, verwirrt von Angst und Scham, sich lächerlich zu machen. Endlich hatte ich es geschafft. Nach einer Weile, wir hatten den Antipasto schon hinter uns, crostini warm, Leberpastete auf geröstetem Brot, Gallo Nero, sah ich zum Nebentisch: da saß ein Menschenkoloß mit vornübergebeugtem Biberkopf, der Mann trommelte mit seinen Fingern matt auf dem Teller, in der anderen hielt er in Menschenfresserposition aufrecht die Gabel, er benahm sich also genau so, wie ihm zumute war. Er benimmt sich, wie ihm zumute ist, murmelte ich vorwurfsvoll ....

 

Gewicht menschlicher Beziehungen. Jann hat diese telepathische Gabe, was das Zusammenleben kaum erleichtert: unterschwellig ist sie bei allen da. Vor allem bei Frauen. Und jeder spricht und sieht sie und nicht dich an. Und Du? Durch Gedankenübertragung hast du gleich andere gestört. So daß andere dich nicht mögen. Versuchst Gleichgültigkeit, dann alles durch heftiges Reden zu überspielen. Mangel anAusstrahlung. Und die wirklichen Beziehungen abwertendes Geschwätz. Der LEERE ORT. Es ist eine Krankheit, wenn du nicht mehr fühlen kannst, daß du krank bist.

"Was uns bewegt, besitzt Bewegungsgestalt. Zur Feinabstimmung einer Person gehören Angaben über den Spin, den Drehimpuls ihrer Wesensteilchen. Er entscheidet, ob ihr `Schwung` sich auf uns überträgt oder nicht. Manchmal ist man empfänglich nur für den subpersonalen Spin eines Menschen und vermag ihn weder mit dem Auge noch mit sonstigen Sinnen von andern Menschen zu unterscheiden."

"Man möchte annehmen, daß vielfach angeblickt werden, die Lebensgeister eines Menschen sammelt, züchtigt und zu größerer Leistung antreibt; wogegen derjenige, der kaum angesehen wird, mit arbeitslosen, flegelhaften, durch und durch undisziplinierten Lebensgeistern sich herumschlagen muß. Es besteht kein Zweifel, daß der Mensch seine Orientierung ebenso im Gesehenwerden wie im Sehen findet. - Wohl kann man leben, ohne zu sehen, als Blinder, aber ein Lebewesen, das nie und nirgends gesehen wird, scheint nicht vorstellbar." (Botho Strauß, Beginnlosigkeit.)

 

Dazu fiel mir eine Stelle aus einem alten Buch ein, Bernhard von Clairvaux, und ich erinnerte mich an ein Erlebnis, das eng damit zusammenhing; erregt suchte ich in meinen Tagebüchern nach, das Datum wußte ich noch: 3. Februar 1991: - Abfahrt nach Stuttgart, ein Förder- Stipendium der Akademie Schloß Solitude war mir zugesprochen worden. Schloß Solitude bei Stuttgart, der sogenannten Schwäbischen Villa Massimo.

Gleich in den ersten Tagen las ich in S. in einem alten Buch, das mir eine Stipendiatin empfohlen hatte. "Wenn du also leidest, dann empfinde ich Mitleid mit dir; wenn nicht, tust du mir dennoch leid, dann erstrecht, denn ich weiß, daß ein Glied, das nichts mehr empfindet, schon ziemlich weit weg vom Heilen ist, und daß ein Kranker, der gar nichts mehr von seinem Kranksein spürt, in Lebensgefahr schwebt." ( Bernhard von Clairvaux ).

Liebe und Tod durchbrechen die Abwesenheit. Sie beweisen, daß es die Wirklichkeit immer noch gibt. Liebe, Freundschaft, Kommunikation, "Innenräume", Berührungen - dies ist der Solitude- "Bazillus", den ich langsam zu spüren bekam. Und was geschieht bei dieser Nähe, wenn die Krankheit, Alarm und erster Schritt zu Heilung, ausbricht, die Mattscheibe zerbricht?

18. Februar 1991. In der kleinen hauseigenen Cafeteria lernte ich M. kennen; sie saß mit Esther an einem Tisch, da war ich spontan auf sie zugegangen und hatte gesagt: Du bist meine Projektion. Und dann hatten wir bis vier Uhr früh miteinander geredet, meist sie, und sie hatte mich heftig attackiert; ich ließ es geschehen; und wunderte mich darüber. Sonst kann ich scharfzüngig sein bis zum Exzess. An jenem Abend tauschten wir die Uhren. Sie schlug es vor; ich nahm ihre kleine weiße Zeitmaschine mit, und legte sie ihr nachher mit einem gemalten Kreuz von Carlo Mattioli, eine Abbildung des Originals aus San Miniato und meinem Gedicht-Text dazu, in ihr Fach an der Rezeption...

 

27. Februar 91. Ich lebe immer noch schwarz auf weiß. Daher die Scham, daher diese Angst, weil ich alles so ausstelle, auch diese Zeilen wieder, sichtbar, daß sie uns so sehen können, die Voyeure, das Verborgene ans Licht gezerrt, von unbefugten Blicken zu ihrer Sache gemacht, unser Geheimnis zerstört wird. Und ich fühle mich wie auf frischer Tat ertappt. Was haben wir denn getan?

Was schreibst du da, ah, du hast mit ihr geschlafen! Wenn jemand ins Zimmer kommt, verstecke ich sofort unsere Briefe, es raschelte früher Papier, jetzt lautlos ein Blinker, bernsteinhell auf schwarzem Grund, wieso heimlich, als wär die Seele nackt und ausgezogen.

So war es, als diese Zeilen für sie, die ersten, die vor mir lagen, geschrieben waren; ich hätte sie gerne bedeckt, sie leuchteten zu hell, Gottseidank jetzt der Bildschirmschoner ... ich hatte Angst vor fremden Blicken, als könnte die Wahrheit berührt und fortgetragen, gar zerstört werden, einmal ausgesprochen, merkte ich, daß wir einem sehr ungewohnen Prozeß ausgesetzt wurden, der lief schmerzhaft weiter. Da gab es diese andere Spannung, und ich weiß, wir sprachen davon, wir sprachen zuviel über alles, bis wir es dann ... doch nicht taten; ich erzählte ihr von K., der Malerin, mit der ich nur im Wort, in der Rede schlief, nächtelang zerfleischten wir uns, Wodka im Hirn, eingeweicht die Sätze darin, und gingen nie miteinander ins Bett, bis es zu spät war.

 

Ich weiß, weshalb sich die Neue hier in S. sträubte. Und auch ich sträubte mich ja. Und ich schrieb es ihr auf, nachts, wenn ich ungestört war. Sie aber sagte: Und dann verläßt du mich einfach, wie alle andern. Für eine Nacht bin ich für euch gut, so war es immer. Und sie sprach verachtungsvoll vom "Gerammel" hier im Künstlerhaus, und von ihrer Freundin Esther, die das fast heiter übt, und wie sie auch heiter davon erzählt. Seit zwei Jahren, das letztemal in Paris, bin ich nicht mehr verliebt gewesen, sagte sie.

- Ich möchte ein Haus so groß wie die Kunst. Und voller Kinder das Haus. Ich sehne mich danach. Und kann nicht...

- Die Männer meiden mich. Meine Eltern, meine ganze Familie kann mich nicht ertragen, ich mache allen Angst, als hätte ich eine Krankheit oder eine Kraft, vor der sie sich fürchten. Meine Eltern haben mich mit siebzehn von zu Hause weg nach Lausanne geschickt, seither irre ich in der Fremde herum, als hätte ich den Aussatz, als wäre ich eine Hexe. Du bist der einzige Mensch, der mich erträgt.

1.März 91. Ich glaube immer noch nicht daran; ich sehe mir ihre Pariser Zeichnungen an, und erschrecke vor den schwarzen Monstern ihrer zustandsgebundenen Patientenkunst, riesige Kopfgewächse wachsen aus den Fontanellen, wo sich das siebte Chakra befindet, und schwarze Schwangere, die Bäuche aufgedunsen, multiforme Embryos, Tentakeln und Auswüchse, die sich überall bilden, als wäre die Welt ein Tumor an der Schläfe, an der Wange, am Geschlecht. Und fällt dann ab. Runde Wesungen wie der Dritten Art. Doch merkwürdig, ich habe kein Mitleid, mir graust es nicht, ich sehe mich selbst darin wachsen...

 

2. März 91. Ich schreibe an meinem Buch, in dem wir uns eben befinden: Ich versuche sie zu vergessen. Ich versuche mich in jenem andern Raum zu orientieren. Der "Bazillus" also hatte mich gepackt, schon nach einer Woche: "Ankunft auf Schloß Solitude bei Stuttgart, wo freilich früher mal die "Hohe Carlsschule" gewesen war, Schillers Vater Gärtner gewesen war, Herr Carl Eugen, Herzog, und seine Franziska in den Räumen, ich stelle mir Schubart vor, die dicken Mauern immer noch da, die Fenster, Anfang März 1991; und arbeitete in der Höhle am alten Projekt, einem Buch für meinen Verlag "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", wenigstens in Gedankengängen zu sein, rührig, das Prickeln unter der Haut drang viel stärker als in irgendwelchen eigenen Gängen durch die dicken Wände.

Abends. Jetzt erst begriff ich die bisherige Gefühlsleere und war entsetzt: Bei mangelnder Schwingungsfähigkeit, so hieß es einmal früher, ist das Ankommende, jeder Augenblick der Dinge unerträglich, weil der Sinnverlust, der in solch einem sich völlig dem Banalen und Einzelnen Überlassen, nicht durch die sinnliche Fülle und eine Art Glück der Empfindung des Moments wieder gut gemacht wird. Wie etwa bei Marcel Proust, wo die Zeit immer verloren, ihr Sinn auch kaum im Wahrnehmen etwa einer Landschaft, von Bäumen, Blumen, sogar Menschen schon mit im Blick liegt, sondern von der zufälligen Verfassung des "moi actuel" abhängt, das immer wieder entlassen wird, und eben tut, was geschieht im fluktuierenden Strom des wechselnden Bewußtseins. Ich-Parzellen, die sind kaum vorhersehbar, wie die folgenden Ereignisse nicht, sie driften auseinander, nur Schreiben führt die Parzellen zusammen, auch die andern Personen, die alle in andern Zeiten und Räumen leben, sie führt Schreiben wieder zusammen. Jede

 

 

 

 

 

Hoffnung auf Gewißheit war schon zu Prousts Zeiten heller Wahn. Das Voranrücken der Augenblicke - Schein. Zukunftswissen ist getilgt, gefangen im Moment, als Rätsel, da Zukunft verschlossen, nichts vorhersehbar sein kann. Daher macht auch heute noch Absicht, die wie Willkür wirkt, jedes Unterfangen häßlich, das Berechenbare zerstört jede Wahrheit, auch die der Poesie. Die neue Bescheidenheit ist also alt. Und der Schmerz des angeblich Sinnlosen im Moment heilend. Zufall erscheint dann, ohne unser Zutun als das, was er ist, als Rätsel, und hebt den Schleier vom Unerkannten nicht.

Das starke Verliebtheits-Gefühl aber ist wie ein Wahnsinn, zweideutig und schwankend. Montaigne meinte sogar, "ich gebe zu, (daß es) anstachelnder, brennender und heftiger ist. Aber es ist ein zufällig aufflackerndes und flüchtiges, ein unstetes und wechselhaftes Feuer, es gleicht dem Fieber und kann wie dieses steigen und fallen; außerdem packt es uns nur an einer Stelle," doch es verändert die Perspektive total. Und das Leben. Es hat etwas Absolutes an sich, das dem Tode ähnelt. Und so kam die "Niemandin" ganz konkret in Fleisch und Blut auf mich zu, und hatte M. ein Kleid geliehen, damit man sie sehen konnte. Daher scheint es doch auch mehr zu sein, als ein Fieber. S. ist nun eine andere Stadt für mich geworden. Bisher war sie unerträglich fad. Und ich konnte ihr keinen Reiz abgewinnen, obwohl es heißt, dieses sei nun meine "zweite Heimat."

Jetzt weiß ich auch, daß jede Sekunde ein Wunder sein kann, daß wir zu wenig erschrecken, weil unsere Seele träge ist. Wie im Traum zuckte ich zusammen bei diesen Öffnungen.

 

Das alles paßt zu einer neuen, äußerst verrückten Zeit, die auch wie ein abgründiger beweglicher Traum plötzlich alles möglich zu machen scheint. Eine Epoche ist zu Ende gegangen . Intuition, Phantasie ist wieder gefragt. Und Risiko beim Leben. Auch Privatheit. Manche meinen, das Zeitalter des Begriffes, die naive Verwechslung der Welt mit ihrer Benennung, dem Wort, sei im Herbst 89 beendet worden. So der englische Philosoph George Steiner in seinem jüngsten Buch "Von realer Gegenwart". Andere meinen ein feminines Zeitalter sei im Kommen. Das männliche Zeitalter der Begriffe und Ideologien sei vorbei. Einiges spricht dafür.

"Es ist so, wovor sollte ich mich denn fürchten? werde ich nicht schon immer geleitet, mich auf alles einzulassen, das sich mir in den Weg stellt, das sich thematisiert und verknüpft mit meiner Existenz?" schrieb M. in einem Brief. Tut sie, was geschieht? "Der einzige Zweifel ist, ob es nicht eben doch einem >Sich treiben lassen< entspricht, einer Unfähigkeit, Entscheidungen zu fällen, die persönliche Konsequenz selbst zu verursachen. Aber ist diese Offenheit nicht auch herrlich, in dieser Freiheit? wie ich gedanklich springe, von einem Extrem ins andere, die Neurotransmitter sind immer in Bewegung, mehrere Richtungen gleichzeitig nehmend."

Das erinnert mich an Montaignes Geisteshaltung des "Sprunghaften", es sei soviel "Schönheit" da in diesen "frischen Seitensprüngen und Wechseln, und am meisten da, wo sie nach Lässigkeit und Zufall aussehen." Es gebe keinen ruhenden Punkt, die Welt sei eine "nimmer ruhende Schaukel". Er hatte diese inspirierte Lockerheit zur Methode entwickelt, denn "das, was ich als Welt vor mir habe, verändert sich von Moment zu Moment, genau wie ich selbst, und ich bin morgen ein anderer als heute." "Und wer sich nur recht beobachtet, wird sich kaum zweimal in der gleichen Verfassung finden..."

 

Wir erkennen den fluktuierenden Wechsel der Person schon am Briefeschreiben, und die Namen sind ein schlechter Spiegel: der Zustand ist ausschlaggebend, und beim Schreiben von Literatur wird der Schreiber ständig verunsichert, weil er das, was er gestern schrieb, wegen einer ganz andern Stimmung, heute in den Papierkorb werfen möchte, und es übermorgen wieder sehr gut findet; erst der "gemischte Zustand" ergibt, wie im Leben, den goldnen Schnitt seiner Erkennbarkeit für andere, sein "Ich". Dies aber hieße, auch den innern fluktuierenden Zufall, der uns immer etwas Wichtiges vermittelt, nicht zu unterdrücken, der "innern Stimme" eine Chance zu geben - wie wir die äußeren Chancen der "zufälligen" Begegnung nicht versäumen sollten, also ihnen "Gelegenheit" geben müßten, sich über uns zu äußern, sonst würden sie vergehn, ungenützt und nie wirklich werden.

Auch E.M. Cioran entwirft eine Philosophie der "einmaligen Augenblicke"; die Einmaligkeit des Erlebens und des Einfalls kehrt nie mehr wieder. Und Montaigne: "Ich kann meinen Gegenstand nicht festhalten. Er geht taumelnd und wankend in natürlicher Trunkenheit einher. Ich ergreife ihn in diesem Zustand, wie er ist, in dem Augenblick, in dem ich mich mit ihm beschäftige.... Ich könnte alsbald ein anderer werden, nicht nur äußerlich, sondern auch andern Sinnes." "Tun, was geschieht" ist ein Zitat von Robert Musil. Es trifft eine Zeitstimmung.

 

3. März 91. M. gab mir einen ihrer Katalogtexte, da stand: "Eine ganz andere Möglichkeit wäre ein willentlich angestrebter Zustand der Erinnerungslosigkeit, ähnlich etwa dem einer überlieferten Tantra-Technik, welche im Moment höchster Konzentration verlangt, alle bildlichen und gedanklichen Eindrücke zu `löschen`... mehr als das, wird wohl unsere bewußte Vorstellung nicht zulassen." Das wäre ein ENTKOMMEN aus der eigenen schmerzlichen Biographie. Und erst wenn wir die Qualen eines Schuttberges von Erinnerung, der Tradition, der Vaterordnung, samt Begrifflichkeit mit ihren Kriegen und Ideologien verlassen könnten, gäbe es den offenen neuen Augenblick, das Unbetretene. Besonders deutlich war diese Haltung immer schon in der Literatur der Frauen. Weibliche Skepsis, diktiert von einer durch Abstraktion nicht verdorbenen Nähe zu dem, was wirklich, und nicht nur "ausgedacht" geschieht? Dann gehörte die Zukunft den Frauen. Denn der Einzelne mit seiner täglichen, sich andauernd ändernden Verfassung und den vielen Personen, aus denen jeder besteht, ist selbst ein Abbild dessen, was wirklich geschieht; nur trägt er bekanntlich einen Panzer.

 

4. März 1991. Thüringen-Reise über Bamberg; vielleicht ist Bamberg die schönste, nämlich eine noch erhaltene deutsche Stadt. Dann die Grenze bei Rottenbach. Die Grenzanlagen, alles billige Plaste, zerstört, die Volkswut hat hier gearbeitet. Schöne Schandmale, sagt eine Frau. Du mußt alles auch sehen und erleben, sonst kommst du mit den Nachrichten gar nicht nach, sagt die Frau. Meinem Sohn hatte ich das auch gesagt: Seht euch das nur an, da ist Geschichte zum Anfassen. So schäbig geht es zu. Drei Radfahrer flitzen über die "ehemalige Grenze". Das Unterbewußtsein kommt mit dem Wissen vom Ort, an dem ich mich befinde, nicht nach; stehendes Ich. Immer wieder erkenne ich dieses Zurückbleiben an den neuen Grenzen, die noch zu erreichen sind, auch wenn es sie real schon nicht mehr gibt...

 

Besuch in Suhl, ein kaputter Ort. Rüstungsstadt. Noch immer die arme graue Ostmasse jener Orte, wo nichts geschieht. Als wären sie ganz langsam in den Bewegungen, wie in Isolierhaft. In dem Nest Mehlis, "Hotel Stadt Wien" (welch eine Ironie!) Mittagessen. Die Leute arm angezogen, Nylonblusen und Hemden. Doch Cola darf nicht fehlen. Dann Schmalkalden, das Lutherhaus. Schlecht restaurierte Fachwerkhäuser. Gestank von Braunkohle und Auspuffgasen.

 

Die Wartburg. Mich beschäftigt Klingsohr von Ungarland. Und Elisabeth. Luther natürlich. Und finde hier meinen Lieblingstext, Korinther 13. Über die Liebe: Wer mit Menschen- und Engelszungen redete und "hätte der Liebe nicht", "ist nur ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle". - Ich überlege ein Textgewebe um die Heilige Elisabeth, Tochter Andreas II., es ist jener ungarische König, der meinen Vorfahren, den "Siebenbürger Sachsen", den "Andreanischen Freibrief" ausstellte, ihren "Königsboden" begründete. Der siebenbürgische Zauberer Klingsohr, der Heinrich von Ofterdingen retten sollte, Klingsohr, den der Landgraf zum Tode verurteilt hatte, der Henker wartete - ein Jahr Gnadenfrist: Klingsohr hob die Zeit "im Flug" auf, und Ofterdingen blieb am Leben. Geschrieben? Wirklich? Zeitverschiebungs-Magie des Dichters?

In einer Erfurter Buchhandlung finden wir kein vernünftiges Buch, außer Konsalik-Romanen und Kochbüchern, Lebenshilfe-Büchern, Steuerhilfen usw: Aber es geht aufwärts, sagt der junge Buchhändler. Sogar alte DDR-Bücher seien wieder gefragt. Und er empfiehlt mir Victor Klemperers LTI. In den Cafés sitzen Arbeitslose. Es wird laut über die neuen Bosse geschimpft. Die Kränkung ist groß. Wir sollen alle abgeschafft werden, unser Land auch, sagt einer, der uns gegenübersitzt, als hätten wir nicht auch vierzig Jahre ehrlich gearbeitet. Der Chock ist noch frisch. Es hat sich wenig verändert, doch etwas Unfaßbares ist geschehen: Man hatte sich schon mit der DDR abgefunden, und jetzt diese rasche und totale Veränderung ins Gegenteil, welch ein Gegenteil! Wir aber bewundern den Dom. Abends finden wir kein Restaurant, um etwas zu essen. Und auch das Hotel ist unbeschreiblich. Es wird nichts renoviert, sagt die Frau an der Rezeption, da die Besitzverhältnisse noch nicht geklärt sind, und Gäste haben wir auch so.

 

5. März 91. Weimar. Kein Hotelzimmer ist aufzutreiben, wir schlafen in ehemaligen Mannschaftsbaracken von Buchenwald. Buchenwald und das Goethehaus stehen in der Erinnerung nebeneinander. Ich erinnere mich an den ersten Buchenwald-Besuch im März 70, als ich noch einen rumänischen Paß hatte. Damals war ich noch wie in Gewissenshaft, da ein Onkel hier als SS-Mann eingesetzt worden war, in Hottelstedt begraben ist, der Gefallene: Ende April 45 bei Weimar... Über dem Beton schaukelt trockenes Astwerk, sieh, Knochen, schöne Knöchlein brechen ab, Unterholz im Schnee . Und Über allen Gipfeln ist ja Ruh...

Mich erstaunen die überlebensgroßen Gipsfiguren (Juno) im Goethehaus, die Goethe heiß geliebt haben soll. Er schrieb im Alter nicht mehr, diktierte nur noch. Eine starke Aura auch im Sterbezimmer. Alles so klein, eigentlich ein niedriger, enger Lebensraum. Dieses Raumgefühl mußte auch das Schreiben bestimmen, nach innen ziehen. "Erscheinen des Geistes als Welt- und Tatgeheimnis". Er gab den Vorzug einem formlosen Gehalt der leeren Form.

Besuch bei Wulf Kirsten. Essen im "Elephanten," dann in seiner Wohnung. Kirsten hat im Stadtrat mitgearbeitet, sich enttäuscht zurückgezogen, will sich ganz der Schillerstiftung widmen. Wie in Rumänien seien auch hier die Gerüchte wichtiger als die Realität . Realität wird durch Fiktionen überlagert, sogar hergestellt. Verärgert ist er über die übergroße Rolle der ehemaligen "Blockflöten".

Überall die neuen Grafitti. Ein Marxbild mit der Zeile: "Proletarier aller Länder vergebt mir". An der Grenze bei Hirschberg: "Laßt euch nicht verkohlen". Ein Bach, der Grenzbach beeindruckt mich. Die Brücke war gesprengt, jetzt gibt es eine improvisierte Brücke aus Holz. Auf der Ostseite auch das bekannte Jenseits mit Mauer, wie in Berlin, eine verkommene Lederfabrik. Ich notiere: Schon ein Wahnsinn, so einfach über eine Holzbrücke hinüber zu marschieren. Ich denke, zu diesem Zustand passen auch meine abgründigen Gefühle, und jene M., an die ich zu oft denken muß. Ich werde sie morgen wiedersehen.

 

16. März 91. Mein Sohn ist aus München auf der Solitude zu Besuch. Gestern Nacht bis 3 Uhr zauberte er uns etwas vor. Ich hatte mit ihm heute eine Komposition von Michael gehört. Und das Gefühl wollte sich nicht mehr beruhigen. Es klingt nach, dachte ich, ging mit meinem Sohn in die Sonne; zwischen den von einem Orkan gefällten Stämmen des Waldes, Durchgang kaum möglich, wir stiegen über die kreuz- und querliegenden großen Bäume, Luft zu schöpfen; und die Erregung klang nicht ab, ich dachte, ich sei wahnsinnig geworden, der Zustand nahm nicht ab, so, wie ein Traum nicht aufhört, man nicht erwacht. Seit jenem Tag also der Zustand, und eine Art Besessenheit; früher waren es wohl jene Unglücklichen, von denen man meinte, sie seien von einem bösen Geist besessen. Seither überfällt mich diese Krankheit fast täglich. Doch seltsam, daß dieses Brennen gar nicht zu M. zu gehören scheint. Es ist keine Angst, im Gegenteil, auch keine Gier, nur ein unbekanntes inneres Toben, das einen zu zerreißen droht, die Gurgel abdrückt. Unerlöst freilich, krud, eine brennende Substanz ohne jede Form, die alles durchbricht, was sichtbar, faßbar und nur wie schon gewesen da ist. Ich weiß es nun, es ist die starke, die stärkste Droge, und die älteste, die es gibt! Alles hatte sich seit jenem Augenblick verwandelt. Wer aber mißt die aufbrechenden Labyrinthe aus; Michael ist auf seltsam aggressive Weise in M. verliebt, als hasse er seine katholische Mutter in ihr. Ausgerechnet seine "Meditation sur `Les jeux sont faits`" und dann seine "Mirlitonnades" - die Öffnung durch seine Musik war verheerend, wie ein langsam in mir zündender Brand begann es, eine starke Emotion, wortweise verzettle ich hier den glühenden Punkt, und spüre nur die Trennung vom Satz, der mich nicht aussagt, wie jenes Tropfen in einer Höhle im Ohr, wie Tau, wie Tränen; Elemente, die da schwingen, Musik ist die Stimme der vier Elemente, Centrum, denn für dieses Klingen sind sie bloß wie entkörpert, die Leidenschaften aber da, und Musik erregt, weil sie geheimste Zahlenverhältnisse der Welt schwingend ausdrückt, sieht, "wie Gott, nur die Herzen", so steht es in einem alten Buch, ein Sog, ein bodenloses Schwindelgefühl. Und tiefe Erregung, die innen ablaufende Uhr. Und weißt du, was diese, mit einer Piccoloflöte gespielten "Mirlitonnades" heißen, sagte ich zu ihr? "Kindereien. Rohrpfeife, Näselhäutchen oder - schlechte Verse!" - Doch ich versuchte nun, nicht alles gleich wissen zu wollen, sondern unausgesprochen liegen zu lassen, wie im Traum damit und zart umzugehn; zuviel Bekanntes war bisher in meinem Leben geschehen, jetzt muß es endlich etwas Unbekanntes, Unfaßbares sein, als könne man darin ausruhen - und auftauen im Ungewußten. Daß ich immer wieder anfange, keinen Rat weiß, daß mir Sätze wie: Zeitverschiebung oder fast LIVE und dann ihr Gesicht, von wo eigentlich, einfallen; nein, es geht nicht um ein Papierkind, wie du behauptest; daß ich immer wieder anfangen muß, heißt daß ich wieder lebe.

Dieses Brennen bleibt. Weine nicht, schrieb sie mir, deine Jahre sind nicht verloren, wir kommen alle wieder; auch du; wir kommen alle wieder, und dann, dann werden wir alles besser machen. Jetzt aber wird es uns nicht gelingen; noch ein paar Tage, dann ist unwiderruflich die Trennung da, du wirst fortgehen. Tränen, ein bißchen Schmerz. Deine Pläne, dein Leben. Meines. Niemand von uns kann da raus. Unsere Pläne sind falsch, unsere ewigen Termine; was trifft da zusammen, wenn wir uns begegnen; aber warum leben wir seit einigen Wochen in einem abgründigen beweglichen Traum, und du meinst, ein größerer habe seit einigen Jahren begonnen; in uns kreise er am Rande der Erschöpfung, damit er uns endlich verzehre.

 

19. März 91...Abends. Aber jener große bewegliche Traum ist eingebrochen; wir müssen uns stellen; und es wird sich zeigen, daß nicht nur du mein Traum bist und ich deiner, sondern, daß die Welt selbst unsere Projektion ist, wir kreisen an ihren Rändern. Alles ist offen und jener Verschwundene hat sich gezeigt; er gibt uns eine Chance. Auch für solche bewegenden Berührungen. Noch vor einem Jahr diese depressive Stimmung: Am 4. April 1990 eine Fernsehaufnahme im Südwestfunk Baden-Baden mit Mircea Dinescu, Franz Hodjak und Werner Söllner. Christina Weiss moderierte. Wir redeten und redeten, doch empfand sich jeder deplaziert in diesem westlichen Studio, wir waren nichts als Exoten ohne Adressaten hier, der Bildschirm symbolisierte eine Trennung, die WIRKLICH war. Hier war alles möglich, doch nur als ein Spiel, und löschte sich selber aus.

(Und heute, habe ich heute am 19.März 91 diese Trennung überwunden? Damals war ich wie verstockt, eher gehemmt, blockiert. Ich kam ja gerade eben aus der eigenen Vergangenheit, aus dem kaputten Land; und die Toten folgten mir nach. Eine Wunde hatte ich mitgebracht?! Es war schon vor einem Jahr in mir aufgebrochen, verwirrend, orientierungslos; ich war wieder einer von früher, und das geschniegelte, harmlose, bürgerliche Leben im Westen, die erstarrte Öffentlichkeit blieb draußen. Das Snobistische, ja, dies ist das Wort. Als wäre ich aus einem chaotisch-schmerzlichen und turbulenten Frühling ganz plötzlich in einen maskenhaft stillen Winter gekommen! Als ahme dieser Winter sich selber nach!)

 

Am 6. April 1990 Fahrt nach Hamburg: Lesung im Literaturhaus; und ich hatte nur einen Gedanken: fliehen! Dies extrovertierte Leben im fremden Umkreis, fremd für alles, was ich als mein Leben empfinde, setzte mir zu, Leben ist erträglich nur, wenn es von Gedanken entzündet wird. Die Ereignisse müssen nach innen getragen werden, wo sie erst wirklich geschehen. Dieses spürte ich ganz besonders bei der Lesung im Literaturhaus. Meine Bildmeditationen in den neuen Sixtina-Bänden zur Renovierung der Kapelle und mein Gedichtband "Aufbäumen" sollten vorgestellt werden. Nachher wurde von Rowohlt ein Essen gespendet. Obwohl liebe Freunde dabei waren, fühlte ich genau, daß sich jener Innenraum nicht herstellen ließ, daß Lyrik in den geistigen Intimbereich eines Liebesverhältnisses zwischen Schreiber und Leser gehört. Auch war ich so angeschlagen von der Rumänien-Reise, daß alle meinten, ich sei krank, verwirrt, überzogen "tragisch"; sie kommen eben alle aus einem wohlgeordneten westlichen Alltag, und ein Abgrund zwischen meiner, auf neuen Erfahrungen und Gedanken beruhenden Stimmung; und einem neuen, noch unformulierten Bewußtsein und ihrem alten abgestandenen Gleichgewicht bricht auf.

 

8.April 90. Familientreffen in Tamm bei Stuttgart. Jener wunde Punkt ist auch hier nicht zu spüren, Erinnerungen sind gelöscht, und ersetzt mit den bekannten, von alten Ressentiments gespeisten Abwehrbildern, die eigenen Quellen aus Anpassungsangst im westdeutschen Betrieb zugeschüttet. Sie wissen schon alles ganz genau, keinen interessiert mein Reisebericht, da er von ihrer vorgefaßten Meinung stark abweicht. Die Rumänen sind faul, dreckig und dazu noch Gauner, auch sind sie feige und unfähig; wie sollten sie da eine Revolution zustande bringen, Mut beweisen, gar ein neues Land aufzubauen wagen; und mein Neffe, Jungingenieur, setzt noch eins drauf: Wie soll man denen Computer und Fax schicken, die leben ja wie im Busch. Naja, und überhaupt die Ostler! Jeder will sich - auch durch Erfahrungsberichte und Augenzeugen nur das bestätigen lassen, was er sowieso weiß. Oder es müssen Neuigkeiten sein, die ihn nicht verunsichern, keine Vor- Urteile berühren, gar zerstören; sie haben ihre dünne Haut in Hornhaut verwandelt, wehe, da kratzt einer dran. Die Verletzungsangst ist groß. Vorurteile und enge Vorstellungen zu bestätigen - dies ist die Kunst erfolgreicher Autoren. Es gab Streit, und ich brüllte sie - vor lauter Ohnmacht unbeherrscht an.

 

 

 

VII

 

Agliano, 9. April 90. GUT REDEN kann ich erst, seit wir wieder hier auf unserem italienischen Berg sind, dieses langsame Leben in der Natur ergibt die "ruhige Dissonanz", es konturiert erst die hektische Erfahrung. - Schon im Bukarester "Intercontinental", seit Jahren wars die Anwesenheit eines amerikanischen Konzerns mitten in der Ceausescu-Hauptstadt, wurde eine entscheidende Erfahrung ausgesprochen, da hatte ich mich mit Marin Sorescu, dem alten Freund getroffen, und der hatte gesagt: seit drei Monaten erst ist für uns der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Mit Helga Höfer von der ARD aber kamen wir über den viel zu großen Tisch überein, daß es dort in Bukarest schwierig sei, zusammenzufassen, also auch zu berichten. Und in München, wo alles abstrakt wird, ist die rasende Zeit von "Zu Hause" fast zu einfach formulierbar, sagte sie, es ist wie ein Darüberhinwegfliegen; und sie enthielt sich mit Mühe des Alkohols.

 

Zuhausemüde? Welch ein Wort! Ich sage nie mehr "zu Hause," wie in Deutschland, wenn ich an Bukarest oder an Siebenbürgen denke, nur abwesend bin ich zu Hause. Ich sah, und es fällt mir schwer, dieses zuzugeben: ich sah die wirklichen Leute wie durch eine dünne und einsame Glaswand, eine Leere, die wehtat. Die Ursachen ihres Zustandes, ihrer Armut sind nirgends mehr sichtbar wie früher, als wären die ihnen nun genommen worden, diese Ursachen, mit denen es sich besser leben ließ. In Bukarest sah ich sie demonstrieren mit Transparenten, mit Rufen, vor allem sonntags auf der Piata Victoriei vor dem Sitz der Regierung, oder auf dem Universitätsplatz, sie schienen entschieden, und waren doch ratlos. Sie waren befreit, und hatten doch mehr Sorgen, mehr Angst um die Zukunft als früher. Die unmittelbaren Bedürfnisse waren nicht gedeckt, manche sagten, es sei schlimmer als vorher, und die Wirtschaft, die Gesellschaft sind zerstört. Die Chefs in den Betrieben sind die alten geblieben, sagte mein Freund Mihai Sin. Er sagte, man säße auf einem Vulkan, jedeN Tag könne eine neue Revolution ausbrechen! Alle haben Angst, auch die Regierung könnte nur eine Maske sein. Dabei war jeder Siebte in dieser Partei gewesen, mußte jeder, der fähig war, und seine Fähigkeiten nützen wollte, Mitglied der KP werden. Doppelmoral. Jubel nach außen, Haß nach innen. Viele Institutionen, wie die Menschen, sind vom Chock der Wahrheit noch gelähmt. Aufbruchstimmung ist nur diffus spürbar. Nur der Alltag geht wie bisher grau und hoffnungslos weiter. Einige waren in den Hungerstreik getreten. Gefordert wurde, daß KP-Aktivisten und Securisten aus der Regierung entfernt werden. Freie Medien. Korrekte Wahlen. Der Widerstand hatte schon am 11. März in Temesvar begonnen, die Oppositionsparteien hatten sich dort organisiert in der "Proklamation Temesvar", schon damals wurde in Punkt 8 gefordert, daß niemand, der in der Diktatur einen verantwortlichen politischen Posten innegehabt hatte, jetzt wieder für einen solchen Posten kandidieren dürfe.

 

12. April 90. Das Warten ist nun vorbei, aber das Erwartete ist ausgeblieben. Trauer,als gäbe es mein Land nicht mehr, jenes, an das ich 20 Jahre lang täglich gedacht hatte, es ist ausgelöscht, das Liebes- und auch Haßobjekt ist mir genommen worden.

 

18. April 90. Die Wirklichkeit ist so surreal geworden, daß ihr keiner nachkommen kann mit der kleinen freischwebenden Phantasie. Lächerlich; wie soll ich die Ereignisblöcke hier schreibend auflösen? Die andern "draußen" lösen ganz andere Blöcke auf.

 

6.April 93 Ich lese in Büchern, die ich von der neuesten Rumänienreise mitgebracht habe; es ist die dritte Reise, seit ich wieder ins Land fahren durfte! Eine merkwürdige lebenslange Liebesgeschichte! Oder ist es eher ein Fluch? Ich lese in einem Buch des renommiertesten rumänischen Theologen und orthodoxen Mystikers, Dumitru Stániloae: Der Verstand ist Teilung, Isolierung, Trennung, schreibt er, so schafft man eine Wand vor dem Geheimnis, das nur als "Ganzes" - und nur mit jenem seltsamen Erkenntnisorgan einer umfassenden Gewißheit von Welt- oder Gott-Vertrauen gefühlt werden kann. Der Okzident hat diese Sünde der Trennung begangen, er hat die Liebe als Erkenntnismöglichkeit zerstört, die zu Gefühls- und Liebesschwäche führen muß. Die Folge ist lebenslanges Unglück, Negation und Zynismus, ein Aus-der-Welt-Fallen in die auralose Kälte einer entseelten Umgebung. - Jene heile ungetrennte Energie aber, wie Stániloae sagt, die des Ungewordenen, des Potentiellen, Möglichen, Ungeborenen - verkörpern die Engel. Aber auch jene Gnade, daß alles jederzeit möglich und offen sei, sie verkörpern alle wirklichen, alle diese positive Gefühls-Ereignisse zusammenfassenden Erscheinungen. (Engel als Bild für eine unsichtbare Zeitbrücke. Auf Möglichkeitsbildern beruht auch die Berechnung des Zukünftigen als Kraft des JETZT.) Während der Okzident immer nur vom "Fertigen", dem Geschaffenen, Gewordenen, auch vom "Werk" ausgeht, nicht von der Reinheit dessen, was es noch nicht gibt, aber wirklicher ist als das Geschaffene, das vergehen muß. - Ich erinnere mich lebhaft an mein Gespräch im Zug mit dem jungen Theologen, der mir dieses Buch empfohlen hatte: am 17.März 93 diese lange Bahnfahrt über den Roten Turmpaß nach Schäßburg. Ich fühlte mich krank. Es war eine Art psychosomatisches Fieber. Und ich nahm wenig wahr. Ich blättere im Tagebuch, ich lese: 18.März 93. Ich wohne bei Verwandten und Freunden, bei Marianne und Erich, und werde "bemuttert". Ich arbeite bis zum letzten Augenblick an meinem Vortrag. Der Versuch, ihn nach Hermannstadt durchzufaxen, damit er ins Rumänische übersetzt werden kann, ist ein Abenteuer, und gelingt dann doch nicht. Die Erregungen bei der Ankunft auch in Hermannstadt. Wiederbegegnung mit Inge und Joachim Wittstock, die sich rührend um mich kümmern. Ich wohne bei ihnen. Am 19. März mein Eröffnungsvortrag in der "Evangelischen Akademie Siebenbürgen", die Gerhard

Möckel leitet. Ich provoziere schon mit dem Titel: "Östlicher Reichtum und westliche Armut" Der Saal ist voll.

 

Ich sage eingangs: "...Ich weiß, meine Damen und Herren, es

müßte einen Austausch geben, das, was dem Osten fehlt, gibt es im Westen, was jedoch dem Westen fehlt, hat der Osten. Einbahngleis. Der Austausch findet nicht statt. Der Osten ist nur Bettler und Bittsteller. Ohne Selbstbewußtsein. Gegen die Securitate kann man kämpfen, nicht aber gegen das Geld. So wird die Wahrheit verdeckt. Nämlich der ÖSTLICHE REICHTUM UND DIE WESTLICHE ARMUT. Denn die historische Epochenerfahrung liegt im Osten, nicht im Westen, auch das existentielle Wissen aus dem Leid... Doch ein Umbau des Ostens und seiner Menschen nach westlichem Geschäftsprinzip soll stattfinden. Die historische Chance soll vertan, eine bedeutungslose Kolonie geschaffen werden. Die neue historische Schuld, es könnte die vierte sein, zeigt sich am Horizont!

Im Pariser Lokal "La Coupole" sagte mir ein Mann, dem ich viel zu verdanken habe, ich solle rücksichtslos die Wahrheit schreiben; dieses aber sei nicht leicht. Denn die wichtigsten Lügen seien unbewußt. Es ist erstaunlich, wie zahm wir geworden sind, sagte jener Mann, ein Siebenbürger wie ich, nun eine Art Eremit in Paris: E.M. Cioran, der einmal gesagt hatte, er möchte nur in 3 Städten leben : in Paris, in Dresden, in Hermannstadt, und der "Die verfehlte Schöpfung" geschrieben hat. Einer, der mit dem Gefühl eines wesentlichen Fehlschlages im einzelnen Leben und in der ganzen Schöpfung die Lauheit und Leere der körperlichen Existenz, in der ein schwacher Engel eingesperrt zu sein scheint, zu ertragen versucht. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er. Durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse. Und der Grund? Es ist der Abgrund der Geschichte. Östliche Denker vor allem wissen darüber zu berichten. Aus dem Osten kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren wichtige Impulse, einige auch aus Rumänien. Wie der Religionsphilosoph Mircea Eliade, der Bildhauer Brâncusi oder einer der Begründer des Absurden Theaters, Eugène Ionesco. Bei ihm lese ich in einem Buch, das vor kurzem bei Suhrkamp in Frankfurt über Mircea Eliade erschienen ist, es heißt "Die Mitte der Welt", über die Gründe jenes Taumelns und den Taumel sagt Ionesco: "Die Technik und die Ideologien des Abendlandes, alles nur verfälschte entfremdete Weisheiten, wie der Marxismus, haben sich im Orient durchgesetzt, er hat sie akzeptiert, aufgenommen und seine eigene Weisheit verloren. Nicht das Abendland hat sich dem Orient seit der Entkolonisierung geöffnet, sondern der Orient dem Okzident, er hat sich Fehler und Wahnsinn des Abendlandes zu eigen gemacht." Ionesco beschreibt seine Enttäuschung darüber, daß Eliade "nur" ein abendländischer "Gelehrter" geworden sei, seine Generation aber und seine

Freunde erwarteten mehr, einen "Eingeweihten", der ihnen in ihrer metaphysischen Not helfen sollte. So blieb das Absurde, der abgründige Nihilismus als eine negative Theologie und eine Philosophie des Scheiterns übrig .

Meine Damen und Herren, das Unerwartete, Überraschende macht seit 1989 Geschichte, so stehe ich hier vor Ihnen , hier in Hermannstadt, in einer neugegründeten und freien Akademie, noch vor dreieinhalb Jahren war dieses Land für mich ein verbotenes Land, und jetzt kann ich ganz frei über all dieses zu Ihnen sprechen, - wer hätte das von uns damals gedacht. Und ich habe das Gefühl, daß das Leben doch auch aus dem Stoff ist, aus dem die Träume sind. Obwohl mehr als drei Jahre vergangen sind, kann das Bewußtsein, das Gefühl, ja, das Leben der geschaffenen neuen Lage nicht nachkommen...Wir können die Kraftlinien des Geschehens zwar aufschlüsseln, einen erklärenden Rahmen auch kausal herstellen, und es bleibt in den Ereignissen doch ein Rest an Überraschungen und auch an furchtbaren Gefahren, der eher in das Möglichkeitsdenken von Kunst und Religion gehört, als in das Reale praktischer und nüchtern theoretischer und begrifflicher Überlegung...

 

20.März 1993. Ich habe vor, ein uraltes Bauernhaus in Michelsberg (Nachbarort von Rásinar, dem Geburtsort Emile Ciorans) zu kaufen, dort zu schreiben, um den Zustand aufrechtzuerhalten, der im Westen andauern verlorengeht.

 

Herr Richard Schröder, Theologe, Dekan der Humboldt Universität in Ostberlin, früher vier Jahre oder länger Pfarrer in der ehemaligen DDR, ist hier ebenfalls als Vortragender zu Gast. Ebenso Klaus Hartung von der ZEIT. Schröder, ein Theologe? Klaus Hartung bemerkte dazu bei einem Gespräch zu dritt: " Daß Sie je auf der Kanzel gestanden haben ...? Kaum zu glauben!" Eine gewisse nihilistische und zynische Art, etwas Rational-Oberflächliches strahlt dieser Mann aus. Herr Schröder, Ordinarius für diese "Disziplin" an der Humboldt Universität, SPD-Mann und sogar Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, ist ein perfekter Anpasser, er ist der Typ des westlichen Besserwissers in östlichem Schafpelz. Wie anders waren da die Referate der beiden Rumänen, des jungen Theologen Ion Icá und des Soziologen aus Klausenburg Andrei Marga. Wie anders ihr kultureller Horizont und die sensible Geistigkeit. Ich gab dem Herrn Schröder verärgert meinen Essay aus der ndl/4/92 ("Zweimal Deutschland. Beobachtet von einem Deutschen der Dritten Art",) wo ich die psychische Teilung Deutschlands beschreibe und bezweifle, daß mit Milliarden D-Mark auch die Seelen "saniert" werden können, dieser riesige Berg von inneren Problemen. Da sagte der Herr Schröder: Seit er das gelesen habe, zweifele er daran, ein Ostdeutscher zu sein. Ich entgegnete, genau dies sei ja auch der Grund gewesen, ihm den Text zu geben, da ich auch daran zweifele, daß er noch ein Ostdeutscher sei.

 

21. März 93. Mit Inge W. Fahrt nach Michelsberg. Sie fährt mich mit dem Wagen ins zehn Kilometer entfernte Dorf. Inge W. ist Musiklehrerin und eine stille, sensible Beobachterin, aber streng im Urteil. Sie klagt über die seelische Verrohung auch ihrer Kollegen, über Apathie und Interesselosigkeit; die sensiblen Innenwelten der Kunst werden - aus unvorstellbarer Trägheit - nicht zur Kenntnis genommen. Kunst hat wenig Chance im "neuen" Rumänien. Es gilt, die "Außenwelt", das ordinär Materielle nachzuholen. Wir sehen das alte, mit Liebe eingerichtete Haus ( 1811) der im Oktober verstorbenen Lehrerin an, jeder alte und gepflegte Gegenstand hat Zeit und Berührungs-Aura in sich. Sie fotografiert die Außenfront von der Gasse aus und die schöne Glasveranda. Als "Fremde" werden wir zuerst gar nicht eingelassen. Rasinari, Ciorans Heimatgemeinde ist das Nachbardorf. Und die "Hohe Rinne" (Paltinis) ebenfalls eine Legende: dort hatte der Philosoph Noica wie ein Eremit gelebt, Paltinis ist nicht weit von hier. Und in der Ferne die schneebedeckten Berge des Zibinsgebirges. Horrorvorstellung, daß ein Schweizer Hotelier eine Hotelkette in diese Mioritische Landschaft setzen könnte.

 

27. Mai 93 . Die große Gefahr in unserem Beruf, "abgehoben" zu sein. Im Rückblick auf die Rumänien- und Deutschlandreise (Berlin): Ich lese weiter Tag und Nacht in den aus Bukarest mitgebrachten Büchern. Meist Gefängnistagebücher. Nachgetragenes Leid. Der Westen müßte es in sich aufnehmen, um wieder zur ZEIT zu kommen, der er meinte, schön in Watte des Wohlstandes verpackt, entfliehen zu können. Diese luxuriösen und abgehoben-behaglichen Essay- und Erzählbücher hier! - Ganz anders fühlen die eben Entlassenen und Gequälten, jetzt voller Sorge um ihre Zukunft, im materiellen Elend des Ostens lebend. Sie haben aber außer der Sorge auch noch ein Gegenmittel, das im Westen weitgehend verlorengegangen ist :

 

"All jene, die das Vertrauen in die Menschheit und in die Geschichte verloren haben, kehren ihr Gesicht, - falls sie nicht der Apathie und der Vertierung oder dem Zynismus der verbrecherischen Kontingenz des Alltags verfallen. - Nicht einer besonderen Religion wenden sie sich zu, auch nicht irgendwelchen Pfaffen, Predigern oder Kirchen, sondern sie wenden sich unmittelbar Gott zu, den sie als Zeugen anrufen, als Richter, Bruder oder Komplizen des enormen eschatologisch- historischen Kataklysmus, in den sie hineingerissen sind voller Ohnmacht und doppelter Melancholie...in Haus und Land." (Ion D.Sîrbu, "Tagebuch eines Tagebuchschreibers ohne Tagebuch").

Sîrbu starb noch vor dem Dezember 89; er war politischer Häftling

von 1957-64; sein Roman "Adio, Europa" gilt neben "Tagebuch des Glücks" von N. Steinhardt, dem in der Zelle zum orthodoxen Glauben konvertierten Juden, seinen Aufzeichnungen aus Haft und Folter als erschütterndstes literarisches Bekenntnis jener finsteren Jahre. Ich versuche eine Kontamination und Paraphrase:

Heute morgen hat mir die Schwester drei Injektionen verpaßt. Amphetamine, Benzedrine, wer weiß, ich bin im Nebel. Weiß kein Datum mehr, interessiert mich auch nicht. Bin nun nicht mehr im Salon 3, wo alle hysterisch sind, aggressiv. Mir wurden die Finger zerquetscht. Geschlagen. Zwei gebrochene Rippen, und die Stirnwunde sabbert immer noch. Wir machen tagsüber kleine Fähnchen in den Landesfarben, jeder 80 pro Tag. Ich bin in der Klebeabteilung. Jetzt aber lieg ich in der "Isolierung", eiskalt und friere nicht, deliriere. In Ruhe, darf weinen und schreien und beten. In der Zelle darfst du es nicht. Dies ist eine Geheimheilanstalt. Weiß nicht, ob die Schwester zum Personal gehört oder zu den Häftlingspatienten. Psst. Wehe, du redest. Mit ihr. Denkst nur ans Schlafen. Dabei hat sie mir mal von unten die Votze gezeigt, schwarz unterm weißen Kittel. Weiß auch nicht, wer die Frau in Schwarz ist. Sagt, sie heiße Ioana und liebe mich. Und kam zur Sprechzeit. Und monatlich ein Paket, 5 Kilo von ihr. Und außer der halben Seife geb ich alles an die ab, denen es gehört. Sonst Prügel. In der Sondersektion beim Hauptmann Stoica, und hat mir die Zahnprothese rausgehaun, Gold behalten. Jetzt kann ich kaum essen. Stoica sagt, er sei HerrGott hier, kein anderer, neben ihm, weil ich ihm das Paket nicht ganz gab. Alle Heiligen wirst du sehn, schrie er. Seinen Schmerz, sich so in mir getäuscht zu haben, schrie er heraus, da er es doch gut mit mir meint. Und es ging um Bekenntnisse, du, Bandit, schreibst alles auf, was du weißt Exkrement deines Hirns gegen unseren Staat und die Ordnung, und unsern geliebten Generalsekretär. Und so erst wirst du geheilt von der antidialektischen Schizophrenie. Und dann im Isolier und Bunker am Boden kratzend und leckend, um sicher zu sein, daß es Stein ist, wars mir, als wär schon damals einer aufgetaucht. Da wars ohne Namen: ICH. Und fauliger Staubgestank. Irrte aber, weil ich die Mauer, die nicht aufgeht, mit der Tür verwechselt hab... Warten, sie soll aufgehn, unser Herr JesusChristus aber im Rahmen stehn mit Ketten an den Beinen, mit Eisenkugeln und schwarzer Brille, wie wir hier, und er ist nun immer hier, als wärs Ich. Im Finstern, die Welt untergegangen. Und da hab ich ihn zum erstenmal in mir gespürt, den Bruder aus der Ewigkeit, und tastete das zeitlose LOCH ab, das Loch war aus Stein, fast vollkommen die Halbkugel, engt mich ein, nimmt den Atem wie die halbe Brust, und eingedrückte Rippen, der Boden Stein, kalt, eisig, wenn das gute Stroh nicht wär. Das Stroh unter mir feucht. Eine Wunde am Hintern, alles hautfaul, phosphoreszierend, Flimmern, leuchtende Punkte oder kleine Sterne, nah, innen oder außen? Und es stank. Es war finster, Dunkel in Dunkel, ob ich blind war, wußten die Augen nicht, nur im Hirn war eine Helle, die sah. Und diese Helle wußte nachts, wenn ich in jenem Tunnel schwebte, hinausglitt, wer weiß in welche Gegend, daß ich in einem Loch lag, das ja ZWEI Seiten hat. Fühlte die rauhe Wand, Wasser tropfte, im Ohr Summen, Dröhnen, das anwuchs ans Ohr...Mittags, eine Klappe, geöffnet, Geräusch, stärker als... Ratten quietschen, pfeifen. Reflex im Schlaf, gelernt, du mußt zuschlagen bei ihrem Biß, sie wollten mein Fleisch abfressen vom Nasenbein, die Finger... Rest und Spur im Hirn, nur nach gezogene Hirnwindungen, daß der Fraß eben reingeschoben wurde, wann?Ich wüßte die Tageszeit: der Tonnapf mit dem Fraß, ja, wußte es: es ist Mittag. In Lumpen aber, nackt, die Haut.

Und der Wärter hält ein Tier da nebenan, hörte es deutlich winseln, knurren, an der Wand kratzen. Vielleicht ein Hund oder ein wilderes Tier. Wenn ich doch Klopfzeichen wechseln könnte. Habs versucht, doch kein Mithäftling ist da, nur das Tier, winselt, wenn ich klopf, als könnte es begreifen. Kopfalphabet, Klopfalphabet mal in Gherla gelernt, eingesperrt im Kerker, die Wände hatten Seelen. Musik, sie lebten, durchgeschnitten war die harte Mauer. Und klopfte verzweifelt das Tetragramm. Bannt alle Übel, findest du den Namen, weichen die Mauern, du löschst sie, wie Butter werden sie unter der Wortglut. Und am Ende der Welt wirds ähnlich sein, mit einer Formel ist das Unheil zu bannen. Und sah in die Finsternis, plötzlich wie eine Leuchtschrift, sah es vor Augen JHWH, jeder kennts, der weiß: die Welt ist Nichts als ein Anagramm Gottes, der darin versteckt ist. Hol ihn raus und du bist gerettet. J ist ein Pünktchen, ein Kinderhäkchen oder eine Träne, ein Auge in mir, im Dunkeln auch jetzt, Anfang, Anfang dann das Einsetzen des Alephs, sein Ton. Und das H, ein Hauch, ist das Fenster, da bist du bald frei, zweimal Mensch, Mann und Frau. Am Ende also wieder das H. Und W dazwischen, eine doppelte V und wieder ein Haken, das UND, das weitergeht. Nichts als ein Sandkorn. Spreche, spreche in mir, solange ich diese Wand beschreibe, der Finger blutet, aber ich schreibe weiter, noch einmal, immer wieder, Klopfzeichen nun mit ihm, schlage mit der irdenen Schüssel, sie schieben sie mittags rein, mit dem Fraß, zerschlage sie an dem Zeichen, und schreibe weiter mit Splittern, Schiwarath Hakelim, das Glück, das nie aussteht im schmerzenden Kopf, und schlage mit ihm an die Schrift, bis der Kopf zerbirst, ins Freie, ins Freie. Blut rinnt mir übers Gesicht und ich lecke daran, salzig und feucht der Saft um den Mund und das Loch. Hier bin ich und hinter der Mauer ist der Hund begraben. Und schling dann alles hinunter, greif mit den Fingern in den Fraß, immer altes schimmliges Brot, ich weiß, es ist Gift. Und träum auch davon, Bohnen und Kraut, dann zerschlag ichs Gefäß. Essen ist heilig, A-chol, A ist ja Er und das Blut und die Eins, und Chol ist das Sandkorn, ist alles, und setz es zusammen hier im Loch, meine Lieben Menschen, für euch. Erwachte dann doch von einem Geräusch, der Wärter rief unter der Lichtzeile der Klappe, ich solle sofort die Schale rüberschieben, er habe keine mehr, täglich eine Zerschlagene. Von Zeit zu Zeit, läßt er mich tagelang zur Strafe hungern, dann aber muß er wieder eine neue Schale rausrücken, im Loch wuchsen so von Tag zu Tag die Scherben zu einem Berg, und ich hoffte damit hochzukommen, oben bis zur Decke sollte der Scherbenberg wachsen; schon war der eisige Boden bedeckt mit wärmerem Ton, als wärs ein wenig eigene Haut, zerschlug diese Scherben, sie wurden kleiner und kleiner. Und Stroh darauf, und die Fetzen der vergangenen Kleider, wie die getragenen Jahre. Denn einmal, als mich der Wärter eine Woche lang hungern ließ, Wasser freilich rückte er heraus, hatte Angst der Elende, nach zwei Tagen also kommt das winzige Schaff mit dem trüben Wasser, da geschah etwas, das das Vergessen streift, kann es nicht sagen, und es klingt verrückt: aber die Formel leuchtete vor mir, daraus kamen Blitze, die schienen im Hirn zu sein, doch kamen sie da hinaus ins Finstere, und ich sah vor mir einen Leuchtkranz, alle Sterne...

 

Ich muß bei dieser Auflösung von versteinerten Formen des Denkens nicht nur an Stániloae denken, sondern an die gesamte östliche Tradition, die etwa in Paul Gomas Roman "Ostinato", wie eine politische Schule der Träume wirkt: Nämlich, daß Zeit und Raum in der Hölle unseres Jahrhunderts, in Dunkelhaft und Einzelhaft überschritten wurden, ein ganz anderes Bewußtsein entstanden ist, als es sich der beschützte westliche Normalbürger in seinem Wohlstand vorstellen kann. Es wird gleichzeitig in diesem schmerzlichen Grenzgang sehr deutlich, daß die komplexen geistigen Höllenerfahrungen der Moderne, das im Okzident nur Gedachte oder von Menschen wie Kafka in der gepeinigten Phantasie und in Form von Alpträumen in Visionen zur Sprache gebrachte Inferno, hellsichtige Vorwegnahmen der KZ-Wirklichkeit sind.

 

Was vorher nur Literatur gewesen war, wurde in den beiden Diktaturen real, wurde wirklich erlitten. Das Erleben einer europäischen Schreckenszeit, die besonders heftig 89 explodiert ist, zielt schon bei Goma (1971) ins Zentrum dessen, was Westeuropa zu vergessen trachtet: die dramatische Entlarvung der eigenen Illusionen von Wirklichkeit, in der man sich bequem einrichten kann. Einer der Kernsätze des Romanes "Ostinato", weist auf die negative Mitte hin: "Dort, in einem Intervall von vier Monaten, habe ich ganz allein eine Periode von tausend Jahren durchlebt." In einer Zelleneinheit, dem Häftlingsbewußtsein eines politischen Gefangenen, werden Lebensinhalte verdichtet, für die ein Menschenleben sonst nicht ausreicht. Goma hat es am tiefsten Grund unserer Zeit erfahren - in der Einzelhaft und in der Folterkammer. In "Ostinato" ist es die Hauptfigur Langa, die den Häftlingsalltag erlebt, der bis heute vom menschlichen Fassungsvermögen noch nicht aufgearbeitet werden konnte. Die hier verdichtete Erfahrung läßt keine Handlung mehr zu. Jeder "realistische" Ansatz wird zerbrochen, fortgesetzt in jener emotionalen Häftlingswirklichkeit, die die faßbare Außenwelt durchbricht, weiter zum Schmerz, der seine Korrespondenz sucht, zur Auflehnung, die zurückspringt in die menschliche Substanz des Individuums. Die Zelle komprimiert eine historisch belastete Innerlichkeit. Und Goma biegt in die Wirklichkeit nun zurück, was an formalen Findungen aus dem Zeitbruch im Westen, etwa bei Joyce oder Proust zur Sprache kam. Diese Innerlichkeit und ihre Form gehört in jene apriorische Hintergrundgeschichte, die eigentlich den Vor-Gang kollektiver Menschengeschichte bestimmt - jenseits der sichtbaren Ereignisse, die in den Geschichtsbüchern steht. Und die Romantheorie von "Ostinato", die zum Inhalt gehört, immanent auf die verbotene Kommunikation in der Haft hinweist, aufs Schweigen, von moderner Musiktheorie und von jenem Zellenbewußtsein der verdichteten tausend Jahre ausgeht, zielt auf diese modernste Erkenntniserfahrung. Diese nimmt sie nun nicht aus der wissenschaftlichen Theorie, sondern erfährt sie wirklich am Grunde der Hölle, wo es, so Langa: erst zu singen beginnt. Der Leser aber ist, wie jetzt erst in den poststrukturalen Ästhetiken erkannt (Derrida, De Man), als Ko- Autor, als Teilnehmer miteingeplant. Als Gefährdeter im totalitären System, als potentieller Häftling, der jederzeit das Schicksal Langas teilen kann, denn in totalitären Systemen wird sogar das Lesen zum tödlichen Akt, wehe, die Securitate hätte dieses Buch bei ihm, dem Leser, gefunden! Die Geschichte als abstrakte Geschichte, die Handlung als einspurige Handlung wird in diesem Ostinato des Bewußtseins aufgehoben, Sukzession komprimiert, ähnlich dem Traum, wo erst in der "Zehntelsekunde vor dem Erwachen" ein Ablauf einsetzt, der das Erwachen "zurückbringt" und "dekodiert". Diese Ostinato- Theorie fällt Langa im Delirium des Hungerstreiks, der Widerstandshandlung in der Dunkelzelle ein. Und die schönste Übertragung dieser musikalischen und nach-geschichtlichen Kommunikationstheorie ist jene Szene, wo 10 Einzelhäftlinge versuchen, aus der Einsamkeit einen Akkord herzustellen: die tödliche Isolierung durch Klopfzeichen, die einen Akkord ergeben, zu durchbrechen. (Vgl. "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen" S.108-113).

 

8. April 93. Wieder von zu Hause geträumt, ich war ein Kind und ging im Hause meines Schulfreundes "Geri" auf dem kühlen dunklen Gang wie über Eis, aus einer der Türen, sie führte ins Wohnzimmer, kam K. und aus der Küchentür Fräulein Bürstner. K. sah sich um, sah mich nicht, ging wieder ins Wohnzimmer, und ich erkannte dann die beiden Männer, die durch den hier immer spürbaren Geruch (nach Kraut) kamen, sie öffneten die Tür, verhafteten den armen K., ließen ihn aber dann auf die schrecklichste Weise frei, so daß er frei und zugleich gefangen war. Und genau dieses Gefühl kannte ich aus der Securitatezeit.

1990 war ich mit Jann in dieser Straße gewesen und hatte ihr davon erzählt. Irre, wie sich die gleichen Träume wiederholen, auch den vereisten Hügel, wo wir am "Misselbacherischen Magazin" "Hantefuhren" , konnte ich im Traum heute Nacht deutlich erkennen. Ich las nach: 8. März 90. EIN ZEITMUSEUM in der Heimatstadt. Nein, das tat weh, gar nicht mehr weh, zu spät, zu verborgen, fast überkam mich Gleichgültigkeit, in mir trug ich jenes andre S. sowieso wieder fort; ihr könnt mit diesem "wirklichen" S. weiter leben. Und dieses ....(?)

 

15.Mai 1990. Anruf von Herbert aus Bukarest. Ob ich das Haus meines Großvaters kaufen wolle? Das hat gerade noch gefehlt. Ich habe eine schlaflose Nacht... Prickelnd das Gefühl, so heimkehren zu können. SIEBENBÜRGEN LAND DES SEGENS, LAND DER FÜLLE UND DER KRAFT, sang mal meine Großmutter mit tremolierender Stimme. Und das hatte so dunkle Innenräume, der Klang vibrierte, eine Kindheitsmelodie, ein großes Enigma, weite Kornfelder, Gold und Weingärten, Bauern, Hitze, Überlandfahrten. Und dann dieser "Meeresboden" einer "längstverflossenen Flut", gehört zum Bodenlosen eines tief tönenden Gefühls, Cello am besten, und das zittrige Stimmchen der Toten.

Am Morgen bin ich dann doch entschlossen, das Haus nicht zu kaufen. Und schreibe Herbert einen Brief:

 

Es wird mir immer warm ums Herz, wenn ich daran denke, wieder Fuß zu fassen in S. Und dort durch unser Haus wieder anwesend zu sein. Doch es ist Unsinn, der Zeit nachlaufen zu wollen, die Irreversibilität nicht wahrzunehmen. Mit Gewalt seine Erinnerungen der Realität aufzwingen, diese zurückholen zu wollen. Schon rein optisch und ästhetisch warnt das Aussehen des Hauses, der Gegend davor. Es gibt nichts mehr von jener alten Aura und Schönheit dieses Gartens, nicht einmal in Form von schöner Verkommenheit, die mir durchaus willkommen wäre. Es ist alles sächsisch "systematisiert" und zubetoniert. Die Bäume verheizt. Das Land kahl. Der Bach eine Müllablage. Man müßte sehr viel Energie, Zeit und Wartezeit aufwenden und Geld, um einen erträglichen Zustand herzustellen. Aber Energie, Zeit und Wartezeit habe ich nicht; - Und dazu kommt natürlich noch die weite Entfernung.

Doch es ist auch diese triste und trostlose Umgebung, die mich zurückschrecken läßt, dort zu wohnen, den Sprung über den Abgrund der Zeit zu wagen, ein Abgrund, der fühlbar, ja, sichtbar bleibt.

 

18.Mai 90. Ich hatte das Tagebuch unterbrochen, Schreiben wird zur Qual; als gäbe es nichts Sinnloseres mehr als Schreiben. Aber nur einesteils. Andernteils drängt es mich, einen Prozeß gegen mich selbst, mein bisheriges Ich und meine Naivität anzustrengen. - Ein Freund hat mir die Oppositionszeitung "Romània Liberá" geschickt; ich lese und stoße auf einen Text von Octavian Paler, Romancier, Tagebuchschreiber und Journalist; ich war ihm im März vor dem Schriftstellerhaus in der Calea Victoriei begegnet, ein großer Glatzkopf mit maliziös-weichem Lächeln. Damals im März, als ich ihm begegnete, war er dabei gewesen, sein Tagebuch aus der Zeit der Diktatur zu ordnen: das geschriebene Leben im lebensgefährlichen Untergrund. Mit viel Hoffnung. Mut und Stolz. Das Nachher scheint plötzlich schlimmer, die verlorne Hoffnung, die verratenen Toten. "Der moralische Betrug," schrieb er, "hat, ohne, daß wir es merkten, schon am 22.Dezember begonnen." Es ist wie ein Lehrstück zum Thema Illusion. Paler schrieb: "Unter den Freudentränen damals merkten wir nicht, in welche Richtung wir gestoßen wurden. Und wir haben damals auch nicht ahnen können, daß jene Terroristen, jene mysteriösen Terroristen, die unser Leben tage- und nächtelang bedrohten, außer vielleicht einigen fanatisierten Desperados, zu einem Szenario gehörten, das die Bevölkerung in Schach halten sollte, um politisches Kapital zu sammeln aus der Dankbarkeit der Betrogenen." -

Ich erinnere mich an eine alte Diskussion anhand von Tolstois "Krieg und Frieden", daß nur Distanz zur Erkenntnis führen kann, und nicht etwa das unmittelbare Miterleben der Ereignisse.

 

14. April 1993. Abends. Ich mische mich wieder ein, denke an die Worte von Peter Schneider, der in Sarajewo als Berichterstatter feststellen mußte , daß er in Deutschland vor dem Fernseher besser informiert war, als unter Beschuß in seinem Hotel vor Ort, wo er völlig dem Einzelereignis ausgesetzt war - und auch der Tod wäre solch ein blinder und unsinniger Einzelfall gewesen. Beim Historiker Reiner Koselleck lese ich: "Die Augenzeugenschaft, besser noch die Mittäterschaft galt bis in das 18. Jahrhundert hinein als erkenntnistheoretischer Vorteil, um die Wahrheit der Geschichte zu verbürgen: Erst seit der Erfahrung des Fortschritts, methodisch gesehen seit der Entwicklung der historisch-philologischen Kritik, dient der wachsende Zeitabstand zu den vergangenen Ereignissen als Unterpfand besserer Erkenntnis."

 

18. Mai 1990. Revolution, Nelken, Rosen, wunderbar. Dabei hatte es doch schon der große Hegel auf den Begriff gebracht, was wirklich ist. Und ich schlug gleich mal nach, beeilte mich, war wie gehetzt, denn sicher würde Jann bald zu Tisch rufen, draußen unter dem Olivenbaum. Schon blendet Sonne herein, ein Streifen liegt auf dem Buch wie eine unverrückbare Lichtstraße, die hier ihr Wesen natürlich schön versteckt: erst durch atomares Geschehen hervorgerufen wird, wer denkts und merkts, es zeigt sich jeden Morgen auf der Zeile. Ich schlug das Hegel-Buch auf, las: "...daß der Weltgeist die Aktionen und die Passionen der menschlichen Akteure hinter dem Rücken ihres Bewußtseins für seine höheren Zwecke nutze. Die Geschichte", so schrieb er ausdrücklich, sei "in der Tat DIE SCHLACHTBANK, AUF WELCHER DAS GLÜCK DER VÖLKER, DIE WEISHEIT DER STAATEN UND DIE TUGEND DER INDIVIDUEN ZUM OPFER GEBRACHT WERDEN."

"Hinter dem Rücken deines Bewußtseins also..." Das war eine recht höhnische Stimme, nicht aus dem Buch: "Wach auf du Idiot!" Was will der, dachte ich. Meinte, für Bruchteile von Sekunden es vor mir auch aufblitzen zu sehen, und sah dann in die Sonne, bis es mir schwarz vor den Augen wurde; erinnerte mich auch, daß einmal ja Pfingsten sein muß! Tatsächlich - ein altes Feuer vor mir! Und da erst merkte ich, daß sich meine Frau eben eine Zigarette angezündet hatte. "Aber nicht bloß die Welt ist aus den Angeln gerissen, auch der Verstand der einzelnen Individuen. Die Hirnkasten bersten, weil auf einmal so viele Neuigkeiten, vielleicht auch neue Gedanken hineindrängen", lese ich bei Heine: "So plötzlich ist das alles gekommen! Doch wie ist das gekommen? Werden die Angelegenheiten dieser Welt wirklich gelenkt von einem vernünftigen Gedanken, von der denkenden Vernunft. Oder regiert sie nur ein lachender Gamin, der Gott-Zufall".

 

21. Mai. 1990. Wieder in Parma. Besuch bei Carlo Mattioli. Es ist mir peinlich, Marcella, die Tochter des alten Malers hat mich als Michelangelo-Experten vorgestellt, in der kleinen Kirche, die ebenfalls restauriert wird, werde ich nur noch mit "Professore" angeredet. Mattioli zeigt mir dann sein großes Holz-Kreuz, das er beim Tode seiner Frau gemalt hatte, und das in einer kleinen Kirche aufgestellt ist. Die Gläubigen haben es angenommen, und es strahlt zurück, als wäre es ein Speicher des Gottesgefühls. Hier ist die Kunst wieder zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt, sagte ich. Und gerate in einen ekstatischen Zustand, beginne wie in Trance zu reden, zu schreiben. Der mit Kohle gezeichnete Leib des Christus erscheint mir, als habe sein Licht bis hinab in die Atome das Holz verbrannt und auch erweckt:

 

(...) Schläft er, wer schläft im

Holz und wartet, wer schläft,

da drin im

 

Röntgenbild, ein

schwarzer Baum, verbrennt, was

hier ist und Ecco, Ti chiamo Santo, Piu solo di Dio non

c'e

nessuno.

Schläft er, wer schläft im

Holz und wartet, wer schläft,

da drin im

Röntgenbild, ein

schwarzer Baum, verbrennt, was

hier ist und

erscheint, die

Christusform, die Matrix -

schwarz

die Tränen,

Materie weint.

 

12. April 1991. Ein katastrophaler Zusammenstoß einer Fähre mit einem Tanker vor Livorno. 140 Menschen sind dort lebend verbrannt, verkohlt. Unser Nachbar Massimo, Feuerwehrmann, erzählt entsetzt von jenem Unglück; er war dienstlich beim Unglück in Livorno zugegen.

Und bei Genua ist ein zypriotischer Tanker explodiert. Hundertausend Tonnen Öl verseuchen das Meer unserer Gegend.

Alles ist hier auf dem Berg zu langsam. Gestern in Monte Carlo Wein geholt. In Lucca eine Wasserpumpe fürs Boot gekauft. Reine Ironie. Einen Motor fürs Gummiboot angesehen. Wir haben Sorgen! - Innere Erregung dazu. Traumzustand. Die Zeit rast. Alles scheint überholt. Vergangen.

14. April 91. Heute Brief an Monika M.: Du bist ja selbst eine seltsame Pflanze, schrieb ich ihr: die ich deshalb so mag, und jetzt habe ich diese wunderschöne Cosmea (Cosmos) Geschichte wiedergelesen, die sich in Deinem Depressionstheater mit den schwarzen Männern abspielt. Sie gefällt mir sehr, sie ist so subtil und hintergründig mit Verweisen ausstaffiert, aber locker und mit wie viel Humor! Ja, ja, das wird ein gutes Buch, Deine Zeile 6, wenn es so weitergeht! Die Depression und auch der schwarze Wanderweg vom Osten zu Ikea, um erniedrigt zu werden, und dann dieser gute Trick, Physiognomik auf Tier- und Blumenbasis zu üben, hat ja gar nichts verkünstelt "Literarisches" mehr, kommt so selbstverständlich und mit tröstender, ja, rettender Poesie, weil Du Dich da einfach selbst quasi aushauchst, durch Wein in die Wahrheit kommst, echt, als schriebst Du einen Brief. Und das alles erinnert mich ein wenig an unser erstes Treffen in Darmstadt, wo Du auch einen langen Monolog über Ameisen, glaub ich, in diesem schönen Zustand über den Tisch und in unaufhaltsamem, fast halluzinierendem Redefluß mir Staunendem zu Gehör brachtest.

Du warst also in der alten Ostberliner Einheitsstraße 3. Wie gern hätte ich von dort mal einen Gruß von Dir gehabt, so als Erinnerung an alte vergangene Zeiten, als Du noch exotischer für mich warst, eine Fremde aus dem eigenen ehemaligen Zuhause sozusagen, das es nun nirgends mehr gibt. Ich war ja auch da unten im endgültig Verschwindenden, und habe Abschied genommen für immer. Über etwas, das wir nicht benennen können, soll die alte Nähe Aufschluß geben? Am schönsten hast Du es ausgedrückt mit: "Irgendwie erhoffte ich mir, die alte Nähe würde mir Aufschluß geben über etwas, das ich nicht benennen konnte". Kannst Du es jetzt?

Die Ausnahme, die sie einmal interessant und spannend machte, ist weg, jenes, was auch Dich in der alten Wohnung mit Leuten nächtelang durchmachen ließ, als die Westler um 24 Uhr wieder "rüber" mußten. Jetzt bleibt nur das Triste, eine unerträgliche spannungslose Normalität ohne Hoffnung. Mein Gott, wie alles wieder anders ist, Dein Brief kommt aus einer andern Zeit, der Zustand rapide wechselnder Zeitstimmung macht einen verrückt: Du schreibst von Saddam, dem Krieg. Auch ich war apokalyptisch gestimmt, saß schon 5 Uhr früh am Fernsehn. Hab darüber geschrieben, um meine Ohnmacht nicht zu spüren, und soweiter. Und dauernd in Atem gehalten, zuerst 89, dann das Wahnsinnsjahr 90, dann der Golf, jetzt gestern hier in Livorno 140 Menschen auf einer Fähre lebendig verbrannt, in Genua die größte Ökokatastrophe des Mittelmeers, viermal soviel Öl rinnt aus wie damals in Alaska; hier ists jetzt aus mit dem Meer, auf das ich von meinem Schreibtisch immer noch schauen kann .

Schon vergangen, fast sauer geworden, alles "überholt" - und doch immer noch nicht in der Realität des Geschehens angekommen. Es ging mit Hilfe der Medien, des Geredes, der "Politik" zu schnell. Und genau dieses hörte ich bei meinem Besuch im März in Erfurt, Weimar, Jena von den Leuten. Ich habe mit vielen gesprochen. Aber es blieb das ganz schlimme "Abbruchs"- Gefühl eines Desasters zurück. Weggeworfenes Leben. Und ohnmächtige Wut.

Wenn Du von Deinem einzigen Ort, wo Du dich wohlfühlst, im Unterwegssein nämlich, sprichst, dann kommt mir wieder jenes alte Niemandsland in den Sinn, und das ist jetzt auch für mich total. So auf den abgeschnittenen Wurzeln wandernd. Hier ist es schön, aber weit. Von wo? sagen die Juden. In Deutschland ist es auf die Dauer unerträglich. In Siebenbürgen oder Bukarest auch. Aber die Trennung ist ja kein Ort. Und wo ist der zu finden, gar im Wort?

Ich hör aber jetzt auf damit, und frage mich, warum ich das mit Dir teilen will, wenigstens schreibend, und ich dabei so intensiv an Dich denke. Jaja, es kann sein, diese Wolken in Deinem Fenster, die so mit spiegelndem Wasser umgehn, die kommen von mir. Im Frühjahr ändert sich die Windrichtung.

16. April 1991. Unmerklich vergehen die Tage, hier ist alles sanft in Agliano, im Gras, unter dem blütenweißen Kirschbaum. Und doch, die Zeit läuft überall davon, da hilft auch keine Blüte, die FURIE zeigt sich hier nicht so unmittelbar sichtbar und in die Augen stechend, nur als heftiges Strahlengespinst oder in Bankauszügen und im Kopfweh. Ich fange schon an, sehe ich erschrocken, - die Art zu sprechen meines Freundes Luca anzunehmen, so daß mich Jann ganz erstaunt von der Seite ansieht, und ich schnell verstumme.

M. hatte mich nach diesem Luca gefragt, übrigens ein höchst bemerkenswerter Vertreter einer Gattung von Verrückten, und ich hatte ihr von diesem Freund geschrieben, der einmal im Jahr hier bei uns auftaucht, und mich jedesmal durcheinanderbringt! So schrieb ich ihr noch am gleichen Tag:

Ich muß dir von diesem Besuch erzählen. Luca hat Erfahrungen gemacht, bodenlose, bis an den Rand des Wahnsinns. (Du kennst ja seine Schreckensgeschichten!) Er sei vor fünf Jahren "berührt" worden, sagte er. Von einem "Blitz", einer Frau , du weißt und ich weiß, wer diese Frau ist. Bei Verliebtheit bleibt dieser Blitz als psychische Aufgeregtheit, als Wühlen in uns, sein "Blitz" aber ist anderer Art: sein Zustand hat mit der Frau nichts mehr zu tun. Diese Erregung läßt sich so an nichts Körperliches mehr festmachen, bleibt unerlöst. So irrt er beziehungslos umher. Er spricht von einem Bruch zwischen Leuten und "Spielfeld", entweder gibt es dieses Spielfeld der Möglichkeiten und Erwartungen, doch bleibt es leer, oder es sind die Leute da, chaotisch, sinnlos, ohne Spielfeld. Daher kommen in seinem Leben nur absurde Situationen vor. Ihn habe eine unendliche Müdigkeit gepackt, das Ausleben der Essenzen, die er mit sich herumschleppt, erscheine so unnötig, so sinnlos und so vergeblich, weil kein Ziel und keine Anwendung auszumachen seien. Nur Fadheit und Leere. Er kann im Leben damit nichts anfangen. Daher will er jetzt schreiben. Ich sagte ihm, daß Schreiben für seinen Wahnsinn tatsächlich das Beste sei, ich wisse es aus eigener Erfahrung: 30 Jahre schon bin ich dabei. Daß diese Lebensjahre, so gelebt, meine angehäuften Investitionen seien, daß ich diese Dinge um mich versammele, ja, einen Beruf daraus gemacht habe. So wären sie nicht nur ein Alibi, sondern auch eine sozial anerkannte Tätigkeit. Keine schreckliche Uferlosigkeit, die nie an ihr Ende kommt, wie bei ihm. Und es gebe ja im riesigen Sprachgedächtnis, in der Kunst, die weiter in Richtung einer überall wartenden Verbindung zwischen "Himmel" und "Erde", "Diesseits" und "Jenseits" gehe, Gefäße für diese Dinge, so könnten sie auch wirklich werden und anerkannt. Schon Dante sei ein Beispiel dafür, seine Commedia habe er in einem neuntägigen Wahnsinnsanfall vorausgeträumt! Die Schreibarbeit war dann nur ein Versuch, das im Anfall Erlebte zu

rekonstruieren, einen Großen Traum nachzuerzählen. Luca ist fähig,

Zustände und Kerne in den Menschen, vor allem in Frauen, zu sehen und sie zu beschreiben, wie er überhaupt Aura und Stimmungen sehen und

beschreiben kann. So sind alle Frauen vor ihm geflohen; er hatte sie

beschrieben, und voller Schrecken sahen sie sich erkannt.

 

8. April 1993. Ich lese in Noicas "Introducere la Kant prin interpre

tarea lui Heidegger" (Einführung in Kant durch die Deutung Heideggers) ,

Humanitas, Bukarest 1992.

Noica wußte noch nichts von der "Transkommunikation"; die eine große Hoffnung ist: die eigentliche "große Utopie", Ou tòpia = ORTLOSIGKEIT.Und ich stürze mich auf diese neue rätselhafte Sinn-Vermittlung und das Quälendste, was es gibt: das Ungewisse, diese innere Spaltung beim Denken an den Tod; diese Verbindung mit dem "Nirgendwo" auf elektroakustischem Weg (in die Lichtgeschwindigkeits-Ebene) sind eine neue (und exaktere) Hoffnung - unsere; in diese Grenz-Sphäre hineinreichenden Geräte; ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld," nämlich mit den Toten; es klingt, wie Science-Fiction: die Toten bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Es wäre die erste wirkliche Umkehr und Re-Volution der Menschheitsgeschichte: die Befangenheit im Kerker der eingeschränkten Lebenszeit, die Hetze und Raffen bedingt, fast alle Übel unserer Zeit wären so aufgehoben. - Das Buch, das die bisher gemachten Erfahrungen, seit etwa 1959, sammelt und wissenschaftlich mit sehr viel Sachkenntnis kommentiert, ist vom Mainzer Physikprofessor Ernst Senkowski geschrieben worden und heißt "Instrumentelle Transkommunikation" (erschienen bei R.G. Fischer, Frankfurt am Main 1990.) Nach Noicas Kant-Kommentar ist Technik eine Art der "Entbergung" des Realen. Genau. Denn Kant ist nicht transzendental orientiert, seine Seinslehre des Transzendentalen (des Überschreitenden) ist wider die Transzendenz (des feststehenden "Ewigen") gerichtet, also nicht jenseits, sondern diesseits der Gegenwart. Das alte "ti esti" wird ersetzt mit dem "wie ist es möglich, daß etwas ist." (Was kann ich wissen?) Wichtig ist, daß hier die Grenzen gesetzt, erforscht und gesehen werden, das kritein, das Unterscheidungsvermögen vor allem befragt wird. Wir sehen ja nicht wie die Engel die Dinge und Gesetze und Regeln direkt und unverstellt, denn dann wäre keine Wissenschaft nötig. Begriffliche und unterscheidende (zerschneidende) Erkenntnis ist nur für ein beschränktes Wesen, das der Mensch ist, nötig. Diese Beschränkungen und seine Instrumente müssen untersucht werden, um besser und entsprechender denken zu lernen.

 

Ich lese weiter im Buch von Ernst Senkowski, der die "Instrumentelle Transkommunikation" und auch ihre Begrenzungen beschreibt; dieser Aspekt des "Nichtaussagbaren" ist mir an diesem Phänomen am liebsten, und es trifft sich mit dem, was Literatur im sich selbst aufhebenden Vorgang TUN möchte, sprachliche Selbstentlarvung seiner Täuschungsbedingungen, damit die Dinge aus dem Vorgetäuschten, nämlich aus dem Namen fallen. Grund des Schreibens: zurück zur autistischen Kondition des Schreckens, daß jeder Moment neu ist, nichts erkannt wurde, jeden Augenblick das Schlimmste aber auch Schönste passieren kann. ("Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich der Himmel ist DA", Bergpredigt.)

Ich höre mir wieder einmal die von mir seit 79 (seit dem Tod meines Vaters) mit Tonband und Mikrofon empfangenen Stimmen an.( Ja, einfach das Gerät eingestellt und gewartet!) Vielleicht habe ich seither einen "Jenseitspartner", weil ich emotional mitgegangen bin; mein Gefühl, meine Liebe wurden auf eine andere Ebene gehoben, sie haben seither eine Verbindung in jene andere Sphäre, die früher einmal "Himmel" hieß.

 

24.1. 92. Gestern Gespräch mit Bianca Döring, einer jungen Autorin auf der Solitude. Wir sitzen in der Cafeteria, sprechen über unsere Arbeit, da beginne ich zu erzählen, und sie hört immer gespannter zu, was mich auch steigert, und ich lege los: - Wenn ich versuche, Stimmen zu empfangen, dann spüre ich ihre Anwesenheit. Auch Klopfgeräusche sind zu hören. Eine Ecke ist da in meinem Zimmer, wo es so hoch hergeht, da Unsichtbare dort warten, ganz nah am Fenster zum Wald. Gesichter, könnte ich meinen zu sehen. Und wenn es Nacht wird, reichen sie herein, und rühren mich an. Ich stehe auf, drehe die Dekkenlampe an, und dann erst knipse ich die Schreibtischlampe aus, fröstele, gehe mit dem Rücken der Tür zugewandt, rückwärts also, Schritt für Schritt, immer den Blick in ihre Richtung gewandt, um mir mit dem Blick, den ich in ihre Richtung werfe, Distanz schaffend, diesen Schrecken vom Leibe zu halten; leichtes Zittern; schnell, so schnell es geht, verlasse ich das Zimmer. Nur im Traum und Schlaf bin ich ganz bei ihnen, einer der ihrigen, und es gibt keine Trennung vom Schrecken des Todes, das weiß ich, und fliege. Hochgefahren aus dem Traum, so wieder ungeborgen hier: ist das Zimmer wieder voller Anwesenheiten, und ich verstecke mich unter die Decke, wie früher als Kind, auch nicht

das winzigste Stück des Körpers, kein Fetzchen Haut darf draußen sein,

aus Angst, sie könnten mich berühren.

Am Kamin wurde hier bei uns wie früher an langen Winterabenden immer noch - ganz ohne Flimmern im Raum - erzählt. Z., unser Nachbar sagte, in einer schweren Krise, bei einer Operation zum Beispiel, so habe er es selbst erfahren, sei es "normal", daß man erlebt, was die Toten erleben, den Körper verläßt, ihn liegen läßt. Eine gewisse Gefahr besteht freilich. Wenn nämlich zufällig einer mit einem Leuchter käme, während wir draußen sind, und der den Körper dauernd anstarrt, der da liegt, würde der Reisende, der draußen ist, so lange nicht zu ihm zurückkehren, bis man ihn in dieser Nacht nicht mehr anschaut. Und es ist schon geschehen, daß die Familie dachte, der Körper da, der im Bett liegt sei tot, und zu trauern anfing, den Untoten wie einen Leichnam behandelte, so daß der so ins Grab kam, unter die Erde. Und da muß der Arme lange durch die Welt irren: bis zur Stunde, in der der Körper hätte sterben müssen.

Schäßburg, 9. März 1990. Ich hätte gerne Jann das Folberth-Haus gezeigt. Da hat sich ein Hausvater am Dachboden erhängt; es gibt wenige Häuser in S., wo kein Selbstmörder durch die Räume geistert, nachts, wenn man daran glaubt. Dort, diese hohen Fenster, sag ich, darunter stand ich. Weißt du wieviel Sternlein stehen...Genau diesen Weg, den wir jetzt gehn, die Treppen hinab zum Misselbacherischen Magazin in der Gartengasse, vis- à -vis vom Barth-Haus, dem Haus des "Geri", mein Kafka-Haus sieh, es steht noch, und wenn der Weg vereist war, fuhren wir mit einem "Hanthe", das war ein Brett, an das Schlittschuhe montiert wurden, den Hang fuhren wir mit diesem Schlittchen hinab, die Füße ausgestreckt, und hielten uns an zwei seitlich angebrachten Griffen fest. Komisch, weißt du, Jann, die Verhaftung aus Kafkas "Prozeß" stelle ich mir genau in diesem Haus vor, ich sehe die Tür ins Schlafzimmer von einem langen, fliesenbelegten Gang aus, da kam der Verhaftete, und Fräulein Bürstner wohnt in der Küche, das ist die Mutter meines Schulfreundes Geri. Und da, sieh, das "Magazin" mit den schwarzen Eisenläden, früher gehörte es zu einem großen Laden. Im Krieg wars requiriert worden, diente als Munitionsdepot. Nach dem Zusammenbruch im August 44 stiegen wir über die hohe Mauer und stahlen Gewehrkugeln, Messingmagazine, aber auch Feldtelephone und nach Bakelit riechende Radiogeräte, Röhren, Spulen, Kondensatoren, diese Gerüche des Gerätematerials, wo die Erwärmung beim Funktionieren der elektromagnetischen Schwingungen etwas von ihrem geheimen Flüstern der Ferne, dieser Rätsel der sprechenden Atome hinterlassen hatte, ließen mich nicht mehr los. Ich stahl unter Lebensgefahr, wir stiegen über die Mauer, dabei gab es Posten, die ohne Anruf schossen. Auch bei Norbert, dem Großcousin, der eine Radiobastelwerkstatt in der Wohnung im "Werk" hatte, stahl ich die sorgfältig in Holzwolle verpackten schwarzsilbrig schimmernden Glasröhren mit ihren dünnen Steckern, oder Netz- und HF-Transformatoren, und wurde dafür dann in einer Familienkonferenz zu peinlicher Beichte und zum Herausrücken des Raubes gezwungen. Vielleicht gabs auch Prügel, zumindest Hausarrest. Dieser Bakelitgeruch, die Drähte, das Flimmern, das Leuchten der Röhren, das Vibrieren der Lautsprecher, Drehen an den Drehkondensatoren, entweder mit Messingplättchen, die durch dünne Isolierplättchen voneinander getrennt waren, oder metallene luftisolierte Alluminiumkondensatoren gabs als Innereien der Radios, Wunderwerke, die ich mir dann selbst baute, und atemlos damit in den Äther lauschte, anfangs diese "Stimmen" mit Kopfhörern, dann mit Lautsprechern im ganzen Zimmer hören konnte, ein Glücksgefühl. Ich war besessen davon und wickelte auch in den Schulstunden, vor allem in der Russischstunde bei Frau Burianá Transformatoren. Und zu Hause las ich abwechselnd den "Faust" und baute solche Geräte, schrieb und bastelte parallel, doch das Prickeln war beim Wickeln größer. - (8. April 93) Das alles hatte ich bei meinem ersten Besuch nach vielen Jahren in meiner Kinderstadt und vor meinem "Kafka-Haus" in S. empfunden. Es hat mich nicht losgelassen. Heute höre ich die geheimnisvollen und völlig unbekannten Stimmen auf Band, Stimmen aus einer unendlich fernen Gegend, die über eine Zeitbrücke zu uns kommen, vielleicht sind es die Toten, die heute die Dimensionsgrenze zu durchbrechen vermögen... Transkommunikation...sekundenweise immer wieder dies Blitzen durch mich, Kindgefühl, Glücksgefühl. Am ersten Tag schon: 10. März 1990: Nach fast zwei Jahrzehnten sehe ich sie wieder: die Silhouette der "Burg" im Abendlicht. Die Fassade. Geschwärzte Ringmauern, der Stundenturm, "Perle des Kokeltals", eine deutsche Gründung. Scheszbrich, sagten wir im Dialekt. Gott erhalt dech Scheszbrich. Ringmauern, Türme. - Ich gehe eben durch das Tor mit dem Fallgitter, es riecht dimpig, wie wir sagten: staubig, und der Rost des eisenvergitterten Fensters des Folterstübchens geht mir in die Augen... und ICH höre die Uhr schlagen, es wird vielleicht das letztemal sein!

22. Mai 1990. Besuch von Pfarrer Gerhard Möckel und seiner Frau. Sie werden nach Siebenbürgen übersiedeln, dort eine Akademie gründen. Er hat einen riesigen Zettelkasten bei sich, und lebt nur mit Zetteln, von einem Zettel zum andern. Drahtig und gestreßt. Um nichts zu vergessen, um jede Sekunde zu nützen. Er war psychisch krank, hatte einen Schub, war auch in der Klinik interniert. Wir sitzen unter dem Olivenbaum und reden über die Möglichkeit des Numinosen heute. Der Pfarrer leugnet es. Doch Möckel ist der einzige Siebenbürger von Format, der die Nazi-Schuld nicht vergißt. Als mich beim Erscheinen meiner "Visa Ost West Lektionen", die Rechtsgläubigen mit Dreck bewarfen, war er der einzige, der mich verteidigte und in sein Haus nach Berlin-Dahlem einlud. Es war das Niemöller-Pfarrhaus... Wir sprachen über den Widerstand, Bonhoeffer... Das Netzwerk der Erinnerung nimmt in meinem Kopf nicht ab. .. Bonhoeffer ...

Flossenbürg, da war Roland A., der Cousin meiner Mutter 1945 Kommandant gewesen. Bonhoeffer - 1945 hingerichtet in Flössenbürg ... Mit Erich war ich im März 90 in der Synagoge von S. gewesen In der Kleingasse. Unsere Judengasse. Diese Kinder-Angst früher, es wurde uns ja erzählt, die Juden schlachten Kinder, trinken Christenblut. Juden, die bösen Geister, sie sind mir unheimlich, sagte Mutter, sie kommen als Gespenster und würgen dich im Schlaf, sie leben als ruhelose böse Geister immer und überall, irgendwo zwischen Himmel, Erde und Hölle, unsichtbar als Gespenster, sie haben Nie Boden unter den Füßen, sie sind immer unnormal. Und da hilft keine Medizin. Da mußt du das Kreuz schlagen, und mußt beten. Aber der Doktor Victor Capesius, "unser" Auschwitz-Apotheker, hat das gar nicht gesagt. Schrecklich. Ecke Gewerbebank, da gabs die Apotheke. Der Doktor war Mitinhaber der Marktapotheke "Zur Krone" in meiner Heimatstadt, ihm hatte Gerhard 1965 während des Frankfurter Prozesses einen Brief ins Gefängnis geschrieben, den Apotheker beschworen, sich mit seinem Gewissen dem Prozeß zu stellen. Alle trügen wir Mitverantwortung, schrieb er, nicht nur er, der Apotheker, nicht nur er. Oder gar nur die Kirche. Denn es gehe über die Kompetenz eines staatlichen Gerichts und über die Kompetenz jeder Institution weit hinaus, diese Schuld zu bestrafen, diesen Abgrund auch nur zu ermessen. Millionen Tote. Auch darüber sprechen wir. Daran erkenne man, sage ich, daß unsere Institutionen außerstande seien, dem Menschen und seinem Wahnsinn gerecht zu werden, dies sei der unauslotbaren Tiefe des Einzelnen überlassen, der "apriorischen Individualität", wie Hölderlin diese Abgründe schon zur Zeit der französischen Revolution genannt hatte.

 

22. April 93. Es gibt erstaunliche Konstellationen, und sie stehen, wenn ich es nur recht bedenke, verschränkt auch hier in diesem Tagebuch, einem Sinn-Ordner: Und ich weiß: auch der heutige Tag, den ich eben beschreibe, wird sich darin verschränken und nicht verloren gehen.... Am Nachmittag kam Hans D. mit seiner Frau zu Besuch. Dr. D. stammt aus einer großbürgerlichen Kölner Familie, seine italienische Frau ist Architektin. Wir saßen unter dem Olivenbaum, tranken den sauren Hauswein. Hans, Doktor der Jurisprudenz, hat weder den kölschen Humor noch seinen Dialekt ganz abgelegt; sein starkes Gerechtigkeitsgefühl beflügelte ihn. Er hat oft Gelegenheit gehabt, dieses Gerechtigkeitsgefühl zu erproben, vor allem seit Januar 36, als er, der blutige Anfänger in die Verkaufsabteilung der IG-Farben eintrat, und damals noch daran glaubte, daß es hier nur um Farben ginge. Verschmitzt und fast gerissen sei er später dann, nachdem er endlich die Sachlage erfaßt hatte, als "Spion" im Innern der FIRMA tätig geworden, sagt er: wie man auch allein Widerstand leisten könne, habe er dann erprobt. Mit Ekel hatte er an glänzenden Partys der Erwählten und Großindustriellen im innern Zirkel, wo Geheimes beraten wurde, teilgenommen, er, der die Paranoia der Illustren nicht teilte, sein Gerechtigkeitsgefühl stand ihm im Wege; und er sollte deshalb bald zu den Übergangenen gehören.

Bei dieser Geschichte Dr. D.s wurde unser Freund Luca, der wieder einmal bei uns war, mit am Tisch saß, unruhig, als Dr.D. erzählte, wie er dann tatsächlich wegen kritischer Äußerungen vom Prokuristen zum Fahrer degradiert worden war.

- Gestatten , Herr Dr. D., da fallen mir die Kopfjagden ein, fast hätte ich da einen bemalten Kopf einmal zum Geschenk angenommen, das war bei den Dajak auf Borneo, und dann in Afrika, in Grobo stolzieren alle jungen Leute mit einem Schädel am Gürtel herum, weil sie nicht heiraten dürfen, bevor sie solch einen Schädel erbeutet haben; während das Fleisch der Opfer verteilt und verzehrt wird, bilden die Köpfe wertvolle Trophäen des Kopfjägers, der sie sich eigens räuchert, bemalt, mit künstlichen Augen versieht oder sonst präpariert, um seine Wohnung damit zu schmücken. Solch ein Schädel wurde mir als Kunstwerk zum Geschenk gemacht von einem Häuptling, als ich im Auftrag einer Bank und Baufirma aus Florenz dort weilte. Die erwies sich dann als Mafiaorganisation aus Chicago. Gab den Auftrag zurück. Denn die wollten so nebenbei auch Geschäfte mit kunstgemalten Schädeln machen. Ich habe vergessen, vom Fall eines Jungen in Kamerun zu erzählen, der verhöhnt wurde, weil er nur einen Taubstummen getötet hatte, er sei kein Mann. Seine Braut hetzte ihn heimlich auf mich, und nur durch schnelle Flucht mit dem Landrover konnte ich meinen Kopf retten. Durch all diese Anwandlungen der Kopfjäger sprechen die Geister der Strahlengemeinde, und üben sich; aus der Strahlengemeinde von drüben, wird hier eingewirkt, und alles daran gesetzt, um die Kräfte der Getöteten auf sich selbst überzuleiten, sie in ihren Dienst zu stellen, eng verflochten mit der hiesigen FIRMA, deren Erwählte aber keine Ahnung haben dürfen, völlig abgeschirmt und innen zu Stein geworden.

- Nun, sagte Dr. D. mit einem etwas abwertenden Blick auf Luca, den er wohl für total bekloppt hielt, solche versteinerten Seelen mit Kunstsinn kenne ich allzugut, Leute, die die Kopfjagd als puren Abfall und Nebenprodukt ansahen. Kunstbeflissenheit bei diesen Partys der Vorstandsmitglieder der IG, ich hieß sie immer nur die "Feinde", war üblich; 1940 als junger Doktor und Prokurist der Firma war ich noch dabei. Natürlich waren auch Uniformen zu sehen. SS anfangs nicht. Musik immer dabei, ein kleines Orchester. Onkel Krauch, der Chef, spielte ja selbst Bratsche. Dichtete gelegentlich. Vor allem: er konnte schneidend sein, ein Machtmensch mit Goldrandbrille und dünnen Lippen. Und das Geldtier dünnt aus, sperrt, dörrt den Moment total aus. Die "Erwählten", erwählt von jenen Jenseitsjägern sind die letzten, oft gefährlich intelligente Menschentiere. Ich halte mich an das, was ich sehe. Bei jenem Fest hatte ich als Neffe einen Ehrenplatz, saß neben zwei von sieben Zentralausschußmitgliedern der IG-Farben, das war im Herbst 1940, man reichte sich Hummer, rauchte Havanna, trank Champagner natürlich, und dabei wurde man sich einig, daß Auschwitz wegen des dort vorhandenen Arbeitskräftereservoirs der geeignete Platz für die neue Riesenanlage der Firma sei. Hauptinitiator war der berüchtigte Prof. Krauch, wie ich schon sagte: leider ein Bruder meiner Mutter, das war der Generalbevollmächtigte für Sonderfragen der chemischen Industrie, G.B. Chemie, in einem Vierjahresplan sollte die größte Anlage des Reiches zur Herstellung von synthetischem Kautschuk und Benzin in Auschwitz entstehen, Baubeginn Frühjahr 1941.

Es gab in Oberschlesien noch zwei andere Großbaustellen: IG-Farben-Heydebreck und Oberschlesische Hydrierwerke-Blechhammer. Diese beiden deutschen Werke jedoch bezogen ihr "Menschenmaterial" nicht aus Auschwitz, Majdanek oder Treblinka, sondern hatten kleine, auf den Eigenbedarf abgestimmte Werks-KZ`s, wie es ja viele gab, z. B. auch bei euch, Nähe Stuttgart, an der Geislinger Steige. Übrigens, sagte Dr. D., in Sachsenhausen etwa hat die "Wiedervereinigung" und das neue Reich neue sichtbare Symbole hervorgebracht, wie die Baugenehmigung für einen Supermarkt und für eine Bank auf dem ehemaligen KZ-Gelände Sachsenhausen, ganz ungeniert werden Kommerz-Bauten errichtet über den Knochen und der Asche der Opfer; auch in den östlichen Nachbarländern geht die alte Weltverschwörung der FIRMA weiter, als wäre nichts geschehen; neulich sah ich in einer Anzeige ein Foto von Prag und las diese neue Lyrik: "In Prag ist der/ Frühling eingezogen./ Wir auch." Ein FOTO. Und dann: "Die erste deutsche Bank wieder in der Tschechoslowakei... / Dresdner Bank." Billigstarbeitskräfte, "Rohstoffe" und Absatz, ist das wichtigste im Atlantischen Raum seit der Entdeckung Amerikas. Ich weiß es noch heute, wie mein Onkel triumphierend zu meiner Mutter sagte, jetzt wird uns die "Escompte-Bank geschenkt." Was war geschehen: im Frühjahr 39 erschien in der Böhmischen Escompte-Bank- Filiale der Direktor der Dresdner Bank Reinhold von Lüdinghausen mit einem Stab von Mitarbeitern und übernahm die Bank. Die jüdischen Vorstandsmitglieder wurden gefeuert, die Bank war "arisiert", wie so viele jüdische Unternehmen im "Reich". Und da gibt es noch einen netten Spruch, den ich auch in unserer Familie hörte: "Wer marschiert hinter dem ersten Tank?/ Das ist der Dr. Rasche von der Dresdner Bank". Das ist echte Lyrik. Rasche war der Filiale-Bank-Direktor für Belgien, Holland, die Baltischen Staaten und die Tschechoslowakei.

Alles klar? Doch an jenem ORT NULL: in Polen wurde alles noch klarer und durchsichtiger, viel klarer und durchsichtiger als heute - bis hin in die Abgründe, der Firnis fiel, und fast möchte man an Luthers Unheilstheologie glauben, hier auf Erden die Virulenz des Altbösen Feindes, wo aber war die Feste Burg da und gute Wehr und Waffen, denn alles war wirklich so, wie es ist: dort am ANUS MUNDI, wo sich alles freute bei jedem neuen Transport, da die Ankommenden sofort vergast wurden, nackt, wie Gott die Ankommenden an jener Rampe, geschaffen hatte, ich habs gesehen, nichts, kein Bahnhof, nur Gleise, die Juden noch angekleidet, noch lebend, doch eigentlich schon tot, Menschen, wie angeblich Gott sie geschaffen hatte: junge schöne Frauen, häßliche Alte, Babys, Kinder, Männer, als Abfall nach dem Ab-Fall behandelt, Pulverisierte, wie wir Pulverisierte, Mineralisierte geworden sind. Alle vergaßen, daß die Krematorien rauchten, daß in den mit den Vergasten gefüllten riesigen Gräben menschliches Fett brutzelte. Alle atmeten auf, weil nachher das Essen etwas besser war, man fand ja in ihren Koffern Wegzehrung, Proviant, und eine Atempause, weil die SS mit dem "Ordnen" des Raubes beschäftigt war, die SS-Leute stopften sich die Taschen voll mit Schmuckstücken und Gold, die Arbeiter und Häftlinge aus dem Krematorium ebenfalls, die Angehörigen der Sonderkommandos siebten auf Befehl der SS sogar die Asche der Verbrannten und suchten nach den nicht geschmolzenen Brillanten. Die Gebisse wurden herausgebrochen aus den Schädeln, das aus den Zähnen herausgebrochene Gold und Silber in Barren zu 700 gr. Feingold gegossen, und an die Reichsbank geschickt.

ANNO DOMINI 1944, also fast im Millenium, setzten sie in den Todesfabriken die Zeichen, die immer noch gültig sind. So führten sie einen männlichen und einen weiblichen Juden zu einem medizinischen Versuch zusammen. Der Raum wurde ausgelegt mit schönen kostbaren Teppichen der Lagerleitung, Perser darunter, aus den Beständen der Ankommenden, die gleich ins Gas gingen; doch die Hoffnung, hier im hochzeitlich ausgestatteten Zellenraum von den beiden Liebespartnern, sorgfältig ausgewählt, sie sehr schön, üppig und schwarzhaarig, Brüste und Vulva genau gemessen und nach Schönheitsideal und Reiz geprüft, das Schamhaar und sie am ganzen Leib diskret parfümiert, einen Geschlechtsakt unter Beobachtung zu erhalten, erfüllte sich aber nicht. Und einige mußten dabei an die Haarberge und die weißen Leiberberge denken, das trennte auch diese beiden , wenig Zeit trennte die beiden davon... um dann das Experiment zu beschleunigen, befahl der Standortarzt, ihnen die Kleider wegzunehmen, aber sie schämten sich nicht, sondern blieben weiter in ihrer Trotzecke sitzen und passiv. Und dann wurde auch Musik, Schallplatten, abgespielt, zuerst reagierten die beiden, aber dann wieder

diese Apathie. Man gab ihnen Champagner zu trinken, Fleisch zu essen, man bestrich sie mit Alkohol, man versuchte sogar ein Aphrodisiakum. Nichts. Man preßte ihnen die Leiber zusammen, man hielt sie auf spannungsreiche Entfernung von drei Zentimern aneinander, nichts. Eher wurden die Zuschauer, darunter Obergruppenführer Lolling, geil und süchtig, und hätten gerne mit der Jüdin... die gleichgültig die Beine spreizte. Aber Nein, aber Nein zur Rassenschande. Und einer flüsterte heiß: WILL ICH LIEBEND DIR GEHÖREN, KOMMST DU ZU MIR HEUTE NACHT? Über Lautsprecher wurde es flüsternd in den Raum übertragen. Nichts. Keine Reaktion. Der Versuch mußte ergebnislos abgebrochen werden. Es konnte nicht festgestellt werden, ob die Strahlen die Jüdin unfruchtbar gemacht hatten. An künstliche Insemination dachte man damals noch nicht. Und die widerspenstigen Versuchspersonen wurden nackt hinausgeführt, draußen im Hof still und ohne Aufhebens erschossen, ohne ein Wort, ohne einen Laut, sackten sie zusammen und wurden in den Gruben verbrannt.

25. Mai 93. Vielleicht ist diese Empörung gegen Botho Strauß, auch meine eigene, darauf zurückzuführen, daß wir alle "Alleswisser" sind, "Aufgeklärte". Strauß wendet sich gegen diese Alleswisserei - provozierend von rechts. Dabei geht es nur um "reale Gegenwart", "Presence", nämlich das Geschwafel abzuschaffen; auch angesichts von Auschwitz. Auschwitz "als zentrales Kraftwerk für die Moralwirtschaft" der "Linken". Eckard Nordhofen (Zeit/15,93). Daran alles zu messen. Überkommentiert und die Substanz vergessend, oder das Leid. Nur in biblischer Dimension ist Reden über den "Holocaust" (Ganzopfer) noch möglich. Ein HarvardProfessor, Robert Nozik, ("Vom richtigen , guten und glücklichen Leben", Hanser 91) hat das Zunichtemachen der Ereignisse: Sündenfall, Passion und Auferstehung durch den Holocaust angesagt. Ist nun die Tür wieder geschlossen? Auschwitz als negative Offenbarung, "Bundeslade des Bösen", Antimessias? Nach dem "Bersten des gesellschaftlichen Kalküls" Ost sind wir wieder dorthin zurückgeworfen worden. Die Zukunft der vollen Vergangenheit wider die übrige Zeit, Zeit, die sich auslöscht: ein transzendentales Geschehen? Und ich denke wieder an die "Stimmen" der Toten. Ist dieses der Punkt: Alles andere Illusion? Bei Steiner (so Nordhofen) war von zwei jüdischen Traditionen die Rede: Kabbala und Talmud. Der Kabbalist versucht den Schriftcode zu knacken, "Mysterium im Klartext zu besitzen", der Talmudist, Aufklärer im Strauß-Sinn: Kritik an den selbstgemachten Göttern zu üben: "zündet vor der Bundeslade als dem Zeichen der verhüllten Präsenz, erschüttert an den Grenzen des Begreifens, die ewige Lampe immer neuer Auslegung an." "Sakralisierung unverfügbarer Präsenz"? "Instrumentalisierung des Heiligen als Götzendienst" wird so verneint und damit die linke "Trauerarbeit"; es wird verneint, daß auch Auschwitz "eingeordnet" werden kann. Unmöglich. So wird auch die Sakralisierung des Bösen abgelehnt, und Auschwitz als eine negative Offenbarung angesehen.

 

. 2.Juni 1993. Aneta Khana, eine ostdeutsche Jüdin, fühlt heute wieder stärker die "peinliche Frage: wer bist du?" Nachdem ihre Tochter, die erst jetzt nach 89 zu einer Frage wie dieser kommt, mit der Frage ihrer Tochter also: "Mama, stimmts, ich bin ein jüdisches Kind und kein deutsches", wurde es heikel, so daß sie mit Mühe ein Pssst unterdrückte.

Was das Jüdische betrifft, da hat Anetta Kahna, die Leiterin der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen in Brandenburg und Berlin, eine "Ostdeutsche" also, recht, es ist ein historisches Edelfremdentum, und eine Umkehrung findet statt: sie, die Jüdin, fühlt sich als "Objekt abstrakter Schuldgefühle, sozusagen als persönliches Opfer im Eigentum meines Gegenüber mißbraucht." Dies verursache ihr Übelkeit, denn "die gleichen Menschen halten Zigeuner und ihre 500000 Toten einer solchen Ehrung keineswegs für würdig." Und doch ist es weiter die Angst, der Zwiespalt: "das jüdische Privileg ist gar keines , denn es steht auf den tönernen Füßen von Schuldgefühlen und nicht auf dem Fundament der Bereitschaft zu lernen." Kollektiv ist da gar kein Lernen, denn wie wäre sonst das "rassisch begründete Staatsbürgerprinzip in Deutschland" möglich, das eine "Schande" ist. Ein neues Überdenken dieses "jüdischen Privilegs" ist nötig geworden!

Ich muß zugeben, daß ich bisher zu wenig auch über diese Seite meines "Philosemitismus" nachgedacht hatte, dieses Schuldgefühl, das, wie mir einmal mein jüdischer Freund Alfred Kittner sagte, auch ein Halt sein könne, sogar ein Eintrittsbillet zur "deutschen Identität", und sei es auch eine negative - am Grauen der deutschen Geschichte teilzuhaben sei ja besser, als irgendwer zu sein. Und weiter: ich arbeitete an einem Essay für "Sinn und Form" über Paul Celans Holocaust-Gedicht "Die nachzustotternde Welt", Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur von "Sinn und Form", schickte mir einen Artikel der ungarischen Jüdin Agnes Heller, erschienen in der ZEIT vom 7.5.93.

Ich schrieb dazu:

 

Die Lukács-Schülerin Heller hält ein anderes Privileg für wichtig: nur die Betroffenen, nicht die "Zuschauer" dürften sich zum Holocaust äußern; und eigentlich nur in Gedichtform dürften sie sich äußern. Doch die Überlebenden, auch Menschen wie Celan also, dürften sich gar nicht äußern, eigentlich dürften es dann nur die Toten? Auch die Alpträume und Erinnerung jener, die im KZ waren, aber überlebt haben, wären also gar nicht dem entsprechend, was dort wirklich geschehen ist? "In den Gaskammern wurden keine Gedichte geschrieben", heißt es bei Agnes Heller. Dann aber ist es auch inkonsequent, wenn sie sagt, es ließe sich nichts als Schweigen schreiben. Und es gäbe vier Arten des Schweigens. Schweigen der Schuld, Schweigen der Scham, (bei den Juden wurde das Reden über den Holocaust vermieden. Schweigen, weil sie überlebt hatten? Und auch Schweigen der Scham, zum Volk zu gehören, dem dieses zugestoßen ist?) Dann Scham der Unzulänglichkeit auch, der Minderwertigkeit usw. Drittes Schweigen: Scham des Schreckens, Schweigen der Unfähigkeit. Viertens, das "tiefste Schweigen", das der Sinnlosigkeit. Und genau dieses hat Paul Celan versucht zu bekämpfen. Nach Heller ist der Holocaust, das "absolut Unvernünftige", er sei zwecklos, schrieb Heller, und auch in die Geschichte nicht "einzugliedern", weder in die jüdische noch in die deutsche.

Hier aber zeigt sich wieder nur die Selbstwiderlegung auch der eigenen Versuche, rational deutend etwas über den Holocaust zu sagen, vor allem in der Aufklärungstraditon, in der sich Hellers Denken bewegt, denn nicht nur durch Auschwitz, sondern seit 89 nun definitiv ist diese Tradition unfähig, das was geschieht, zu begreifen. Was heißt "absolute Sinnlosigkeit"? Was heißt "normaler Ablauf von Ereignissen", die sich erzählen lassen? Was heißt "Verstehen", "Erklären". Sind wir nicht gerade durch Auschwitz, Hiroshima und den GULAG an einer Grenze des bisherigen Erklärens und Verstehens angelangt, heißt dies nicht, daß die Instrumente unserer Verstehens unzureichend sind, eine Umkehr nötig wird, ein millenarer Bruch stattgefunden hat? Heller nähert sich dann dem, was nicht sagbar ist, durch die Metapher von "Gottes absolut negativer Abwesenheit", nimmt Isaac B. Singers Romane als Beispiel, da bei Singer die Beschreibung der Gottverlassenheit außerhalb der Geschichte zu finden sei. E. Levinas hat eine treffende Umschreibung von "Gott" gegeben, wir bezeichneten mit Gott die Schwierigkeit, vom "Andern" und Ganz Andern zu sprechen, das ja außerhalb jeden möglichen Zugriffs liegt. ER kann, und im Hebräischen besonders, nur durch Abwesenheit da sein, er ist unsere Absenz, Weltabsenz, in ihrer Auslöschung - also IST er. Ist es nicht so, daß der Bruch erst durch die beiden totalitären Diktaturen und ihre Massenvernichtung, durchaus ein Produkt der Geschichte ist, der Organisation, Technologie, Bürokratie und der gleichgültigen, nivellierten Masse, Resultat der Auflösung von Gemeinschaft und Individuum, eine Art Mephisophel also, das durchaus beschreibbar ist. Er selbst, der Holocaust, Promotor des Bruches aber, ist unbeschreiblich: eine ungeheure Trennung wird sichtbar, die im Negativen so sehr jenseits unserer Vorstellung ist in ihrer Undenkbarkeit, daß sie dem Nichts nahekommt. Heller sieht diese beiden Pole, bringt sie jedoch nicht zusammen, sondern verharrt in der TRENNUNG VON GESCHICHTE UND TRANSZENDENZ, genau hier aber setzt z.B. Paul Celans Poesie ein, geht weiter, viel weiter und entläßt daraus Erfahrungen und Umwege der tiefanrührenden Metaphern und Sprachsonden, die seine Dichtung erhellender als jede philosophische, historische oder auch theologische, also nur gedachte Analyse sein läßt im millenaren Zeitbruch, in dem wir uns orientierungslos und hilflos heute befinden.

Ist die Suche nach der absoluten Metapher aus dem Schweigen, wie Heller meint, gar zu vermeiden, da sie eine "unheimliche Eigenschaft" besitze, da sie nicht nur künstlerische, sondern "reale Nachahmung" verlange? Wollte Claude Lanzmann mit seinem Film "Shoah" dies mitteilen, daß das "Sur-Historische" historisch werden kann, zur Wiederaufnahme einlädt? Aber wäre es dann nicht gerade wichtig, diese "Transzendenz" nicht sich selbst zu überlassen, sondern den Bruch, wo er historisch ist, aus-zudenken, ins Erfahrbare Brücken zu bauen und sei es, wir entdeckten so den eschatologischen Grund, und sei es der Untergang. Denn wir stehn vielleicht vor der Wahl - Kassandra oder Jonas zu folgen, durch Prophezeihung den Untergang zu beschleunigen oder ihn gerade durch seine Vorhersage zu verhindern.

Kleinschmidt schrieb mir über das Aufbrechen dieser alten Wunde nach 89: "Wie sprechen Schuldige und Opfer miteinander, das alles ist Noch-Vergangenheit und Schon-wieder-Gegenwart. Unsere Gegenwart." Vergangenheit also die nicht vergehen will. Als habe der Osten die Gegenwart überhaupt erst angerichtet, alles wird aufgewühlt, bis auf den Grund... "Es bleibt nur, das Echte, Eigene, Ungeschützte aufzusuchen und ruhig entgegenzusetzen."

 

5. Juni 1990. Ich fahre mit meiner Frau für drei Wochen auf die Insel Procida unweit von Neapel, Janns Stipendium: Gratiswohnen in einem großen Apartment, finanziert von einem internationalen Übersetzer-Kolleg. Fahrten nach Neapel und Ischia. Ischia wie ein Traum, hoch oben über dem Meer die heißen Bäder und Grotten; der Körper wird erfrischt und verjüngt.

 

Doch die Toten, auch die neuen Toten sind da, melden sich überall schon. Auf dem Bildschirm heute der Universitätsplatz in Bukarest. Eine junge Studentin ruft einen Satz hinaus in die Stadt, den Satz, der auch an den Wänden steht: Tod dem Kommunismus; es hallt wider, die Schrift leuchtet unheimlich in roter Farbe, ich weiß nicht, sehe ich in den Schrei hinein, höre ich ihn wie einen schrillen Laut, sehe ich ihn, der tief in die ganze Umgebung, in Bäume, Gebäude, unsichtbar in die Seelen hineingebrannt ist, brennt er in der Iris, tut weh. Höre ich jetzt das Revolutionslied? Die Aufständischen, die vor den Gewehren der Securitate standen, sind noch da. Junge Leute. Viele Studenten. Ich sehe sie vor mir: in Zelten, auf Liegen und Feldbetten, blaß, geschwächt, mit großen schwarzen Ringen unter den Augen, dem Koma nahe, ich sehe die junge Frau, seit 3 Wochen im Hungerstreik, entschlossen, den Tod wieder in Kauf zu nehmen, wie im Dezember 89. Sie sagt mit schwacher Stimme: "Wir werden wahrscheinlich sterben... aber ich glaube an diese Gemeinschaft, für sie habe ich gekämpft und für sie kämpfe ich weiter...für das göttlichste Geschenk, die Freiheit."

Hungern ist ein Mittel, den Körper zu leugnen, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, wie vor den Gewehren während des Aufstandes. Unsinnig und außerhalb der bisherigen Gemeinschaft, ja der Gemeinschaft überhaupt, ist ihr Hungern jetzt; daß diese Umkehrung während des Aufstandes akzeptiert wurde, zeigt die "Un-Normalität" aller in jenen Tagen. Nach der Revolution aber wurden die Hungerstreikenden auf dem Universitätsplatz vom Volk nicht mehr akzeptiert, sie störten. Man wollte "seine Ruhe" haben.

 

Die Toten also, sie leben. Sie haben etwas zu sagen. Die Lebenden finden keine Ruhe. Der Austausch ist da, und die Tiefe dessen, was geschehen muß, wird so jenseits alles Denkbaren erst erkennbar; der Dialog ist auch im Alltag da...

 

Auf einem Colloquium Mitte Mai in Madrid war es die rumänische Dichterin und Ärztin Ileana Máláncioiu noch klar, daß weder die Tschechen, noch die Deutschen diese radikale Erfahrung haben konnten: "Aber auch ihre Reaktion auf das, was geschehen ist, kann nicht mit unserer identisch sein, denn ihre Revolution war eine von Samt, und es sind keine Menschen gestorben! Eines ist es, wenn Panzer über Kinder hinwegfahren, ein anderes, wenn alles stufenweise durch Reformen gelöst wird...Ich habe mich in Madrid bemüht, auch nicht den kleinsten Schatten auf den Aufstand der Jungen fallen zu lassen, auf die Opfer von Menschenleben, denn dort gab es das Risiko, daß jene Zweifel, die der Prozeß des Diktatorenpaares und die Zwielichtigkeit der Terroristen-Frage ausgelöst hatten, nun auch die Meinung über die Revolution erfassen würden: Ob es sie denn überhaupt gegeben habe, und alles nicht nur ein Komplott, ein Staatsstreich gewesen sei; ob nicht auch die Revolutionäre selbst von irgendwelchen ausländischen Kräften in Bewegung gesetzt worden seien... Ich habe versucht zu zeigen, daß diese Jugendlichen gegen Dinge gekämpft hatten, die sie nicht mehr ertragen konnten, und daß sie auch jetzt weiterkämpfen, damit jene, die während des Aufstandes gestorben sind, nicht vergeblich in den Tod gegangen sind, daß sich jetzt etwas im Lande ändert."

 

"Stehende Figuren (Götter Denkmäler Typen) sind als Katalysatoren brauchbar, wenn Erfahrung die Geschichte überholt hat... wenn die Chancen vertan sind, beginnt, was Entwurf einer neuen Welt war, anders neu: als Dialog mit den Toten." (Heiner Müller, Glücksgott).

 

27. April 93. 19 Uhr - Spaziergang durch den Wald, die Felder, das Meer, die Zeitschichten all der Jahre, und doch ist alles da, wie längst vergangen. Schmerzgefühle, als nähme ich Abschied, jedes Ding, der Baum da, die Hütte, der Weiler, unten das Haus im Tal, ja, der Pfad mit Blättern, die Frau mit ihrem Hund Leo, die mich begrüßt, alles ist Trennung. Und ich muß heute lachen über meine damalige Aufregung; auch das schon längst "überholt". Und morgen wird diese Zeile überholt sein, von... Wie beziehe ich dieses X hier ein?

 

Procida, 14.Juni/ 17. Juni 1990. So geschah heute das Furchtbare: DIE GEWALT DER VERGANGENHEIT schlug drei Wochen nach den Wahlen vom 13. bis 16.Juni 90 zu. Nach einer Blitzaktion im Morgengrauen, Verhaftung der Hungerstreikenden und unzähliger Demonstranten, wurde das Polizeipräsidium der Hauptstadt, das Innenministerium, das Fernsehen gestürmt, in Brand gesteckt, jenen, die gegen die Verhaftung protestierten, hatten sich Schläger aus dem Untergrund, Rowdys und Securitate-Provokateure zugesellt. Brandgeruch in der Luft. Brennende Autos, Busse der Polizei gehn in Flammen auf. Das Innenministerium brennt, das Fernsehgebäude ist in ihrer Hand, Fallschirmjäger landen auf dem Dach, befreien es wieder. Molotowcocktails, Steine, Eisenstangen. Aus dem ehemaligen Securitategebäude schießen Soldaten auf die Anstürmenden. Es sieht wie ein Staatsstreich aus. - Aber es kommt noch schlimmer: Mit 27 Zügen werden von der "Front" und auf persönlichen Ruf des Präsidenten Iliescu im FERNSEHEN, Bergleute aus dem Schiltal und aus Craiova, aus Resita nach Bukarest gebracht, weil die Polizei versagt habe.

Zweihundertfünfzig Widerständler waren es, die auf dem Universitätsplatz zelteten, hungerstreikten. Gegen 5 Uhr früh verhaftete sie ein Polizeigreifkommando; es heißt, die ungefähr dreihundert Verhafteten sollten bei der Attacke auf das Polizeihauptquartier befreit werden.

In der Zeitung sehe ich heute zwei Bilder, die zum schlimmsten Gefühl, das mich nicht schlafen lässt, passen: die brutalen Bergleute mit ihren Stöcken und dünnen Peitschen, genau jenen Stöcken und Peitschen, die auch die Securitate benützt hat, sie sitzen auf LKWs, die sie durch Bukarest zur Terroraktion fahren, und einige machen das Victory-Zeichen, andere aber heben die geballte KP-Faust, jene blutige Rose aus Knochen und Fleisch. Schließlich gibt es 277 Verletzte und 7 Tote. Die Stadt wirkt wie ausgebombt. Resultat der Blutnacht vom Mittwoch auf den Donnerstag, 15. Juni 1990. Überreizte Nerven oder Kalkül, ja, Machtkampf? Und dann der Gegenterror der Bergleute, wie eine Privatmiliz der Regierung, dieser Terror ist einmalig in Europa.

Es hagelt Proteste. Die EG. Die USA. Frankreich, England, stellen ihre Wirtschaftshilfen ein. Rumänien ist wieder isoliert. Das Libanon-Bild für Bukarest ist nicht abwegig, nicht nur die Szene sieht so aus, die Straße: brennende Autos, Tote, Verletzte, Ruinen, auch der Hintergrund: Balkan-Absurdität. Mafia.

Der Parteisitz der Bauern- und Liberalen Partei ist verwüstet, Akten, Bücher, Sofas wurden auf die Straße geworfen, die moderne Druckerei vernichtet, eine Sekretärin verprügelt. Und in den Parks, im Cismigiu müssen verhaftete Studenten, bevor sie der Polizei übergeben werden, Zwangsarbeit leisten, verprügelt und terrorisiert von den Bergleuten. "Juden, Zigeuner, Studenten und Intellektuelle" sind der Hauptfeind, der das Land an die "Ausländer" verrate.

 

18. Juni 1990. Seit einigen Tagen fühle ich mich elend. Stress schleicht eiskalt durch die zitternden Nerven, alles, was ich bisher geschrieben hatte, schien Makulatur; die Krise begann am 14. Juni, nach den furchtbaren Szenen der prügelnden Privatmiliz der Regierung in Bukarest, Die Revolution und jede Hoffnung schienen damit endgültig erledigt, jeder bisherige Enthusiasmus war im Ton vergriffen, naiv.

Ich habe oft die Erfahrung gemacht: daß eine quälende schlaflose Nacht, eine Krise, die alles zerschlägt, was man an Sicherheit hatte, auch das Vertrauen in sich selbst - wie eine Heilung ist, und alle inneren Kräfte mobilisiert, ein Engel mit dem Schwert, der uns an-feuert, heiß und kalt, den Müll der Konstruktionen, die wir für Wahrheit halten, verbrennt; je heftiger der Schmerz, umso schöner die Schreibimpulse und Inspirationen schon gleich am nächsten Morgen, Strömen durch die Berührung mit dem hilfreichen Chaos.

1. Mai 1993. In Leipzig gibt es wieder Montagsdemonstrationen, jetzt gegen den den Westen. Eine Überlegung ist es schon wert: waren die armen Toten von 89 überflüssige Opfer? Da das System auf jeden Fall hinweggefegt worden wäre - vom Zeitgeist? Wer ist dieser Gott?

 

 

9. Mai 1993. Ich überlege einen Text über einen Dichter, der nun vom Nathan zum Shylock wird. Kein Nathan mehr, der er meinte gewesen zu sein durch Exil und Leid, nein, er hat nun etwas ANDERES auf der - gespaltenen - Zunge.. Ich plane eine Figur, ein Alter ego. Auch Tabori in seinem neuen Stück "Weismann und Rothgesicht" (Theater Aalen, 50 Jahre Machtergreifung) bringt so eine Figur auf die Bühne: Einen, der völlig von allem entblößt ist, was Leben lebenswert macht, so daß das Sterben als Erlösung erscheint. Wie ausgesetzt auf offenem Meer, nackt, hilflos, todgeweiht im Wasser. Und so entdeckt er völlig vom Selbstbild frei, daß er zwar Schlimmes ertragen hat, aber selbst auch schlimm ist. Nichts mehr hält ihn. Er verteidigt sich nicht mehr, wozu auch. Er wird kleinmütig und böse, unsicher, ohnmächtig und aggressiv.

Ein "umgekehrter Identitätskonflikt" wie bei Gregor Samsa oder Gantenbein: aus totaler Sicherheit ist er plötzlich herausgefallen, aus der Selbstgewißheit, nicht nur aus der Rolle, dem Beruf, sondern er hat auch die Überzeugung und ein Von-sich-selbst-überzeugt-sein verloren, er fühlt nun das Desaster einer fremden - oder ist es die eigene miese Haut? Aus der Haut zu fahren - dazu hat er keine Kraft und keinen Mut mehr. So wird er zum häßlichen Käfer. Verunsicherung total. Und der alte Minderwertigkeitskomplex, das Kind, das verschüchterte kommt hoch. Bisher hat er aus dem Exil, der Sondersituation heraus gelebt. Jetzt hat er nichts mehr zu bieten. Jetzt wird er beherrscht vom Egoismus, denkt nur an sich selbst. Erstickt im "Normalen". Der Tempel ist weg. Jetzt möchte er Doktor oder Professor sein. Und er ist nicht gütig, liebt nicht, schirmt sich ab. Eifersucht und Neid das vorherrschende Gefühl. Kämpft er noch um Güte, hat er noch sein schlechtes Gewissen manchmal, oder hat er aufgegeben, sagt wie andere auch - "da kann man nichts machen" oder "dies ist der Lauf der Welt", alles ist so wie es ist. Nichts bleibt, es bleibt die Ohnmacht, das Aufstampfen oder Abstumpfen, bestenfalls: - kindlicher Trotz. Das Selbstbild ist zerstört. Die Motive für seine Existenz ! Hier etwa, so sind wir angetreten hier, rief er Jann zu. Und einmal auf einem Spaziergang, hatte sie früher einmal sogar gesagt: Ich bewundere deine Konsequenz, wie du dich gegen die Bürger und ihren Lebensstil wehrst. Ist er jetzt selbst einer von denen geworden, gegen die er früher meinte, anschreiben und auch "an-leben" zu müssen.

Zur WILDEN DESILLUSION: Szenen dazu. Einer erfährt die Wahrheit (zufällig?) - Abel schlägt Kain moralisch, Kain ermordet darauf Abel wirklich, denn der beweist ihm seine Miesheit täglich.

Und dann entschließe ich mich doch für eine Kleist-Version dieser gegenwärtigen Stimmung, da wieder nur noch das Endgültige als "letzte Freiheit" im totalen Scheitern jeder Hoffnung, als LICHTBLICK möglich zu sein scheint; doch ists nicht mehr nur wie damals ein Einzelfall, sondern allgemein geworden wie der Tod:

(AB HIER STREICHEN: Um es zu sehen, ließ er sich in Würzburg operieren, er war angesteckt worden in Momenten des höchsten Entzückens, Operation in aller Heimlichkeit, die er immer machte, aus allem, das Verborgene, um die Wahrheit nicht zu stören. Und an Wilhelmine, seine Braut, schrieb er unter dem vernichtenden Einfluß des Königsbergers nach Berlin: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.

Und er hatte es längst erlebt: Es war ja noch früh, auf seiner Reise nach Paris, in die Stadt Napoleons, Paris war lebensgefährlich, er hätte als Spion erschossen werden können, zu früh, mit einem Paß aber nach Potsdam, erkrankte er in der Rheingegend. Hofrat Wedekind, der Wieland davon nach Weimar schrieb, heilte ihn erst nach Monaten, verschollen blieb er lange Zeit; die Günderode, jene beispielhafte Frau, die sich später einen Dolch ins Herz stach, im Wasser, sie hatte ihren Schal mit Steinen beschwert, hatte er kennengelernt . Und Kleist tauchte dann nach Monaten bei Wieland in Weimar auf, schrieb aber erst aus Berlin an Henriette von Schieben, eine Freundin in Dresden, über die GemütsKrankheit und auch die Reise, er sei nicht imstande, vernünftigen Menschen "einigen Aufschluß über diese seltsamne Reise zu geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motive verloren und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere folgen konnten."

Aber es war ja gut, daß er zugab, und Gemütskranke sind weniger gefährlich als Denkende, in Potsdam wars der Freund Pfuel, dort bei seinem Regiment, und sprang aus dem Bett, als Kleist ihn besuchte, meinte einen Geist zu sehen. Weniger tat das freilich der Flügeladjutant des Königs, von Köckeritz, einer der höchst Berechtigten des Scheins, sehr wohl wissend, wie das alles vor sich geht, Motive und die Folgen und so. Den bat Kleist nun um Audienz beim König, mit der Bitte um Anstellung. Und nach diesen war der Besucher ein Vaterlandsverräter und windiger Geselle, zog sein Schnupftuch, schnaubte sich und sagte eiskalt, wer das Ehrenkleid ausziehe, sei nackt und bloß, ein Tier nur, ehrlos, sogar aber einer, der auch dem Zivil den Rücken kehre, das Ausland durchstreife, dito, sich gar in der Schweiz anzukaufen und zum Überfluß auch noch Versuche gemacht, da kann man nur den Kopf schütteln. Was Er denn noch getrieben. Kleist aber berief sich auf den Bericht des Gesandten Lucchesini, der dem König übermittelt haben dürfte, daß er, der Besucher, gemütskrank sei, und seither die Einsicht in die Motive verloren, sagte er verschüchtert. Er hätte eine idee fixe, einen gewissen Schmerz im Kopf, und um die Stirn wie Ameisenheere, taub, und das Bedürfnis nach Zerstreuung sehr dringend gemacht, zurück also in den Unbill des Scheins, daß er sogar in die Verlegung der Erdachse eingewilligt hätte, um den stechenden Schmerz der Konzentration und innern Tageshelle loszuwerden, die sich zu einem fixen Punkt im Kopf steigere. (BIS HIERHER STREICHEN!)

Der General sah ihn staunend an, fragte nur knapp, ob er auch die "Ideen und Schwindeln, die vor kurzem im Schwange waren", und meinte die Revolution, abgelegt? Also so völlig wiederhergestellt sei? Daß alles endlich doch anerkannt:so ist wie es zu sein hat und nicht wie es sein könnte! Wo käme man da hin! Kleist brach in Tränen aus, sagte, er gehöre eher vor ein medizinisches, denn vor ein politisches Tribunal, aber nichts, als eine zurückgebliebene Schwäche sei noch da, und die könne mit Leichtigkeit in einem Bad behoben werden.

Er hatte sogar Glück, der General begann ihm zu glauben, als er wieder vom Kopfschmerz sprach und den Motiven. Dazu kam noch eben zur Tür der Major Gualtiere herein, Bruder von Kleists angeheirateter Kusine, seiner Freundin Marie von Kleist, der im Sommer 1804 als Gesandter nach Madrid gehen sollte; ein kleiner Posten dort wurde dem fast Geheilten versprochen; doch als Kleist gar noch Beziehungen mit seiner Familie aufnahm, die ihm eine kleine Rente gab, erhielt er vom König ebenfalls eine kleine Anstellung im Ministerium, und dann als Diätar bei der Domänenkammer in Königsberg, wo er auch Wilhelmine und ihren Mann Krug traf, und später auch das Marionettentheater spielen ließ, ein anderes Amt. Auf Drängen der Familie aber sollte er auch seine kameralistischen Studien noch zu Ende führen. Doch zog er anderes vor, aus den Umständen, dem Leben, und gesundete nur im Traum und nur auf dem Papier, dort aber sehr heftig, er war sich ja selbst ein Rätsel; Skrupel und Zweifel daran runierten draußen seine Gesundheit, die andern hielt er nicht aus, wenns um den hartgewordenen Schein ging, der ihn fertigmachte. Und er wußte, daß ihn keine Idee beherrscht, er nur unheimlicher Partner des einzelnen Menschen ist, da muß einer festhalten am einzig Sichern, am Gefühl für sich selbst. Und wer aus dem Zimmer geht, wo er das gerade aufschreibt, jetzt, weiß nicht mehr, ob dieses noch vorhanden sei. Und wir schon gar nicht, ob er nun wirklich tot ist oder lebt, immer noch auf dem Papier, wie hier auch.

Wir wollen uns die Begegnung mit Wilhelmine, seiner Liebe, und dem Krug nicht vorstellen; K. bat schon im Sommer den Minister um Dispens von seinem Amte, die Gesundheit sei so zerrüttet, daß er ein Bad aufsuchen müsse; er ging nach Pillau. Obwohl sein Nervensystem überstrapaziert war, die Verdauung nicht funktionierte, schrieb er in aller Einsamkeit und in einigen Monaten "Die Marquise von O" und "Michael Kohlhaas", beendete den "Zerbrochenen Krug", machte den "Amphytrion" druckreif, schrieb an der "Penthesileia" und schloß das "Erdbeben von Chili" ab. Und die Krise legte sich sichtlich, je mehr er arbeitete, dem Rätsel seiner Existenz auf der Spur, von der andern Seite also, so wie er davon überzeugt war, daß eine Umkehr nur helfe, da das Paradies sozusagen verriegelt sei, und bewacht, und nur vom Ausgange her vielleicht ein bißchen offen, wenn man plötzlich und unerwartet umkehrt, sich umwendet und schaut, wir kennen ihn ja noch nicht, um ihn doch noch zu erreichen, der immer nur hinter sich hergeht, verspätet. Und so war, was er schrieb, diese Vorübung für den Ausgang, die erlebbar gewordene Maske des Todes. Sonst Leben sowieso ein Ereignis mit blindem, aber tödlichem Ausgang, wie immer gelebt oder verschoben.

Erst jetzt fand er den Mut, der Einladung Krugs zu folgen, Wilhelmine zu sehn, die er bisher gemieden; und las dann einer kleinen Gesellschaft aus diesen Vorübungen, aus dem Manuskript vor. Da gab es adlige Offiziere, höhere Beamte, Professoren mit ihren Damen, ein gesellschaftliches Ereignis, Salon. Kaum Regierungsräte oder Polizisten. Aber wer weiß und kennt überschaubare Innenleben, die kommandierten nur sind übersichtlich, alles schon plausibel geordnet, was zu tun war, Gottes Gesetze und die des Königs festgelegt, der Eine absent, nur jeder dachte an das Eine, und die Damen schön aufgeputzt. "Die Marquise von O", wie sie in der Ohnmacht geschwängert wird, nicht vorlesbar, da es den Schein zu wahren galt, so wichtig, von dem man, in dem man nur leben konnte, und der "Kohlhaas"? Was da in den Hirnen vorging während der einsamen Lesung? Ein Roßhändler Hauptheld und der Junker ein Verbrecher und Räuber? Unmöglich! Kohlhaas, das Recht? Der Plebs hat doch Unrecht zu haben, und er hat Unrecht, da gibt es kein Pardon, wer zügellos da unten mit seiner Phantasie wühlt wie in einem After, und das Untere, der Plebs also, köpft nun gar die Adligen und Könige, furchtbare Krankheit muß den da noch umtreiben, ist also nicht wieder hergestellt. So dachten die Damen und Herren.

Das war 1805 gewesen; er lebte noch sechs Jahre bis zum 21. November 1811; im Feuerschein verbrannte er fünfhundert Seiten seines Opus´. Das Amt weggeworfen, die Zeitschrift verboten, der Urfeind Napoleon überall an der Macht, der König sein Vasall, Kleists Dramen wandern von Bühne zu Bühne, verhöhnt, vom Publikum oder vom Directeur, welch Horror, lässig abgetan oder ausgepfiffen, seine Bücher von Verlegern zurückgewiesen, Goethe schneidet ihn, die andern kennen ihn kaum, und dann: auch die treue Ulrike verläßt ihn dazu noch. Nichts und Niemand, alles gewesen. Ihm bleibt nur die letzte Freiheit: Nicht jeden Schlag ertragen soll der Mensch. Und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken. La tragique aventure am kleinen Wannsee, sie machte ihn weltweit bekannt. Und wurde auch auf gut Preußisch, der Tag, in Akten aufbewahrt durch Hoffiskal Felgentreu, Richter von Heinersdorf und den Teltower Kreisphysikus, amtsärztlich der Obduktionsbefund, der uns genau beschreibt die Innere Beschaffenheit seines Leibes, die äußere kennen wir kaum. Das war also nach dem 21. 11.

Am 20. war er abgesprochen schon mit der neuen, der Todesgeliebten, Henriette Adolfine Vogel, die, unheilbar krank, das Angebot gemeinsam zu sterben, ernst genommen, ja, betrieben, anders als der Freund Pfuel oder die über alles geliebte Kusine Marie von Kleist, die ihm die Schwester Ulrike ersetzen mußte, da Ulrike ihn verraten, auf Betreiben der Frankfurter Verwandtschaft, die ihn fallen gelassen hatte, er nun, ein Gescheiterter, ja, Liebste Marie, schrieb er ihr nun, saß in einem Zimmer des Quartiermeisters Müller, Mauerstraße 53, am selbigen Morgen, Heinrich von Kleist: Liebste - Marie, von der ausgerechnet an diesem Tag noch Briefe kamen, der 20.! "Liebste - Marie. Ist das wahr? Gibt es eine Liebste im Leben und eine im Sterben... Henriette ist bereit mit mir zu sterben. Sie versucht nicht, hilflos mich auf Erden zu beglücken, was bei den Zuständen der Welt unmöglich ist. Nein. Sie begreift meine Traurigkeit als eine höhere, im Diesseits unheilbare...Das Versprechen miteinander zu sterben, der Tod ist die Macht, die uns aneinander bindet." - Ja, ja, eben um des Todes willen hatte er Marie verlassen. Sollte er versuchen, ihr alles zu erklären, doch stand es nicht schon in seinen Stücken. Stücken? Ha. Diese Sorge Nachruhm, die Hure. Und hoffte diesem miesen Dasein einen Fetzen Unsterblichkeit abzuringen. Schreibend lebte er, schlich sonst nur in der Leere, abgestumpft umher, die elendeste Kreatur auf Gottes trübster Welt:

Ich muß zugeben, ich war sehr empfindlich, so daß mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzten. So wollte ich damals lieber zehnmal den Tod erleiden, als es noch einmal wieder erleben, und das klingt ja jetzt kleinlich, aber jeder weiß, wie am meisten Nahestehende verletzen können, denen man alle seine Kräfte durchscheinend halten möchte, und wie ich das letztemal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen meinen beiden Schwestern, besonders als die alte Wackeren dazukam, empfunden habe; die Verachtung, oder wie sehr sie zumindest mich für ein nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft ansahen, für einen, der nicht gehalten hat, was er versprach, gescheitert, unfähig auch, ruhmlos, das war für mich überaus schmerzhaft. So wenig ich davon gesprochen habe, so gewiß ist es, daß es einer meiner herzlichsten und innigsten Wünsche war, ihnen einmal, durch meine Arbeiten und Werke, recht viel Freude und Ehre zu machen.

Freizusein, inmitten der Unfreiheit, das war Kleists so in der absoluten Tat verwirklichte Unmöglichkeit; am 20. November, Mittwoch Vormittag also, in einer gemieteten Kutsche zum Gasthaus Stimming bei Potsdam am Kleinen Wannsee, wo Henriette Vogel und Heinrich von Kleist speisten, sehr vergnügt zusammen waren, tranken Kaffee im Freien, und als dann der Abend kam, die letzte Nacht hereinbrach am Kleinen Wannsee bei Potsdam in Stimmings Gasthof, schrieben sie bei Kerzenschein in ihren Zimmern Abschiedsbriefe.

(ZU STREICHEN: so Henriette an die "überaus geliebte Manitius", ihre Freundin: "Erschrick nicht, teure Frau, wenn ich Dir sage, daß ich sterben werde, ja, daß ich heute sterben werde. - Die Zeit ist kurz, die mir noch übrig ist, deshalb beschwöre ich Dich nun bei unserer Liebe, mein Kind, mein Einziges zu Dir zu nehmen. Du wirst ihm ganz Mutter sein und mich so unaussprechlich beruhigen. Über meinen Tod werde ich Dir jenseits mehr Auskunft geben können.- Lebe denn wohl, meine liebe, liebe Manitius, Vogel wird Dir wahrscheinlich Paulinchen selbst bringen und erzählen, was er davon begreifen kann... Deine bis in alle Ewigkeit...Henriette."

Und Kleist schrieb an seine Stiefschwester Ulrike: "Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen andern, meine teuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben... wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in den Kräften einer Schwester, sondern in den Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl: möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß. Dein Heinrich... - am Morgen meines Todes." - BIS HIERHER STREICHEN!)

War dies schon das Morgengrauen? Sie schrieben die ganze Nacht, heißt es, so sagen die Zeugen, da brannte die Kerze im Fenster, die ganze Nacht.

"Meine Liebste Marie, wenn Du wüßtest, wie der Tod und die Liebe sich abwechseln, um diese letzten Augenblicke meines Lebens mit Blumen, mit himmlischen und irdischen, zu bekränzen, gewiß, Du würdest mich gerne sterben lassen. Ach, ich versichere Dich, ich bin ganz selig... - Ach, meine teure Freundin, möchte Dich Gott bald abrufen, in jene bessere Welt, wo wir uns alle, mit der Liebe der Engel, einander ans Herz drücken können. Adieu."

Sie bestellten noch Kaffee in der Nacht, Kerzen, klingelten den Hausdiener aus dem Schlaf. Denn diese Nacht, die letzte, ist die einzige Nacht, wo er lebte. Alle Farben, alle Klänge, jede Berührung nahm er übergenau wahr. Eine Schale war aufgebrochen, die immer zwischen ihm und der Welt lag. Hätte er diese Freiheit doch immer schon besessen! Diese Freiheit vom Urteil der Menschen, das ihn viel zu sehr bestimmte, die Freiheit von den unbarmherzigen äußeren Zwängen, die Freiheit von der rastlosen innern Qual.

Ach, Kleist, komm fang mich, wenn du kannst, ich bin so leicht, daß ich dir gleich entschwebe. Fang mich und du hast einen Wunsch noch frei.

Jetzt werde ich dir entfliehen, obwohl ichs niemals kann.

Bis zwanzig hast du nicht gezählt, und ich habe den Zipfel deines Halstuches um meine Finger gewickelt.

Ich kapituliere in Ehren.

Mein teurer Sünder.

Wie schön du bist Henriette.

Mein Lieber, es ist Zeit zu gehen.

Sie bezahlten beim Wirt, Gasthaus Stimming am Wannsee, noch die Rechnung, erbaten einen Boten für Briefe nach Berlin, aßen und tranken auf der Anhöhe noch Kaffee. Dann gingen sie zusammen fünfzig Schritte weit am Seeufer entlang. Man hörte einen Schuß, kurz und trocken, auffliegende Vögel, Wind, ein zweiter Schuß, auffliegende Vögel. Kleist hatte Henriette durch die linke Brust ins Herz geschossen, er selbst sich durch den Mund in den Kopf, beide waren sofort tot. Kleist war 34 Jahre alt, Henriette 31. Und an der Stelle, wo sie gestorben waren, wurden sie zusammen ins Grab gelegt. Auf dem Grabstein steht nur sein Name und zu lesen ist: "Heinrich von Kleist, geb. 10. October 1776, gest. 21. November 1811. Er lebte sang und litt in trüber schwerer Zeit; er suchte hier den Tod, und fand Unsterblichkeit."

 

11. Mai 1993 ... das blendende Licht schimmert durch, und dann diese enorme Flucht von Spiegelsälen, deren Wände silbriger und silbriger werden, und ich geh jetzt dem äußersten Punkt zu. Ich weiß, ich schlafe nicht, seh die weiße Wand noch, meine Hand, doch sie wird unwirklich, als gäbe es sie nicht, die Flimmerhärchen ganz groß zwar, nah, doch sie sind ja wie im Traum. Und ich weiß, auch sie können mir nichts anhaben, sie müssen dort zurückbleiben, wo der kleine Vernehmer ist, dieser Hund, der schallend lachte...

Ich lese in den von zu Hause mitgebrachten Gefängnistagebüchern, es ist die Halluznation eines im Bunker eingesperrten gefolterten und gequälten Menschen. .

 

12. Mai 93. Besuch bei Berman Fischer. Ich denke an Freuds "Traum eines Gefangenen". Berman kannte Freud. Freud war ein "einfacher Mann", als Berman ihn einmal in der Berggasse in Wien besuchte, spielte Freud die ganze Zeit mit den Kindern.

19. Juni 1990. Abschied von Procida. Polypen-Essen am Strand in einem kleinen Lokal, eine Terrasse direkt am Wasser. Die Aura des Sommers ... mit nackten Füßen im Sand, leises Plätschern des Meeres, Sonnenuntergang; wir waren in Ischia gewesen, hatten in den Thermen gebadet, fühlten die wohlige Müdigkeit wie Samtblei in den Gliedern; es gibt diese Nähe noch, dachte ich. Es war "gemütlich", und Annamaria Galli, die Leiterin des Übersetzerkollegs, spricht dazu noch begeistert von meinem Buch ("Vaterlandstage"), das sie gelesen hat. Das sei nicht so glatt erzählt, wie die meisten deutschen Romane, meint sie, sondern ein "Assoziationsgeflecht". Dann aber kommt eine harte Kritik: nach der Lektüre habe sie den Autor gerne kennenlernen wollen, jetzt aber, nachdem sie ihn kenne, enttäusche er sie. Ich sage betroffen: Mündlicheit ist Verblödung! Nur die Schrift transportiert Wahrheit, beim Reden mischt sich jeder ein in die Intelligenz der eigenen Sprache, stört und zerstört sie. Und Kleist? fragt sie ironisch.

 

20. Juni 1990. Wo stehe ich mit meiner Schreibe, mit diesen essayistischen Einlagen zum Tagebuch? Ich versuche andauernd den Ereignissen vorzugreifen. Doch genau dieser Vorgriff, diese Faszination für kommende Wahrheit, die ja dort steht, wo sie stehen muß, macht den Essay, auch bei Benjamin oder Musil und den Frühromantikern (alle in Zeiten des historischen Kollapses und der Revolutionen) auch heute wieder aktuell. Die "Handlungshemmung" wird Stil, lese ich bei Karl Heinz Bohrer ("Plötzlichkeit", Suhrkamp, S. 25): "Scharfe Witterung für Tendenzen des neuen Zeitalters! Sie nahmen aber nicht wirklich parteisch Anteil an ihnen. Unentschiedenheit bei antizipatorischer Geisteshaltung, macht den Essay." Nähe zum Geschehen tötet das Denken, macht lahm. So geht es uns heute, den Zeitungslesern und Nachrichtenidioten. Das Gute aber, wenn auch Schizophrene dazu: diese essayistsiche "Stimmung".

19. Juni 1993. Ich blicke zurück, und ich sehe die Parallelen: Was Italien ruiniert, wird auch mein ehemaliges Land levantinisch ruinieren! Gespräch mit Francesco Donfrancesco. Was hat Italien ruiniert: die Schmiergeldhierarchie (Geld, Geld, Geld!) Tangenti. Das Türkische: BACSIS. So wurde einem Unternehmer eine Straße zu bauen aufgetragen, die gar nicht nötig war. Oder ein Unfähiger erhielt einen Professorenposten, nur weil er Parteimitglied war oder Mafia-Freunde hatte. Jede Effizienz wird so ruiniert, alles lahmgelegt. Ähnlich wie im Osten.

 

28. Juni 93. Gespräch mit Mario Pezzella, Hochschullehrer in Pisa. Die Geständnisse in Schauprozessen seien verständlich, sagte er: Man habe sich schuldig gefühlt.

Ich stimme zu: - In der Stalinzeit habe ich mich in meinem Ostleben auch schuldig gefühlt, sagte ich: ähnlich wie Tasso der Kirche gegenüber, weil er nicht glauben konnte. Seine Selbstanzeige. Sein Wahnsinn. Ich kann das verstehen. Im Kommunismus ist die stärkste Gewalt das mißbrauchte, fehlgelenkte Glaubensbedürfnis. So hab ich mich schuldig gefühlt, weil ich meine Zweifel hatte, weil ich das "Absolute", also die soziale Revolution nicht engagiert genug mitgemacht hatte, mich letztlich unfähig gefühlt hatte - auf allen Ebenen, das Unvollkommene am Staat, das Unrecht, die Verhaftungen, die Securitate usw. mit "Klassenkampf" und notwendigem Kampf wider die "Feinde" zu rechtfertigen, war mir doch genau bewußt, daß diese "Feinde" auch in mir selbst waren, ja, meine Substanz ausmachten. FEIND also, der ich wirklich war! So schloß sich ein diabolischer Zauberzirkel. Und ergab ein seelisches Inferno. Aber es war schlimmer: ich wagte es mir gar nicht zu erklären, und schon gar nicht, es mit jenem hehren Ziel zusammenzubringen, sondern haßte diesen Staat und seine Verbrecherpartei insgeheim bis in meine Träume; das Unbewußte war davon infiziert. Diabolische Erklärungen und Absicherungen dieser allen gemeinsamen Komplexe lagen in der Ideologie bereit: und der Zauberzirkel schloß sich wieder: meine Zweifel, meinen Haß führte ich dann auf meine "ungesunde Herkunft" zurück, diabolisch genug: alles was an biographischer Schwäche, an persönlicher Schwäche da war, zu Gunsten des Systems und für Schuldgefühle eingesetzt werden konnte. So wars auch bis hinein in die Verstrickungen, daß ich als solch ein "idealistischer" Stalinist Kollegen bekämpfte, da sie dem aufgezwungenen Schema gemäß nicht "richtig dachten" - aus Herkunftsgründen, wie ich meinte. Dabei sprachen sie aus ihrer Substanz heraus, ich aus meinem aufgesetzten diabolischen Gedankengebäude, das wir auch noch "Überzeugung" nannten, und wo ich also ein "Überzeugter war! Alles nur ein seelischer Zwang, denn eigentlich war ich ein unpolitischer Mensch, wollte in mich selbst und in mystische Literatur- Phantasien über das Rätsel des Daseins versinken, dort fand ich meine Schwingungsfähigkeit wieder, die vom Alltag gestört und unterbrochen wurde, daß mich Ekel überkam. Doch hier entstand dann wieder Schuldbewußtsein, weil ja all diese privaten Träume als bindungslose Dekadenz hart abgelehnt wurden. K.s Verhaftung in Freiheit, die unsichtbare Verfolgung, war ein genaues Abbild meiner Lage.

- Doch im Westen ist es umgekehrt, sagte Pezzella: da ists der "bürokratische" Reflex in K., der alles abblockt, da jeder ein Komplice mit dem innern "Verbraucher"-System ist, das alles aufbraucht und vernichtet, es läßt schmerzlos und leer den innern Prozeß nicht zu, der eine Selbstauseinandersetzung, ein Gericht ist! Alpträume, seltsame absurde Begegnungen usw. treten nur solange sich die Psyche noch dagegen wehrt in Träumen auf.

25. Juli 1993. Joachim Kaiser in der Südddeutschen Zeitung über Reiner Kunzes "Tagebuch eines Jahres": prinzipiell müßte ein Tagebuchschreiber bei einem "literarischen Tagebuch", falls nicht genug erregende "private Erlebnisse vorhanden oder ein unerschöpflicher Reichtum an kulturkritischen Einsichten" da seien, eben "strukturbildende Elemente", etwa "Handlungsstränge", die das ganze durchziehen, einbauen; Notizen sollten dramatisch angeordnet sein und zugespitzt werden, schließlich sollte etwas da sein, womit sich der Leser in Sympathie verbündet, woran er zumindest Anteil nimmt. Weiter vergleicht Kaiser dieses neue Tagebuch Kunzes mit den "Wunderbaren Jahren", wo Druck und Spannung des Erlebten im Osten eben von vorneherein alles dramatischer, interessanter auch unmittelbar allgemeingültig und historisch werden ließ. Im "rührigen" Westen gibt es nur noch Privatheit oder Abrechnung mit Vergangenem, einer Zeit, wo das eigentliche Leben gewesen war, und auch für immer geblieben ist: die Gegenwart. Erst 1989 brach eine neue Dramatik, die die alt war, auf.

 

26.Juli 1993. Ich beschäftige mich mit Louis Althusser, dem französischen Kommunisten, der mir wie ein Beispiel für unsere heutige innere Lage vorkommt. Ich habe mir seine Lebens-Beichte "L`avenire dure longtemps" gekauft. Mario Pezzella hat mich darauf aufmerksam gemacht. Giuliana K., die Florentiner Analytikerin, schreibt über den unglücklichen Franzosen... wie eine Rache am Ideologen ist der Aufstand des KÖRPERS.

 

...er habe noch nie eine Frau geküßt (mit dreißig!) und sei überfallen worden von Gier und Geilheit, und da hätten sie dann gevögelt, eine ganz neue Sache sei das gewesen, überraschend und gewaltsam. Doch als sie gegangen war, da habe sich ein Abgrund an Angst geöffnet, der sich nie mehr schloß.

Am nächsten Tag da habe er Hélène angerufen, um ihr in aggressivem Ton zu erklären, daß er nie mehr die Absicht habe, mit ihr zu schlafen. Doch es sei zu spät gewesen. Ein Gefühl des Ekels, taub und stumm, doch gewalttätig habe in ihm gearbeitet, und viel stärker als jede mögliche Moral oder irgendwelche Erwägung der guten Sitte oder Rest der Erziehung und dergleichen sei das gewesen, und hörte nicht mehr auf. Die Tage vergingen und die Depressionen nahmen zu.

So kam es zu einer längeren Zwangseinweisung mit Elektroschocks, die der berühmte Analytiker Pierre Male verordnet hatte. Und da sei alle zwei Tage der schnurrbärtge, "Stalin", der, kleine Psychiater mit seiner Elektrisiermaschine gekommen, und habe ihm diese Spasmen appliziert, eine Art epileptischer Trance, furchtbare Zuckungen und Aufbäumen des Körpers mit Schaum vor dem Mund. Ein kleiner Tod auf Raten.

In Saint Tropez da hatte ihn ein Freund mit einer jungen Schönen besucht, dem habe er ein Manuskript zum Lesen gegeben, er aber habe sich auf das Mädchen gestürzt, sie in Gegenwart von Hélène geküßt und ihr Bauch, Brüste und Scham gestreichelt, sie habe es sich halb erschrocken, halb geschmeichelt gefallen lassen; dann habe er sie an den Strand eingeladen, in eine kleine Bucht, und die sei an dem Tag völlig leer gewesen, da an jenem Tage ein kräftiger Westwind die Leute vertrieben und das Meer aufgewühlt hatte; er habe sie aufgefordert sich nackt auszuziehen; und er selbst nackt, sei, vor Hélènes Augen ins stürmische Meer hinausgeschwommen, dort mitten in den Wellen habe er die Neue, die sehr entgegenkommend und noch geiler war als er, gefickt, und sie seien dann weiter hinausgeschwommen, bis sie dann plötzlich erkennen mußten, daß eine Strömung sie weiter hinauszog; Hélène aber sei am Strand schreiend und sich die Haare raufend auf und abgelaufen.

Zwei Stunden kämpften sie mit den Wellen, und nur dem jüngeren und kräftigern Mädchen, die eine gute Schwimmerin war, hatte er sein Leben zu verdanken; nun, er war schließlich über sechzig Jahre alt.

Am Strand war Hélène nicht mehr zu finden, der Hafen weit, die beiden gingen sie suchen, fanden sie dann in Tränen aufgelöst und wie eine Alte dahocken, zitternd und sichtlich in einer hysterieähnlichen Krise. Er habe versucht, sie in die Arme zu nehmen, sie zu streicheln, zu beruhigen, nichts, sie blieb wie ein Stein stumm und reglos in seinen Armen hängen, dann aber sei sie plötzlich erwacht, und habe ihn angeschrieen: Du Schwein, du Fickschwein, du Nichtswürdiger, Elender usw. Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen. Rühr mich nicht an, oder ich schrei um Hilfe, hau ab mit deiner Hure, ab, fort. Und heulte wieder und schrie los. Er habe das Mädchen fortgeschickt, sie auch nie mehr wiedergesehen. Erst nach zwei Stunden sei sie, Hélène, wieder zu sich gekommen und endlich mit nach Hause gekommen. Ihm aber sei es klar gewesen, daß sie keineswegs Angst gehabt habe, er könnte von der Strömung mitgerissen werden, sondern, sie habe eben gemerkt, daß er sie mit seinen Provokationen habe töten wollen! Nun sei da aber noch etwas anderes in jenem versteinerten, zum Wahnsinn schönen von Schmerz transparenten Gesicht gewesen, ja, alle Toten, die im Krieg von den Nazis umgebracht worden waren, schienen da mit aufzuscheinen, als wären auch sie jetzt gekränkt worden, unerträglich sei dieser Effekt gewesen, dieser enorme Vorwurf in einem scharfen unbegreiflichen Ausdruck, einer Art "Arbeit im Negativen", die nur die des Todes sein konnte, sei in dieses Gesicht der Jüdin Hélène eingeschrieben gewesen, in dieses Gesicht der schon Toten, die ihn liebte. Das sei nicht zu ertragen gewesen, das könne man ihm ohne weiteres glauben, das sei mehr, als ein Mensch ertragen könne: Die Erschossenen also in ihren Augen, sie schienen ihn anzusehen, und er starrte auf diese Pupille mit dem Spiegel darin, dieser Stein, ja, Wesen ist was gewesen ist, hatte Hegel schon gesagt.

Denken aber habe er schon lange nicht mehr gekonnt: DENKEN. Diese Anmaßung sei erledigt gewesen. Er behauptete, in seinem Denken drücke der Philosoph, so habe es Marx gesehen, die theoretische Beziehung zu sich selbst aus. Und nun gab es keine mehr. Der Selbstvater war tot. Denn so einer sei er auch gewesen. Da sogar die größten Philosophen ohne Vater geboren seien, so sei jeder sein eigener Vater geworden, wie er selbst ja übrigens auch. Selbstvater, Eigenvater usw. , um so die Herrschaft über alle Dinge und Situationen zu haben, Selbstbeherrschung zählte er nicht auf, sondern wie bei Cartesius, Kant oder auch Platons synoptikós die Bedingungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit von allem, also der TOTALE dieser Welt, sagte er, ja aber in erster Reihe alles, was ihn selbst betreffe, und natürlich eben die Beherrschung mit Hilfe der Sprache, sagte er, also als wäre unsereiner ein allmächtiger Vater und auch verantwortlich für alles, was geschieht und geschehen kann, und daraus werde eine Eigenwelt gebaut, die hoffnungsvoll ist. Und das war jetzt aus.

 

27. Juli 1993. Doch die Fortsetzung davon , die ist gar nicht aus, die ist äußerst konsequent, die ist auch gebaut, sogar berührbar, und sie ist anfassbar, auch bei ihr gibt es den totalen "Selbst-Vater", freilich minus Hoffnung und Moral:

Ich erinnere mich an einen Science-Fiction-Film, der bald Realität sein wird, und der mir Schrecken eingejagt hatte: Eine Familie, dann ein junges Liebespaar war da zu sehen gewesen, in unterirdischen Wohnungen eingeschlossen, konnten sie sich nur auf Entfernung mit "Datenhandschuhen" und in "Datenkleidern" und auf Glas-Distanz berühren, nie körperlich, und sie sahen sich nur noch auf einem riesigen Bildschirm, der nahm eine ganze Zimmerwand ein, es war eine faßbare TOTALE: Fernsehhalluzination, und sonst Nichts. Ende des Körpers. Im häuslichen und beruflichen "Cockpit", der "Luxuszelle" eines telebewußten Solipsismus - der Krüppel Mensch. Wäre nicht hier die Aufgabe der Literatur, anzugehen wider diese furchterregende "Utopie", die Wirklichkeit zu werden droht? Die Nähe, diese hautnahe Berührung, ich greife in die Maserung des Travertintisches, fühle Ritzen, Kühle rauh an den Fingerkuppen , diese Nähe zu bewahren, aufzubewahren, zu retten?

Agliano, 8.Juli 90. Der "Ameisenhelm" um den Kopf, ein Ring der Taubheit. Janns Eltern sind hier. Ausflüge zu Michelangelos Marmorsteinbruch. Zu Ariost in Castelnuovo/ Garfagnana. Und zum Sassi-Tal, wo Rudolf Borchardt eine Hütte hatte, und wo er gemeinsam mit Hofmanns- thal Berg- Gras- und Blumenräusche im Frühjahr erlebte. Ich erzähle von Ariost, der so zerstreut gewesen war, und immer nur im Kopf existierte, auf die Füße nicht achtend, daß er, so heißt es, einmal in

Hauspantoffeln und zu Fuß nach Modena gegangen sei. Nach Stunden erst bemerkte er es, und kehrte um.

Agliano, 9. Juli 1990. Tägliche Arbeit an den Bildmeditationen zum dritten Sixtina-Band, eine Dokumentation der Renovierungsarbeiten. Daran halte ich mich jetzt fest, das Alt-Gesicherte über die Verzweiflung am Glauben beim Buonarroti springt mir helfend bei. Ich bringe noch die letzten Korrekturen am letzten Bild der Sixtina an: Jonah. Und dann bin ich "entlassen" am leeren Schreibtisch. Ich hatte mich an diesen "Sinn" vier Jahre lang geklammert.

Agliano. 15. Juli 90. Wieder diese schlaflose Nacht, weil ich beim Schreiben nicht weiter weiß. Aber vielleicht war die Ursache für diesen Zustand auch Jann´ s Trauer, die sich übertrug; sie mußte Gisela,ihre kranke Mutter nach Deutschland ins Krankenhaus bringen.

 

Agliano, 22.Juli 90. Helga Königsdorf in der ZEIT: schreibt über den spürbaren historischen Abschied. Daß es vieles, etwa die DDR, das Westgeld, die alte Bundesrepublik usw. nicht mehr gebe. So auch keine Fata Morgana mehr, also keine Hoffnung, weil alles gelöst zu sein scheine, ohne daß wirklich etwas gelöst ist; eher sei alles übergangen worden; und die Wirklichkeit nun viel grauer als der Traum von ihr. Auch kein Widerstand scheint mehr möglich zu sein , weil jetzt wirklich alles so ist, wie es ist.

 

Ligurien: Portovenere, 30./31. Juli 1990. Das alte Seeräubernest mit der steilen engen und vielfarbigen Häuserfront am kleinen Hafen. In der Nacht, ich lag halbnackt in der Kabine neben Jann, da hatte ich plötzlich wieder diese Zwangsvorstellung, nicht aus meinem Körper herauszukönnen, in ihm eingesperrt zu sein, - wie dieses Bett auch, wie jeder Baum, wie Jann, wie unser kleiner schwarzer Hund; es ist jedesmal entsetzlich. Ein Bekannter aus Pistoia leidet darunter, daß er im Körper festsitzt, und hat mich schon vor Jahren auf diesen tödlichen Gedanken gebracht; seither werde ich ihn nicht mehr los. Was ist schlimmer, diese Fleischzelle oder der Tod: - als Befreiung? Die Angst lebendig begraben zu werden oder in einem engen Schacht, einer Betonkammer oder einem Rohr, einem Brunnenschacht zu ersticken, hat sicher mit dieser alten verdrängten Körperangst zu tun. Wir könnten nicht leben, würden wir dieses Bewußtsein, im Fleisch unentrinnbar eingemauert zu sein,nicht dauernd vergessen.

 

Ich holte den kleinen Hund ins Bett, preßte sein zottiges Fell an meine glatte Haut, als ließe sich diese aufreißen und als könnte ich so verschmelzen mit etwas das draußen ist; ich ließ den Gedanken in mir kreisen, daß doch alles aus den gleichen Elektronen besteht, der Körper nur ein Sieb ist, die feste kompakte Körpergestalt nur eine Täuschung, ein Phantom; doch auch diese Übung beruhigte mich nicht, es war ja gerade der Gedanke, das Bewußtsein bis hin zur Übelkeit und zum Schwindel, die mir zusetzten. Dieses Bewußtsein, das freilich erst einsetzt, wenn sich die gewohnte Vorstellung auflöst, daß ein Körper ein Körper, ein Hund ein Hund, eine Frau eine Frau ist, wenn alles wie bei Geisteskranken unheimlich und unbekannt wird, Namen nicht mehr schützen, wird alles so überreal und ist Haut und Knochen. - Ich dachte, es ist ein vergessenes Wissen, daß wir ins Fleisch gefallen sind, anderswohin gehören, und daß solche Angstzustände uns näher ans Erwachen bringen.

 

1.August 1990. Solche Erfahrungen, wie diese Angst gestern Nacht zeigen, daß es keine Möglichkeit gibt, über den Augenblick hinaus etwas Sicheres zu sagen ... Und ich dachte, das Fragment, der Aphorismus, das Tagebuch, das Denkbild, vielleicht noch die Kurznovelle einer "unerhörten Begebenheit" könnten die wichtigste ästhetische Kategorie des chockartigen "Gegenwartspunktes" für öffnende Schreckerlebnisse sein, durch die der erlebte Augenblick, sogar der gefährliche Augenblick, die Umkehr als einzige Garantie der Erkenntnis und Erfahrung ankündigt. Selbsterlebte Form eines rätselhaften Verlustes von gewohnten Namen. Und jener Schrecken von gestern Nacht schien mir wie ein Muster für das, was nun alle bestimmt und Geschichte macht. Wie werde ich aber dazu frei, ohne das andere Gedächtnis, das in der Sprache gesammelte, aufzugeben? Denn meine NIEDERLAGE als Begriffsgläubiger steht fest.

 

In einem Aufsatz über Eliade (In: "Die Mitte der Welt", S. 244), spricht Constantin Noica "vom Geist" des Erlebens und des Abenteuers in Eliades Vorstellung des "Sakralen", das an jenem Punkt beginnt, wo das gewöhnliche moderne Bewußtsein scheitern muß; Hegel hats beschrieben, daß die erste Katastrophe der sinnlichen Gewißheit eintritt, wenn das Konkrete sich im abstrakten Namen auflöst und aufhebt, der Mensch "glaube" nicht mehr an die Realität der Früchte, die er ißt, etwa Getreide im Brot. Denken wir dabei an das Abendmahl, der Protestantismus "glaubt" nur noch an das Symbol, nicht, daß da wirklich ein Geheimnis ist. Eliades Vorstellung vom Sakralen aber beginnt mit dieser Wiederentdeckung des Elementaren am Bild, das freilich vom Orthodoxen und Eliades Lehrer Nae Ionescu ausgeht.

 

27.Juli 93. Marciana Marina/ Elba. Gestern im Hafen. Abends viele Deutsche. Erstaunlich, wie viele Nationen unterwegs sind; inzwischen Spanier, Polen und Tschechen, nun auch Ostdeutsche. Beobachte das Treiben der Ankermanöver und Abendvorbereitungen. Schön das weite Wasser. Der Berg ist von Gewitterwolken schwarz.

 

Nachts höre ich andauernd den Namen: Raul Gardini, Raul Gardini und sehe Bilder vor mir. In der Zeitung Raul Gardini auf seinem Segelboot "Moro di Venezia", Raul mit Andreotti, mit seiner Frau Idina Feruzzi, die ein altes intelligentes Hexengesicht hat, mit seiner Tochter Eleonora. Er, immer lachend, ein Partylöwe und Schönling, markanter Mann mit vielen Frauengeschichten. Er hat ein Agrarimperium in Argentinien, dafür bekam er den Dr. hon. causa Agraria der Universität Bologna. Man sieht ihn mit Doktorhut und Mantel. Er war ein Abenteurer, hat Milliarden an Bestechungsgeldern an Parteien gezahlt, so seine Geschäfte gemacht. - Der ost-ähnliche Umbruch in Italien, eine Revolution von oben freilich, fordert seine Opfer: Gardini hat sich mit einem Revolverschuß in seinem Arbeitszimmer ins Jenseits befördert, wie der Butler, der ihn morgens sterbend auf den Bett liegend fand, berichtet. Ein anderer Industrieller, der über ein Monat in der Isolationshaft lag, hat sich mit einer Plastiktüte, die er sich über den Kopf stülpte und zuzog, das Leben genommen; all diese Fälle sind Resultat der "neuen Zeit", in Italien: Kampf gegen die Mafia und die unsägliche Tangentopoli.

 

Öffnung. Doch in welche Richtung? Es scheint zu fallen, was nur konstruiert ist, auch konstruierte Macht, sogar konstruierte Humanität , nicht nur im Osten: Lügen der Politik, der Wirtschaft, die mit der Mafia "arbeitete" und sich hochmoralisch gab. Also kommen wir zu einer elementaren Wirklichkeit und sogar Wahrheit und müssen diese aushalten?

 

Für den Kroaten Vladimir Biti, Professor in Zagreb, ist "Geschichtsbemächtigung", also das Elementare auf jeder Ebene, das Elementare auch in der der Geschichte nach 89 in Bewegung gekommen. Und er zitiert E. Lämmert/ P. Glotz: "Die Zukunft der Aufklärung", heute wolle man nicht mehr verunsichernde Kritik und emotionale Irritation, sondern eindeutige Sicherheit und Selbstgewißheit, das was IST. "Nicht weltbürgerliche, sondern elementar partikulare Bedürfnisse" wollen befriedigt werden. Und Alain Finkielkraut verteidigt sogar diesen Expansionsdrang der 'kleinen Völker" aus elementaren Gründen.

Ivo Andric, der Nobelpreisträger hat Bosnien zu einem Schauplatz der Weltliteratur gemacht. Symbolisch allerdings die Brücke über die Drina, die diese alte blutige Grenze: Osmanenreich - Europa. Islam -Katholiken trennt.

Auch ein anderer Autor, der Kroate Miroslav Krleza hat in seiner Geschichtsphilosophie ("Die Fahnen") längst die Gründe für den heutigen Konflikt erarbeitet. Stanko Lasic beschreibt sie in Gerhardt Csejkas "Neuen Literatur", die eben erschienen ist. Es wird klar, wie wichtig inzwischen diese Explosion der Peripherie für Europa geworden ist. Krleza geht davon aus, daß alles sein Gegenteil schon in sich hat. Der Andere im "Herzen des Ich". Jeder geschichtliche Organismus braucht den andern, in dem er sich selbst erblickt, wie umgekehrt auch, so daß keiner den andern vernichten darf, ohne sich selbst auszulöschen. Dies ist jetzt in Jugoslawien der Fall. Diese Gespaltenheit werde mittels einer Scheinsynthese zwischen gewalttätiger Praxis und idealer Moral erreicht.

Getarnt werden die Massaker und Gewalttaten mit Moral. Tragik oder Karneval. Im Mittelpunkt: Europa. Es hat 3 Kreise: Zentrum, Peripherie, Ödraum. Angeblich leben im Ödraum nur Barbaren und Menschenfresser. Das hatten ja auch die Spanier bei der Conquista berichtet, um ein Alibi für die Plünderungen und den Mord an den Eingeborenen zu haben. Heute sind es Zigeuner, immer wieder die Juden, ewig die Dritte Welt, aber auch ein Teil des Wilden Ostens. Zur Peripherie gehört das ehemalige Mitteleuropa. Alle schotten sich ab, wollen ihren Status behalten. Die Peripherie wartet und antichambriert, um "anerkannt" zu werden. Imitiert das Zentrum aus dritter, vierter Hand... Ersatzzentren entstehen, es herrschen Ungeduld und Nervosität.Und vor allem, Abwehr des Ödraumes, Angst vor dem Rückfall in den Ödraum. Dort herrschen Hunger und Elend. Einzige Hoffnung: - Peripherie zu werden, und sich am Zentrum zu rächen.. . Zum Zentrum sagt Krleza: es töte viel grausamer als Hitler mit Hilfe der Banken. Und erteile Peripherie und Ödraum gute Ratschläge in Humanität. Hochnäsig ist dieses Zentrum vor allem und Kolonialismus- gewohnt. Seit 200 Jahren setzt es eine heilige Triade von Marktwirtschaft, Demokratie, Liberalismus ein, und tritt die übrige Welt mit Füßen. Wer das anerkenne, kriege ein Zeugnis in gutem Betragen, so Krleza: Diese Triade sei viel wirkungsvoller als der Eiserne Vorhang. Wenn auch unsichtbar, habe es diese Trennwand immer gegeben: "Europa ist ein Monsterwesen, das Mozart spielt". - Die Nutzanwendung wäre, diese Wahrheit anzuerkennen, sich danach zu verhalten. Nicht "idealistisch", sondern wahrheitsliebend-aggressiv.

Befreiung sei unmöglich, denn jeder Kreis sei gespalten in Beherrscher und Beherrschte, Reiche und Arme. Und nie käme es zur Solidarität zwischen den Unterdrückten der verschiedenen Kreise, eher zwischen den Herrschern. Ist es nicht so: die abgeschotteten Sphären, die dann noch in "Nationen" und Klassen gespalten sind, schaffen die Zellen und Käfige. Nationen sind harte egozentrische Organismen, die sich entwicklen und abschotten müssen. Und immer sind es dominierende Nationen, die die andern unterwerfen, beherrschen. Auch die Ethnien. Die Ethnien freilich haben einen Vorteil: nämlich den der doppelten Zugehörigkeit.

Wie wir sehen, ist diese Minderheitenverstreuung in Jugoslawien heute tödlich.

 

Doch vor der grauenhaften Wirklichkeit etwa eines serbischen KZ zerfallen diese Innendeutungen. Oder etwa vor dem Einbruch der Tschetniks in ein moslemisches Dorf, wo sie wahllos Frauen und Kinder und Alte abschlachten; bevorzugte Mordart: das Durchschneiden der Kehle oder das langsame Verblutenlassen des Opfers - als wäre es ein Lamm. Es gibt unzählige Zeugenberichte darüber, auch Selbstbezichtigungen von solchen Mördern. Oft werden aber auch Gefangene gezwungen, die schrecklichsten Mordtaten an ihren Leidensgefährten zu begehen; etwa den Ärmsten die Hoden "abzubeißen" oder sie zu "schlachten".

Ich erinnere mich an einen serbischen Komponisten auf Schloß Solitude, mit dem ich einen Abend verbrachte, der meine Bücher gelesen hatte; er behauptete, alle diese Greueltaten seien nichts anderes, als "Feindpropaganda", und der Westen falle darauf herein, überhaupt der Westen, er sei ein Feind der Serben und ein Freund der Kroaten und Moslems. Als ich ihn daran erinnerte, daß auch bei den deutschen KZs von "Feindpropaganda" die Rede gewesen war, um die Nachricht zu vernichten, bekam er einen Wutanfall.

 

28.Juli 93. Nachts eine Autobombe in Mailand, fünf Tote; und zwei Tote in Rom. Der Krieg, nein, die Revolution von oben in Italien geht weiter. Eine ganze politische Klasse, die ja eng an die Mafia gebunden war, wird beseitigt. Gardini gehörte dazu, genau wie der ehemalige Präsident von ENI, des Staatsholdings. Ich höre es auf der Promenade des Hafens in Marciana aus einem Autoradio. Dann lese ich in der Repubblica. Cesare Garboli kommentiert die beiden Selbstmorde. Gardini sei eine Art sportlicher Held gewesen; Meer, Kraft, Selbstbewußtsein, der keine Niederlage duldete. Und um nicht in Handschellen abgeführt zu werden: (diese Vorstellung wäre völlig unmöglich gewesen für ihn), nimmt er die Pistole. Die Milliarden, die bleiben weit zurück, die Geschäfte sind in diesem "metaphysischen", der Schande zuvorkommenden "Helden"- Akt, unwesentlich, und doch gehören die Gelder auch dazu, sie sind Resultat massivster Taktik und getrickster Geschäfts-Moral. Die Plastiktüte des Cagliari dagegen im Gefängnis ist wie Blei, der Mann verspätet und unfähig zu erwachen; dabei schrieb der prominente Häftling Gedichte; nach Garboli verraten sie, daß dieser Mann keine Identität hatte, weder vorher noch nachher, und der Tod ihm auch keine mehr geben kann. Garboli fragt, was sind das für Leute, die da oben, die nur durch Privilegien eine Art lukrative Maske erhalten, die nicht wissen, wer sie sind, verantwortungslose Nihilisten, die auch nichts können, und doch diese Macht haben! Ist es nicht ähnlich wie im Osten? Diese unfähigen Nomenklaturen sind austauschbar und können nur mafiotisch überleben: mit Zwang, Drohung, Zensur, Bestechung und blutiger Gewalt.

Die deutschen Bürokraten haben sich weniger zu Schulden kommnen lassen, es gab keine Mafia. Allerdings, Zweitausend haben als IMs mit dem Osten ihre Geschäfte gemacht.

 

Ist dagegen der Tod von Janns Tante, einfach ein ganz kleines Ereignis? Sie wurde heute nach strengem Ritual der Korntaler Brüdergemeinschaft beerdigt . Sie hat ein Testament hinterlassen, zu öffnen nach meinem Tode. Wir wissen nicht, was drinsteht. Es interessiert mich wenig. Bin ich "unnormal"? Für die meisten wäre es zentral. Auch Jann interessiert es wenig. Doch aus jenem Interesse ist die Welt gebaut. Und in Stuttgart ist der "interessierte" Teil der Familie AUCH auf dem Sprung.

 

29./30. Juli 1993. Gestern Überfahrt von Marciana nach Korsika. Glattes Meer, schwacher Wind. Delphine vor Korsika. Wie Seide ist das Wasser über ihnen, sie, wie Schatten, mit Händen zu greifen. Drei Delphine schwimmen wie lachend dem Boot voraus, einer legt sich wohlig auf den Rücken, man sieht den weißen Bauch. Ich pfeife, rufe. Als verstünden sie, wenden sie sich mir zu. Wie im Paradies - zehn Meter weiter springen zwei wie Kunstspringer im Takt aus dem Wasser. Eleganz. Ich fotografiere pausenlos auch die Delphine unter Wasser. Jann und ich - seit wir den kleinen schwarzen Hund Circel haben, lieben wir alle Tiere. Auch Jann beginnt mit ihnen zu sprechen, wirft ihnen Brotstückchen zu, doch sie kümmern sich nicht darum, signalisieren nur Neugierde und Spieltrieb. Vor zwei Jahren hatten wir genau an der gleichen Stelle ein Delphinerlebnis gehabt. Wie sich die Bilder überlagern, verdichten - je mehr Jahre vergehen. Es ist oft wie ein Déja-vu.

 

12. August 93. Morgens im Dorf Marciana. Genaue Umrisse: eine junge Frau mit Strohhut auf einem Fahrrad, ein Alter mit Hund an der Leine, eine Alte in der Küche hinter Jalousien. Momente "gelebt"? Und der kleine Hund schnuppert bodennah am Abfall. Ansichtskarten vor einem Tabacchi verdoppeln den leeren Poetenturm, 17. Jahrhundert. Kein Windhauch. Die Leute kaufen ein. Der Blick zum Poetenturm geht über sie hinweg, bleibt an der Ansicht hängen, es ist mein Blick, der mich trennt, der Augen-Blick ist abgezogen von dem, was Leben heißt: 8. August 90: eine junge Frau auf einem Fahrrad, ein Alter mit Hund, eine Alte in der Küche hinter Jalousien. Circel schnuppert bodennah am Abfall. Ansichtskarten vor einem Tabacchi verdoppeln den leeren Poetenturm, 17. Jahrhundert. Kein Windhauch.

 

Elba, 13. August 93. Das Meer bei der kleinen Insel Paolina: scharf eingestellte Momente auf dem Boot, Sichlieben auf einer Matratze und schwankendem Boden; du wirst ein wenig blind, und glaubst mal schwarz, mal weiß zu sehen. Auch rot. Dann Schwimmen im Meer, glasklargrünblau hell, Grund mit Gras, und eine Höhle in der Nähe. Die Höhle ist mauvefarben, mauve Labien und immer naß, schwimmend erreichst du sie, Stein, Fels, Wasser plätschert in der Höhle, schlägt an die Wände. Auszukosten während es geschieht, beobachtet wird es zurückkommen, hier ist alles noch ungedacht: diese Höhle, mauve, die Labien, welch eine Sprache für den einfachen Stein, der mich nun zu sehen scheint, ungestört liegen unzählige weiße Muscheln am Grund. Und wenn ich nun tauche, MASKE vor dem Gesicht, sehe ich den Grund, und sehe von unten noch mehr: die Farbe der Oberfläche. Und muß mich gegen den Strich zurückschreiben, nach dem Schwimmen, nach der Liebe, alles immer nur nachher. Zurückleben ist unmöglich, zurückschreiben: Ja.

 

Der Augen Schlitz zeugt jetzt wieder

den Himmel/ so liege ich oben

über mir rückwärts der Boden

 

Und wir nennen es Liebe

einer Bewegung

Ungeborenes zugleich.

 

Heute ist der 13. August.Vor mir taucht das bekannte Bild des Mauerbaus auf: Man kennts: Ein Maurer mit Kelle und daneben der Grenzer mit Maschinenpistole. Zwischen Bild und Erfahrung ein Abgrund. Verquer im Osten, immer das Gegenteil zu denken von dem, was die Partei sagte, obwohl sie im Prinzip Recht hatte, das Prinzip freilich erschlug alles, die abstrakte Wahrheit erschlug die Wirklichkeit, deckte alles zu. Oder war eine Mauer. Brachiale Gewalt. Und doch - sie sei wichtig gewesen "zur Erhaltung des Landes" und seines moralischen und geistigen Elends. Freilich, das ganze Land war der Körper einer falschen Idee. Diktatoren und Dichter: Aufstand gegen die Natur, das Leben, die Geschichte, weil sie so nicht zu akzeptieren sind, wie sie wirklich sind (und sind doch da/ und nicht nur Namen). Dieses kann gewußt sein, ohne daß es realisierbar ist, denn die Wahrheit hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun, sie dient als Orientierung in diesem Spannungsverhältnis; unmittelbar zur Wirklichkeit gemacht, wird sie zur Lüge.

So konnten die Ostdeutschen durch die Fernseh-Bilder viel über den Kapitalismus erfahren, sagt Heiner Müller, "aber sie glaubten es nicht", was sie sahen. Jetzt lernen sie nach, erfahren es am eigenen Leib, was einst nur abstrakte Wahrheit war, nämlich wie das Leben ist, das gilt, und nicht akzeptiert werden kann. Schlaff ist das Spannungsverhältnis geworden und müde, sehr müde, aussichtslos, ja aussichtslos ist es geworden; Weil es keine Mauer mehr zum Schleifen gibt!

Und die Wahrheit, daß Wirklichkeit Glitzer, Geld, Gewalt, Betrug ist, daß diese Wirklichkeit ethisch nicht vertretbar ist, diese einfache Einsicht wird vergessen, als wären wir nun "erwachsen geworden", das Unvermeidliche zu akzeptieren, das Opportune zu tun, gut im eigenen Müll und weich verpackt. Und das Wort "Kapitalismus" klingt, als wäre es ein verstaubtes Propagandawort. Oder es ist so offensichtlich "das Leben", daß man sich hütet, es als etwas Besonderes anzusehen und auszusprechen? Das war früher anders.

 

Elba, 14. August 90. Ein merkwürdiger Traum: ich war zu Hause bei der Familie Ceausescu, der Tochter mußte eine Spritze gegeben werden, die Eltern waren besorgt. Ich sehe nur dieses weiße Bett und die Haut der Tochter. Mein Unterbewußtsein weiß also nicht, daß die Alten erschossen worden sind. - Und ich höre sie fast höhnisch lachen. Immer wieder kehren sie an jene Orte zurück, wo wir noch nie wirklich waren, in uns ist der Ort wirklicher: am Fluß oder an den alten Brücken wartend liegen, bis der Tod die Träume endlich vertreibt, die Orte sind ja längst tot, und warten nicht mehr. Aber, was wartet denn da, was so übergangen und versäumt wurde?

 

Tyrrhenisches Meer/ Viareggio, 3./4. August 1993. Gestern von Korsika nach Capraia schön gesegelt. Übernachtet in der Hauptbucht, Cala maestra. Abends bei Beppone gegessen. Der Wohlstand der Westler ist zum Teufel. Sonst war es schwer, hier einen Platz zu finden, diesmal sind nur zwei Familien als Gäste da. Der Blick von der Terrasse aufs alte Gefängnis und denTurm ist einmalig.

Es ist also vorbei mit dem Luxus. Die Italiener haben begonnen, ihre großen Räuber zum Teufel zu jagen. Vielleicht beginnt doch wieder eine reelle Zeit wirklicher Werte.

Agliano, 5. August. 93. Es ist ein erregendes Erlebnis, die Tage zu vergleichen. Nichts, nichts ist vergangen, sage ich mir - und freue mich. Ich schreibe den vergangenen Tag wieder ab. He, Plagiator hier. Und bin erstaunt, wie wenig ich weiß von der andauernden Wiederholung, von der Wiederkehr der gleichen Ereignisse; Vergessen hilft:

 

Thyrrhenisches Meer/ Agliano, 10. August 90. Über den toskanischen Archipel, die Insel Capraia, wo wir wie jedesmal bei unserer Fahrt in der Hafenbucht ankerten, abends wunderbare gamberoni vom Grill in einem kleinen Hafenlokal aßen, am nächsten Morgen an der Gefängnisinsel Gorgona vorbeisegelten, kamen wir bei ziemlich bewegtem Meer zurück nach Viareggio.

Die Leere des Hauses ist jetzt physisch spürbar, und alle abwesenden Geister; ein Haufen Post auf dem Eßtisch.

 

Agliano, 18. August. 90. Hier auf dem italienischen Berg in unserem kleinen Weiler fällt mir bei den Bauern, den alten vor allem, auf, daß die Leute noch wie früher leben. Alles ist noch festgefügt und fraglos da, als gäbe es gar nichts anderes - schön eingefahren seit langem. Bei den Jungen ist das nicht mehr so einfach, vor allem bei jenen nicht, die ihre Klasse, die armen Verhältnisse verlassen haben. Die Älteren aber sind wie gute Relikte einer endgültig vergangenen Zeit - da muß nicht jeder an seinem Leben basteln, das kriegt er fertig geliefert, samt der Armut und dem Unglück, ein enges Korsett, da schlüpft jeder und jede hinein; mit wenigen Bruchstellen von der Wiege bis zur Bahre. Das kostet nicht diese Anstrengung wie bei uns, die sich das alles selbst herstellen müssen, traditionslos, dauernd im Gegentakt, daher immer in Zeitnot und mit aufreibenden Schuldgefühlen geschlagen.

 

Lucese, Sonntag, 9. September 1990. Fahrt nach Gombitelli, einem Bergdorf mit gotischen Sprachresten, wir wandern dann zu Fuß zur Kapelle von Lucese (unter Pinien). Auf allen Fußmärschen sind die Gedanken schneller. Ich spreche mit Jann über neue Projekte, Autorenporträts: Baudelaires Tod im Pariser Haus seiner Mutter. Celans letzte Augenblicke, bevor er in der Seine versank. Hölderlin in den Folterkammern der Psychiatrie: der Heilanstalt Authenriets. Fondanes Todesmoment in der Gaskammer. Die Alterskrankheit Jean Amérys. Mit dem Altern verschwinde langsam die Außenwelt. Améry schreibt, Auschwitz sei in der Jugend leichter zu ertragen gewesen, als der Alltag im Alter.

 

Pieve/ Viareggio 7. August 1993. "Gestern" las ich am Strand, Costa dei Barbari, es war sehr voll, das Wasser dreckig, las Lessings "Erziehung des Menschengeschlechtes". Die Frage, ob die unendliche Vollkommenheit in einem einzigen Leben erreicht werden könnte. Die Ungeduld zerstört alles. Wozu die Natur Jahrtausende braucht, soll sich in einem Augenblick, in einem kurzen Leben ereignen? Lessing: "Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viele weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnt?" Dies sagt der glasklare Verstand: "Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?" Wer das glauben könnte. Seine These, daß das, was mich angeht, mich nur in der Form einer Vergewisserung erreichen kann, die von derselben Qualität ist wie das zuständige Aufnahmeorgan, also die Vernunft. Und für ihn ist es gegeben mit diesem Gedanken, den er beglaubigt. Helmut Thielicke bringt im Nachwort einiges dazu: Lessing im Streit mit der Orthodoxie, die ihren Unglauben, der durch die Hölle "historischer Anfechtung" erzeugt, nun mit diesen Mitteln des historischen Beweises den eigenen Unglauben bekämpft. Unwahrhaftig. So "am Faden einer Spinne, die ganze Ewigkeit aufhängen". Das Unbedingte läßt sich eben nicht auf Bedingtes gründen. Und im Bereich des Geistes ist jede Ausflucht und Flucht verboten. Es kann nur das Tiefste sein, wie bei Hölderlin später: das Eigene, Subjektive, der Einzelne, denn "was im Bannkreis des Kontingenten bleibt, kann niemals den Grund meiner Gewißheit, meines Glaubens, insofern meines ewigen Schicksals bilden." (Thielicke). Nicht zufällig sind heute Kontingenz-Analyse und Zufälligkeitsanalyse Trumpf . (Rorti, Marquart u.a.) Das gefährliche Subjekt soll abgeschafft werden.

Ich erinnere mich an einen für mich entscheidenden Tag in einem Dialog mit einem sehr schwierigen Freund, und das Schöne am Tagebuch ist, daß die Erinnerung dann so konkret, wie zum Greifen nah sein kann, ein aufgeschlagenes Buch, und als wäre keine Zeit vergangen, fällt die Trennwand, als wäre es gestern gewesen; diese Wiederkehr :

 

Pieve, 13./ 14. August, 1991. Post erledigt. Ein ganzer Stoß. Darunter mein alter Kollege aus der Bukarester Zeit. Über den Tod seines Sohnes in Kirkuk, erschossen von Soldaten Saddam Husseins. Gad war für die Kurden eingetreten. "Nänie" des Vaters:

 

"Es war kein Unfall, es war nicht sinnlos und nicht absurd - es war sein eigener Tod, in der Logik seines jungen Lebens. Der Tote will keine Trauer. Er will weitergelebt werden, von allen, die sein Ende betroffen macht. Weiterleben kann ihn nur, wer wie er für die Minderheiten eintritt, für die Schwachen und Unterdrückten dieser Welt. Ich klage um die Kraft und den Mut, die mit ihm verloren gegangen sind. Ich bleibe an seiner Seite."

 

Auf diese Nänie habe ich notiert: Als er noch nicht da war/ jetzt nicht mehr da- / zwischen liegen wir/ noch immer vorhanden, unfähig/ halb im Schlaf Vergessen/ täglich, die Schüsse.

Wenn wir fragen, was sind/ Opfer, wissen wir es nur/ nah, im Schmerz, ein Ich, und wie Opfer/ nur gedacht/ viel mehr IST/ der Tote und doch/ ein Und zurück:

Mein Antwortbrief: Lieber Paul, heute sind es 30 Jahre seit dem Bau der ehemaligen Mauer. Das Absurde kommt in die Sätze, nur dieses ist noch wahr. Absurd war es freilich immer schon, nur haben wir es kaum bemerkt.

... um zu begreifen, was das Wichtigste ist auf dieser Welt, nämlich WAS SIE WIRKLICH IST, TERROR, und daß wir gegen diesen stehn müssen; auch daß der Tod durch solche Opfer seit dem Krieg verändert wurde, ist unbezweifelbar.

Bleiben wir an der Seite Deines Sohnes; das alte Ideal hat sich verändert, aber es ist nicht tot, wie manche meinen, die nun mit den bisherigen Feinden als Schwächlinge heulen.

Ich möchte auf jeden Fall an dem geplanten (Deinem Sohn gewidmeten) Buch mitwirken. Ich überlege, ich denke nach, ich lasse meine Empfindungen von meiner Schreibe überprüfen und umgekehrt. Ich habe ein Gedicht geschrieben, bin aber nicht zufrieden damit. Der "finstere Stoff" verdichtet sich immer mehr, seit einiger Zeit, nicht nur die Bergleute, Moldawien, Georgien, Moskau, Vilnius, jetzt Jugoslawien, sondern auch der innere Krebs nimmt weltweit zu.

Und zur "schwachen messianischen Kraft" habe ich noch ein anderes Benjamin-Zitat, das meine jetzige Überzeugung besser ausdrückt, und jetzt auch mit Deinem Leiden zu tun hat: "Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie... Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt. - Während freilich die unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des innern einzelnen Menschen durch Unglück, im Sinne des Leidens hindurchgeht. Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit des Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur im Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik..." (Theologisch-politisches Fragment). Sie hat sie fast schon erfüllt, blind freilich durch langsame Vernichtung via "Glück" und Bequemlichkeitsstreben. Das Streben und Versprechen des "Glücks" gab es im Osten, der ist daran zugrunde gegangen. Der Westen hat es fast klammheimlich bis an den Rand der Apokalypse "realisiert", und jetzt wirds langsam auf diese Art die ganze Erde wollen. Die Massenflucht zum "Glück" ist in vollem Gange. Auf dem Wege zu den "letzten Tagen der Menschheit".

 

Wie setzt man die "schwache messianische Kraft" und das "Unglück" dagegen? Wie rettet man die Toten, daß sie nicht noch einmal sterben, wie kann man überhaupt noch etwas gegen die Kastraten des Geistes und Übermächtigen der Herrschaft schreibend tun? Man muß verzweifeln. Und allein diese Verzweiflung kann echt sein! Hinter dem Rücken jener Kastraten die "schwache messianische Kraft"? Manchmal glaube ich sogar daran, glaube daran, daß sie stärker ist, da alles, was uns umgibt, aus der menschlichen Erfindung kam, aus dem Geist, sogar ihre Machtmittel und Waffen.

Bleibt das NEIN! Bleibt der Beweis, daß es auch schreibend, nicht nur handelnd möglich ist, gegen diese abgestumpften Tiere ringsum etwas zu setzen?!

(...)

Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung, da aber Tod und Leben zusammenhängen, ist es zugleich auch Lebensaufschub. Daß Schreiben mit dem Tod verbündet ist, da es ein Lebensopfer fordert, hat am besten Kleist gewußt.

Und bei ihm finde ich eine Briefstelle, die auch zu Deiner "Stele" gehört: " Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt."

 

Forte dei Marmi, 10. August 93. Abends Luciano De Crescenzos Vorstellung seines Buches "Delizia" in der Versiliana, das Jann übersetzt hat. Der Entertainer trug mündlich, wie Witze, lustige Teile seines Buches vor. Im Freien. Besser waren die riesigen Pinienbäume. Besser waren die Fragen aus dem Publikum und seine geistesgegenwärtigen Antworten. Frage: Kommt aus dem Süden, aus Neapel die Revolution? (DC. ist Neapolitaner. Und er hatte in seinem Buch die verrottete konsumistische Mailänder Art, die Herzens-Kälte mit der Wärme und Offenheit der Neapolitaner verglichen). Er wiegelte geschickt ab, sagte, wir hätten ja schon eine Revolution von oben. Und er hoffe, daß mit noch zwei Selbstmorden die Sache abgeschlossen sei. Dieses Buch über die Liebe habe er deshalb geschrieben, weil jetzt nach der Kälte des Konsumzeitalters das Zeitalter der Gefühle wiederkäme. Dann gab er Beispiele für die südliche Weisheit: Der Neapolitaner vergleiche alles in seinem Leben mit dem Tod.Wenn der Neapolitaner um eine Minute den Zug verspätet, ärgert er sich zwar, aber nicht allzu sehr, er möchte noch etwas übriglassen für schwerwiegendere Dinge. Oder: - manche bezahlten in der Bar gleich zwei Espressos, einen für sich und einen für die "Menschheit", für den Nächsten nämlich, der Kaffeetrinken kommt.

 

21./22. August 93. 25 Jahre seit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 in Prag. Mit Jann redete ich darüber, daß Ungeduld schlimmer sei als jedes andere Laster, als Schlamperei, als Ordnungssucht, als Gewissenlosigkeit, denn alles ließe sich daraus ableiten, sogar der Fluch des Totalitären und seine Sucht, alles umweglos zu "überspringen". Jann ist noch ungeduldiger als ich. Und dies, so sagte ich, dies kommt aus einer "tiefen" Irreligiosität, aus einem eingefleischten negativen, zerstörerischen Denken, das auf das Materielle fixiert ist, seit dem Sünden-Fall, ein schönes Symbol: Wir glauben seither, als Strafe: an den Tod, weil wir uns nur als Körper sehen, obwohl wir eigentlich immer "in Gedanken sind", die Außenwelt nur punktuell als Momentprojektion existiert. Dieser Glaube allein ans Materielle führe zur Hetze, zu Zeitnot und Angst. Ich zitierte Kafka: Aus Ungeduld haben wir das Paradies verloren, aus Ungeduld kommen wir nicht wieder hinein. Und auch Lessing, der davon ausgeht, es sei logisch völlig ausgeschlossen , daß eine so kurze Lebenszeit für eine Entwicklung sämtlicher in uns angelegter Keime ausreiche, und daß die Anstrengung, ein geistiges Wesen zu werden, so unterbrochen und vergeudet werden könne; er glaubte an ein Wiedererkennen und notwendiges Wiederkommen; daher sollten wir uns nicht beeilen, denn wir hätten eine ganze Ewigkeit Zeit!

Gestern telefonierte Janns Bruder. Gisela hat einen Herzinfarkt erlitten. Ihre Lunge ist voller Wasser, das Herz äußerst schwach. Die Schmerzen sehr groß, so habe eine Ärztin, die bei dem Bruder wohnt, gesagt, es seien die größten Schmerzen, die ein Mensch ertragen muß.

Wir schliefen schlecht. In der Nacht geschah es dann. Wir hörten deutlich ihr Rufen. Ähnliches hat uns Berman-Fischer erzählt: seine tote Frau rufe ihn nachts mit Namen, doch sei dies sicher nur ein Echo des Gehirns, sagte Berman, er sei ein "Ungläubiger." So malt er unbewußt metaphysische Bilder, malt jenen Durchgang, den Lichttunnel, der wie eine Spirale aussieht und uns nach dem Tod erwartet.

 

Agliano, 22. August 93. Ein Geburtstags-Brief kam aus Rumänien an, ein Brief von meiner Nichte Ina, die Maschinenbau studiert hat, dann aber etwas anderes, "Geistiges" wollte, und nun seit drei Jahren Theologie studiert. Sie berührte den wunden Punkt: Schreiben sei andauerndes Hinausschieben dessen , was erkannt und daraufhin getan werden müßte, geschrieben sei es nur "eingesargt". Dieses beginne schon, indem man nicht sofort auf Briefe antworte, oder durch Briefe ausgelöste Gedanken zu Hilfsmaßnahmen "verschiebe".

Erstaunliches schreibt mir Ina, die junge orthodoxe Theologin über jenen achten Tag, von dem ich aus der Kabbala weiß (7 Tage Geschichte, der achte aber ist der Übergang zu einer andern Seinsweise, wo die Körper aufgelöst werden in Licht), dies finde ich auch bei Ina wieder. "Arátare la fatá" (Erscheinen des Gesichts) am 6. August. (Schönes Erscheinen, und fast symbolisch verkehrt in den Blitz von Hiroshima. Doch die Hoffnung bleibt trotzdem). LICHT. Ina ist geschieden , hat einen kleinen Jungen, Ionut. Und alles ist "sehr, sehr schwer", ohne meinen Glauben wäre ich verloren, schreibt sie.

 

Agliano, 23. August 93. "Befreiung". Es ist ein Unglückstag. Gestern Nacht wieder Feuer. Wir gingen auf den Berg und sahen uns das drohende Züngeln unter dem Berg Pedone an. Angst, davon erreicht zu werden. Es sah wie eine Feuerfront aus, die sich auf uns zubewegt.

Heute Morgen schöne Umgebungsgefühle. Ruhepunkte. Ich fühlte in mir das Gras, die Olivenbäume. Ob es damit zu tun hat, daß mich Angst, geschriebene Traumzonen von gestern öffneten, das Unterbewußtsein sich ergießen kann, Anmutung.? Ich hatte an einer Geistergeschichte geschrieben. Oder wars das Feuer. Die Zufriedenheit, mit der Phantasie und der Zeile identisch zu sein? Oder weil soviel Schlimmes hier in der Umgebung geschieht. Ich kann das Gesicht des am Strand ermordeten unbekannten Mädchens,das nackt bei Torre di Lago in der Hurenzone des Niemandslandes gefunden worden war, nicht vergessen. Sand in der Scheide. Hundert Meter vom Mordort entfernt fand man ein verlassenes Hurenlager, wie sie dort üblich sind für die schnelle Liebe. Orgien nachts, Transvestiten. Drogen bei Torre di Lago.

 

Agliano, 12. September 1993: Weiter an der Durchsicht des synoptischen Tagebuches gearbeitet, und nach dem gleichen Datum gesucht, als könnte ich mich meiner an diesem Tag so besser vergewissern...

14. September 1991. Datum einer Antwort meines alten Kollegen Paul Schuster auf meinen Brief vom Juni für seinen im Irak ermordeten Sohn. Schusters Brief wuchs sich zu einem "Testament" aus. Ich bin betroffen, erfreut, zugleich belastet, wie kann ich das in der Öffentlichkeit verzerrte, unrichtige Bild des schwierigen Mannes, der sich andauernd selbst ein Bein stellt, richtigstellen. -

S. hat Lust am Zuschlagen, wenn er Lügen und Verkehrtheiten entdeckt, er hat einen selbstzerstörerischen Absolutheitssinn: Er ist nicht nur - für die "fünfte deutsche Literatur" ein wichtiger Autorenkollege mit seinem, Fragment gebliebenen, siebenbürgischen Zeitroman der Jahre 1919 bis 1944 "Fünf Liter Zuika", sondern auch ein Zeitzeuge bis ins Jahr 1949, wie es für unseren Kulturbereich einmalig ist. Mehr als jeder andere hat er mit der Emigration sein Leben halbiert, ja, sein Werk, seine "Positionen" und Leistungen zurücklassen müssen. Im Westen ist, wie bei vielen Älteren, der Sprachübergang für eine neue Thematik bisher ausgegblieben.

 

14. September 91 Abends. Wie oft hatte S. früher von einer Literatur "für die Werktätigen" als wichtigste Aufgabe gesprochen. Jetzt lese ich: In einer kleinen Stadt im Osten, schätzen sich die Arbeiter einer ehemaligen NVA-Rüstungsfabrik glücklich, daß sie nun doch noch Arbeit haben, jene Millionen Patronen, die sie hergestellt hatten, nun auch täglich wieder vernichten dürfen, da ja verschrottet, abgewickelt und abgerüstet wird. Sie tun es, aber sie wissen es immer noch nicht. Sie haben sich von Jugend an in eine unerhörte Abhängigkeit begeben, aus uralter elementarer Trägheit. Oder Unfähigkeit, dem eigenen Entwicklungsbedürfnis zu folgen, falls dieser Drang überhaupt da war. Ich wäre gerne bezahlt "artbeitslos". Ich habe weder Arbeitsamt noch irgendeinen Staat gebraucht, nur Bücher und eine Schreibmaschine, und Leute, die meine Texte lesen wollten. Im Gegenteil, ich habe versucht , mich jedem Staat und jeder Instituition mit Einsicht und Haß zu entziehen! Meine Lehre habe ich im Osten absolviert, und die hat mich für immer geheilt. Aber ich gebe zu: ich kann nur noch in diesem "Rausch" existieren, ich bin süchtig nach jenen Innenräumen, auf deren Vergessen der ganze Sozialbetrieb beruht, und ich spüre es genau: wenn diese Räume mich entlassen, ich wieder in der sogenannten Realität bin, tritt Ekel ein, Wut, Ungenügen. Also bin ich auf meine Weise ebenso arbeits- und sinnsüchtig, überwintere bis zu meinem Tod in einer selbstgeschaffenen Halluzination, die ich der kollektiven, miesen entgegenstelle. Und verachte diese; früher waren es die Gefängnisse des östlichen Tierreichs, seit 25 Jahren erlebe ich die im Grunde noch schlimmere und gefährlichere westliche Scheinwelt, der ich mich zu entziehen versuche. Flucht? Dieses Wort "Flucht" habe ich von roten Funktionären zu oft gehört, auch die Aufforderung zur Dankbarkeit gegenüber den "Werktätigen" und ihrem Staat, die sich für mich abrackern, damit ich schreiben kann und sogar darf, um nicht immun dagegen zu sein. Diese "Moral" löst nur noch Hohnlachen bei mir aus.

Das "Problem" Werktätige, Arbeiter gilt in Westeuropa so nicht mehr, bei Wolfgang Hilbig, der selbst Arbeiter war, ist es klar und nachzulesen. Diese Zivilisation ist heute bei der Immaterialität angekommen, und genau deshalb kam es zur "Wende" 89. Weiter gilt: die Grenze zwischen Literatur und Leben ist praktisch gefallen, nur haben es die wenigsten gemerkt, denn der "Geist" ist ordinär geworden, so daß es so ausschaut, als ob er das Leben sei im Gewande z.B. der elektronischen Haustiere, des Flugzeuges usw. Nur - alles ist Zwang geworden, auch die Zwangsmuße, die Zwangsmuse, die "Freizeit" vor der Glotze. Und damit das Verschieben des Lebens nun nicht mehr nur in der Literatur. Das Sichentziehn durch Fiktionen, im Fernsehen etwa, anstatt "zu leben", hat nun auch die "Werktätigen" erreicht. Das alte Problem der "Entfremdung" ist allgemein geworden: diese Transzendenz der Produkte, diese Riesenkluft zwischen dem, was jeder tut und dem, was daraus irgendwann mal wird, ist kaum meßbar, kaum wahrnehmbar. Niemand weiß, wo eigentlich seine Kraft, seine Zeit geblieben sind, außer ganz wenigen "Glücklichen." Auch bei denen, die "Erfolg" haben, ist das Lebensresultat dann wieder ein Phantom, wenn auch in aller Vereinzelung doch ein kollektives "Medienereignis".

Montaigne schrieb in seinen "Essais," daß der Spruch "wir sind nicht für unsere Einzelinteressen, sondern für die Allgemeinheit da", reine Heuchelei sei: "der Spruch klingt sehr schön; Ehrgeiz und Habsucht decken damit ihre Blöße." Stellung, Amt und Beruf, "Dienst an der Allgemeinheit" seien da, "um einen privaten Nutzen zu ziehen. Die üblen Mittel, die heutzutage angewendet werden, um Karriere zu machen, beweisen geradezu, daß keine ehrlichen Absichten dahinterstehen."

Kunst aber kann nur interesselos und karrierelos bestehen, Markt und Erfolg verderben jeden Künstler. Für die Kunst ist der Markt Fremdkörper. Aber jeder Künstler wird auf verheerende Weise zu dieser Schizophrenie gezwungen, weil sein Produkt zur Konkurrenz mit Autos, Gurken und Immobilien gezwungen wird.

 

Montaigne und Baudelaire loben die Einsamkeit.

Man solle auch Frau und Kinder, Besitz und Gesundheit nicht allzu wichtig nehmen, "wir sollten uns irgendwo ein Kämmerlein reservieren, wo wir ganz zu Haus und ganz echt sein dürfen." Und "In der Einsamkeit kannst du dir selber eine große Gesellschaft ersetzen". (In solis sis tibi turba locis. Tibull, 13, 12.) Nur Ehrgeiz und die Sucht nach Ansehen müßten draußen bleiben, denn damit schleppe man die wichtigsten Krankheiten der Gesellschaft mit in seine Einsamkeit, die dann keine mehr sei.

Schmerzhafteste Einsamkeit, wo alle Masken fallen: der Wahnsinn. Schumann hörte andauernd einen anhaltenden Ton a. Alle Geräusche verwandelten sich in eine Höllenmusik. Das, was ist, drängt sich auf, der Körper rückt ganz nah, erlebter Tod als übersteigertes Leben. Furchtbare Empfindung, nachts, im Körper eingesperrt zu sein, nicht herauszukönnen.

 

2. Oktober 1991. Fahrt nach Deutschland. Beim Überschreiten der Grenze plötzlich dieses Gefühl einer ungeheuren Weite. Offenes Gebiet bis nach Sibirien, ja, nach China. Kleineuropa - das ist Vergangenheit. Diese Offenheit ist aber auch ein Risiko, Angst. Bisher hatte ich an Grenzen immer das Gefühl der staatlichen Überwachung, der Zerschneidung, des anderen Raumes, in den ich eben einreise mit starker Erregung. Sicherheit, auch geistige Sicherheit, gibt es nicht mehr. Praxis hat das Wort, und die Ungewißheit ist spürbar. Doch kein prickelndes Abenteuer erwartet uns. Ich hätte jetzt kaum Lust, etwa nach Rußland zu fahren. Und ein Jahr früher, wie war das gewesen? Da gab es das Gefühl einer seltsamen Umkehrung, mitten im Deutschland der deutsch-deutschen Grenzen. Aber an den alten Grenzen zwischen Italien, Schweiz und Deutschland gab es noch keinen veränderten Zustand:

 

3. Oktober 1990. Fahrt zur Buchmesse nach Frankfurt. Nun also, ab heute im "Neuen Deutschland", das weder ein altes, noch ein neues ist, weder Fisch noch Fleisch, ein Phantom, und Phantome sind immer gefährlich, sie erzeugen Besessenheit. Dieses ND mit dem alten Namen, entstanden durch starke Imagination, nämlich durch die immer noch vorhandene DDR, die im Verborgenen, in Millionen Köpfen stärker spukt als zu Zeiten irrer realen Existenz, und nun alles bestimmt, auch den Kohlkopf und seine Politik. All dieses trägt sich selbst nicht auf einem Riesenhintergrund der großen und blutigen Geschichtslast. Wer aber soll diesen Zwitter tragen?

Meine Schuldangst kommt plötzlich hoch (und ich werde mir des Kontrastes bewußt; wir fahren eben durch diese niedliche deutsche Landschaft am Neckar.) Ich erzähle Jann Längstvergangenes, das jetzt wieder auftaucht: Jugendsünden an der Uni aus längst vergangenen Tagen, als ich Stalin-Anhänger war, verbohrt in die Idee vom "sich zuspitzenden Klassenkampf", die auch allen Schauprozessen den höllischen Grund geliefert hatte. Erzählte voller Scham, wie ich einen Kommilitonen, einen Nietzscheanhänger, der damals schon rechts und Antikommunist gewesen war, zur Exmatrikulation vorschlug, und völlig von meinem "historischen Recht" überzeugt war. (Gottseidank ohne Folgen!)

 

Das Buch "Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur" wird von W. Solms beim Stand Hitzeroth vorgestellt. Ich bin von der Kälte der ehemaligen Kollegen überrascht. Konkurrenz-Streß? Es bilden sich Interessen-Gruppen inmitten des Frostes. In einem Gedicht von Werner Söllner, dem es nicht besser geht als mir, heißt es: "Die Freunde sind tot /oder sie sterben noch."

 

Mit Jürgen Manthey und Norman Manea am Steidl-Stand. Die Stimmung leicht hysterisch. Norman, der im Exil in New York lebt, nimmt mich beiseite und spricht vom Leichenzustand der Gefühle. Die Wahrnehmungen seien tot, in den USA noch schlimmer als in Westeuropa. Zynismus und Gefühllosigkeit bestimme das Leben, es sei unerträglich. Verlust aller Freunde, nichts mehr gelte; außer der "Interessenlage" und dem Geld. Er denke daran, nach Europa zurückzukehren. Und wann gehe er nach Hause? Tzara ist ferner als Afrika, sagt er.

Andrei Ujicá, jetzt Kommunikationswissenschaftler in Mannheim, schenkt mir sein eben erschienenes Film-Buch. Hochkarätige Beiträge von Virilio, Flusser u.a. sind darin enthalten. Die Simulation der Zeit und des Geschehens durch das Fernsehen, gesteigert bis zur Tele-Revolution in Rumänien: eine Première in der Menschheitsgeschichte wird im Buch analysiert. Ich sprach mit Andrei, der mit einem großen Hut abenteuerlich aufgemacht war und einen ganzen Kometenschweif von Bekannten und Freunden hinter sich herzog, über das Faszinierende im Zusammentreffen dieser "Traumprozesse" von Lichtbildern mit dem Aufstand, so sei die psychologische und soziale Nachvollziehbarkeit von Dingen, die sonst unvorstellbar oder sehr abstrakt sind, jetzt möglich geworden. Eines wird von denen, die den Aufstand gemacht haben, sicher nie mehr vergessen werden können: Daß sich die "Realität" als Trug, als Vor-Schein eines angstbehüteten Ich gezeigt hat, und der Jubel war groß, als die Angstbarriere fiel, alte Zeit, alte Verhältnisse nicht mehr galten: eine Stunde der Freiheit anbrach, als System- und Zeitfreiheit, ein Chock. Ein Wissen nun, daß das Unmögliche möglich sein kann.

Aber diesen bodenlosen und im heutigen Realitätsfeld völlig unbegründeten Enthusiasmus habe er in seinem Film ziemlich hart ironisiert, sagt Andrei. Die Macht ist anderswo, und sie bemächtigt sich auch der Pause und der Leerstelle beim Zusammensturz einer Diktatur. Das Machtvakuum ist nur kurze Zeit möglich. Es habe ihm selbst wehgetan, aber es sei notwendig gewesen, aufzuwachen, und vieles was damals tragisch wirkte , sei heute wie eine Parodie.

Agliano. 10. September 1993. Nun ja, das war im turbulenten Jahr

90. Und heute, ja, heute hat sich die Resignation "gefestigt", ist der Normalfall, ist Alltag geworden: sich keinen "Illusionen" mehr hingeben, keine Zeit- und Lebensverschiebung mehr in die Zukunft, in die Hoffnung, was bleibt, ist die krude Realität, Trennungen, Entfernungen - dies sind die Kategorien mit denen alle, bewußt oder unbewußt, leben müssen. Trennung von der Natur, von den Erinnerungen, vom Gewünschten, brutal von der Sehnsucht, vom eigenen ehemaligen Land, den Hoffnungen, den Menschen sowieso... Ist es nicht so, daß im irdischen Bereich der Versuch, Erlösungswünsche, Hoffnung, die nicht von dieser Welt stammen, real, gar paradiesisch erfüllen zu wollen, inadäquat ist und zu Verbrechen führt?

Daß es sie aber gibt, diese Hoffnungen - dies ist das Probem auch heute. Daher wird es notwendig, Die andere Grenze zu überschreiten, um in jene Zone zu gelangen, wohin jene Gewißheiten, die sich nicht ausrotten lassen, eigentlich hingehören.

 

Minden, 4. Oktober 1991. Tagung der Kogge. Wir wohnen bei Dr. Busse, einem Professor für Neurologie. Aufschlußreiche Gespäche über Thanatologie, von der er wenig weiß, obwohl er täglich mit Sterbeprozessen zu tun hat. Er beklagt die technokratische Orientierung der jüngeren Kollegen, die inhumane Richtung der Neurologie und Neurochirurgie, die verhindern, daß der Arzt dem Geheimnis des Todes nahekommt, ja, sich auch nur dem Patienten menschlich zuwendet. Von einem Jenseits-Denken oder gar Wissen - davon kann keine Rede sein. Tot ist eben TOT . Und daß der Patient auch in der Agonie, ja nach dem klinischen Tod etwas hören oder sehen könnte, dafür gäbe es nur Hohn... Busse hat selbst außerkörperliche, OOBE-Erfahrungen gehabt, und sie "vergessen", wie er sagt.

Lesung und Vortrag am Abend im Theater. Der Saal ist sehr voll. Kollegen und Zuhörer. Der Professor sagt mir nachher, er habe nicht alle meine Ausführungen verstanden. Wenn nicht einmal er... denke ich, und bin wieder einmal down... Es ging doch, wie ich annahm, um äußerst brisante und wichtige Dinge.

 

7./9. Oktober 1991 in Aalen bei meiner Mutter. Auch mein Sohn ist dabei. Fahrt nach Dinkelsbühl, Rothenburg o.T. Welch ein Idyll mit Großmutter und Enkel, der zaubert. Und hat die Karten mit. Hat er bessere Karten da im schwarzen Köfferchen? Aura in diesen alten Städten wie zu Hause, vor allem abends, wenn die Lichter angehn, bald Geschäftsschluß ist. Nur - sie sind nicht mehr "echt", diese alten Mauern.

 

Frankfurt, 9. Oktober 1991. Buchmesse. Mein Buch "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen" ist erschienen. Gepräch mit Michael Braun für den Deutschlandfunk in einem Container. Franz Hodjak ist dabei, wie beim Zahnarzt werden wir Autoren aufgerufen, um befragt zu werden.

 

10.Oktober 91. Beim Rowohltempfang. Er ließe sich schildern samt Tischnachbarn. Gespräch mit Naumann und Schmidt. N. hatte mir einen begeisterten Brief aus New York zum Buch geschrieben.

Ich denke an Montaignes Wort, daß die Suche nach Ansehen und Erfolg ein Gift sei, das das Leben abtöte. Doch es ist eine Maschinerie, der ich als Schreibender ausgeliefert bin.

 

 

 

VIII

 

Stuttgart, 13. Okober 1991. Unangenehme Gespräche in der Familie und mit Freunden. Jetzt scheinen wir, die Menschen aus dem Osten, ihre Zigeuner zu sein. Die Nichtachtung, die Animosität wächst, ich finde sie überall in der "alten" Bundesrepublik, und sie ist fast schon ein allgemeiner Konsens unter Westlern, eine Art Selbstverständlichkeit.

 

Stuttgart, 14.Oktober 91. In der Württembergischen Landesbibliothek suche ich "ndl", "Weltbühne", "Wochenpost" oder "Freitag" vergeblich; durch zufällige Kontakte und während einer Reise durch jenes Land, das es nicht mehr geben soll, erfuhr ich von ihrer Existenz. Wenn es diese Publikationen irgendwo hier in Stuttgart geben könnte, dachte ich, dann in der linken, der ehemaligen alternativen Buchhandlung von Wendelin Niedlich; ich wurde enttäuscht. Niedlich kannte diese Zeitschriften aus einem so fremden Land nicht. "Kein Bedarf", sagte er. Ich war auch der erste, der nach den Büchern von Hans Joachim Maaz fragte. Hermann Kant, Mischa Wolf oder freilich Honecker kannte jeder, sie waren ja auch im FERNSEHEN aufgetreten und die Zeitungen schrieben andauernd über sie.

 

Paderborn, 16. Oktober 91. "Zimmerlesung" bei Uta Koppel, Pressesprecherin der Kogge. Ich lese aus dem neuen Buch. Intensive Gespräche über die "Kolonisierung" von Ostdeutschland. Die Zuhörer sind sich dieser Tatsache (selbstkritisch) bewußt.

 

Hannover, 17./19. Oktober 91. Während der P.E.N.-Tagung in Hannover konnte ich am Kiosk türkische, jugoslawische oder griechische Zeitungen kaufen, vom "Neuen Deutschland", der "Berliner Zeitung" oder gar der "Mitteldeutschen" hatte die Zeitungsfrau noch nichts gehört. Doch in Stuttgart gab es sie wenigstens in der Bahnhofsbuchhandlung, bei der - "Internationalen Presse".

Begegnung mit Hans Dieter Schwarze. Vorher noch mit Ingrid Bachér. Beide wollten mich kennenlernen, kannten meine Essays und Gedichte. Wahlverwandtschaften.

In der öffentlichen Diskussion ging es um den Ost-PEN, die "Auflage": Er solle gesäubert werden, die Nichtgenehmen oder Kompromittierten wie Hermann Kant oder Klaus Gysi hinausgeworfen werden, dies verlangte Karsunke. Wallmann aber attackierte Walter Jens, der möge seine positive Einschätzung von Christa Wolf und andern widerrufen, also "Selbstkritik" üben. Wo war ich da hineingeraten, war dies etwa eine Parteisitzung von früher? Dieser infame Antrag wurde abgeschmettert, nicht aber Karsunkes Antrag.

Ich schwieg zu all diesen Querelen. Ich fühlte mich wie auf dem Mond. Bisher waren diese inneren Bereiche eines quälenden Weltzustandes von Westen her unzugänglich gewesen, man hatte sie ganz uns überlassen; niemand hätte sich bisher angemaßt, ohne jede Erfahrung über diesen Zustand Bescheid wissen zu wollen, jetzt aber ist es so, als gehöre nun alles, auch dieser heikle geistige Intimbereich zu ihrer Welt; was gehört jetzt eigentlich nicht mehr dazu? Ich war verblüfft, ich hielt mich für einen Deutschen der dritten Art, ich hatte mich auf einem italienischen Berg im Niemandsland, im Zwischenraum also, "aufgespart", das heißt, auch jenen Teil in mir, der im Westen durch Anpassung abgeschafft werden sollte, hatte ich behalten; ich hatte den "Ossi" in mir behalten, der in traulicher Schizophrenie neben dem "Wessi" lebte. Dieser im Innersten gespaltene Zivilisationstyp und "in die Gegenwart gekommene" Zeitgenosse war entstanden durch schmerzhaften Umbau der Person, denn bis hin zu den raschen Reaktionen und pawlowschen Reflexen im Verkehr, bis zum Abgewöhnen von Gefühlen und Wahrnehmungen oder sich für Menschen und Dinge aus "Seelenökonomie" nicht allzusehr zu erwärmen, gab es eine neue Sozialisation für alle Zugewanderten, anfangs mit Todesgefühlen. Doch nach Jahren war dieser dann kaum noch im Streit mit dem abgesunkenen Teil meines Ich, der die traumatischen Erfahrungen aus dem ehemaligen zu Hause mit sich schleppte, mangels Reibung und durch langsames Abblassen und Vergessen der eigenen Wurzeln, die abgeschnitten wurden, blieb jener in mir wie eine alptraumhafte Kindheitserinnerung erhalten. Diese diffizile Doppelerfahrung also sollte nun gemeinverständlich und allgemein zugänglich und von jedem einsetzbar sein? Ich empfand es als peinlich, was da vorgebracht wurde, als wären diese Angeber nun mir selbst zu nahe getreten, und es verriet nicht nur die Ahnungslosigkeit der neugeborenen Experten, die mit starren moralischen Kategorien an dieses Trauma rührten, und Unvergleichbares vergleichbar machen wollten, sondern es verriet auch mangelndes Feingefühl und mangelnden menschlichen Anstand.

 

Seit November 89 war jene erfahrene und erlittene östliche Spaltperson heftig wieder aufgetaucht. Die Zeitunvereinbarkeit, die Ungleichzeitigkeit aber ist neu zum Leben erwacht, und sie kann gefährlich werden. Die nie vergessene, sondern nur abgesunkene Ost-Psyche ist nur überlagert von der viel stärkeren "erlernten" Westpsyche; sie ist nicht tot; so können sich jetzt bei Besuchen im Osten irre Zustände unangenehm bemerkbar machen; die östliche Außenwelt war bei meinen Besuchen wie das Phantom der eigenen Erinnerung, aber körperlich nun greifbar wieder da. Meine zweite "Heimreise" z.B., war eine Reise in die mir so nahestehende Fremde, daß ich meinte, in einen Alptraum geraten zu sein. Alles war anders, als ich es mir aus der Ferne vorgestellt hatte, weil ich nicht mehr in jenem alten Zustand lebte, bis er wieder als starke Irritation aufbrach. Ein Blackout an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nach der PEN-Tagung zeigte es mir auch, ein Chock, als ich die zerdepperten Grenzanlagen ansah, in das ehemalige verbotene Gebiet eindrang und als ich hinter mir Geräusche hörte, plötzlich dachte, ich werde erschossen. Eine andere Art von "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit", nämlich ein Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart.

Ich erlebte eine merkwürdige Denk-Übereinstimmung mit Ost- Kollegen bei dieser P.E.N.-Tagung im Oktober 91 in Hannover. Nicht aber mit jenen andern, den ehemaligen Dissidenten, zu denen ich, freilich als Siebenbürger, auch einmal gehört hatte; bespitzelt und von der Securitate verfolgt, außer Landes gegangen, verurteilt zu sieben Jahren Haft durch ein Militärgericht, empfand ich doch keinen Haß gegen das Land, keine Ressentiments gegen Kollegen oder Verfolger, eher Schuldgefühle, nicht durchgehalten zu haben, und zu Hause geblieben zu sein. So lange die Diktatur dauerte, fühlte ich mich verantwortlich, an das Land gebunden wie durch eine lange Krankheit, erst der Dezember 89 machte mich "frei", entließ auch mich, aber wohin, in welche neue und fremde Gegend wurde ich da entlassen? ....

Ich war bestürzt über den Haß, die Gleichgüligkeit, die verborgenen Ressentiments der Autorenkollegen, die während der SED-Zeit im westlichen Teil Deutschlands gezwungen oder mehr oder weniger freiwillig gelebt hatten, und heute noch da leben, wie viele andere, die nach 1990 noch dazugekommen sind.

 

Ich hatte freilich den Vorteil, daß es "mein" Siebenbürgen, eine Art kleine DDR, aber ohne D-Mark, durch massenhafte Aussiedlung , also Selbst-Abschaffung meiner Herkunftsgruppe, nicht mehr gibt, daß es bodenlos geworden ist, eine Art Phantasieland, wie etwa Ostpreußen für Michel Tourniers "Erlkönig", das so "gereinigt", keine Verachtung zuließ. Als Bruch-Erfahrung verdichteten sich bei mir genau so, wie bei vielen Kollegen, die von dort stammen, andere Wahrheiten, die nur im Ausnahmezustand spürbar sind. In einem eigenen Gedicht heißt es:

 

"... die bänke der kirche und die fenster höhlen die gasse wie ein großer fehler der wildnis, da fehlt der untergang, und sogar der friedhof wartet umsonst, die leere wütet lauter und lauter zu hören ist nichts. "

 

25. Oktober 93: Dieser Zustand ist radikaler, als der ostdeutsche, doch mit ihm verwandt: 9. März 1990. Der Besuch in der Vaterstadt S. Vernichtungskräne des Hingerichteten, die die Unterstadt zerstören sollten, ein Teil liegt in Trümmern, wie nach einem Erdbeben oder Luftangriff, ein Teil des Neuen Marktes, der Mühlgasse, die Kräne strecken ihre gewaltigen Märklin-Spinnenarme in den heimatlichen Himmel, den ich gesucht hatte, da suchte ich nach einem Telephonbuch, ging zuerst in einen Optikerladen, ließ meine Brille, deren Rahmen sich verbogen hatte, geradebiegen; werde ich nun besser sehen? Dann in einen Bäckerladen, früher "Kwischinsky", wo ich als Kind Stollwerk gekauft hatte, und schließlich in ein obskures Amt im Toreingang zum Baruchhaus, wo ich vor einigen Jahrzehnten geboren worden war, also "auf die Welt gekommen bin," eine ganz andere Welt; da stieg ich die drei Treppen hinab in die ehemalige Kellerwohnung des armen Schusters, dessen Frau aus der "Tschechei" stammte, wie meine Mutter sagte, und deren Rock hinten nachschleppte wie ein Fuchschwanz, und dort saß eine junge Frau nun vor einem Tisch, auf dem Tisch staubige Akten, ein Telefon, eine Amtshöhle, unheimlich verlassen, arm und trist, und ein furchtbares Gähnen, ich meinte es zu hören, lag im Raum. Ich fragte nach dem Telefonbuch. Es gibt keines. Wie es keine genauen Landkarten gibt. Ich bat die junge Frau, telefonieren zu dürfen, sie war freundlich, sie atmete auf, erlöst aus ihrer Verlassenheit, und einem täglichen zerstörerischen Nichtstun in diesem staubigen Untergrund, Amt. Ich rief Marianne an, um die Adresse von Norbert zu erfragen. Sie wußte sie nicht. So irrten wir weiter. Schön, die Kindergedanken kommen, erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch. Jetzt sitzen dort drei traurige Menschen, der Vater, er ist Eisendreher, nun krank, die Lunge ist krank, er fragt nach Medikamenten. Ich sage: das Rote Kreuz. Die Mutter mit dem Sohn in der Küche. Der Sohn hat eine Siebenbürger Sächsin geheiratet, sie werden auswandern, sagt die Mutter, müde von der großen Traurigkeit, niedergeschlagen; sie hebt den Kopf die ganze Zeit nicht hoch, sie hebt ihn nicht wirklich, er bleibt auf der Tischplatte liegen. Das Haus, sagt der Vater, soll abgerissen werden. Er weiß gar nicht, daß die Vernichtung gestoppt worden ist. Für sie ist die Revolution wie nicht gewesen; der Alltag ja, der geht so weiter, wie die Sekunden. Sie scheinen zu frieren. Ein Frösteln in allen Räumen.

 

Wie aber kann man so bodenlos weiterleben, wenn die Illusionen der Zeit, des Raumes, der Sprachlogik hautnah im Raum der eigenen Erinnerungen, ja der Kindheitserinnerungen entlarvt werden?

("Wie dann noch/ reden.// Als säße er auf der Leitung/ verkohlt am Traumende. Und fällt./ Vor dem Abgelebten,/ der Tod... Streich durch was Himmel war/ gebrochen und wir./ Darüber die Erde tief;/ der vergangenen Zeit/ entsprochen.")

 

Wulf Kirsten widmete ich nach meinem Besuch in Weimar ein Gedicht: "Siebenbürgen/ Sachsen und Thüringen." Eine "Heimatkunde".

 

ALTE SÄRGE, DIE IHR NOCH HABT, betrachtet ihr, hie

und da einen Holzspan unter dem Nagel, einen Balken im

Auge. Leben, vor dem Kopf ein Brett; Wir haben den Sarg

längst vernagelt, wie diesen hellen Kopf, der Tote darin ist

in der Erde schon solide zu Hause. Darüber zu besingen,

was blieb - im Gedächtnis, denn das Land ist vergangen...

Hundsbach unter dem Kino der Stirn, ein Lichtbogen,

der war. Ihr zählt das Verbliebene. Wir schon das Nichts."

Auf jeden Fall gehört dieser Zustand nun ins vereinigte Deutschland, läßt sich nicht mehr als exotisch abschieben. Auch die Fremdsprache Deutsch, ein Paradox als "Herzwerk" und Verloren-Sein, gehört dazu; aus dieser Dissoziation wird ein atemberaubender Grenzgang ins Nochniegewesene möglich.

 

31.Okt. 1991. Für die ehemaligen DDR-Dissidenten im Westen, gibt es ihr altes verhaßtes Land noch, es gibt den DDR- Staat in ihrem Kopf, in ihren Frustrationen und Haßgefühlen; Jentzsch sprach von Verachtung. Die Stasiakten führten zur schmerzlichsten Erfahrung ihres Lebens, daß sie von Freunden, dem Bruder, der Frau bespitzelt und verraten worden waren; der Zusammenbruch des Vertrauens, vielleicht "Weltvertrauens", läßt sich kaum mehr heilen, verändert die Psyche radikal. Und ich denke da auch an Uwe Johnsons lange vor 1990 erlittene Erfahrung: der Verrat seiner Frau, der ihn zum einsamsten Menschen gemacht hatte und möglicherweise sein Ende beschleunigt hat.

 

10./12. November 1993. Der junge 0stler Kurz Drawert hat diesen Weiter-Bestand der DDR in den Köpfen als eine Art "Mythos" beschrieben. Der "Realsozialismus" erscheint so als letzter Verwalter des Imaginären, als Phantasma, ja als Wahn nach dem Zusammenbruch des DDR-Systems, Nachwehen, Konvaleszenz einer sozialen Krankheit, die diese Wunde hinterläßt, die so schnell nicht heilen wird.

" So überlebt sich das Gescheiterte, und so wiederholt sich auch die Idee als Mythos von der Idee." ( "Haus ohne Menschen", S. 30). Aber das "Gescheiterte" steht bei Drawert auch als nihilistische Umkehr, die nun damit jeden Sinn, jede Vernunft als abgeschafft erklärt: "Die Welt als Produkt einer Vernunft ist damit endgültig disqualifiziert", daß nun "jedes ideelle Modell" leer sei, und was Intelligenz bisher "im vorchaotischen Zustand festhalten konnte", sinke nun vor unseren Augen "in seine nicht-intelligiblen Urformen" zurück. Dies sei am Alptraum des Ostens sichtbar geworden, und gelte allgemein, nämlích nichts anderes gelte weiter, als "die Dissimilation", der Zerfall. Die außerordentlich treffende Analyse des negativen Zustandes ist faszinierend, jedoch fatal wie vieles heute, denn ohne nach dieser Reinigung, die notwendig war, diesen Zerfal^l des Falschen, das neue Nicht-Wissen vom Weiteren auch als positiven Wert einzusetzen, hieße den Raum der Ou Tópia und der Hoffnung völlig zuzuschütten. Und wir könnten dann Dantes Inschrift über dem Eingang zum Inferno wieder als den Eingang zur deprimierendsten Zukunft sehen und uns ungehemmt der letzten Stimmung, der Verzweiflung hingeben: "LASST JEDE HOFFNUNG FAHREN".

 

13. November 93. Ich beschäftige mich wieder mit dem wahnsinnigen marxistischen Denker Louis Althusser. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, vor allem diese: Schreiben, Denken können keinen Trost mehr vermitteln. Nichts von dem, was ich nur rational "weiß". kann mir weiter helfen. Und da denke ich wahlverwandtschaftlich an Althussers "Überraschung", daß er seine (lebenslang erarbeitete) eigene Theorie "nicht für das Veständnis dessen zunutze machen konnte, was mir widerfahren ist." A. sucht Dokumente zusammen, um sich in einem Tagebuch zu beschreiben. Auch hier keine Autobiographie sondern die Geschichte seiner Gefühle und seiner Halluzinationen. Also Illusionen (Montaigne). Es ist der UNORT, der ihn umbringt! Das Nichtreale des eigenen Lebens, das er nicht weiß, aber lebt. Dieser UNORT ist wie bei Robert Walser die Klinik, und die ist zwanghaft selbstgewählt, würde mein Gewährsmann und Alter Ego Templin sagen; bei Templin, meiner Figur, die ich hier nun einführe, bin immer noch ICH dieser Ort, um nicht leben zu müssen. Bei Althusser ists der UNORT, der einen wichtigen Grund hat: sich dem Prozeß nicht stellen zu müssen. Bekanntlich hatte er im ausbrechenden Wahn seine Frau Hélène erwürgt. Unort Heilanstalt: um den wirklichen Ort, die Gerichtsverhandlung wegen Mordes zu vermeiden. Anstelle dessen: ein BUCH. Und ein Selbstverhör.

 

15. November 93. Am beeindruckendsten hat Wolfgang Hilbig in seinem Roman "Ich" den neuesten nihilistischen Komplex seit 89, den schlammigen UNORT erzählend auseinandergenommen; beschreibend zum Roman des Ich-Zerfalls gemacht. Er wohnte mit Natascha Wodin auf der Solitude uns gegenüber, schrieb nachts an seinem Buch. Als ehemaliger Bergmann war er gewohnt, nachts zu arbeiten und am Tage zu schlafen. Er ist wortkarg. Er kann mündlich seine Gedanken kaum formulieren, umso wortmächtiger ist er in seinem Text, der einen ungeheuren Bogen schlägt.

 

("... der hier das Wort nimmt, keines, das trifft; Trauer ist vergangen, welche Kugel soll da noch töten, ein Blitz? wenn die Kiste vernagelt, jener, der schreibt, nicht mehr spricht. Ach, Lyrik, das Vor Bild unter der Erde hat Schweigen im untergegangen Sinn; ein letztes Mittel, verzweifelt aus sich zu entkommen..." "ALTE SÄRGE...").

Und ich fühle mich dabei an die eigene Vorstellung erinnert, daß zwischen jenem "Ich", dem Schreibenden und den Diktatoren eine Verbindung besteht, beide überspringen die Wirklichkeit, wollen sie zwingen, ihnen zu gehorchen. Der Schreiber, Parodie des ohnmächtigen Diktators, der sich mit der Sprache auch vor dem Leben verbarrikadiert, versucht Leben im Wort zu vernichten, um zu herrschen, Ungeduld, die eigene Phantasie, den eigenen omnipotenten Wunsch an die Macht zu bringen, das Reale, das dabei hindert, abzuschaffen. Und durch die "Berichte" für die Stasi wurde, ähnlich wie in der Ideologie, die Aufklärung, die "Avantgarde" und das Autoren-Dasein verhunzt.

Feuerbach, dem gebildeten SSD-Führungsoffizier wird (in Hilbigs "ICH") seine Sondermisssion zur Utopie-Einlösung und Überwachung in den Mund gelegt, das SED- Weltveränderungs-Projekt ist die Parodie Hegels und Kants und Marx`, diese schreckliche Niederung der Parolen- und Geheimdienstunterwelt als Endpunkt und Orkus des Wortes und seines Zeitalters. Der Osten als verhunztes Projekt der okzidentalen Aufklärung - oder Anmaßung: endzeitlos die Totalitäre Seele.

 

16.November 1993. Heute wieder zu Althusser gekommen; ich las meinen Text vom Sommer, fand ihn wichtig als Spiegel:

 

Templin empfand den gescheiterten Denker Althusser wie ein Alter ego, er hatte ihn in Paris noch 1990 kurz vor seinem Tode aufgesucht, doch konnte er nicht mehr mit ihm sprechen... Von einem Schüler Althussers hörte er, die alte Krise, die zu seinem furchtbaren Zustand geführt hatte, habe 1980 mit Magenschmerzen begonnen, und alles, was A. zu sich genommen, habe er wieder erbrechen müssen, Doktor Etienne habe in Endoskopien Geschwüre festgestellt, "besorgniserregend," gemurmelt, Geschwüre, sie mußten operiert werden; die Operation, die technisch zwar gelang, wurde mit einer doppelten Anästhesie ausgeführt, diese jedoch löste neue Depressionszustände aus, keine der bisherigen, die nur neurotischer Art waren, sondern eine akute klassische Melancholie; eingeliefert wurde er diesmal in die Klinik am Parc-Montsouris (rue Daviel), um Hélène die täglichen Besuche zu erleichtern, eine Klinik ganz in der Nähe, Hélène, die Jahrzehnte seine sich steigernden Angstzustände ertragen mußte, war von Juni bis September da, bei unbekannten Ärzten hatte er das Medikament IMAO eingenommen, das mit dem cheese effect, das also ins summende Nichts reindämmernd, mentale Konfusion, Selbstmord- und Verfolgungswahn auslöste, so daß er kaum mehr die Körperbewegungen beherrschte, andauernd und unkontrolliertes Erbrechen überfiel ihn. Sah nicht mehr unterscheidend genug, und auch der Urin außer Kontrolle; ebenfalls die Sätze, Adverbe verbanden sich hemmungslos mit dem Körper: anstatt der Substantive war ein Arm da etc. Und das Summen im Hirn wie eine Schlaf- und Wasserblase gefüllt mit Leere, die aufs Nasenbein drückte, unaufhörlich außerweltliches Auswachsen von Raumgefühlen aus und über ihm, teils am Ohr, teils am Nasenbein. Also eine unkontrollierte Zustandsbewegung von innen, die ja auch bei Normalen immer da ist, nur eben beherrscht. Und hielt delirante Reden, sowohl Worte, wie auch Wahrnehmungen, entliefen ihm wie wilde Tiere, außer sich, gefangen, und sein Ich ihr Diener. Und redete davon auch zu den Besuchern, daß er sich umbringen müsse, daß ihm zwei oder drei Männer nach dem Leben trachteten, einer mit Bart, und daß ein Tribunal, mit Sitzungen im Nebenraum, ihn eben gerade zum Tode verurteilen wolle...

Es war ja dunkel gewesen, schrieb er: Jedenfalls ging es doch um das pathologische System des vorweggenommenen Todes im Selbstmord, um denen nicht in die Hände zu fallen, mich umzubringen, möglichst präventiv ins Dunkel zu kommen, ohne Qualen. Die Besorgnis der Freunde aber kam auch aus andern Zonen des Vergessenen, das ich jedoch umsomehr und auch umsoweniger nicht mehr weiß, bin angewiesen auf sie als Zeugen, diese Furcht in der Amnesie verschüttet, daß ich nämlich nicht nur mich selbst auslöschen wollte, sondern auch jede Spur meiner irdischen Existenz, so möglich, also bis auf den letzten Zettel alles, was ich hervorgebracht hatte, zu vernichten, meine Bücher, Manuskripte, Aufzeichnungen, ja, die Ecole niederzubrennen, und schließlich mein anderes Ich, falls möglich, nämlich Hélène auszulöschen. Und Freunde und Ärzte fürchteten, es sei ein so irreversibler Zustand, daß mir die lebenslängliche Einweisung und der lebenslängliche Heilanstalt-Tod drohe. So erhielt ich kein IMAO mehr, sondern Anafranyl, mein Zustand besserte sich zusehends; und sie konnten mich in kürzester Zeit aus der Klinik entlassen.

Ich traf Hélène wieder, und wie sonst bei solchen Anlässen, wenn ich aus der Klinik kam, fuhren wir sogleich in den Süden; doch schon am nächsten Tag kam ihr Ausbruch, es war im Hotelzimmer nach einem Bad, und eigentlich ruhig, aber sie sah in meinem Gesicht die ersten neuen Anzeichen eines Schubs; die Jalousien waren halbgeschlossen, dunkel also, draußen Hitze und Sommertag mit Zikaden; sie könne nicht mehr mit mir leben, schrie sie, ich sei ein Monster, schrie sie; ich aber lag wie tot auf dem Hotelbett, schrie. Als wir zurückkamen, schrie sie weiter; und suchte dann eine andere Wohnung, fand aber so schnell keine; und so blieben wir in Höllengemeinschaft in der alten Wohnung zusammen, wie Steinhälften nebeneinander lebend, essend, schlafend, und so verließ sie mich trotz meiner andauernden Anwesenheit, so gab es dieses Reißen, Herzzereißen auch der Dinge um mich, sie und in mir tickende Wunde; ja, dann stand sie oft vor mir auf und verschwand für den ganzen Tag, wenn ich sie anredete, verweigerte sie jede Antwort; mit mir nichtsprechend da zu sein, war schlimm; und sie zu sehen, ohne daß sie da war, so ein Abgrund; ich sah in allen schwarzen Farben vor mir sich auftun ein Maul, die Zähne bissen manchmal auch zu, faßten mich aber nicht, weil es mich auch gar nicht mehr gab, gottseidank, dachte ich; nur, warum tut dann alles so weh, wenn es mich überhaupt nicht mehr gibt? Denn sie lief in die Küche oder ins Zimmer, weigerte sich, mir zu begegnen, würdigte mich keines Blickes. Und essen, essen schon gar nicht, das kannst du vergessen, vergaß es nicht, in meiner Anwesenheit zu essen, als wärs obszön, und eine organisierte Gefangenschaft der Einsamkeit, begann da als Inferno, freilich wars Hoffnungslosigkeit, die am Abgrund der Zukunft liegt, da es sie nicht mehr gibt, ohne jede Möglichkeit, und hatte immer Angst gehabt, verlassen, vor allem von Hélène verlassen zu werden, und nun verließ sie mich in meiner Anwesenheit täglich, Tod also bei lebendigem Leib. Ich wußte, daß sie mich nie verlassen konnte, und so hatte sie jetzt eine neue Sache ausgedacht, einen einzigen möglichen Weg, nämlich sich umzubringen, so mir, dem Monstrum, zu entgehen, und begann Medikamente dafür zu horten, sorgfältig auch Rezepte und Bücher über den Selbstmord, und unser Freund Nikos Poulantzas, der sich in einem Anfall von Verfolgungswahn vom Wolkenkratzer auf dem Montparnasse aus dem 22. Stockwerk gestürzt hatte, geriet ihr zum verfänglichsten Vorbild, das geendet hatte, also nicht mehr war; doch sie selbst schon er in Gedanken, der zerfetzte Körper unten, Nichtmehrsein; als Phantom existierend, stärker als alles, was faßbar war und greifbar. Oder auch Anna Karenina und die abgefahrenen blutigen Köpfe unter den Zügen, und gebrochene Glieder unter den Lastwagen. Und eines Tages, mit maximaler Ruhe und Natürlichkeit, keine Miene verzog sie, bat sie mich dann , ich selbst solle sie töten, und sie zeigte auf meine Hände, auf den Küchentisch mit den Messern, dies ließ mich erzittern, der Horror war total, der Körper nur kalter Schweiß und Espenlaub, und alles in mir wieder verdunkelt. Dies in der höllischen Zweisamkeit, aneinandergefesselt, und hoben das Telefon nicht mehr ab, an meinem Arbeitszimmer hing ein Zettel: Vorläufig geschlosssen, nicht insistieren.

Sonntag , den 16. November neun Uhr morgens. (Geschichte von einem, der im Halbschlaf seine Frau, die ehemalige fanatische Partisanin und Kommunistin umbringt.) Zwischen zwei Nächten und Dunkelheiten , das, was nicht nennbar ist, als wäre es die Strafe für mein überhebliches Wachsein, traf mich, nein sie durch meinen Blick, der graue Strahl des Novemberlichtes durchs Fenster in unserem kleinen Apartment in der Ecole Normale, kommt von oben, das Licht durch sehr hohe Fenster, eingerahmt von kaiserroten Roulleaus, gebleicht von der Sonne, Zeit und verdreckt, beleuchtet den Hintergrund dieses Lebens, das Bett; und liegend darauf Hélène, auf dem Rücken, auch sie, wie ich, im Nachthemd, langes Gewand also, weiß, und sie gewissermaßen wie eine Schaukel oder Wiegholz der Körper, das Becken auf dem Bettrand, und die Füße auf dem Teppichboden, unsicher herbhängend, die Beine schlaff; ich aber kniete vor ihr, nahe, ganz nahe, gebeugt über ihren Körper, und massierte ihren Hals, fast mechanisch massierte ich, in einem fort, in einem fort, unaufhörlich massierte ich ihren Hals, der wie ein Gegenstand an meiner Haut lag; und hatte oft den Nacken, den Rücken, die Nieren massiert, und hatte die Massagetechnik erlernt von einem Genossen im Gefängnis, vom kleinen Cler, einem Berufsfußballspieler, Tausendsassa, der alles konnte; das Gesicht von Hélène war sehr friedlich, war unbewegt, und die weit geöffneten Augen fixierten die Decke, ruhig, wortlos, still, zu still dieses Gesicht, erschrocken, ich, da, sah ihre Lippen, sah die Augen so starr plötzlich, sah ihre Lippen und zwischen den Zähnen, die Lippen ein wenig geöffnet, zwischen den Zähnen ein Stückchen Zunge, wie auf die Zunge gebissen, sprang ich auf, auch der Hals kalt, war kalt, der Hals, und sprang auf und schrie: Ich habe Hélène erwürgt, hab sie umgebracht, Hélène....

A. erwachte erst in der Heilanstalt Saint-Anne, der Arzt hatte ihm eine Spritze gegeben; seine Tat blieb auch weiter tief verborgen im Dunkeln seines Un-Bewußten, ihm völlig entzogen, unwissend zurückgefallen in ein Nichtsein: gelungen war die Auslöschung völlig...

Templin besuchte ihn mit einem seiner Freunde von der École im Frühjahr 82 in der Heilanstalt Soisy, wohin Althusser im Juni 81 mit dem geschlossenen Krankenwagen unter Bewachung überführt worden war, und der große grüne Fleck, Park genannt, das Gras wie geschoren: Null, dachte Templin, als sie mit Althussers Analytiker da durchgingen, überall die weißen Gestalten der Patienten, und die blütendweißen Pavillions zwischen hohen Bäumen, im Pavillon Nr. 7 traf Templin jenen Mann, den er fast für sein Alter ego hielt, aber nur unter Bewachung...

Wahnsinn war es, dieses Vorhaben mit dem Kranken nun über das Ende der totalitären Seelen und gar über das späte Ende von Karl Marx oder Lenins Hirn zu reden, von dem es heißt, es sei so verkalkt gewesen, daß es bei der Autopsie wie ein Stein auf dem Seziertisch geklappert habe, den aber Templin immer noch verteidigte, die Zeitungen natürlich, gefundenes Fressen, hatten die Roten und das Verbrechen nahtlos nun mit Hilfe dieses Falles Althusser, den Gattenmörder, zusammengebracht; A. aber, A. hatte anderes im Sinn, angestrengt zerfurchtes Gesicht, über dem eine tiefe Dunkelheit lag, Nacht, schwer, die versuchte, ihn in sich zu ziehen, Wachheit eine Leistung, umschattet die Augen, die müde waren, alles müde, und angestrengt da, nur der Mund bewegt und da, die Rede, Worte zwischen dem Zigarettenstummel, der immer brannte, die Hände mit einer abgenommenen Brille über dem Tisch, die Hände sehr alt, auch der Anzug dunkel, fast schwarz, dachte Templin über der abgemagerten Gestalt, fast eng der Brustkorb asthmatisch, Schultern kaum, das Hemd weiß mit offenem Kragen, sieben tiefe Falten auf der Stirn, hochgezogen darunter die umschattenen Augen, Brauen hoch, als wäre es ein zum Tode Verurteilter, der überlebt hatte, kam es Templin vor, die Hände um den eigenen Hals, zugedrückt, dachte er; und Althusser redete und redete nur vom Selbstmord, ein Vortrag. Und auf die Frage, ob er sich unglücklich fühle, frappierende Antworten. Merkwürdige Erinnerungen an das relative Glück während der Internierung im deutschen Lager nach dem Krieg. Aufzuckende Blitze: weils ein geschlossener Raum war, also auch geordnet und perfekt, Einheit, wie ich sie zum Glück auch in der Heilanstalt, oft wegen Geschützseins erfahre, sagte er, und schönes Ausgelöschtsein nun, endlich Nichts sein, völliges Nichtssein erstrebe. Tabula rasa jedoch ziemlich gelungen im leer summenden Raum der Krankenstation. Gelungen, nicht nur sich auszulöschen, und Templin dachte plötzlich, daß er hier einen lebenden Toten sehe, überlebt, längst vergangen, doch atmend, der verzweifelt versuchte, endlich sterben zu dürfen, zu entkommen, das zu sein, was er wirklich war, und auch das Gedachte oder Gefühlte, das die Welt war, die er mit sich trug, ja sogar sehen mußte, sekundenweise auf ihn zurollend, er mit. Dachte an ander Fälle, den andere in den Zimmern... ach, Hölderlinien...

Gottseidank war Etienne Balibar, Althussers bester Schüler und Freund dabei, zusammen mit Althusser hatte er "Marx lesen" geschrieben, langher, aber wahr, hatte Balibar gesagt, als sie durch die hallenden Gänge der Heilanstalt gegangen waren, und im Park unter zwei hohen Bäumen, Templin vorbereitend: Althusser habe schon 1977 auf einem Kongreß in Venedig zum Thema "Krise des Marxismus" mit beißender Ironie alles von ihm Gedachte lächerlich gemacht; Lenins Idiotie vom Primat der Politik, des Staates, der Diktatur z.B., oder von außen müsse den Arbeitern, in deren Wut und Elend, Schmerz und Misere, Bewußtsein, ha, Geschichte, Theorie aufgesetzt und reingesetzt werden, als wäre sie so nun beglaubigt: DIE Theorie, das Ausgedachte. Das Revolutionäre an Herrn Marx sei gewesen, daß er "Proletarier geworden", welch falsches Bewußtsein: mein Herr. Von den Kommunisten aber sei doch immer nur das schlechte Gewissen der Intellektuellen ausgenützt worden, die Gewissensbisse, besser zu leben, denkend: luxuriös, über alles hinwegfliegend - am Blindenstock der Feder, Luxus, im Verhältnis zum Elend der Proletarier, auch Marx sei kein Proletarier gewesen, klar. Und nie hätten die KP-Eliten auf die Leute gehört, sie nur verachtet, sie und die Denker nur für ihre Macht benützt. Und jetzt, ja jetzt haben wir die Bescherung, Marx ist tot, und die Feinde der Erde siegen, sie haben zu siegen nie aufgehört! Ha, Blödsinn, den "Massen" nun endlich das Wort, das ihnen genommene, zurückgegeben zu haben. Welch Wahnsinn, klar, dieses Null-Verhältnis, Tabula rasa, dies sei tatsächlich Althussers Leistung gewesen, ja, und vielleicht in diesem Auskotzen, in diesem Sterben, wissend, die Reinigung, Zukunft kommend aus dem Nichts der Geschlagenen, ihrer vernichteten Hybris.

A. aber war sich völlig dessen bewußt, und klar im Kopf, sich selbstbeobachtend, und so, als wäre tatsächlich einer in ihm, der sehr trauert ...Und doch eigentlich nicht die äußere Welt nur, meinte Althusser noch in der Heilanstalt, diese Ohnmacht, die ihn an Hélène im gemeinsamen Alltagsgefängnis gefesselt hatte, und die Anstrengung, sich etwas Essen machen zu müssen, einzukaufen etc., gar einen Umzug mit all den Büchern zu bewältigen, ja, mit der Putzfrau verhandeln, sie zuerst zu finden, oder diese Autorepparaturen, Tag für Tag etwas, auch das Geld anfangs, natürlich; nein, die Angst allein zu bleiben,. mutterseelenallein, und ohnmächtig, und diese Ohnmacht bestimme alles, auch den Arzt, seine ähnliche Angst, Alltag, Alltag, nein, diese Unfähigkeit zu existieren, ganz einfach da zu sein, habe der Psychiater nun auf ihn, A., projiziert, so machten das die Ärzte, selbst krank von dieser Umgebung, und nun habe er alles auf ihn, den Dingverlust, die Angst davor, der Arzt habe ausgeweitet, ausgeweitet seine Angst auf seinen Patienten, der aber trauere, um den Verlust, ja, ja, Hélène sei immer mit dabei. Und anfangs in der Heilanstalt habe er, A., der Patient, alles "verloren", das Nachthemd, die Schuhe, die Brille, den Bleistift, den Schlüssel vom Schrank, das Unterhemd, kunterbunt und durcheinander, und sei eine Art Konversion einer völlig andern Abwesenheit gewesen, der von Hélène, die schließlich die Abwesenheit seiner Mutter gewesen sei, und verlor alles, weil er alles verloren habe, nicht nur das eigene Leben, nein, alles, und es auch radikal angelegt, es zu verlieren, so Nichts da geblieben sei, als eine immense Trauer, ja, nach der totalen Selbstauslöschung, und ein Punkt Zero, und so schien die Heilanstalt der beste Ort, die Person und der Mord noch mehr, auch das Werk, alles, was jener mit dem Namen Althusser geschaffen, radikal zu zerstören, er hatte doch alles getan, um nach Saint-Anne und Soisy zu kommen, und auch Marx richtig gewählt, auch er Mitzerstörer, denn immer schon hatte er gesagt: mit Marx beginne etwas, das niemals ein Ende finden könne, die Krise, die jetzt begonnen habe, sei erst der Beginn, und wer denn, wenn nicht er, habe das ausgelöst, und auch der Imagination, der besitznehmenden Idee, was sonst, nicht mehr nur Paroli Bieten, wie das Heidegger oder Derrida getan, vorher auch Nietzsche, nein, und nicht nur den gesch lagenen Leuten aus dem Osten überlassen, habe er 1989 gesagt, fast hellsehend, es leben, was andere nur gedacht, die Auslöschung, die völlige Abschaffung des Nur-Gewußten, das ruiniere ja, habe ruiniert, und werde weiter ruinieren, das Biest Ideologie, ja, und alles schon geschehen, ein Nachhinken nur diese Auslöschung, diese verrückte Einheit als Zeit, als Worte, und so eine Auslöschung, doch so, daß Wörter noch wahrnehmbar bleiben, um so alles noch umzukehren vor dem endgültigen Ende der Welt, alles, wie einen Handschuh, sie so zu sagen, ihre Un-Wahrheit, ja, weil es, wie der Körper leider, einziger Zugang sei, um mit der Wahrheit, und dem was ist, reden zu können.

 

Florenz, 29. September 1991. Mit Francesco sprachen wir über Lucianos Krebs-Agonie. - Ein Thanatologe, Arzt und Sterbewissenschaftler, beriet uns und die Familie, sagte Francesco. Wir sollten immer zu zweit an seinem Bett wachen, sagte der Arzt, damit Luciano es hört, damit er sich nicht anstrengen muß, wenn man in einer nicht mehr auszuführenden Gesprächssituation mit ihm ist, ihn gar fragt, er reden möchte. Wie also, Herr Thanatologe: Ein freundliche, ja, gemütliche Hausatmosphäre soll es sein? Ich lese wieder Uwe Johnson, angespannt mit neuem Blick, Uwe Johnson, der Gleichaltrige, der Tote nun, wollte diese Heimkehr auch. Nicht nur Jetzt als Toter ein Wissender, auch bei Lebzeiten war er ebenfalls im Nirgendwo und unzuhaus. Tod auf der Themse-Insel, Deutschland,die Welt, alles zu viel.

 

17. November 1993: Ich lese in den "Mutmassungen über Jakob" nach. Genauer als anderswo, wird der SSD-Hauptmann Rohlfs, veraltetes Denkprinzip und Staatsprinzip, dingfest zur Figur gemacht.

Prnzip eines sich allwissenden Erzählers, der anstrebt die totale Verfügung. Und wieder fällt mir die Ähnlichkeit Diktator-Autor ein, der im alten Stil "Literatur treibt".

Ist damit auch die Literatur endgültig zu Grabe getragen? Das Mißtrauen ins Wort, nun so bis zum Wahnsinn dieser "Berichte" für die Geheimpolizeien, drastisch bestätigt?

 

18. November 1993: Ab 1961 gab es diese Verquickung des Einzelnen mit dem Staat, es gab die Profiteure, die Privilegienhierarchie, es gab Verführungen und Erpressungen - so daß alle zu Tätern und Opfern wurden.

Kurt Drawert, mit dem ich lange Nachtgespräche auf der Solitude führte, wird böse, wenn ich von dieser Verquickung und von der postmodernen Seelenstruktur des Spitzelnestes vom Prenzlauer Berg rede. Der Verrat seines ehemaligen Freundes Rainer Schedlinski hatte ihn so getroffen, daß er, der im Formulieren so Gewandte, zum Thema gar nichts Objektives mehr sagen konnte. Und er verwies auf seine Essays im "Haus ohne Menschen". Die Schuld eines "wesentlichen Teils" der DDR-Intelligenz, "die Denken und Realität in kein taugliches Verhältnis zu bringen imstande war", sei die Ursache, daß dieses "traurige Herkunftsland" sich "selbst ausgelöscht hat". Welch Unterschied seit Tauwetterzeiten (ab 68). Vorher war die Macht übermächtig, ein Riesenschatten, da gab es kein "Mitspielen" , das war furchtbarer Ernst und ging oft auf Leben und Tod, zumindest drohte langes "Verschwinden" und Haft. Da taten es viele einfach aus ANGST, es gab keinen Freiraum der "Gestaltung", Einwirkung usw. Erstaunlich, wie dann in den achtziger Jahren hier ein "postmodernes" Spiel im Intellektuellen-Raum seelische Müllkippen der Moderne auf Stasi-Art schuf. Schwerverständlichkeit via Verschlüsselung zur Analyse dieses schizophrenen Mülls eines Ich-Zerfalls im Herrschafts-Raum sind ja keine Stasi-Ästhetik eines neuen hermetischen Stils, sondern zum besondern Zweck von Betroffenen umgebogene und gewendete Metaphern-Konstanten der Moderne. Aber Literatur ist eben doch nicht am Ende, weil sie genau diesen besondern und einmaligen, so "durchsichtigen" und nicht nur privaten Zerfall mit ihren Mitteln am besten zeigen kann, ganz paradox auch anschreiben kann wider die Absolutmachung des Menschen. Ihr Stoff ist der Zerfall aber auch der Zufall: Es ist das, was jeder Staat fürchtet, das Unvorhergesehene, das schöpferische Element im Leben, auf das der Stasistaat frontal zuging, bis in die schlammigsten Seelenabgründe. Und dann doch daran scheiterte. Letztlich ist es das Ungewußte im Tod, dem keine Ideologie beikommt. Mir fällt dazu ein eigenes Antisecuritate-Gedicht ein:

"AUF DER GRENZE GEHEN IST VERDÄCHTIG! Doch lieb ich mir euren Verdacht, er/ bestätigt mir stets/ die Nützlichkeit meiner Vergehen./ Wie ist es doch anrüchig, nimmer gesehen zu werden,/ wie weckt ein sicheres Versteck/ das Große Mißtrauen: / wenn man über eure Köpfe hinweg/ schweigt.// Ich weiß:/ jede Nacht ist ein Verbrechen, jedes Herz ein Überläufer, / und der Tod ist mein Freund,/ vor dem ihr, mißmutig zwar, doch endlich/ den Hut zieht!" (1968).

 

 

20. November 1993. Ich sage Jann nicht, warum ich so kalt bin, so verändert. Das geht ja so weit, daß die Erinnerung, die Familie, die Freunde in mir kein Gefühl mehr wecken, als gäbe es sie, wie das Land, die Kindheit nicht mehr. Daß alles Erinnerte, das Erhoffte, die Heimkehr, die nun mit dem wirklichen Leben, der wirklichen Berührung zusammenstoßen, ins Leere greifen, unbegreiflicher und bodenloser werden, für immer. Irgendwo hatte man doch auf eine "Heimkehr" gehofft. Das ist nun vorbei. Und mit diesem Nichts gilt es nun zu leben und zu arbeiten. Endgültig. Das Vorläufige, das bisher galt, auch während der Diktatur galt, ist vorbei. Das bisherige Negative, alles Unerträgliche, gegen das man vorgehen, anschreiben, anreden und agieren konnte, war ja nur wie ein Spiel dagegen, Literatur. Auch das Exil hatte eine Dimension der Faßbarkeit in der Trauer gehabt. Kurze Zeit, dann weitete es sich aus zu jenem allgemeinen Exil, das den Tod in sich trug. Doch auch das noch faßbar, aussagbar, Schmerz im Text gelöst. Und weiter. Jetzt ist sie da, die absolute Ratlosigkeit, weil scheinbar alles erreicht ist, was sich denken läßt, doch ein Produkt Wirklichkeit ist da, das alles übertrifft an Trostlosigkeit, geballt nun sogar sichtbar: was ist! Und rückt mit Brachialgewalt alles wieder "zurecht".

Distanz, Absenz schaffen ein merkwürdiges Gefühl der Spannung, der Unberührbarkeit, wie früher, als ich im Osten lebte, den westlichen Besuchern gegenüber, nun hatte es sich umgekehrt; ich bleibe der Fremde, das letzte Phantom. Und manchmal bin ich davon überzeugt, daß ich diese Welt nur träume, plötzlich erwachen muß.

 

23. November 1993. Als wäre ich von ihnen angesteckt, bin doch auch noch ein halber Ostmensch: Die Sprachlosigkeit scheint heute groß zu sein bei den Entlassenen aus der "Entwirklichungsmaschine" Ost, es gibt keinen Spiegel mehr, den die Diktatur noch bot, der ist weg, alles geht ins Leere, man hat nicht gelernt, sich eigenständig, autonom, ohne jene Macht-Folie zu begreifen; es schien ja alles klar, der Hauptfeind ergab die Wand für das Echo. Und doch, jeder hat ein Leben verloren, eben jenes. Und der Phantomschmerz ist spürbar bis hin zu den "Emigranten in Pension", von denen ich einer bin. Die Trauer hat also nur als Negativspiegel etwas mit der verordneten Realität, der miesen, zu tun: "Sie ist ein Empfindungszustand, den jeder andernorts ebenso erleben würde, müßte er sein Lebenswerk wie eine in Bruch gegangene Keramik in Händen halten. Sie ideologisch zu funktionalisieren ist nur eine Schamlosigkeit mehr..." (Kurt Drawert).

Der Ostdeutsche ist wie in einem Reservat dem westlichen Seelenverlust entgangen, er hat überlebt, weil er eingesperrt war. Er ist plötzlich "frei" in die wirkliche Zeit und genau so miese Gegenwart gekommen. Es gibt das Alibi Diktatur nicht mehr, ein ganzes Land wird zum "kollektiven Übersiedler". Der in die "Freiheit" Entlassene ist an allem nun selber schuld. Der ihn lebende und bevormundende Fürsorgestaat ist tot; und Eigeninitiative muß gelernt, Hektik entwickelt, seelenbewahrende Trägheit abgelegt und die Arbeitskrankheit angeeignet werden.

Das gilt für den ganzen Osten. Der Riß zwischen Ost- und Westeuropa ist tief, das Ökonomische nur die Oberfläche. In Deutschland aber wird die ehemalige heiße äußere Grenze als Mauer zu einer viel furchtbareren inneren Grenze; als hätte die Trennung erst die Vereinigungsillusionen ermöglicht.

 

"Das dritte Buch über Achim" von Uwe Johnson wäre dazu zu lesen; das alte Buch über den DDR-Rennfahrer, damals, da gab es noch die alte innere Grenze, sie wurde nur verwischt, war nicht erkennbar, sie war verstellt durch die harte äußere, und erst ihr Verschwinden hat die Teilung, hat die seelische Zweistaatlichkeit ans grelle Licht des Tages gebracht; im "dritten Buch" hat sie Uwe Johnson schon wunderbar beschrieben, es war im Jahr des Mauerbaus und lang her: Damals, ja., hatte der westdeutsche Journalist Karsch, Freund einer ostdeutschen Schauspielerin, einen seltsamen staatlichen Auftrag, nämlich die Biographie des Rennfahrers Achim, auf den man doch so stolz war, zu schreiben. Er kommt also rüber in jenes merkwürdige Land, und es ist für ihn, den Westdeutschen, so, als wäre es ein anderer Planet, und so erfährt er schon nach wenigen Tagen, daß die beiden so nahen und doch so unendlich fernen deutschen Länder (und die Biographien seiner Bewohner) unvergleichlich sind, keinen gemeinsamen Nenner mehr haben; er muß sich auf das Unbekannte, auf diesen anderen Planeten einlassen, wenn er ein Leben beschreiben will, Achims Leben, er muß sich auf jene ganz anderen Verhältnisse einlassen oder scheitern. (Heute heißt es: es habe dies alles gar nicht gegeben, und alles sei sozusagen Illusion gewesen, was absolut und möglichst rasch zu vergessen ist!! Als wären nun die Ostdeutschen tatsächlich kollektive Emigranten im eigenen Hause, die sich mit DM-Hilfe ins total Fremde, das völlig anderswo ist, "einzugliedern" haben! Eine historisch einmalige und auch höchst absurde Forderung. Eine ZUMUTUNG!).

Aber es wird ja auch fürs Vergessen so manches getan. Ich habe es selbst gesehen: Z.B.bei Leipzig den größten Konsumtempel Europas, den flachgelegten Wolkenkratzer "Saalepark", springbrunnenplätschernde, musikdurchsäuselnde Warengötzenherrlichkeit, die für den Sieg der motorisierten Marktwirtschaft auf dem Boden der hinweggefegten DDR alles überschattet, was es an Korosions-Imperien, aber auch an Eigensinn hier noch gibt. Herr Karsch wäre hier geradezu unmöglich und unerwünscht! War damals seine Biographie des staatlichen Rennfahrers daran gescheitert, daß er zu viele brisante und die Staatspartei sehr störende Wahrheiten bei seiner Recherche zutage gefördert hatte, so ist heute von Scheitern keine Rede mehr: Millionen Lebensläufe werden mit Milliarden D-Mark "saniert" und radikaler abgeschafft, als das je eine Staatspartei imstande gewesen wäre! Auch in Huxleys "Schöner neuen Welt" werden ja; als wichtigste Aktion des Großen Bruders Fernsehauge andauernd Vergangenheiten vernichtet und fleißig ausgelöscht,denn nichts darf sein, außer der leeren Gegenwart eines Wegwerfvaterlandes. Und es liegt nahe, dies zu verstehen, ja, denn würde es ruchbar, wäre es aus mit dem schönen neobundesrepublikanischen Wiedervereinigungsmythos und dem neuen verlogenen Staatsfeiertag des DRITTEN OKTOBER. War da was?

Im Spiegel des schönen Negativen zeigt sich auch bei Johnson und zwar in seinem kleinen Roman "Zwei Ansichten", daß das fast schon auseinandergegangene Liebspaar, der Westdeutsche B. und die Ostdeutsche D., erst DURCH DEN MAUERBAU 1961 wieder zusammengefunden hatten, diese neue heftige Sehnsucht durch Trennung erzeugt, die künstliche Hitze bei den Getrennten D. und B. machte beide Länder, so wie wir sie kennen, erst möglich. Trennung hält diese fremden Leute zusammen: Er mit Auto und "Kameraauge", sie im DDR-Schwesternberuf voller sozialem Verständnis, aber auch Bewunderung für den West-Appeal. Er mit Schuldgefühlen für die Eingesperrte. Nach dem Fall jedoch dieses staats- und lebenserhaltenden Bauwerkes, das, wie es nun deutlich wird, auch für den Westen so wichtig war - und nicht nur für all die Sonntags- und Bundestagsreden, sondern Bedingung der Möglichkeit seiner Staatsdoktrin und auch jenes andern, verblichenen und unwahren, von "drüben" geborgten ersten Staatsfeiertags, so zeigt sich wieder einmal, welch Pech die bedauernswerten deutschen Staaten auch heutzutage mit ihren armseligen Feiertagen haben, vom deutschen Volke ganz zu schweigen. Ich rede nicht von den andauernden Siegern ganz da oben in den Manager- und Chef-Etagen, den vielen Millio- und Milliardären, sondern vom kleinen Mann Ost wie West auch heute wieder, der die Kosten bezahlen muß - nun auch DIE Kosten für den Mauer-Fall. Bei den östlich Mauerlosen ists etwas deutlicher, bei denen aus dem Westen wirds zur schleichenden Krankheit. Die ehemaligen "Brüder und Schwestern" leben kaum auf, sondern leben mit dem Gefühl eines großen Beschisses: "Die Grenze ist den Einwohnern der ehemaligen DDR nach innen gerutscht: als Gefühl der Zukunftsangst und der Unterlegenheit, der Wut und Enttäuschung über die Invasoren mit den Aktenköfferchen wird sie noch einmal errichtet." (Wilfried Schoeller im "Literaturmagazin" 31, Thema: Die innere Grenze.)

 

1. Dezember 1993. Ich blättere in Johnsons "Jahrestagen". Vereinigung schon bei ihm, dem Verschwundenen, im Bild des Verschwindens, hin zu jener Zone, wo die Toten sind! Sein großer Roman "Jahrestage", ein Jahrhundertwerk, endet mit einer seltsamen Heimkehr des Erzählers und seiner weiblichen Figur: "Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sei, das Kind, das ich war."

2. Dezember 1993. Ich bereite meinen Beitrag für ein Symposion in Bukarest vor. Schwanke zuerst, ob ich überhaupt fahren soll; ich denke mit Grausen an eine neue Begegnung mit meiner Fremde zu Hause, Begegnung mit dem zurückgelassenen Andern, Verratenen, jenem mahnenden Andern, der immer noch dort im Land lebt, vergebens wartet. Der hat eine ewige Ausdauer. Und der wird fragen: Wer bist du denn eigentlich DS, du Aufgesparter? Wir haben alle mehr von dir erwartet! Analysiere jetzt, was ist und was schlägst du vor...

Die Revolten im Osten haben nur ein Tabula rasa geschaffen, das Alte hinweggefegt, ohne einen Ersatz dafür zu haben; dabei ist der Verelendungsprozeß erst am Anfang, diese schöne "Freiheit", die nichts als Ungeschütztheit und Ellenbogentechnik bedeutet, wo die Schwachen und die Minderheiten an den Rand gedrängt werden: Frauen, Kinder, Alte und Kranke, Arbeitnehmer generell, Rentner, Schüler, Studenten. Geschützte Mieten, subventionierte Lebensmittelpreise fallen fort. Das erste, was die Währungsreformer in der DDR taten, war deren Abschaffung. Die Mietpreise klettern ins Ungemessene. Kostenloses Gesundheitswesen, Schulbildung etc. gibt es nicht mehr. Dabei darf man das "sozialste" Kapitalwesen der alten BRD nicht als Maßstab für den allgemeinen Zustand des Westens nehmen. Rußland, Rumänien oder Turkmenien haben kein West-Rußland, West-Rumänien, West-Turkmenien, und da ist die "Marktwirtschaft" eine Fata Morgana, ein Beschiß wie die gescheiterte rote Zukunftsutopie, genau so betrügerisch und illusionär, aber ohne deren, zumindest eingebildeten, ethischen Anspruch.

3. Dezember 1993. Besuch in Rom: Cappella Sistina. Ich entdecke wieder mit dem Auge diese phantastische Struktur: Kunst als Zusammenspiel verschiedener Existenzebenen und Zeitmodi, die selbst Spiegel für etwas anderes sind... Die Geschichte der Welt von der Genesis bis zum Zerfall, dem neuen Babel Rom. Und dem Verschwinden Gottes. Mache den Meditationsgang in der Gegenrichtung: vom Eingang (Rom) zum Altar, die Decke mit jener Geschichte als Abgrund über mir, hinter dem Kreuz, dem Grenzstein der Welt - das Jüngste Gericht, das dort seit 500 Jahren wartet. Es wird eben restauriert.

5. Dezember 1993. Beim Wiederlesen von Günter Kunerts Aufsatzsammlung "Die letzten Indianer Europas", muß ich an Thomas Morus` "Utopia" denken, freilich hier nun an eine "negative Utopie", die letzten Indianer sind bei ihm nun die Dichter, eine aussterbende Art...

Aber apropos U-Topie, Paul Celan sprach "vom Licht der U-Topie", das unverzichtbar sei; es stammt sprachgeschichtlich aus dem Griechischen: ou tópos, und bedeutet Nirgendwo, Nirgendort, Niemandsland. Eine "konkrete Utopie" ist, so Dudens Universalwörterbuch, "etwa die Bergpredigt", sie "schildert zwar einen nicht real existierenden Zustand, der aber durchaus Wirklichkeit sein könnte, wenn alle entsprechend handeln." Eine interessante Fußnote zur sprachspezifischen Verschiedenheit von "Utopie": Im Italienischen, im Französischen, im Englischen wird das Idealstaatliche, Ideale und Positive beim Begriff Utopie betont, (Petit Robert, Il nuovo Zingarelli), im Deutschen dagegen ist "Utopie" eher Spinnerei, die "Idee ohne reale Grundlage", als "undurchführbar geltender Plan" (Duden), im "Philosophischen Wörterbuch" von Kröner (1957), wird sogar das "Kommunistische", das als urkommunistisches Ideal bei Morus da war, hervorgehoben und dem "Utopisten", der im Untergrund "unausführbare Weltverbesserungspläne hegt" in die zu großen Schuhe geschoben. Und damit kämen wir langsam zum Tiefstand der gegenwärtigen Utopie-Diskussion, und wären nun beim offiziellen Heute der "Sieger" angelangt, vor dem die gesamte Tradition jenes "Lichts der Utopie" und der Hoffnungen verblassen muß. Nach dem Fall des Kommunismus die angeblich für immer erledigte Utopie! Schon Ernst Bloch hatte den unsäglichen "philologischen" Demontageversuch von Thomas Morus durch Heinrich Brockhaus in seinem "Prinzip Hoffnung" (S. 589ff) analysiert, gezeigt was für handfeste Interessen der Bewahrung eines ungerechten status quo dahinter standen. Heute bedarf es keiner subtilen Analyse mehr, alles ist so grausam klar und offensichtlich...

Am 9. Dezember die Rückfahrt nach Stuttgart. Die Flugkarte ist schon da: Abflug 12. Dezember, 15 Uhr, Ankunft in Bukarest 17 Uhr 5. Die Erregung ist unerträglich.

10. Dezember 1993. Ich flüchte mich in Bilder und Musik. Sixtina. HAYDNS SCHÖPFUNG. "Und die Erde war wüst und leer", Abklingendes langes Unison c, Paukenwirbel, Big Bang. Streicher im Piano... die ersten Violinen kommen zum Thema auf f, als wüßten sie, daß Kepler den Erdakkord mit fa-mi-fa gehört hat, fame, miseria, fame.

 

Der 11. Dezember vergeht mit quälenden Vorbereitungen und Telefonaten. Einkäufen. Durchsicht des Vortrages und der Gedichte für die Lesung. Nichts mehr scheint dem wirklichen Zustand und der Realität, die mich erwartet zu entsprechen. Als hätte ich vor der Securitate weniger Angst gehabt; 1974 war ich ohne Rücksicht "hinunter" gefahren, die Verhaftung, die Prügel, die Zelle in Kauf nehmend. Ich wollte meinen Sohn rausholen! Und jetzt?

 

Am 12. Dezember also die Abfahrt. Jann bringt mich gegen 10 Uhr zum Flughafenbus in die Lautenschlagerstraße. Es schneit. Beim Lufthan- sabüro wird mir gesagt, es könnte sein, daß der Flug nach Frankfurt wegen Schneefall ausfällt; ich könne aber mit dem Flughafenzug fahren. Kurzes Nachdenken, und ich bitte zu stornieren. Ich weiß, das Wetter kam meinem innern Zustand entgegen... Ich schicke ein Telegramm. Es wird nicht mehr rechtzeitig ankommen.

 

13. Dezember 93. Einen Augenblick denke ich, es ist nichts als persönliche Schwäche, die mich die Heimreise verwerfen ließ. Neuer Zusammenbruch des Selbstbildes.

 

25. Dezember 93. Weihnachten? Ich hörte Sternlieder. Und dachte an alte herzerfrischende Weihnachtsbräuche und Gerüche. Gestern die Bescherung bei Freunden, wir schenkten uns, wie alle Jahre: Nichts. Ich nahm aber alles auf Video auf, vor allem das lautstarke Absingen von Stille Nacht in mehreren Sprachen - schon seit Jahren ohne Kindheitsgefühle. Ich dachte an die vielen Versäumnisse, an diese für immer zu versäumende Heimreise, und überhaupt diese Welt, bei der wir alle einmal zu Gast gewesen sein werden. Oh, die Utopie Nirgendwo schon als Schatzhaus der allfälligen zukünftigen Erinnerung, die längst auf uns wartet.

Was bleibt da überhaupt noch, will Jann wissen.

Ich finde eine Notiz aus dem Dezember 89, die mir erhellend erscheint: Es ist beruhigend, zugleich merkwürdig, wie sich die Realität, als wäre sie Fiktion geworden, der Literatur immer mehr annähert. Auch die Grenze zwischen Schreiben und Wirklichkeit ist in diesen Tagen aufgehoben, genauso wie sie zwischen Fernsehbild und Wirklichkeit aufgehoben ist. Denn in den wenigen Revolutionstagen verknüpfte sich in einer unverhofften Schärfe das bisher nur Gedachte mit den Ereignissen, dokumentierte dieses, zeigte in einem enormen Zeitriß einen Weg, der nur in der Phantasie bisher gangbar schien, in der Literatur, in der Poesie. Diese spielt eine merkwürdige Rolle: Einesteils hat sie ausgedient, andererseits scheint ihr eine ganz neue Rolle zuzuwachsen: nun Teil der Realität zu werden. Und welch ein Glücksfall, daß die abgestandene laue Ästhetik in diesen Tagen verspricht, eine des aktuellen Bewußtseins zu werden. Romantische Phase?

 

26. Dezember 1993. Diese merkwürdige Erfahrung, zu meinen, von niemandem mehr gesehen zu werden, wie früher als Kind. Gestern sprach ich Dinu, unseren Bauern, an, er ging an mir vorbei, als wäre ich Luft. Daß ich manchmal meine, auch durch die Dinge hindurchsehen zu können, macht mich unsicher, sie scheinen an solchen Tagen, und in diesen Zuständen, durchsichtig zu sein wie Glas: diese Dinge um mich, als könnte ich sie (bei soviel Abschied) nun schon durchschauen. Wenn ich beim Frühstück vor dem Marmortisch sitze, ihn anstarre, beginnt die Maserung lebendig zu werden, schließlich bewege ich mich wie ein Lichtpunkt im Stein; "Projektionen" im Spiegel auf meinem Gesicht, sekundenschnell aufblitzende Bilder durch meine Vorstellung von mir selbst, ich sah mein Kindergesicht, aber auch voraus in die Zeit, erschreckend: mit achtzig, Runzeln, Falten, ausgetrocknet.

 

27. Dezember 93. Weißt du übrigen, sage ich zu Jann: Ich lese wieder in Hegels "Phänomenologie". Da versteht niemand ein Wort, verstehen kann einer nur, wenn er diesen ganzen Prozeß, aber intim und durch sein ganzes Leben, schon selbst in sich hat, diese Prozesse, die Hegel versucht zu analysieren. Eigentlich ist dieses ganze Unternehmen eine Unmöglichkeit und am Rande des Unsagbaren und Unfaßbaren. Es ist allenfalls im Gedicht möglich, wie es Hegels Freund Hölderlin getan hat, und dabei krank geworden ist. Welch ein Mißverständnis von Marx, anstatt auf dem Kopf zu gehen, den Abgrund zu sehen, alles "auf die Füße stellen" zu wollen und so natürlich auch, wie sollte es anderes möglich sein: mit den Füßen zu denken. Daß alles nur ein "Veräußern" sein soll, scheint zwar evident und die härteste Wirklichkeit, die uns bedrängt, und ist doch nur halbwahr, also sehr subtil falsch! Dies hätten auch die Geld-Herren ganz gern, daß alles veräußerbar, auch meine und deine Seele käuflich sein sollen. Der alte Bärtige hat so wenigstens zum Kollaps des Denkens heute, zum Negativen viel beigetragen, zur Tabula rasa. Wie zur Strafe kann nun Philosophie auch nichts anderes sein, als eine Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gedicht, also dem Brennpunkt Subjekt, wie das ja schon Kant, dann sehr spät, manieriert und verworren Heidegger getan hat.

Und ich versuche Jann zu überzeugen, zeige ihr meine "Zusammenfassung" für dieses Buch: Ein "transzendentales Objekt" und ein "transzendentales Subjekt" treffen sich und ergeben Erfahrung, eine Art Laboratorium des Moments, strukturiert ihn, als wäre es ein Momentgesicht oder Momentgedicht aus der Manigfaltigkeit der Erscheinung, dem Vielen, Zuvielen, dem Chaos. Doch diese Struktur einigt sich noch weiter und höher aus dem Phänomenalen ins Noumen des reinen Gesetzes und der Regeln. Kant zeigt ja auf diesem Weg, wie synthetische Urteile a priori überhaupt möglich sind, ja, wie eine Welt der Erfahrung möglich ist, die durch solch eine synthetische Urzeile konstituiert wird. Eine Art logische Zauberei. Und das eigentlich rein poetisch, das heißt: die gemeinsame Wurzel von Intellekt, der dem Verschiedenen, Mannigfaltigen die Formen zur Verfügung stellt, ist die Einbildungskraft (jedenfalls in der ersten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft", in der zweiten nimmt er es leider zurück.) Heidegger aber geht auf die Einbildungskraft und Imagination zurück. Und hier setzt eine ganze Geschichtsphilosophie ein, die heute äußerst wichtig geworden ist. Heideggers transzendentale Einbildungskraft. Etwa die Herstellung der Welt und der Geschichte durch apriorische "Einfälle" und Entdeckungen, die übersetzt in Technik tief hineingreifen ins Gewebe der Natur, also auch kollektiv projizieren und verändern. (Noica spricht von "intruchipare" - Verkörperungen.) Heidegger geht von der wichtigsten "Verkörperung" aus, der ZEIT. Auch für Kant ist es die Brücke zum Realen. Substanz ist Dauer. Kausalität aber ist Succession. Und alles geschieht im Bereich des Möglichen und der Zukunft des JETZT. Und die Urkraft ist jene des Gewesen-Sein-Werdens, der unaufgebrauchten, noch kräftigen Zeit als Kraft des Werdens, possibilis salutis. Beispiel: Samen als geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Aber es gibt kein Ende, alternde Zeit mißt sich an ihrer Grenze, der erfahrbaren, denn es gibt nur die "Kraft des Werden" und die geht in unserer Entelechie über unseren Tod hinaus.So schließt sich der Kreis auch zum Messianischen, etwa bei Benjamin oder Celan. Oder zu Weizsäcker und der Mikrophysik. Daß es nämlich eine Einheit auch im Realen gibt, etwa im Organismus, dem Offenen System eben, zeigt sich klar. Bei Kant und Heidegger sind für Weizsäcker das Fundament der Physik, die sich sonst nicht denkt, gedacht, ihre Grundlagen gedacht, die unser Schicksal sind.

31. Januar. Silvester diesmal beim alten Berman Fischer und seinen Töchtern. Sogar er, der fast Hundertjährige, trank zum "Angedenken" ein Glas Champagner. Vielfaches Gläserklingen, wie eine Schelle, Nachklang von gestern, von vor einem Jahr, vor zweien, dreien oder vor fünfzig Jahren. GBF erzählte von seinem Buch "Wanderer durch ein Jahrhundert". Er war noch Offizier im Ersten Weltrieg gewesen. Er war im Exil. Er war in die neue BRD zurückgekehrt. Das Grab seines Vaters lag lange "drüben" und verlassen im geteilten Berlin:Ost, auf dem jüdischen Friedhof Weissensee. Doch seine Frau Brigitte konnte 1991 wieder dort beerdigt und mit ihren Eltern vereinigt werden!

Ich lag nach dem Jahres-Fest übernächtig spätnachts im Bett. Und kam im Traum wieder zu einer Prüfung zu spät, Ich hatte wieder keinen Bleistift. Auch hatte ich keine Ahnung von der Materie, der Kopf stand mir nach was ganz anderem, in ihm wars helle, doch war ich im unbekannten Stoff voller Sorge gefangen. Die Klassenkameraden sahen mich feindselig an, als auf der schwarzen Tafel neben dem Katheder die Prüfungsfragen erschienen: h 25 stand da schwarz auf weiß, als wäre es eine neue Formel. Ich versuchte sie umzukehren, die Umkehr ergab eine wichtige Zeitansage: nämlich 25 Uhr.

 

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