Dieter Schlesak

 

 

 

SO NAH, SO FREMD

Heimatlegenden

 

Abschied nach dem Umbruch im Osten

Tagebuch, Gespräche, Prosa, Gedichte und Essay

1989-1994

 

 

Zum Inhaltsverzeichnis des Buches

 

 

 

 

 

Der SINN, der sich aussprechen läßt,/ ist nicht der ewige SINN.

Der Name, der sich nennen läßt, /ist nicht der ewige Name./

"Nichtsein" nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.

"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen.

Darum führt die Richtung auf das Nichtsein/ zum Schauen

des wunderbaren Wesens,/ die Richtung auf das Sein

zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.

 

(Laotse, TAO TE KING)

 

 

INHALTINHALTSVERZEICHNISINHALT

INHALT

 

EIN WORT VORAUS

 

ERSTER TEIL

 

TAGEBÜCHER UND DENKBILDER

I Vergangene Zukunft. Einführung in einen neuen Zustand nach 1989

 

II Bewußtseinsspaltung. Von der Krankheit des Kopfes während der Diktatur

III Die neue Fremde 1: Heimkehr ins Nirgendwo

 

IV Die neue Fremde 2: Eine östliche Metropole. Chaos und Gefahr in einem postkommunistischen Land.

 

V Und wieder "spricht das Blut". Erfahrungen mit der kochenden Volksseele an der heißen Grenze Transsylvaniens

 

VI Rückkehr ins Aus-Land, wo ich zu Hause bin.

 

VII Der Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart. Oder Sarajewo ist überall.

 

VIII Ostwestliche Traumen und die Chancen: Schmerz als Er fahrungsgewinn

IX Erfahrungen mit der totalitären Seele in zwei Diktaturen

 

ZWEITER TEIL

GEDICHTE, ESSAYS, BRIEFE UND GESPRÄCHE

 

I Siebenbürgische Elegien

 

II Schreiben als posthumes Leben. Rumäniendeutsche Lyrik der neunziger Jahre

III Identität und Emigration

IV Zur Ursachenforschung des heutigen Zustandes im inneren und äußeren Niemandsland des Heimatverlustes: Zeitfelder 1940-1945. Das Inferno der Verdrängung

 

V In einer Stunde werdet ihr euch wiedersehn. Gespräch mit dem siebenbürgischen Auschwitzapotheker Dr. Victor Capesius

 

VI Die Literatur der Stadt Schäßburg in Siebenbürgen

 

VII Von der Unfähigkeit zu trauern. Kommentare und Briefe

 

VIII Nein, nicht alle sind gescheitert: Hitler, ein Monolog über das Lieblingsbuch der Deutschen

 

IX Brüche, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden sind

 

X Über Sprachsekpsis, Bildverbot und den Begriff Zeit

 

Bio-Bibliographie

 

Index

 

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EIN WORT VORAUS

 

Das Motto von Laotse über das "Nichtsein" als Grund der Welt liegt nun im wahrsten Sinne des Wortes: SO NAH, und ist doch auch SO FREMD; die Beschreibung von "Heimat" heute bewegt sich genau in diesem schwierigen Umkreises eines Begriffes, der nicht mehr aufgeht, aufgeht uns nur, daß diese Nähe und Ferne zugleich ein Begriffspaar ist, das immer schon in Bereiche des Erkennens gehörte, und daß in ihm Leben und Erkennen, Erfahrung und Nachdenken zusammenkommen; für jene, die in der Fremde leben und, wie man so schön sagt, Heimat nur noch im Herzen haben, träfe dieses zu und wäre sogar ein Geschenk und Gewinn; es sind die "Chancen des Verlustes", auch des Heimat-Verlustes, des Boden-Verlustes, der wie ein Sog sein kann, lebenslange Beschäftigung mit einer Liebesgeschichte, die andauert, weil das Objekt dieser Liebe ganz in der unerreichbaren Ferne, ja für immer verlorengegangen ist.

Inzwischen ist dieser ältere Zustand von ehemaligen Vertriebenen und Ausgesiedelten, von Ostdeutschen und Südostdeutschen, in einem neuen geschichtlichen Zustand überholt und zugleich verschärft: Es ist nun ein endgültiger Abschied von alten Heimaten und Illusionen, die der Kalte Krieg noch möglich gemacht hatte, in dem man mehr diffus, als klar, so etwas wie einen vorläufigen Zustand zu leben meinte, der vielleicht mit einer Heimkehr (wer weiß wann!) enden könnte. Aus der neuen Abschiedsfähigkeit heute entsteht vielleicht nun ein reiferes Leben, und die Ent-Täuschungen erst machen Realismus und Augenmaß möglich, um sich ohne Illusionen und falschen Hoffnungen und mit einer gesunden Portion von Skepsis den Forderungen des Tages in seiner westlichen oder nun seit 1989 ganz neuen östlichen Lebensumwelt zu stellen. Im Osten ist ein Imperium und sind seine Diktaturen gefallen, im Westen macht sich das Fehlen dieses Feindes bemerkbar, der auf die verschiedensten Weisen alles, was gedacht und wie politisch gehandelt wurde, bestimmt hat.

Die bequeme Klammer der beiden Systeme und ihres Kalten Krieges gibt es nicht mehr, es ist so, als ob nun Geschichte wieder in Bewegung geraten sei, und damit auch die enormen Schwierigkeiten umdenken zu lernen und sich dem, was wirklich ist, zu stellen!

 

Der Autor dieses Buches hat sein eigenes Leben und sein Ich schreibend dieser rasenden Zeit seit 89 ausgesetzt, sich selbst beobachtend. Dieses war immer schon ein legitimes Verfahren von Literatur; heute aber geschieht diese Selbstreflektion aus der Einsicht heraus, daß die sich überstürzende Zeit mit ihren unglaublichen Ereignissen jede Vorstellung, Phantasie und Fiktion überholt und übertroffen haben, der einzig gesicherte Ort der Orientierung die alltägliche Beobachtung und Selbstbeobachtung zu sein scheint; wie in einem sich selbstverändernder Spiegel, besser: ein im Fließen noch erkennbarer Wasser-Spiegel, zeigte sich etwas von der inneren Zeit einer sich neu bildenden Erfahrung, die wiederum auf den Chancen des Verlustes, nun eines radikaleren Verlustes alles bisher "Gesicherten" im Leben und Denken beruhte.

Der erste Teil dieses Buches zeigt so einen innern Tagebuch-Film von Alltagsaufzeichunungen, Ereignisbeschreibung oder Innenschau - bis hin zu Gedichten, Reiseberichten zu den nach 89 so radikal veränderten Orten der eigenen Erinnerung: Siebenbürgen, Bukarest, Reflexionen dazu, Erzählungen, Denkbilder, die das innere Geschehen verdichten.

Die im Laufe dieser Jahre entstandenen Aufzeichnungen zeigen die Entwicklung eines Ich; die Rückblenden und Schnitte, wo Zustand, Stimmung, Bewußtsein von 1989 etwa mit einem wissenderen Ich von heute konfrontiert werden, machen einen Reife- und Erkenntniszuwachs aus dem Verlust deutlich.

 

Heimatverlust, vor allem aber Realitätsverlust, sind kein östliches oder ostdeutsches Privileg; die Menschen im Osten aber sind stärker gefordert, erleiden diesen Verlust nun in aller Plötzlichkeit: zu Hause geblieben, geht ihr Land doch in eine Fremde, nämlich westwärts, und das alte Lebenssystem, das sie haßten, aber auch ein Leben darin gelebt hatten, in dem sie sich auskannten, gibt es nicht mehr. Das ist ein Schock. Geschichte wurde bei ihnen durch Mauer und Stacheldraht aufgehalten, jetzt erst sind sie in die Gegenwart gekommen. Und ihr ausgesetzt. Es taut nun der alte Kühlschrank, der alles einfror, und eine Schmutzbrühe scheint den ehemaligen Osten zu überschwemmen in Blut und Tränen. Im Westen war diese Gegenwart mit ihren dort reinlichen Zerstörungen längst da, eine äußerst problematische Gegenwart, die der Zivilisationsprozeß innen und außen mit sich gebracht hatte, doch sind hier diese Zerstörungen einigermaßen unter Kontrolle und demokratisch entschärft. (Im Osten waren die Zerstörungen und Krankheiten mehr ideologischer Art, und gingen im Sichtbaren dann eher in Richtung des Verfalls von Außenwelt, Entropie und ökologischer Nachlässigkeit, die eine Art Verheerung im Verfall mit sich brachte.) Heinrich Böll hat einmal gesagt, er habe dreimal seine Heimat Köln verloren, einmal durch die Nazis und ihre Haß-Aufmärsche, dann durch den Bombenkrieg, und nach dem Krieg durch die Spekulation des Kapitals, die neue häßliche Architektur und die unmenschliche Technik.

Heimatverlust also als allgemeines Schicksal - vor allem der Deutschen? Der junge Leipziger Autor Kurt Drawert, umschreibt Heimatverlust als "Abschaffung der Wirklichkeit", und anhand des aus der DDR ausgewanderten großen ostdeutschen Schriftstellers Uwe Johnson, des sein Leben lang in New York und England von Fremde-Umgebenen, des ewig Heimatlosen aus Mecklenburg, spricht er davon, daß heute in verschärfter Form das alte Odysseus-Motiv der langen Wanderschaft und endlichen Heimkehr weiter existiere. Ist der Exodus, das Exil eine Art alte Adams-Metapher - Vertreibung aus dem Paradies, als wäre es das der Kindheit gewesen, und die Heimkehrhoffnung als Traum, der auf dieser Erde, dem alten Strafplaneten, nie eingelöst werden kann? Auch in diesem Buch steht Literatur, Sprache, wie Gedächtnis stellvertretend für eine unmögliche Heimkehr und Heimat; und die Erlösungshoffnungen verlieren sich nach dem gescheiterten blutigen Projekt Ost wieder jenseits der Grenze, sie stellen das Problem des Endes des Einzelnen und der Menschheit wieder ganz neu, denn ganz zu unterdrücken sind diese Hoffnungen nicht, und sie verpuppten sich in Fernweh und Berührungsfreude in der Kunst.

All diese Erfahrungen bewegen auch dieses Buch, sie stehen im endlosen Gespräch mit den "Chancen des Verlustes" und jenem vorhin zitierten Laotse-Zitat. Östliches Denken, vor allem auch das der Rumänen, von E.M. Cioran bis hin zu Benjamin Fondane und den heutigen Generationskollegen, bis hin zur Leidens-Literatur aus den roten Gefängnissen haben mich beeinflußt und sind wie auch die Erfahrungen mit der neuen Wissenschaftstheorie, der Physik, Psychologie Geschichte und Soziologie mögliche Anknüpfungspunkte, den ungeheuren Zeitbruch heute langsam begreifen zu können. Am wichtigsten aber bleibt weiter die langandauernde persönliche Erfahrung des Abschieds, die mit Verletzungen aus den erlebten Diktaturen, die Skepsis den Versprechungen und Ideologien gegenüber, die weiterführt bis in die Skepsis gegenüber jeder Gewißheit, jeder formalen Wahrheit - bis hin zum Vertrauen in die alte Logik, Sprache, Zeit- und Raumvorstellungen, schließlich das Wissen vom Betrug im Schein und bequemen Scheinen, der Chronokratie der nachmodernen Zivilisation und ihrer Fernsehkultur, der Eitelkeit, die in ihr befördert wird, und die den eigentlichen Reichtum, der uns umgibt, zerstört oder zumindest verdeckt.

 

Ich frage mich, ob die Millionen Osteuropäer und Ostdeutsche, die uns näher sind, und die bisher vereinzelt und nun geschlossen eine ganz andere Lebenswelt hinter sich haben, zu der sie ein recht zwiespältiges Verhältnis bekommen, Freude und Ratlosigkeit mischt sich in diesen Verlust, in diesem schwierigen Übergang, nun, hineingerissen ins Chaos, noch eine zusätzliche Erfahrung, ja, Substanz haben, um etwas an dem Zustand der Nachmoderne und ihres Scheins verändern zu können? Ich muß es fast bezweifeln. Etwas verloren zu haben, heißt noch nicht, davon wirklich zu wissen, das Geschenk, das im Verlust liegt, wahrgenommen zu haben. Auch daß die Ost- und Südostdeutschen diesen Verlust radikaler und lebensnah in ihrer Lebensgeschichte, gewissermaßen in Menschennähe gespürt und erleiden mußten, macht sie nicht automatisch zu weiseren Menschen, im Gegenteil, schwächliche Nostalgie und Trotz in einer Gefühlsgefangenschaft kann ihnen die Abschiedsfähigkeit unmöglich machen und zum Realitätsverlust in einem Enklaven- oder auch verstaubten Trachtenparadies führen, bei dem die kritische Sicht auf das Verrottete oder Schuldhafte der eigenen Vergangenheit verloren gehen kann. Dabei ist gerade durch das Abgeschlossene, das Ende einer Lebensform heute Übersicht über das, was war, möglich: die Seelenarbeit, die Aufarbeitung zweier Diktaturen in der Erfahrung ist eine Chance: sich selbst und die Zeit besser zu erkennen; jetzt, wenn die Eule der Minerva nachts ihren Flug beginnt, wie Hegel schön formuliert hat, wenn eine Gestalt des Lebens zu Ende gegangen ist, wird sie erkennbar und erzählbar.

Mir ist die Tatsache bewußt geworden und fürs Leben bewußt geblieben, daß es nur eine unverlierbare Heimat geben kann: die Sprache und das mit ihr eng verflochtene Schatzhaus der Erinnerung, daß aber diese Erinnerung, diese Sprache oft verhüllt und unbewußt etwas enthält, was erst erarbeitet werden muß, aufgedeckt werden muß, da die schlimmsten Lügen unbewußt sind. Auch mein Schreiben, das mir Leben nimmt und Leben schenkt, ist an dieses Schatzhaus gebunden, und wie vorläufig und ungesichert kommt mir in dieser so schnell laufenden Zeit, mein wirkliches Haus vor, das an einem fernen und neutralen Ort, einem von "Mutterland" Deutschland und südöstlichem "Vaterland" Siebenbürgen/ Rumänien entfernten Ort liegt, einem Ort, der sonst ein Sehnsuchtsort ist, der Süden, Italien nämlich; es ist ein Ort, wo ich wohne, aber nicht zu Hause bin. Von diesem Ort geht auch mein Buch SO NAH, SO FREMD aus, die Heimat, die fremd geworden ist; kehren wir den Satz um, ist es die Fremde, die alltäglich so nah ist, doch Heimat nicht werden kann: SO FREMD, SO NAH.

Nur oberflächlich war es die Schönheit Italiens, die mich diese Fremde hat wählen lassen; tieferer Grund war die Natürlichkeit dieses Landes, dann die Sprache und die gewohnte fremdsprachige Umgebung. Doch der eigentliche Grund waren meine "Achtuhrschmerzen" nach meiner Aussiedlung in Deutschland, wie ich den täglichen innern Druck genannt hatte, der sich zur Uhr-Zeit der "Tagesschau" ins Unerträgliche steigerte. Die Ursache dafür war mir von Anfang an kein Rätsel. Ich gebe zu, die Wahl eines neutralen Ortes und einer neutralen Lebensumgebung hing mit jener erwähnten Lebensauseinandersetzung zusammen, die mir nach der Aussiedlung aus dem Osten in Deutschland zu nahe kam, quälend nahe: Sei es ganz unmittelbar der die Sinne verarmende Umgebungsverlust in den von Krieg und Nachkrieg kaputten deutschen Städten, der Künstlichkeit in einer Mattscheibenwelt, in denen auch die Natur und die Seelen zu frieren schienen, sei es das Gefühl des Verrates, mein Land, meine Heimat, mein bisheriges Leben verlassen zu haben, sei es das erst in Deutschland eintreffende starke Mit-Schuldgefühl, das eng mit meiner Herkunft, ja, mit meiner siebenbürgisch-deutschen Familie zusammenhing und zu einer schmerzhaften Korrektur meiner Erinnerungen und Kindheitserinnerungen, meiner Landschaftsgefühle und meiner bisherigen Selbstgewißheit führte, die bis hin zur deutschen Sprache bodenlos wurde. Der Fakt nämlich war nicht aus der Welt zu schaffen: fast alle meine männlichen Verwandten waren in der SS gewesen und hatten zu den Wachmannschaften deutscher KZs gehört. Aus dem näheren Freundeskreis meiner Eltern stammte sogar der Auschwitzapotheker Victor Capesius. Ihn und andere habe ich in Deutschland und Österreich tagelang befragt und mit dem Tonbandgerät aufgenommen. Die Protokolle dann in meinem Roman "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens" in einem zehn Jahre dauernden Schreibprozeß verarbeitet, der mir zugleich im so problematischen Weltwechsel von Ost nach West in einer Sinn- und Spracharbeit überleben half. Sowohl die Protokolle, als auch die Analyse dieses Schreibprozesses und die geschichtlichen Hintergründe der siebenbürgischen Nazizeit, das seltsame Faktum, daß die Rumäniendeutschen zugleich Opfer und Täter waren, daß Mitschuld und Tragik zwischen den Mühlen zweier Diktaturen zu erkennen und zu verkraften waren. All dies ist historisch und existentiell, gedacht und gelebt zugleich: Die Ursache des Verschwindens meiner Herkunftsgruppe benennt auch den eigenen Lebensabgrund, und dieses gilt sicher nicht nur für mich. In der Literatur aber, die Geschichte und erlebtes Leben verknüpft, führten dieser Zusammenhänge auch in die Erkenntnis, die nicht neu ist: daß der Mensch der Stil ist, Selbstausdruck bei Schreibenden, Form der eigenen erlebten Abgründe, und so ist es erklärbar, daß die neuere Stilgeschichte dieser kleinen rumäniendeutschen Literatur mit den apokalyptischen Geschichtsbrüchen zu tun hat: Gleichschaltung 1940, Kriegsausbruch, dann Stalingrad, 1944/45, wo ein neues Kalvarium für die Rumäniendeutschen, nun unter kommunistischer Herrschaft einsetzte, dann schließlich 1989 der neue Umsturz, der das eigentliche Aus der Rumäniendeutschen bedeutete, da die Jahre seit dem Krieg nur eine zwangsweise gestundete Zeit für sie bedeutet hatte. Diese Brüche und schließlich der Stil, der daraus und aus dem Schwanengesang nach dem geschichlichen Ende der Herkunftsgruppe entstand, sind eine Erklärung für die Bedeutung der kleinen rumäniendeutschen Literatur, die inzwischen auch in der Bundesrepublik Anerkennung fand.

All diese Problemkomplexe sind im zweiten Teil des vorliegenden Buches in Essays und Kommentaren nachzulesen. Ebenso eine Analyse von Emigration und Identität aus eigener Erfahrung mit diesen Brüchen. Ein Interview, das davon ausgeht und schließlich ein Essay über Sprachskepsis, der diese Erfahrungen verdichtet, beschließt dieses Buch. In all diesen Texten stehen die Ursachen der Emigration im Vordergrund, und damit die Mühlen der Diktaturen und Systeme, in die die Menschen des Südostens und Ostens in diesem Jahrhundert geraten sind; wobei die Ursache, weshalb die deutsche Problematik erst nach der Aussiedlung so massiv auf mich zukam, eigentlich auf der Hand liegt: zu Hause sah ich mich als Opfer einer Diktatur, hatte einen anderen Feind und andere Prioritäten im Alltag, im Denken, diese veränderten sich jedoch grundlegend in Deutschland, ich kam in andere Verbindlichkeiten und zu anderen Denkgründen, was meine Existenz betraf: eben weil ich in Deutschland lebte, ein Bürger dieses Landes bin, dessen gespaltene Existenz schon logisch zurück in den Krieg und in die Nazizeit zurückführte und die Ratio seiner Existenz war, auch das Verdrängen der eigenen Vergangenheit! - kam meine eigene Vergangenheit vehement auf mich zu, nämlich die eigene deutsche und siebenbürgische Herkunft, das Leiden, aber auch der Verrat an der eigenen Tradition! Dieses Siebenbürgen schien nun nach seinem Verlust stärker da und im Kopf zu sein, als zu jener Zeit, als es noch da war und ich in ihm lebte; diese schmerzliche Vehemenz des Abwesenden, des "Nichtseins" jenes eigenen Bodens war spürbar, obwohl ich zwischen den Ländern lebte und die Illusion hatte, mich für eine Heimkehr aufzusparen. Eine Illusion! Denn nach dem Sturz der Diktatur kann nun paradoxerweise erstrecht keine Rede mehr von Heimkehr sein; zuviel gelebte Zeit in der Fremde ist vergangen, zu entvölkert ist das Land, zu verändert der Gegenstand meiner Erinnerung, zu fremd jene gewesene NÄHE! Und noch etwas: solange es die Diktatur gab, war es ja immer noch "mein" Land, in dem ich aufgewachsen war, geliebt und gelitten hatte, traumatisiert worden war, ja, voller Illusionen selber anfangs mitgemacht hatte, als könnte ich so auf die andere Seite der Front kommen, die weniger schuldhafte, und wurde selber in einem verbrecherischen System in meiner Jugend durch Teilnahme, ja, schon durch Mitleben, in dem ich glaubte, einer schimärenhaften "Zukunft" und "besseren Welt" zu dienen, naiv mitschuldig. Das Erwachen daraus war ein Schock. Doch solange die Diktatur andauerte, hatte ich ein Ziel, nämlich - sie zu bekämpfen. 1989 wurde auch ich "entlassen", das jetzt entstehende Land des chaotischen Überganges ist nur noch entfernt mein Land. Was mir im Verhältnis zum Land meiner Herkunft bleibt, ist das Bewußtsein ein Emigrant in Pension zu sein, bei dem die Heimkehr überholt ist. Doch auch das Wissen von der Unmoral des Vergessens und dem Zwiespalt des Gedächtnisses; die "Chance des Verlustes" schärft nun Bewußtsein an, hebt diesen Abschied auf eine allgemeinere menschliche Ebene, nämlich ihm, um mit Rilke zu sprechen: voran zu sein, Heimat nicht im Sichtbaren suchen zu wollen. Um leben zu können, muß man nicht nur abschiedsfähig sein, sondern vor allem auch vergessen können, Etappen seines Lebens "aufgehoben" hinter sich zu lassen, für die Zukunft zu zu lernen. Brücken zu bauen zwischen den verschiedenen Erfahrungen, ist sicher auch eine Aufgabe von Menschen, vor allem von Schreibenden, die beide Systeme, Ost und West, in sich tragen, zwei Sozialisationen kennen, aus eigenem Erleben, etwa zwischen den Menschen aus dem Osten und den Menschen aus dem Westen, den beiden so unterschiedlichen Psychologien, zu vermitteln, jetzt vor allem auch in Deutschland, wo diese Vergangenheiten als schwierige Gegenwart hart aufeinanderprallen.

 

 

 

 

 

 

 

 

ERSTER TEIL

 

 

 

 

 

I

DIE VERGANGENE ZUKUNFT. EINFÜHRUNG IN EINEN NEUEN ZUSTAND

 

Agliano, Lucca, 19. Februar. Gestern hatte ich oben auf dem Kamm des Apennin ein seltsames Öffnungerlebnis, als wären durch die reine, klare Luft alle Sinne gereinigt worden, als wäre die Welt gewaschen, Auge, Ohren, Tastsinn, Geruch jeder Berührung zugänglich; Schwingung, Aura der Natur, die mich auflud. Ich meinte fliegen zu können.

Heute morgen wieder starke Umgebungsgefühle, in diesem Alter der Welt muß man sich darum bemühen, die Nähe, das Vibrieren mit der Aura zu üben. Es scheint der wichtigste Widerstand des Einzelnen in dieser Spätzeit der Zivilisation zu sein.

Und wenn ich in meinen alten Tagebüchern lese, merke ich, daß nicht nur ich, sondern auch die Zeit selbst älter geworden ist. Am 24. 7. 1975 war ich mit meiner Frau in Korsika gewesen, und es klingt wie prophetisch, was ich damals notiert hatte: " ... die Eisbärte der kommenden Jahre uns beschatten."

In einem Brief von meiner Mutter vom 1. August 84, den sie einer Fotomontage aus dem Siebenbürgen meiner Kindheit beigelegt hatte, spüre ich das Vertraute, meine Heimatstadt Schäßburg, den Heimatfluß, die Kokel, damals noch unter Weidengebüsch und das Wasser klar, der Stundenturm der Burg ... der Brief von meiner Mutter dazu, wie nah ist alles und wie fremd geworden, ein Abgrund scheint aufzureißen und es gibt mir einen Stich.

20. Februar. Auch heute morgen starke Wahrnehmung der Umgebung; ein Hahn schon ganz früh wie zu Hause morgens um fünf, und dann der erste Sonnenstreif, der auf die weiße Seite und auf den Tisch hier fiel, die Ahnung des Meeres in der Ferne, und die Vögel, aus denen es heraussingt, die Kreaturen, auch die Blumen, unbewußt in der Welt, die Klang ist, ohne, daß es unser Auge begreift; in diesem Alter der Welt ist es gut, sich darum zu bemühen, möglichst unmittelbar nahe die Umgebung aufzunehmen, es ist eine Art Glück; der Morgen scheint so taufrisch jung zu sein, wie das Barfußgehen im Gras als Kind, Nähe als Distanz; "Einfühlung" ist wie eine glückliche Fügung des Augenblicks, das Vibrieren mit dieser umgebenden Duft- und Klang-Aura, schreibend, im Wort wird es wieder frisch, wie gewaschen, was die Sinne blaß versäumen, Aufmerksamkeit als "Gebet der Seele". Es scheint der wichtigste Widerstand des Einzelnen in dieser Spätzeit zu sein, in der Nähe Ferne, ja, Fernweh zu fühlen; das Rätsel da zu sein: Distanz durch verwunderte Sensibilität, und scheues Auftreten angesichts des unfaßbaren Abgrundes bei jedem Schritt, Respekt, anstatt des heute üblichen Zynismus bei all den Ent-Täuschungen. Erleuchtung der Langsamkeit. Kein bloßes Story-Aufnehmen der Bücher, kein Überfliegen oder Überspringen dessen, was im Augenblick da ist. ZEIT als Leben der Seele "treffender Bedachtsamkeit": "Nie, nie schnell werden" (Peter Handke ). Das Verhalten, nicht das Denken, das Erleben jenseits des Begriffes und des "Sinnes", nicht das Nur-Vorstellen, Zeit-Verlieren wäre zu üben: Reisen, Abtasten der Städte und Landschaften, Abstände in der wirklichen Zeit, anstatt nur Erinnern, Pausen; Zartheit, Zärtlichkeit, schon mit den einfachsten Dingen des Alltags durch die, wenn wir es merken, etwas Undenkbares durchscheint; so auch die Leute behandeln, nicht blind, sondern immer ganz bei der "Sache" zu sein, merkwürdig, dann ist auch im Detail alles im "Lot", also recht, vielleicht sogar gerecht. Und Kräfte strömen, nichts wird abgeblockt. Alles kommt auf jenen zu, der darauf "eingestellt ist"; freilich: je größer die Stadt, die einengende Menschmaschine Betrieb, die Massenbewegung auf der Straße im Gewusel des Kaufhauses etc., umso mehr Kraft ist nötig, die zehrende Auralosigkeit der Plastikwelt zu überwinden, "frei" zu bleiben - und langsam. Wenn Pausen eingelegt werden, läßt man sie kommen, die Dinge auf sich zukommen. Freilich: Einsamkeit, Alleinsein ist das Allheilmittel nur für schwächere Naturen. Allein ist es leicht, Streß zu vermeiden, alles zum Leben, zum Augenblick der wahren Empfindung zu bringen.

 

Die Stimmung freilich für die Langsamkeit, ja, für "mehr Faulheit, mehr Schlendrian" als Widerstandshaltung nimmt zu, - (Sten Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" (1987) ist zum Schlagwort geworden. In der "Zeit", 42/92, erschien sogar eine Art Manifest der Langsamkeit "Mehr Genuß! Mehr Faulheit! Mehr Schlendrian"); wird diese Haltung durch Einflüsse aus dem Osten verstärkt werden?

22. Februar. Bin ich noch der alte unverbesserliche Optimist des Nachher? Ich bin es, solange ich vom Text nicht entlassen werde! Er nimmt mir das ganze Leben, braucht es auf, und schenkt es mir wieder: vielleicht aus alter kreatürlicher Angst, um allem Abschied voran zu sein. Ich immer noch lebe, auf einer nicht mehr existierenden Grenze.

 

Das Rätsel des Individuellen. 1989 war ein Aufstand des Einzelnen, jedoch für ein anderes Eigentum, als ihm nun so gerne unterstellt wird. Die Not war eine andere, als die des täglichen materiellen Mangels. Und die Entwürdigung des Schlangestehens wichtiger, als das, wofür einer vielleicht vier Uhr früh aufstehen mußte. Weiter: Diese Aufstände fanden in einer andern Zeit, als der westlichen statt, fast auf einem andern Planeten. Und niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann begreifen, was dort geschehen ist. Vor allem eines nicht: Daß dort noch, und vielleicht zum letzten Mal, unverstellt und schmerzlich aufbrach, was im Westen durch unfühlbaren Ersatz zugeschüttet worden ist: der Schmerz verlorener, vernichteter Lebenszeit. Daß daraus der Irrtum entstand, diese verlorene Lebenszeit könnte vielleicht durch die beschleunigte Westzeit wieder aufgeholt, deren falsche Freiheitsversprechungen nachgeholt werden, gehört zu den Unvereinbarkeiten und traumatischen Irrtümern, die noch ihre Folgen haben werden.

Dadurch, daß der Einzelne, der total Vergessene, aber Träger der Rätsel unserer Existenz, wieder aufgetaucht und wider Apparate und Staaten, ja, wider die Abstraktheit der Gesellschaft aufgestanden ist, wurde etwas in sozialen Prozessen sichtbar, was auf andere Weise schon die Beschleunigung der Zeit und die Immaterialisierung im Westen fertiggebracht hatte, was also an der Zeit war: die Einsicht, daß die Welt Wissen, Information - oder besser: Geist ist, der nicht als Geist erscheint.

 

23. Februar. Im Rumänischen gibt es ein besonderes schönes Wort für Schwäche. "Slab de ingeri." Engelsschwäche. Kein Engel, keine Substanz, kein Gefühl, kein durchwachsenes starkes Leben. An der Wand meines Bukarester Schreibtisches hatte ich eine Abschrift von Korinther 13 angebracht: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle." Und wie oft klingt diese Schelle, wenn ich leer bin und ich nur intellektuell oder assoziativ rede. Und lebe.

Ich fand genau diese Stelle auf der Wartburg als Beispiel aus Luthers Bibelübersetzung. Und noch ein wichtiges Wort, das meine Poetik genau wiedergibt: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ichs stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.".

 

29. Februar. Anfangen kann man natürlich nie, es hat alles schon längst angefangen.

Ich lese in E.M. Ciorans "Vom Nachteil geboren zu werden": "Diese Sekunde hier ist auf ewig verschwunden, sie hat sich in der Masse des Unwiderruflichen verloren. Sie wird niemals wiederkehren. Darunter leide ich und leide ich nicht. Alles ist einzigartig und bedeutungslos."

Was soll ich ihm entgegenhalten, im Ohr klingt mir jenes "Nichts ist verloren" aus den Psalmen nach!

Spricht nicht dieser Augenblick dagegen, der sich schon verwirrt. Ich habe mehrere Bücher aufgeschlagen vor mir liegen, als könnten sie mich erlösen. Und lese bei Günter Eich zum Trost nach: Günther Eich, der das, was "nur" sichtbar ist, ohne die Zugabe der Absenz, ebenfalls als Illusion ansah, hat es so beschrieben: "Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß auch das Gehirn fragwürdig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen".

Daher "übersetzte" Eich auch ein ganzes Leben lang "ohne den Urtext zu haben"; in einer gelungenen Zeile hörte er den Stock des Blinden klopfen, der anzeigte: Ich bin auf festem Boden".

 

Anfangen kann man natürlich nie, es hat alles schon längst angefangen, und ich hinke hinterher. Daß merkt jeder, wenn er einen Augenblick in Gedanken, also abwesend ist, und dann erschrocken feststellt, daß die Zeit oder die Welt "weitergerückt" und alles schon gewesen war. Darin verwickelt, meint man, verrückt zu werden. - Ich blicke von der Zeile auf, und kann nun die kleinen Schläge deutlich spüren, als gäbe es vielleicht im nächsten Moment, wo noch niemand war, ein plötzliches Erwachen. Damit geht auch die christliche Eschatologie um ("Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist da!" In der Bergpredigt). Bei Todesfällen ist dieser Schrecken und die Fassungslosigkeit, wenn eine Abwesenheit, nun die Abwesenheit eines geliebten Menschen, geradezu brutal ins schön zurechtgezimmerte Gehäuse unseres Lebens eingebrochen ist, zu dem auch unser schön zurechtgezimmertes Denken, die sogenannte Logik, die Grammatik usw. gehören, besonders schmerzlich spürbar.

Was hatte mich 1989 so erregt? Hing es nicht mit dioeser großen Erwartung, nicht nur der kleinen, der Diktaturbeseitigung zusammen? Im Herbst und Winter 89 gab es solch einen Durchbruch, mit einem atemberaubenden Tempo und Erfindungsreichtum. Staunend erkennt man: er geschieht auch "heute" noch, in einer alternden Welt, wo jeder eher an Erschöpfung, denn an Schöpfung denkt. Nur - jenes Heute ist vergangen, längst. Freilich: Die totgesagte Geschichte ist nicht tot. Jetzt erst erkennen wir mit Skepsis, daß es eine alte, eingefrorene Geschichte ist, daß es die Monster sind, die sich jetzt befreien, und nicht etwa das, was " an der Zeit" wäre. Und dies wirft seine niederdrückenden Reflexe in unsere eigene Seelenverfassung. Und wir sind down, mutlos, elend, und alles läuft in rasendem Tempo zurück in die Vergangenheit. Daß wir erst im Jahre 1918 angekommen sind, die Steinzeit wartet.

Auch was ich zu sehen meine, ist vergangen, jetzt vor mir zwei Postkarten, nur wenn ich sie sehe, ist die Karte da: darauf der verwitterte transsylvanische Stundenturm, der sich abwesend in mir bewegt und schlägt. Mein Herz schlägt mit ihm schneller, das Uhrwerk rasselt, wieder eine volle Stunde durch die graue, gottseidank noch saubere Mauer direkt ian mein Ohr. Die untergehende Sonne vom Meer wärmte jetzt auch draußen rötlich alle Mauern, schön, wie durchlässig, als könnte man durch die weichen Wände hinab- oder gar hinaufgehen in den längstvergangenen Turm meiner Vaterstadt.

Gestern in der kleinen Kirche San Francesco von Marlia war es genauso gewesen; die Sonne schien auch gestern um acht schräg durch das Kirchenfenster, beleuchtete und erweichte mit flüssigen Schatten den Stein. Blumen auf das Grab eines Datums, 2o. April? Oder gar 6. August?

Jedes Datum ist ein Wahn, ein wunder Punkt im Unendlichen. Beschwörst du es, riskierst du von neuem den Verlust!

Dieser Gleichklang von "Wann" und "Wahn"...

Wer hat eben gesprochen? Ich sah mich im Raum um, aber niemand war da.

 

Jetzt war er wieder da, der Ton, legte sich wie eine Frau in die Sätze, als könnte man noch guter Hoffnung sein. Kap der Guten Hoffnung, dachte ich als Junge, ein Abenteuer ists, wenn alles noch offensteht wie eine große Tür zu Ostern, der Frühling kommt. Auch im Alter. Und Nicodems Begegnung, die Sache mit dem Wasser und dm Geist fiel mir wieder ein. Vielleicht bin ich wieder da, um es nun genauer zu wissen. Ich sah angestrengt zur Wohnzimmertür, wo aber nur Circel oder Floh, der kleine schwarze Hund die Ohren spitzte, denn draußen im Treppenhaus waren Schritte zu vernehmen. Er bellte kurz auf. Der Geduckte, Grünäugige bin ich... als sähe ich mich im Spiegel, wie könnte ich mich selbst vor mir sehen? Wer sich selbst sieht, das Phantom, stirbt bald.

 

Traurigkeiten. Trugbilder der Phantasie anstatt Leben, so hätte Montaigne gesagt. Kopfgeburten, und unsere Zeit geht uns verloren; aus dem Leben eine verdrießliche und verächtliche Sache machen? Es bedeutet doch tatsächlich genau so viel, wie wir aus ihm machen. Ich pfiff ein sächsisches Kitschlied aus Siebenbürgen, "iwer de Stoppeln bliest der Wänjd, hierst tea wä det Schwälfken sänjt," merkte es erst nach der zweiten Strophe. Lachte. Aber gerührt. Dann kam da aus mir ein russisches Lied über den Baikalsee. Und ein rumänisches "Zbor, dorule, zbor," flieg Sehnsucht, flieg. Mir fehlt die Kraft, ich selbst zu sein, hier, fremd. Eigentlich bin ich ein anderer, als der, der sich täglich lebt und ausdenkt, dieses Gespenst.

 

26. Februar. Heute kam ein Brief von Ioana aus Bukarest. Uns hier gibt es nicht mehr, schrieb Ioana aus Bukarest: Ich fühle es täglich in diesem fahlen Alltag, ich bin nicht mehr vorhanden. Und einer Nichtvorhandenen kann niemand mehr etwas anhaben! So schrieb sie: Auch schreibe ich Dir ja nun in Deine Abwesenheit. Du weißt es hoffentlich noch, hast doch nichts vergessen. Oder? Das Vergessen vergessen? Schreiben hier ist nicht mehr lebensgefährlich, schrieb meine alte Liebe: Es ist nicht mehre wirklich wie der Tod. Und es geschieht auch nichts mehr - wie noch vor vier Jahren. Die Geheimpolizei hatte damals einen Kollegen erschlagen. Der hatte Tagebuch geführt, Tage Buch, nichts anderes als geschrieben. Gegen den Maghrebinischen Allmächtigen. Und hatte die Namen seiner Freunde nicht verraten. Im offenen Sarg wurde er der Familie übergeben: Samt einem beschriebenen Blatt, einem ärztlich-amtlichen Toten Schein. Das Protokoll, die Niederschrift des Verhörs hat niemand gesehen. Aber das blasse Gesicht war unter den Wunden nicht mehr erkennbar. Wir feierten den Geburtstag des Allmächtigen und den seiner Frau, Tempi passati. Dieser Brief hier hat die Grenze passiert. Ich las noch einmal den viel harmloseren Brief- Anfang: Lieber D., danke Dir für die 100.- DM, du weißt ja welch kostbares Geschenk Du mir damit gemacht hast, der Wert entspricht in Heller und Lei etwa einem Monatsgehalt. Dank auch für Deinen so traurigen Brief. Gestern hat mich Gertrud, die bei Dir in C. zu Besuch gewesen war, nachts angerufen; ich habe mit Gertrud nur wenige Worte wechseln können, sie sagte mir, daß Du Dir Gedanken wegen uns machst, es ist wohltuend, daß wir hier nicht völlig vergessen werden.

 

Vor ein paar Tagen kam ein Brief von meiner Nichte Mihaela, einer jungen, arbeitslosen Ingenieurin aus Pitesti, "eine Inflation von Ingenieuren" gäbe es in Rumänien, M. bat mich, ihr doch in Italien oder Deutschland irgendeinen Job zu suchen, "ich mache alles, keiner noch so niedrigen Arbeit schäme ich mich". Sie kämen sonst nicht aus und mit den zwei Kindern, beide herzkrank, gar nicht zu Rande. Dabei ist ihr Mann Chefingenieur bei der Bahn. Die Ausnahmelage ist weg, die große geistige Neugierde auch, eine N eugierde, die bisher bei der jungen Ingenieurin in schöner Unverdorben, ja, unverbraucht und naiv aufgefallen war. Sie lese nichts mehr, höchstens die Bibel, schrieb sie. Und die Bücher seien so teuer, daß sie keiner mehr kaufen könne. Außerdem, sie wundere sich nicht, daß mein Roman "Vaterlandstage" in Bukarest bisher nicht erschienen sei, auch das Buch ist jetzt eine Ware, schrieb sie: und es wird auch nur Schund, Pornos, Abenteuerromane, Krimis veröffentlicht, schrieb sie resigniert und mit jenem mir bekannten fatalistischen Unterton.. Das war früher anders. Und sie sei froh, daß sie sich in jener andern Zeit, als Bücher billig waren, eine Bibliothek zusammengekauft habe. Auch in den Urlaub könnten sie nicht mehr fahren, er sei viel zu teuer. Nur Reiche könnten ihn sich noch leisten. Und Mihaela schrieb von einem begabten rumäniendeutschen Lyriker, der im Fernsehen über seinen neuen Job geredet habe, er nur noch Handel treibe mit seiner Firma "Delta", Kinderspielzeug aus Deutschland nach Rumänien bringe und nach Deutschland "Haken" exportiere. Es lebe sich so ganz gut. Um Bücher zu machen brauche man so ungeheuer viel Geld, da werde es einem ganz übel davon.

Ich spüre an diesem Brief wie heftig die "neue Zeit" ihre Fratze zeigt, wie all jene Räume in denen bisher noch auf einem gewissen Niveau dort gelebt worden war, aufgesogen werden. Eine schreckliche Wüste entsteht auf Levantinisch.

 

Ich habe Angst, daß ich nun auch meine Erinnerungen verlieren werde, wenn ich das Chaos dort erlebe, ja, aber ich muß nach Hause zurückkehren. Auch Vater hat mich im Traum dazu aufgefordert. Wir sollten den Verwandten und Freunden dort Mut machen, sagte er im Dialekt: Mat mauchen, sellt er ännen. So? Ich war ganz überrascht, er war doch sonst eher ängstlich gewesen, als er noch lebte. Im Jenseits scheinen unsere Leute courragierter zu sein. Und die Toten nehmen immer zahlreicher Kontakt mit uns auf. Auch die Kriegstoten. Sie verständigen sich dort über den Unsinn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Ich hörte Georgs schöne Tenorstimme, und er sagte wieder: Hierst tea mech, Mächel. Und dann auf Deutsch: "Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein." Und Kurt, unser siebzehnjähriger Nachbarssohn, der in Berlin bei der Verteidigung der Reichskanzelei gefallen war, sagte fast heiter: Hallo, hier Totenfunk. Bedenke, ich bin. Und Dein Vater hat damals Recht gehabt. Wir hätten uns nicht melden dürfen! Meine Mutter ist vor Kummer gestorben. Du weißt es.

Ja, ich weiß es.

Und ich sehe sie plötzlich vor mir: Eine Frau mit aufgelösten Haaren und bitterem Mund, sie singt ein Lied aus einer Dachluke des gelben Nachbarhauses von S. in Siebenbürgen, ihr Wolfshund schlägt noch an, Vögel in den Kerzen der Kastanien, weiß, und ich wäre ein Kind, sagt sie, aus den Tränen heraus. Sonne von oben, also Mittag:

 

Heute nur heute Nur diese Stunde

bin ich so schön; Bist du noch mein:

Morgen, ach Morgen Sterben, ach sterben

muß alles vergehen! soll ich allein.

 

1. März. In der Nacht immer wieder im Traum: Siebenbürgen. In einen Schalterraum am Meer: ich habe eine große Tasche oder einen Beutel umhängen; ich zahle 240000 Lire Eintritt, um zu meinem Sarg zu kommen. Ein Paar, ehemalige Studienfreunde, nahmen mir heimlich die Tasche weg.Ich hatte endlich alle Formalitäten hinter mir, war frei und wußte nicht mehr, was ich mit den Leuten reden sollte, sie schienen wie von einem andern Stern. Dann waren sie verschwunden, ich war allein in einem Labyrinth von Kanälen und Kanälchen wie in Venedig, ging einen Kanal entlang, kam in ein Gewirr kleiner Gassen, sprang mit einem kleinen Jungen über einen seichten Kanal, man sah den schlammigen Grund, ich sah auch das Pflaster genau, es waren Katzenköpfe. Und ein Tunnel vor mir, da mußte ich mit dem Jungen durchkriechen, und war plötzlich zu Hause "unter der Treppe", die alte staubige Kiste meines Großvaters mit dem uralten schwärzlichen Pferdegeschirr und dem Sattel lag vor mir, alles rioch dimpig.

 

Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holzkuckuck, der schlug Viertelstundenweise den Tod an: Verneigte sich davor, bunt. Und im Sommerhaus der Echte aus dem Wald. Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung. Wie lange noch? Jetzt hat uns die Zeit der Väter, der Großväter wieder erreicht, dachte ich, Jetzt gehe ich über einen Friedhof, er liegt in Deutschland, er ist klein. Tausende von Namen, Daten. Und da werde ich liegen, mit "allen" vereinigt. Die Flucht war vergeblich, ihnen zu entkommen. Sie kommen immer näher, sie sind schon da. Ein ganz neues Land, jede Teilung aufgehoben, jede Spaltung vorbei. Vorbei.

Und rede mich jetzt wie einen Fremden in der dritten Person an, als wäre ich ein Anderer, und bin ich nicht ein Anderer? Also: Eigentlich wollte er ja nur das Grab seines Vaters besuchen. Zwar naßkalter November, es war der November vorigen Jahres gewesen... wer zählt sie noch, die Jahre, die Jahre... alles vergangen, - er aber, dieser DS, ist trotzdem noch da: In diesem besonderen Jahr, bevor sein Winter kam, sein letzter. Regen. Nebel im Gesicht, im Herzen. Leben, wer es umkehrt. Die Beine gehen ohne ihn, treten auf vergilbte Blätter. Bald wirds Schnee geben. Alle Jahre wieder? Wie lange noch. Aber wer spricht da, seine Stimme in mir, als hätte er mich jetzt hypnotisiert, Schnee, dann erfrieren die Blumen, spürt das vereiste rote Blatt, sagte er: Mimosen liebte sein Vater. War selber eine. Kleiner Kopf, Brille, abgeschabte Brauen. Und D., der Sohn, sah immer noch das Loch vor sich, da hinab, dumpfes Geräusch, Erdschollen, dunkel, hinab, ein Loch. Da siehst du hinab, da bleibt dein Blick drin gefangen, kannst ihn nicht mehr zurückziehen, feuchte Erde, Lehm, Insekten, Erdgeschmack fad, Wurzeln, alte Blätter, schon vermodert, fallen darauf, du kannst den Blick aus dieser Klammer, eingezwängt im Loch, nicht befreien, da wirds dunkel, verwirrt. Wer aber sieht den frisch aufgeworfenen Grabhügel, wer schluchzt da, - der eingegrabene Blick? Wo hast du nur deine Augen? Lang her. Dort der Steinmetz Roth, der Grabkünstler von zu Hause, der langsam und mit schwungvollen Bewegungen wie der Zeichenlehrer Donath seinen Namen schraffiert: Goldbuchstaben auf Marmor, als schnitten die ins Fleisch, der Stein ganz heiß und weich. Schreiben ja, das das Sterben ersetzt, es aufhebt, solange du liest. Das Leben aber fehlt, und den Namen schreibt ein anderer. Er hat also doch eine ganz andere Vorstellung vom Schreiben, als ich, als wir, entzog sich also genau ins Alte, das er so vermißte, zurück, zurück der Spindel Spur, dieser Unsinn vom "Referenziellen", ihr Okzidentalen, sagte er, Wasserkopf. Und hab mich selbst infiziert, sagte er: Was denn "schraffieren", sogar der Stein ist tot, sagte er. Aber es gibt eine Verwandlung und kein Ende, sagte er: wir kehren in den Zustand zurück in dem wir Millionen Jahre waren, bevor wir in den Körper kamen. Dieser Unsinn - zwei Hände Erde, dumpfes Geräusch auf Holz, Erdschollen. Gibst den Geist nicht auf beim Ablegen des Leibes, D. Sag nicht Seele, D., sag Nichts; es löst sich etwas vom Körper, inneres Leben verselbständigt sich im Alter von Jahr zu Jahr mehr, Wahrnehmungen nehmen ab, Außenwelt nimmt ab, die Täuschung Welt schwindet langsam, da willst du fort, um am Leben zu bleiben?

 

Ich bin kein Überlebender, ich bin ein Überlebter. Alle sind wir Überlebte, nur merken es wenige. Zukunft gibt's keine, es sei denn, sie setzt sofort und schlagartig ein. Das Vergessen ist zu groß. Und das Vergessen des Vergessens.

Aber diese Briefe, ich sollte doch wenigstens diesen Briefwechsel mit meinen Heimweh-Freunden aufgeben. Heimaten gibt's doch nirgends mehr, Dieter, sagte mein Vater: sah mich scharf an mit seinen schwarzen Taschenlampenaugen: und dein Heimweh... oder Heimat, alles antiquiert, jetzt wo Europa in aller Munde... Hirngespinst, ein Hirndracula, Dieter, ein nichtexistenter Ort, der dich vernichtet, der macht dich doch fertig.

Aufgeben oder in die Stadt ziehen, die Einsamkeit aufgeben, mein Nirgendwo...? Ha, lach ich ihm dann ins Gesicht: Wenn das so einfach wäre; schon von der Lage her unmöglich. Lache noch stärker, Ahn: Nur wer sich aufgibt, wird ein Brief... Aber ich bereite mich doch vor, sag ich dann, endgültig heimzukehren, die Freunde dort warten, ich muß ein Zeichen geben. Und, denk nur daran, der Aus-Landsdeutsche war noch nie auf Patmos.

Keiner wollte Pfingsten bei mir bleiben, Freiheit, Freizeit dient zum Autofahren.

 

Fahr also nach Hause, mein Lieber, fahr, um die Gräber zu sehen, zu besichtigen, die Leeren Stellen, das große Loch. Ja, wohin führt dieses Loch, als pfiffe da der Wind aus dem alten Weltraum rein und veredele auch das Kleinste, dort unten, S. Ja, Gott erhalt dech Scheszbrich, Gott erhalt dech. Doch welches mit Augen sichtbare Bild, etwa des Fernsehens könnte dies wiedergeben, leere Läden oder Mangel an Ersatzteilen, schlechte Straßen, kaputte Fabriken und Häuser kann ein Fernsehbild aufnehmen, doch schon die Leere in den Zimmern der Securitate ist kaum zu zeigen. Allein Sprache geht damit um. Und auch sie ist kaputt und verzagt, alles verzagt. Wann und wozu heben wir wieder ein wenig den Kopf, wagen etwas zu sagen, zu behaupten, gar ein wenig mutig und tapfer zu sein?! Gegen und mit und für wen? Alles ist unsichtbar geworden, auch der Feind. Nichts, Nichts, nur ein großes Loch auf die andere Seite zu kommen, die noch niemand kennt!

 

Aber die längst vergangenen Gerüche kommen näher. Es riecht nach Formol. Der alte Hausarzt kommt mir plötzlich in den Sinn. Er liegt auf dem Bergfriedhof, er hatte kühle Arzthände, fuhr auf dem alten Fahrrad zu den Patienten, hatte eine alte Aktentasche auf dem Gepäckträger, radelte langsam durch die Baiergasse. Und meine Mutter steht vor ihm. Mutter, meine Gedächtnisfee, solange sie da ist, ist alles noch in ihr da, fast alles.

 

2. März. Ich habe mich entschlossen, "nach Hause" zu fahren, gewagt, nach Hause zu kommen, obwohl ich weiß, daß ich ins Nirgendwo, daß ich an jene leere Stelle kommen werde; die Gräber aber die gibt es wirklich, sie sind leider nicht leer. Im Bauch aber die Erregung. Ankunft in Stutgart. Gegenwartsloses Stuttgart. Einkäufe. Billige Dinge. Geschenke für Verwandte und Freunde. Als ich vor fünf Jahren zum erstenmal versucht hatte nach Hause zu kommen, da stürmte draußen. Schnee. Blitz und Donner. In Hamburg Sturmflut. Orkan. Die Blumenhändlerin sagte, auch auf das Wetter sei kein Verlaß mehr. Und alles sei heute möglich. Das Überraschende, das Unerklärliche, ein ganz merkwürdiger Gott führe jetzt das Regiment. Biermann schrieb in der ZEIT, er habe anderes im Sinn gehabt, aber die Weltgeschichte nehme auf die Wünsche des kleinen Biermann keine Rücksicht. Die "friedliche Selbstvernichtung" sei jetzt gefragt. Ein NVA-Offzier sagte damals über ihre Abschaffung, da sei nichts zu machen, "wir haben doch den kalten Krieg verloren!" Und immer die Sieger bestimmen.

3. März In München schlief ich bei K., einer befreundeten Malerin. Am Abend Treffen mit vielen Bekannten bei K., Leute, die ich 35 Jahre nicht gesehen hatte. Vertraut, aber alles sehr außen. Ich bekomme Adressen, Erinnerungen in Worten. Bilder sind da. Aber alles ist so weit entfernt, auch dieses Gesicht von H., das mich erregt.

 

Vor der Abfahrt nach Rumänien Besuch im Atelier meiner Malerfreundin K. Wir sind im Atelier, trinken Rotwein. K. auf dem zersessenen Diwan mit orientalischen Mustern, sie lacht. Wir sehen. Ich spreche. Sie hört. Sie erinnert sich. Ich stelle mir vor, sie geht ins Bild hinein, es öffnet sich, es ist eine große Wasserkugel wie ein dicker Kopf, der wächst, und er wächst, und der Kopf platzt. Auf einem fliegenden Teppich von oben kommst du wieder an die alte Wolke heran, an Zeitschichten, an Berge und Höhlen, die aus Elementen Farbe gewinnen, nur der Wassergeschmack bleibt im Mund, im Kopf. Die Zeit ist fühlbar geworden, sie dreht sich in einer grünen Farbe, die aus wächst. Leere also bei beiden; anders als die durchzechten Nächte zu Hause, schmerzhaftes Reden, nicht aufhören können.

 

Wir sprechen davon, daß die beiden Hirnhälften grau überfließen können, dann wäre das Ich in dieser Kinozelle eingesperrt, die ich als Realität sehe: Durch ein Loch einen Ball werfen, dann in dieses Loch fallen. Ausfall einer Hirnhälfte, da ist an einer Seite der Abgrund, da ist nichts, wie im Zustand des Todes, aber du lebst mit der andern Seite. Es ist, wie wenn du über eine Treppe gehst, da ist auf der einen Seite nichts, verschluckt vom Dunkel, die graue Hirnmasse. Die Erinnerungslandschaft ist innen, wenn sie auf die Realität stößt, findest du sie nicht mehr... Hier jedenfalls nicht. Zu Hause war unsere Traumprojektion viel stärker, die uns so naiv leben ließ.

 

4. März. Am nächsten Morgen schon der Flug. In der Boeing träumte ich von ihr, und hatte den Eindruck, sie sei neben mir. Sausen im Kopf, der Druck,. es ging alles zu rasch, alles passé, die Landschaft, die Stadt da unten, klein und kleiner. Prickeln in den Fingerspitzen; das kalte Lukenglas fad, nervöses Dahindämmern. Notausgänge über Tragflächen. Und ich sehe es im Dunkeln und staune, daß ich mich nicht wundere. Und wo kommt man an? Alles schon geschehen, doch es geht weiter, längst hat der Abschied begonnen.

Nach der Landung in Bukarest telefonierte ich mit Ioana. Wir hatten uns nach 1989 noch nicht gesehen. Ich war neugierig. Wir machten eine Begegnung im "Intercontiontal" aus. Ich war ziemlich erregt. Ich sah Ioanas Gesicht vor mir, wir lagen hier in Snagov auf dem Waldboden, und der roch nach alten Blättern, raschelte, nach dem Regen würzig, und ihre Rose blätterte auf, viel stärker ihr Frauengeruch, und da kamen Leute vorbei und wir sprangen auf, Scham, ein Schock, Angst, denn der Verrückte hatte ein Gesetz erlassen, schon damals kamst du für Ehebruch ins Kittchen, wie zu alten Zeiten: Pflicht wars, Kinder zu zeugen für den obersten Herren, denn dies Volk war ja viel zu klein für ihn.

Nur der lebt, der sich von der Erinnerung befreit, höre ich meinen Vater sagen. Aus. Und vorbei? Ach, nein, nur ein schöner, noch fühlbarer Alptraum. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren, ich hatte mich "aufgespart". Künstliche Spiegelung der Natur und des Ich. Nur jener, der es uns lehrt, ist nicht sichtbar, wie wir zu sein haben: leer. Vernetzt. Bildschirme. Jean Baudrillard hats drastisch für den Westen auf den Punkt gebracht: Der Unterschied zwischen Innen- und Außenbild, mental und maschinell sei gelöscht. Menschen sind Bildschirme, es gibt keine Blicke mehr, Sartres Blick, der Securitate-Blick, unser ängstlicher Blick - alles nun auch hier passé und gelöst, aufgelöst auf der Mattscheibe. - Ich werde Ioana begegnen, und sie wird mir wie früher sagen, mir Lucian Blaga als Argument vorlesen: das Orthodoxe kennt keine Mauern, denk an unsere Klöster mit den Außenfresken, Osmose, da ist niemand in den Kirchen eingesperrt worden, Gott ist überall. Es wird mich fremd berühren, wie ihr Kreuz, das sie trägt, ein Geschenk meiner guten Großmutter, wird sie sagen, aber sich dazu bekennen, auch in ihrem Büro oder in den Fernsehräumen. Und es ist seltsam, daß es diesen großen Bruch in mir gibt, evangelisch mit aller Pflichtkantigkeit und dem Selbstmörder Überich, oder diese Schreib- und Papiersucht, diese Arbeitskrankheit. Und dann diese unstillbare Sehnsucht, die nicht anders als die Ioanas oder die meines alten Freundes Petre ist. Wie oft hatte ich in Italien daran gedacht. Hatte mein Heimweh nicht auch damit zu tun, daß es hier noch Menschen gab, die in sich das trugen, was ich verloren hatte.

 

Der große alte Mann des rumänischen Denkens, Constantin Noica, der wie ein Eremit lebte, plante ein CAMPUS im "Jungen Wald" bei Hermannstadt, wo sich Orient und Okzident, Philosophie und Technik, Religion und Wissenschaft, Poesie und Mathematik begegnen sollten. Er hatte den Mut nicht verloren, er hatte eine andere Einsicht. Ähnliches wollte schon Mircea Eliade.

 

Ioana hatte ihre Emotion für die Opfer in erschütternde Verse hineingeweint. Und ich dachte für vergangene Poeten etwa, wie Baudelaire stehen die Toten noch in den Synästhesien als "Literatur" unbeweint, aber fühlbar da im Zwischenraum der Zeilen, ja, der große Franzose maß an diesem kultischen Element, das ihm das Zeitvergehen erträglicher machte, den Grad des Zeit-Zusammenbruches und seinen eignen, so daß er fast Lust daraus schöpfen konnte, damals. Im Augenblick des Sturzes leuchtete es hell auf, wo ein Schrei sein sollte, war seltsames Glück, ja, Triumph, daß das Sichtbare als Schönheit im Wort eingekehrt, besiegt worden war, als "ein Appell," wie Walter Benjamin diese Auferstehung im Selbstauslöschen wunderbar definiert, "Appell zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer Sterben nannten." Dies Eingedenken, diese correspondences, wie Baudelaire dieses nannte, hatte noch den Nebeneffekt, das unwiederbringlich Verlorenes nur als ein Nichts vergangen zu sein schien, das jenseits des Denkbaren rettbar war. Das Gewesene, auch vor unserem Leben gewesene, hebt die Todesangst auf, da es "gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während des Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren", uns neu berühren, Gegenwart werden kann, wie Benjamin treffend sagt. Doch was früher in der Poesie war, vorgewußt, sind heute Qualitäten der Realität selbst. Nach Kafka das KZ. Nach Baudelaire die Revolution, und nicht nur die des Bewußtseins. Und auch jene Verse von Ioana schienen mir aus den Zeilen herauszutreten, wirklich zu sein, als Manifestation eines Millionenzustandes real geworden, fast wie die Transparente, wie die gerufenen Sprüche, die den Tyrannen gestürzt hatten. Wir sind bis in die Träume von den Ermordeten verfolgt worden, sagte sie. Und ich sagte ihr, sogar mir sei es in jenen Tagen so ergangen. Ich hatte ihren Körper an meinem gefühlt, auch beim Liebesakt spürte ich sie, und bei jeder Berührung einer Hand, eines Kopfes, hatte ich sie vor Augen.

- "Das Ich erkennt plötzlich, daß es nicht absolut ist, und genau dadurch wird ihm deutlich und zwar anschaulich deutlich, nicht begrifflich - inwiefern es Organ eines viel Größeren ist, und es erkennt, daß es seine Identität, die es mit Zähnen und Klauen gegenüber dem Ansturm des Chaos verteidigt hat, also gegenüber dem, was Freud das Es nennt, überhaupt nicht zu verteidigen braucht..." (C.F. von Weizsäcker). Es scheint das "Heilsame" zu sein, von dem Weizsäcker spricht, und das nötig sei, um die verfahrenen Gesellschaften in Ost und West radikal zu verändern. Für einige Stunden schien dies in Europa damals im Dezember 1989 Wirklichkeit geworden zu sein!

...Und ich erinnerte mich an den Augenzeugenbericht einer Schwedin über solch ein Erlebnis, diese Frau hatte aus einer Tanne Lichtsäulen schießen sehn, eine Wirklichkeit konnte sie plötzlich wahrnehmen, von der wir wie durch einen Schleier getrennt sind: Kreise, fünf Kreise sah sie, wie Schalen eines Atoms, der innerste aber war so etwas wie Liebe. Ein "Mystisches Erlebnis"? "Bald war die ganze Tanne eine einzige Feuersäule. Sekundenlang durchfuhr mich ein lähmender Schrecken - war mein Gehirn irgendwie in Unordnung geraten?... Bald war der ganze Wald ein Meer aus dem gleichen lebendigen Licht... auch meine Hände. Die ganze Schöpfung vibrierte von diesen unerhört schnellen Lichtwellen... Ich sah den Kosmos funktionieren wie eine fünfdimensionale Geometrie...das innerste Mysterium des Universums, Liebe... Das ist ein schwacher Versuch, Worte für etwas zu finden, das ich wirklich mit meinen Augen sah , etwas absolut Reales und Greifbares... Mehr und mehr wurde ich zu Licht, bis ich mich selbst als Strahlungsphänomen funktionieren sah, auf der selben Wellelänge vibrierend wie die `fünfte Dimension`."

Es gibt ein Wort vom "negativen Advent", der Tod, ein Zustand, wie eine Schleuse zwischen letztem Aufblitzen und Verlöschen (Jürgen Egyptien), ein "Zeitspalt" ist jene Lücke. Hölderlin sah die Tragödie als ein Geschehen, eine Tat zwischen Null und Eins, und je näher ein Kämpfender der Null steht, umso näher steht er auch dem Ursprung, weil das Ich, das im Bewußtsein Gefangensein, die Stärke verhindert, die "gerade heraus ist". So wäre also das Opfer, das tragische Ereignis, das mutige Aufgeben des Ego solch eine tragische Tat.

 

 

II

 

BEWUSSTSEINSSPALTUNG

VON DEN KRANKHEITEN DES KOPFES WÄHREND DER DIKTATUR

 

Bukarest, 6. März. Ich gehe am leeren Lenin-Sockel vorbei zum Pressehaus an den Herestràuseen, vorbei an der Strada Primàverii, wo die Prunkvilla des Diktators immer noch steht. Die Lenin-Absenz vor dem Pressehaus fällt mir wieder auf, und ich erinnere mich: mein Kollege und Freund Marin Sorescu, der witzigste Poet und Stückeschreiber unserer Generation, der mit gesundem Menschenverstand und hintergründiger Ironie in seiner Literatur alles Aufgesetzte, alle Lügen des Regimes schlau in Parabeln ans Publikum bringen konnte, ohne sich erwischen zu lassen, hatte eben in der Zeitschrift "Contemporanul" einen saftigen "Statuennekrolog" über den von seinem Sockel geholten Lenin geschrieben, jenen, der mit den Marx- und Engelszungen an der Zerstörung der Wirklichkeit und der Psyche mitschuld war: "Adieu, wir werden dich nicht vergessen!" In meinem Kopf taucht gleich neben Marins Spott ein altes Gedicht auf: "Sei milde, wenn du fortgehst./ Mein Volk wird ausgelöscht,/ Es kann nicht umgehen mit seinen Statuen."

Heute endlich hat sich die starke außerparlamentarische Opposition von Temeswar aus gegen das Iliescu-Regime gemeldet. Die Proklamation von Temeswar. Ich habe die Zeitung in der Tasche. Ich werde sie heute abend lesen. Man stelle sich vor: Iliescu war einmal NC's "Kronprinz". Das ganze Land ist durchseucht mit "gewendeten" alten Funktionären.

 

Während ich die breite Marmortreppe zum Verlag "Litera" hinaufgehe, überlege ich, wie ich das Gespräch mit einer Runde junger Kollegen beginnen soll. Die Schuld meiner Generation liegt nicht nur in den Gedanken und Taten, sie liegt in den Versäumnissen, im Abblocken, dem Nicht-Wahrnehmen-Wollen und Nicht- Wahrnehmen-Können dessen, was sie geschehen ließ, ja, sie war oft genug selbst dieses Geschehen. Dieses ist der jetzt erst erkannte Verrat. So zu tun, als hätten wir die Welt noch zu erschaffen, und als wäre dies möglich - dieser irrigen Auffassung, daß die Welt noch "vollendet" werden muß, war meine Generation allerdings nur am Anfang, in ihrer romantischen Phase; sie hat auch ihre "realistische" Phase zu verantworten.

Dann sitze ich mit den jungen Kollegen im Kreis und höre ihnen zu, wie sie meine Generation heftig attackieren. Nun sind sie an der Reihe. Welche Fehler werden sie machen? Sie haben die Revolution hinter sich, sie haben den Gewehren der Securitate getrotzt. Doch nicht einmal diese mutige Tat ist geschützt, vielleicht sind sie ebenfalls einer Illusion zum Opfer gefallen.

Ich sehe auch Mariana Marin wieder, die ich schon kennengelernt hatte, Herbert G. stellte sie mir vor, sie wolle mich interviewen, alle heimkehrenden Autoren wolle sie sprechen, und ein Buch über ihre Schicksale herausgeben, es lohne sich. Ohne die Medien- und Aktionshilfe der Exilierten, sagte sie mit ihrer rauhen, leidenschaftlichen Stimme, wäre die Revolution nicht möglich gewesen. Sie ist am 20. Dezember 89 verhaftet und mißhandelt worden. Und an ihrem Hungerstreik ist sie fast gestorben. Alle behandeln sie mit Respekt. Und plötzlich fällt mir ihr Gedicht über Anne Frank ein; über das Warten auf die Häscher: "Ich friere. Habe Angst. Bin gelähmt. Die Uhr in deinem Innern frißt dich auf...Das tägliche Irresein,/ eine Handvoll Kieselsteine, die du langsam zermalmst./ Und was du rausspuckst, sind zerquälte Nächte..."

Für sein Wort mußte man mit dem eigenen Leben einsahen. - Und Mariana attackiert unsere Generation, die den Mut zum Aufstand nicht gehabt hatte, die sich in der Kunst, in der Metaphysik versteckte und mit der Macht ihren Pakt schloß.

Vor allem Nichita Stanescu, meinen toten Kollegen und Freund, den sie auch liebe, griff sie gnadenlos an. Sie sagte: "Der Poet Nichita Stánescu war der Repräsentant dieser ceausistischen Epoche, hinter seinem breiten Rücken gab es das schöne Loslösungs-Spiel von der Realität. Als die Dinge waren, wie sie waren, schrieb er über Wunderpferde. Mehr noch, er hat seine Kollegen an die Drehbank geschickt."

"Wir waren schizophren, das ist wahr," sagte ich: "Wir haßten das Regime und verteidigten es zugleich. Ich weiß, daß Nichita seinen Freund Paul Goma, der offen gegen das Regime aufgetreten war, der diesen Schleier mutig zerrissen hatte, bei einer Sitzung im Schriftstellerhaus aus der Partei ausgeschlossen hat, und das mit allerlei komischen Bemerkungen wie: "Was sollen wir machen, und dies ist der Auftrag, du bist mir ja nicht böse ..." Und doch wurde im Versteckspiel mit der Metapher damals die Diktatur attackiert, ihr innerer Zustand unterlaufen, sagte ich. Am deutlichsten wurde diese Bewußtseinsspaltung und der verwirrte Geisteszustand bei einer Verhaftung, bei der man zu Recht fürchtete, nun "entlarvt" worden zu sein, denn man versuchte ja mit allen Mitteln, seinen Haß zu verschleiern, doppelbödig, "schlau" zu denken. Aber ohne diese Etappe, ohne diese, auch stilistische Vorbereitung in jenem doppelbödigen Schreiben, das zu einer erheblichen Verfeinerung des Stils beigetragen hat, wäre auch die nachfolgende Literatur heute nicht möglich, jene ästhetische Vorbereitung in einer Zeit, in der nichts anderes möglich gewesen war, hat die rumänische Literatursprache verändert.

"Ja, es war eine sehr talentierte Generation," sagte ein anderer Kollege Marianas, Ion Bogdan Lefter: "aber die Herrn Genossen waren sehr Bohème, in allem, was sie taten, auch in der Essayistik, in Artikeln, sind sie ausgewichen mit Stilfiguren, mit poetischen Koketterien."

 

Aber Literatur ist eben doch nicht am Ende, weil sie genau diesen besonderen und einmaligen, so "durchsichtigen" und nicht nur privaten Zerfall mit ihren Mitteln am besten zeigen kann, ganz paradox auch anschreiben kann wider die Absolutmachung des Menschen. Ihr Stoff ist der Zerfall aber auch der Zufall: Es ist das, was jeder Staat fürchtet, das Unvorhergesehene, das schöpferische Element im Leben, auf das der Securitatestaat frontal zuging, bis in die schlammigsten Seelenabgründe. Und dann doch daran scheiterte. Letztlich ist es das Ungewußte im Tod, dem keine Ideologie beikommt. Mir fällt dazu ein eigenes Antisecuritate-Gedicht ein:

"AUF DER GRENZE GEHEN IST VERDÄCHTIG! Doch lieb ich mir euren Verdacht, er/ bestätigt mir stets/ die Nützlichkeit meiner Vergehen./ Wie ist es doch anrüchig, nimmer gesehen zu werden,/ wie weckt ein sicheres Versteck/ das Große Mißtrauen: / wenn man über eure Köpfe hinweg/ schweigt.// Ich weiß:/ jede Nacht ist ein Verbrechen, jedes Herz ein Überläufer, / und der Tod ist mein Freund,/ vor dem ihr, mißmutig zwar, doch endlich/ den Hut zieht!" (1968).

 

Doch letztlich konnte man sich kaum verstecken; keiner entging ihnen. Mein Bruder wurde genau so verhört, wie meine Schwester, meine Schwägerin oder mein Vater, bei dem sie Gold suchten; er habe es unter dem Apfelbaum vergraben, behaupteten SIE. SIE holten ihn nachts. Er kam in das kahle Zimmer. Gründe? Jeder aus andern Gründen. SIE waren froh, wenn sie welche fanden. Bei meinem Bruder war es der Ausreiseantrag, bei meiner Schwester Geld, das angeblich in ihrem Betrieb verschwunden war. Sabotage. Bei mir waren es Satire-Manuskripte eines verhafteten und für Jahre verschwundenen Schriftsteller-Kollegen, die ich versteckt haben sollte. Bei einer Freundin und Kollegin, deren Freund der Verhaftete war, hatte er mir seine Satiren gezeigt, und ich hatte ihm angeboten, zu versuchen, einige davon in unserer Zeitschrift zu veröffentlichen. Vor dem brisantesten Text erschrak ich selbst, da es lauter kaum getarnte Karikaturen des Diktators waren. Schon am nächsten Morgen war Mircea verschwunden, er blieb es 8 Jahre lang. Ich wurde einige Tage später ebenfalls geholt. Doch wieder freigelassen. (In meinem Roman "Vaterlandstage" habe ich die Szenen mit der Securitate und meinem "Schatten" Jordan ausführlich geschildert , S. 97-102; 394-408 ; dieses Trauma läßt sich nicht vergessen, es begleitet uns lebenslang.)

Sieben Jahre schwebte diese Anklage wie ein Damoklesschwert über mir, Jürgen Fuchs sagt, es habe eine halbe Million Spitzel in der DDR gegeben, doch genau so viele hätten Nein gesagt, und das lasse einen ostdeutschen Reststolz zu. Im Securitate-Land aber sollen es 2-3 Millionen gewesen sein. Der Widerstand war erheblich geringer. Und ich sehe die schwitzenden, grinsenden Gesichter, die diese Unapettitlichkeit ausstrahlen, auch heute vor mir. Was ist mit ihnen geschehen? Nichts. Einige der ehemaligen "Kollegen" leben schön im Westen, sie müssen weder zu Hause noch hier eine Entdeckung fürchten. Zwei sind in Westdeutschland in Ehren verstorben.

 

Als ich wieder draußen unter dem grauen Smoghimmel Bukarests stand, die breite Allee dem Zentrum zuging, die überfüllten Busse, auf dem Dach immer noch die stromsparenden häßlichen Aragasbomben sah, die Menschenmenge, schluckte ich, und fand mich ziemlich allein in meinem Bukarest wieder. Diese harte Kritik der Jungen an meiner Generation schmerzte, weil sie die Selbstkritik nach außen trug, sie unerträglich wirklich machte. Sie war berechtigt. Doch die Jungen sind zur Zeit besser dran, genau wie wir auch, als wir jung waren: sie brauchen noch wenig zeitliches Gedächtnis, sind von dem, was war, noch nicht belastet, auch haben sie den inneren Dreck dieser Epoche erfolgreicher zurückgewiesen als wir, ihr Gedächtnis (mit allen Kompromissen eines bestimmten Lebensalters) muß erst noch entstehen! Ganz unschuldig möchten sie nun unsre Vergangenheit zusammen mit der Diktatur vernichten, oder erwarten es nun von uns, den "Schuldigen", uns schuldhaft "aufzuarbeiten" besser: auszulöschen! Das erinnert mich an meine eigene heftige Forderung gegenüber der Generation vor mir, die Generation meiner Eltern, ihre Jugend in der Nazizeit zu "löschen", diese für null und nichtig zu erklären, als gewissenlos abzutun, "einzusehen".

Das geschieht aus Erfahrungsmangel, aus dem rein nur gedachten Zusammenhang mit dem, was bisher war, es geschieht jeder nachfolgenden Generation, da sie ein unheilbares Durcheinander im Kopf hat, haben muß, die Kriterien, die nur in einem langen Leben zu erarbeiten sind, eben auf Grund von Selbsterlittenem, durcheinanderbringt, etwa nun Faschismus und Kommunismus, links und rechts in einen Topf wirft, ein Konsensus entsteht, der wie eine Mauer alles andere verhindert. Auch die Intelligentesten wirken dabei borniert, es ist die Borniertheit jener Mauer, es ist wieder eine Art Zustandsgrenze der Zeiten, um einen psychiatrischen Befund auszuweiten. Es bleibt der neue Odysseus, der in der alten Höhle dem Einäugigen sein "Niemand" entgegenruft, jenes befreiende Inkognito, das sich hier nicht festlegt, wieder hinaus-weist. Zum Glück. Der Stil geht dem Inhalt wider den Strich, wider die Moral von der Geschichte, er ist Öffnung, sucht Berührung, erfüllt mit Optimismus, während auf inhaltlicher Ebne Tod und Zerstörung wüten. Diese Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die wie dieses erst im Entstehen ist. Hier ist die neue U-Topie einer "Gegenmacht" zu suchen, nachdem die alte des erstarrten Ego, die sich mit Ideologie verband, weltweit gescheitert ist.

 

Dies sei auch der Zustand der Literaten, sagte Gabriel Dimiseanu, Literaturkritiker bei der "Romània Literará", als ich ihn in seiner Redaktion besuchte: seine Stimme war von Emotion wie erstickt: "Einesteils scheints, als wäre alles neu, andererseits haben wir das Gefühl, daß von keinem Bruch die Rede sein kann, 20, 30 Jahre unserer Existenz können nicht einfach weggeworfen werden, ebensowenig die Literatur dieser Jahre. Wir stehen immer noch unter Schock," sagt er: "Das Interesse gilt der Presse, es gibt einen Presseboom, inzwischen 900 neue Zeitungen."

Während der Diktatur hatten die Autoren ein Gefühl der Komplizität mit dem Leser, sie versuchten Formeln zu finden, um möglichst viel Wahrheit über die rumänische Wirklichkeit zu transportieren, besondere Formen dafür zu finden, um diese Wahrheit unter Bedingungen einer strengen Zensur bis zum Leser durchzuboxen. Eine Art Hinweis-Sprache wurde geschaffen, äsopischer Art. Und die narrativen Formen waren davon abhängig, so vor allem in der parabolischen Prosa. Es waren Bücher, die mit einer Existential-Metapher arbeiteten, mit der Absicht, das Unterbewußtsein des Totalitarismus erkennbar zu machen. Aber im letzten Jahr war es furchtbar anstrengend, ein Buch zu veröffentlichen. Es gab eine Liste von Wörtern, die als inexistent, als tot anzusehen waren, nicht erscheinen durften: Kirche, z.B., Tod, Titten, Dissident, Diktatur, egal in welchem Kontext."

Wurde dadurch die Kultur nicht gedemütigt, um Jahre zurückgeworfen in eine abgeschottete Provinz, die Öffnung verhindert, die fällig war? frage ich ihn. Er lächelt ein wenig müde und sagt: "Es gibt auch Autoren, die meinen, ihr ästhetisches Bewußtsein sei durch den Druck geschärft worden."

Ich erinnere mich: Auch der Romancier Mihai Sin in Tìrgu- Mures hatte zu mir gesagt, Zensur sei bei seinen Büchern wichtig gewesen: "Jaja. Schon Borges wußte das. Wenn man nicht aufpaßt, sagt man viel zu direkt eine Menge von Dingen... die Zensur zwingt zur Metaphorisierung. Ästhetisches Endergebnis eines Drucks. Höhere Zwiespältigkeit, Unentschiedenheit, mit der die Literatur umgeht, die so stärker ausgeprägt wird. Kundera hat einen schönen Essay über diese Ambiguität, die jede Literatur enthalten muß, geschrieben."

Und ich hatte es, als ich noch hier lebte, in meinen Gedichten genau so gehalten, und es "Versteckspiel in der Metapher "genannt: "Hier habe ich das Schweigen gelernt,/ das täglich mich vereiste./ Mein Mund will sich durchgraben./ Die Lippen brennen von bunter Leere.// Ein Tier aus Rauch, ein Schatten,/ geht die Angst barfuß über die Straßen." (In meinem Gedichtband "Grenzstreifen", der 1968 hier in Bukarest erschienen war, nur weil eine Studienkollegin, die bei der Zensur arbeitete, diese Gedichte ihren Vorgesetzten als Stadt-, Liebes- oder als Naturlyrik interpretieren konnte.)

Und auch als Redakteur bei der "Neuen Literatur" hatte ich die Gedichte in meinem Ressort nach diesem Prinzip ausgewählt und mich dann mit Chefredaktion und Zensur gestritten.

 

War ich schuldig geworden, schon weil ich bis 1969 in jenem tausendfach verquickten Schuldsystem Ost "geblieben" war. Doch nein, so einfach ist es nicht, denn ich war überzeugt, daß ich dort für wichtige "Veränderungen" gebraucht wurde! Auch wenn diese Überzeugung auf Illusionen beruhte, war sie damals legitim. Legal war es mir erst 1968 möglich, zum erstenmal die Grenze in Richtung Westen zu überschreiten. Ich blieb 6 Monate und kehrte mit Schuldgefühlen anderer Art wieder zurück. Ich hatte "Wahrnehmungsheimweh", Utopieheimweh, Lebensheimweh gehabt, scheute mich, das bisherige Leben "zu Hause" einfach wie ein gebrauchtes altes Hemd liegenzulassen! Dort herrschte, wie der Banater Richard Wagner schreibt, das Chaos: die "Negative Organisationsform," und nur "offene Dissidenz" oder "Ausreise" gaben die Möglichkeit, sich dem allgemeinen "Mitmachenmüssen" zu entziehen. Dieses wurde mir dann erst durch meinen Weltwechsel klar, die innere Vergiftung, die innere Zensur wurde mir erst bewußt, als ich bei meinem Aufenthalt 1968/69 im Westen nach sechs Monaten einigermaßen entgiftet war. Allerdings fand nicht nur solch eine Entgiftung, sondern auch, und dies fast unmerklich, eine neue Vergiftung statt, ein merkwürdiger Prozeß, der anfangs Todesgefühle auslöste.

Viele Gespräche bestätigen mir eine neue Vergangenheitsblindheit und so ein neues Vergessen. Dieses Vergessen der neuen Generation, die jetzt im Mittelpunkt der Gesellschaft steht, die Dreißig- bis Vierzigjährigen.. ist völlig normal, und war in der Generationsfolge immer so.. Daher muß sich auch Geschichte immer wiederholen, nichts, gar nichts wird aus alten Leiden gelernt..

Ich erinnere mich an Hanibal Stánculescu. Wir hatten uns bei der Runde im Pressehaus kennengelernt. Hanibal sagte, er schreibe einen Roman über die Selbstzensur: "Ich bin nun froh, daß das Buch nicht vor der Revolution fertig geworden ist: Denn bei mir hat die Selbstzensur funktioniert, sagte er, trotz der innern Auseinandersetzung. Und das Resultat dieses Kampfes ist nun eine Figur, die mich in vielem vertritt, ein luzider Schizophrener. Er ist nicht etwa nur gespalten , sondern völlig aus dem Takt. Aber in letzter Zeit habe ich einige Artikel geschrieben, um so wieder zur Literatur zurückzufinden. Das aber ist schwierig, denn der Druck des Geschehenen ist enorm. Und Befreiung wird ja auch als opressive Explosion spürbar, wenn man das so sagen kann, auch und vor allem für Autoren, denn niemand kann Prosa schreiben, ohne ein Sich-Lösen und Entfernen im Prozeß der Zeit, und ohne Distanz zum unmittelbaren kruden Geschehen zu gewinnen."

Doch was geht jetzt alles an "Subtilität" verloren, heute, wo alles offen und erlaubt ist? Woran soll man sich nun reiben? "Humaner", vergröberter, faßbarer, ich meine auch: tragischer wird hier in Bukarest ein Epochenphänomen sichtbar.

Vielleicht läßt es sich so sagen: Die grobe Diktatur der Ideologie war nur die hilflose Kopie einer auch im Westen lustvoll betriebenen Simulation von Wirklichkeit. Jean Baudrillard schreibt in seiner "Agonie des Realen" (1978), daß wir in einem Raum leben, der weder dem Realen, noch der Wahrheit folgt, und alles sei nur "Simulation", es gehe um "Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen", das "Reale erhält nie wieder die Gelegenheit sich zu produzieren" in diesem "System des Todes", "wo dem Ereignis, selbst dem Ereignis des Todes, keine Möglichkeit mehr bleibt".

 

"Diesen Ersatz hatten schon unser Ion Luca Caragiale im vorigen Jahrhundert, dann Urmuz hier in Bukarest entdeckt", sagte Gabriel Dimiseanu: "und inwieweit Dadaismus über Tzara und das Absurde Theater über Ionesco hier Caragiale zum Vorläufer hat, ist noch nicht untersucht worden."

Der Bruch ist kaum bemerkt worden. Jene Kritik Caragiales oder Urmuz` hat es mit der "normalen" Entwicklung zu tun, die im Okzident weitergegangen ist, hier aber hatte der westliche Bastard, die Diktatur, alles viel deutlicher werden lassen. Einzusehen wäre, daß jenes Epochenphänomen hier weitergegangen ist, nur viel drastischer und zerstörerischer. Es ist unmöglich alles, was geschehen ist, als eine Schuld der Diktatur abzutun. Junge rumänische Autoren, wie Iova oder Lácustá haben diese Tradition sozial sehr hautnah am Phänomen bürokratischer Totalitarismus vorgeführt. Nun gut. Jetzt kommt das andere Absurde wieder: der levantinische Nihilisimus und seine Majestät des Absurden. Und noch ein Negativspiegel ist zu beachten: Ist die Revolution nicht auch aus dem Irrtum und Mißverständnis heraus entstanden, die rote Diktatur sei an allem schuld... ? Zur romantischen Phase der Revolte gehört, zu vergessen, daß wir alle in einer sehr alten und kaputten Welt leben, die sich selbst in ihrer Künstlichkeit auffrißt, und daß man jetzt aus einer Enklave in die Große Welt des planetaren Wahnsinns gekommen ist, wo alles viel schwieriger und undurchsichtiger wird als bisher!

Vor allem im Schreibprozeß und in der Reibung mit jener Non-Realität, die einem durch Zensur und Polizei aufgezwungen wurde, in der man leben mußte, entstand unter wachsender Lebensgefahr, indem man sein eignes Leben abschrieb, diese originelle südosteuropäische Variante einer postmodernen Literatur: Literatur jenseits der Literatur, die die Grenzen des Erträglichen und der Vorstellung auslotete.

Der westdeutsche Essayist Dietmar Kamper meint, "Erkenntnis auf der Höhe der Zeit" sei "heute " Ästhetik, d.h. Kraft zur Wahrnehmung des Möglichen, er zitiert Jean-Luc Evard; Wissenschaft müsse die Form der Kunst annehmen, wenn sie nicht Wissenschaft der vollendeten Tatsachen werden wolle.

 

Früher, als ich noch hier lebte, "zu Hause", wie das klingt, als wäre: - Hier die Angst "zu Hause", damals war mein größtes Lebensrätsel an den Untergrund des Staates gebunden, er überdeckte alles, Spinnennetz des Geheimnisses, das auch in mir war; man ahnte es, wußte aber nichts. Alles war nur ein Flüstern. Da gab es Untergründe, Aktenschränke, Dossiers, Gutachten, ein unfaßbares Wesen, das alles bestimmte, doch niemand konnte es enthüllen, aufdecken, unser Leben war darin gefangen, davon bestimmt, wie von einem künstlichen Schicksal, das mit der Zeit Biographie geworden war, und nicht beeinflußt werden konnte, es sei denn durch Mitmache, Verbrechen, um, so dachte man, jenes "Wesen" gut und uns günstig zu stimmen. Viele, fast alle haben irgendwie mitgemacht, Schuld auf sich geladen. "Jordan" hieß der gefälschte Namen meines "Schattens", der mir telefonierte, mich zu "freundschaftlichen Treffen" einlud. Wenn das Telefon läutete, ich arbeitete in der Redaktion der "Neuen Literatur", wo ständig das Telefon läutete, da zuckte ich zusammen, den Tick habe ich bis heute behalten. In mir ist es nicht vergangen. Wie kann es in den andern vergehen, die bis vor kurzem (vor kurzem?) noch darin gelebt hatten? Lügengespinst als Wahrheit; was gibt es faßbar Paradoxeres als jene Unterwelt, da braucht es keine Literatur, um die Majestät des Absurden in der Welt auszumachen, diese graue, höhnisch grinsende maskuline Majestät, die lebte wirklich im Alltag, dort der Mann, der mich beobachtete, einer, der mir folgte, ein Auto, das am Gehsteig eben hielt, ein Freund, der sich zu ausführlich nach meinen Briefen erkundigte, die ich ins Ausland schrieb, usw.

 

7. März. Ich erinnere mich an ein Treffen mit meinem alter Freund Petre Stoica bei meiner ersten Heimfahrt 90: ich hatte ihn damals bei der Zeitschrift "22" im Büro des damaligen Chefredakteurs Stelian Tánases getroffen. Das war in der Calea Victoriei beim Sitz der "Gruppe für sozialen Dialog", wichtigste Vereinigung des ehemaligen intellektuellen Widerstandes. Dort saß Petre schon im Vorzimmer und signierte seine Bücher, die er mir geben wollte. Er sah mich von der Seite an, stammelte, D., ja D., mein Gott, nach so vielen Jahren. Wie selbstvergessen redeten wir damals noch, kurz nach der Revolution von jener Zeit, die wir beide in uns trugen, und die es sonst ja nicht mehr gab, daher wird man bei solch einem Austausch wie in einer gemeinsamen Halluzination gefangen: Stelian sagte, er kenne mich ja nicht nur, sondern ich hätte einiges zu seiner Entwicklung beigetragen, zu seinem Denken. Ja, stotterte ich erstaunt und auch geschmeichelt. Und er sprach von meiner Arbeit über die großen Österreicher... Kafka, Musil...

Das war in den sechziger Jahren eine Art Geheimparabel gewesen mit der ich das System der Diktatur und unsere damalige zensierte Innenwelt auseinandergenommen hatte...sagte ich: Zwei Bände, über 1000 Seiten in 50.000 Exemplaren, eine Anthologie österreichischer Prosa.

Stelian redete über sein, seit Sommer 89 aufgebautes konspiratives Nachrichtennetz für westliche Medien. Mir war das bisher unbekannt gewesen und ich hörte gespannt zu: Was über westliche Sender ins Land zurückgestrahlt wurde, den Aufstand vorbereitete, kam aus diesem Netz. Medien haben grenzüberschreitend die Eingesperrten im Kopf für die Revolution befreit, sagte Stelian. Er stand auch im Zentrum der Untergrundbewegung von Intellektuellen; der erste Kulturminister nach 89 Andrei Plesu und der Freundeskreis um den Philosophen Noica gehörten dazu. Und viele aus der Gruppe der Jungen, aus der "Achtziger Generation", mit denen ich im Pressehaus am runden Tisch gesessen hatte. Tànase wurde verhaftet, verhört, beschattet, vielleicht rettete ihn und seine Freunde nur die Revolution. Er sagte, er sei aktiv gewesen, "denn wenn wir nichts unternommen hätten, wären wir Komplicen geworden und hätten uns für die nächsten hundert Jahre kompromittiert." Mircea Dinescu hat das böse Wort von den Dichtern als "Schönheitschirurgen der Macht" geprägt. Die Affäre um Paul Goma, seine feige Behandlung in den siebziger Jahren, ist nicht vergessen. Es gab hier bis 89 keine gewachsene Widerstandsbewegung. Eine neue Generation, der auch Tànase, Hanibal, Mariana, Francesca, Lefter, Herbert und die andern angehören, hatte die Wende ausgelöst. Nicht unsere Generation: Die Älteren, unsere Generation, wirft Petre ein, fühlen sich jetzt schuldig. Ganz schön, ganz schön, sagte Petre irritiert, du hast doch sicher Octavian Paler getroffen, hat er dir sein "Tagebuch eines verbotenen Schriftstellers" gegeben? Wir hätten alle so ein Tagebuch schreiben müssen. Dort hatte Paler geschrieben: "Wir haben uns mit "ihnen" (der Securitate) gegen uns selbst verbünden, und je größer die Kompromisse, umso elender und schwächer werden wir;" wer von der Securitate verfolgt wurde, war einer furchtbaren Einsamkeit ausgeliefert, Feigheit und Angst trieben alle dazu, ihm den Rücken zu kehren: "bevor er in die Fänge der ersten Polizei gerät, ist er das Opfer der zweiten; er ist unser aller Opfer." Paler gehörte zu Tànases Kreis. Da sagte Stelian: "Der einzige Feind ist die Ideologie, also der Kommunismus."

Als gäbe es nicht auch andere Ideologien, dachte ich, schwieg aber lieber. Und hörte dann verwundert dies: "Aber es gibt weder rechts, noch links, daran müssen wir uns gewöhnen. Diese Einteilungen sind falsch."

Das Telefon schrillte. Ich zuckte zusammen. Früher rief die Secu jeden dritten Tag in meiner Redaktion bei der "Neuen Literatur" an, ich zucke jedesmal zusammen, wenn ein Telefon läutet, ich hebe kein Telefon mehr ab, Jann, meine Frau tut es, auch zu Hause. Die Sekretärin, sie bewegte sich auf hohen Stöckeln und ziemlich auffällig in rotem langem Rock, wippend, daß ihr üppiger Hintern den Raum beherrschte, brachte eine Mappe, legte sie Stelian auf den Tisch, Stelian unterschrieb, während er mit der linken Hand den Hörer hielt und laut mit Liiceanu sprach. Welch Unterschied doch zwischen jenen Secu-Anrufen und den andern normalen Fern- Gesprächen!

Unvermittelt fragte ich gutgelaunt die beiden vor mir: Und wie tot ist Marx? Fügte aber dann vorsichtig hinzu : Einem alten Kommunisten, meinen italienischen Bekannten Aldo, der in den Dreißigern, den Jahren Mussolinis, jahrelang verfolgt worden war, seit Jahren tot ist, und mit dem ich nur noch im Traum verkehre, immer wieder kam er, um mich zu befragen, was ich dazu meine, gefiel der Satz, daß Honecker und Ceausescu keine Sozialisten gewesen seien, sondern Kriminelle und sonst gar nichts. Noch mehr gefiel ihm, als ich sagte, daß der Marxismus als Instrument der Analyse für die westlichen Systeme, die jetzt Alleinherrscher auf der Erde sind, eingesetzt werden kann. Der Messias, - ist der jetzt hier auch bald das Kapital, das überall nun seine Segnungen ausstreut? Ein Kollege in Westdeutschland, sagte ich, hat seinen Gedichtband "Standhalten" genannt. Mut gehört dazu, sich nicht vereinnahmen zu lassen, Widerstand ist im Alltäglichen nötig. Mut, die verschiedenen Stimmen der Dinge, so wie du das in deinen Versen machst, Petre, ganz schlicht, konzentriert, genau und gerecht zu begrüßen. Sich Strömen lassen, das ist in den Metropolen des Westens nicht so einfach wie hier: Der Reichtum, die Fülle, die uns in jedem Augenblick umgibt, die nicht von Menschen gemacht ist, nicht zu verleugnen.

- Weißt du, mein Lieber, welches dein Sozialismus ist, sagte Petre wütend: Für ein Kilo Fleisch, ein chinesisches Turnhemd, ein Päckchen Malboro, das zum Zahlungsmittel geworden war, mußte die Unterwelt betreten werden. Wo jede Norm des Zusammenlebens mit Füßen getreten, Übers-Ohr-Hauen, Lüge, Betrug normal waren. Doch auch im Umgang mit Behörden, Direktoren, Polizei, sogar mit der Sicherheit galt Bestechung. Jeder nützte seine Machtstellung aus. Jeder stahl, wo er konnte, je höher die soziale Position, umso größer die Möglichkeiten. Der Kampf gegen den Staat war nur auf dem Weg der Unmoral, des Betrugs, der Hochstapelei möglich. Dabei war auch das gefährlich, einige wurden wegen Korruption und Wirtschaftsverbrechen zum Tode verurteilt. Ganz unten z.B. auf dem Land, ließ es sich nur so überleben: Abgaben umgehen, drakonische Gesetze, Dekrete. Die Überzeugung vom Absurden als Grundlage des Realen, schuf absurdes Verhalten, das man für normal hielt; wenn es nicht so grausig wäre, könnte man sagen, daß hier die Wirklichkeit, die "Normalität" tatsächlich entlarvt wurde, in ihren schaurigen Tiefen des Scheins, wozu bisher nur Literatur, aber nicht das Alltagsdenken fähig gewesen war. Dumnezeule, welch ärmliche Reduktion der Welt ist der sogenannte Sozialismus! Dagegen stehen andere Erlebnisse hier.

So mein Freund Petre. Und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als sei tatsächlich nichts mehr Zufall, sondern aus einem rätselhaften Bereich der vielfältigen Beziehung gekommen: Gedankengespinst und Emotionen, denn schon hatte mein alter Freund das Telefon in der Hand und wählte eine Nummer, verschmitzt hinter seinem grauen Bart lächelnd. Ich dachte noch ahnungslos an reine Theorie: etwa: Musil hat seinen Roman auf solche änigmatischen Zusammenhänge aufgebaut, sie sind da, wenn man sich ihnen offen aussetzt, Zeit "verliert"; jetzt ist der Moment dafür "geladen". Und während der Graubart anscheinend gestört war, hinausging, um an einem andern Apparat weiterzusprechen, dachte ich, wie ich doch nun schon seit einer geraumen Zeit die Zeit totschlage, genau wie früher. Etwas hatte sich verändert durch die Ereignisse, die mir mein Gedächtnisland so nahe gebracht hatten, daß ich langsam in meine alte "unseriöse" Haut schlüpfte, wieder hier lebte, als wärs geschenkte Nähe, Langezeit.

Aber vielleicht ist alles Politische doch nur alltagspolitisch möglich, im Sehn, was wirklich ist, die Ursachen sehn, wie Petre sagte. Hier wäre am wenigsten das "Hochfliegende" am Platz, ja, Blasphemie. Jedenfalls wurde ein enormes Gewaltpotential und primitivstes Denken hier "geschult". Intoleranz. Auch in der Politik, in der Meinung, sie kann ja nur Lüge sein. Jeder sah mißtrauisch auf den andern, der ihn ganz sicher übers Ohr hauen wird, wem konnte man noch trauen, alles war ja nur vorgespielt, dahinter steckte sicher irgend etwas anderes, ein Betrug, ein Übervorteilenwollen, schon beim Schlangestehen äugte jeder mißtrauisch auf den andern, daß der sich nicht vordrängt.

Um diese levantinischen Traditionen des Absurden zu übersetzen, die durch Eugène Ionesco etwa auch nach Westeuropa ins Theater gekommen sind, sie sind im Jetzt zu sehen, gehören freilich andere Erfahrungen als literarische; vielleicht ist es sogar unzulässig, sie zum Vergleich heranzuziehen. An den Rändern der Städte, in Bukarest, der sogenannten "Mahala", sieht man die Hölle vor Augen. Anders noch als in Palermo, in Neapel, in Mexiko City oder sogar in Port-au-Prince ist hier das Unsichtbare schlimmer, die Zerstörung der Seele, - eine Mutation, in der der psychische Tod nahe war, denn es gab nicht wie in andern Elendsgebieten der Welt eine Gemeinschaft der Elenden, die wie in Mexiko, in Haiti Riten und Bräuche, Katholizismus und Woodoo hatten, um ein gemeinsames inneres Licht nicht verlöschen zu lassen. In Rumänien waren am Schluß nicht einmal mehr Hochzeiten erlaubt. Mehr als drei Leute durften nicht zusammenstehen, zusammenkommen, jeder war alleingelassen, überwacht, von Spitzeln umgeben, selbst aufgefordert, Spitzel zu sein, die Mutter, den Bruder, den besten Freund zu verraten, ein gehetztes Tier, nichts mehr als ein keuchendes Wesen, das langsam seine menschlichen Eigenschaften verlor; Moral, Würde? ha, ein Lacher. Der Nihilismus und Zynismus, der Hohn in Witzform waren noch einzig mögliche Verteidigungswerte, für den, der noch dazu die Kraft hatte.

Daher ist auch heute noch die Intoleranz groß, keiner läßt den andern gelten und zu seinem Recht kommen... das alte Gift wirkt weiter.

Doch scheint gerade dieser von der Diktatur bewußt hergestellte Tiefstand und Nullpunkt schließlich zum Aufstand geführt zu haben.

- Schon seit etwa einem Jahr war das ja so, sagte Stelian: Die Leute hatten die Angst verloren: Die Repression wuchs von Tag zu Tag, doch die Leute hatten keine Angst mehr. Oder sie kalkulierten sie ein. Etwa seit April 89 hatte ich mich täglich mit Leuten getroffen, die ich zu überzeugen versuchte, zum offenen Widerstand überzugehen. Jeden Tag zwei bis drei Leute. Ein großes Risiko. Schritt für Schritt ging ich vor, die, mit denen ich redete, wußten zuerst gar nicht, wovon die Rede war. So ergab sich aber ein Kern von Leuten, die bereit waren zu riskieren. Andere blieben im Schatten, um mich zu ersetzen, falls ich verhaftet worden wäre. Es war wie in der Illegalität ein konspiratives Arbeiten. Hier, sagte Stelian, hat auch ein Freund, Florin Iaru, wie alle, die das mitgemacht haben, die ihren Tod überlebt haben, weil die Revolution gesiegt hat, die Schrift zum erstenmal als ein besonderes Ereignis empfunden, als Dank. Dies ist Florins Augenzeugenbericht, lies. Und er zeigte mir mit dem Finger, den er über die Zeile laufen ließ, eine Stelle. Mir grauste es beim Lesen... einige Minuten war es ganz still im Zimmer..: "Zum selben Transport gehörte auch Adrian Christescu, sowie ein zwölfjähriger Junge. Also, einen Zwölfjährigen zu verhaften, das war ja der totale Irrsinn... Die Milizwagen fuhren einen großen Umweg zum Jilava- Gefängnis. Wir glaubten, sie fahren uns nun irgendwohin aufs freie Feld raus, um uns zu erschießen ... Trotzdem hofften wir, daß vielleicht einer davonkommen und berichten wird, wir prägten uns die Namen der andern ein..." Das Unheimliche ist inzwischen eine historische Kategorie geworden.

 

Man muß sich vorzustellen versuchen, in welcher absurden Welt der Paranoia und der Überwachung alle in den oberen Rängen jenes Staates gelebt hatten. Die primitive Psyche des Diktators, der sich einschloß und Kojakfilme oder das heimlich gefilmte Sexualleben seiner Kinder ansah, beherrschte alles, er war ein Genie des Kitsches, man sehe sich nur seine monstruösen Projekte, wie den völlig funktionslosen, leeren "Pharaonenpalast" oder die 4 Kilometer lange Springbrunnenanlage (ohne Wasser) an; dieser schlechte Geschmack bestimmte alles. Form ohne jede Substanz; eine falsche Harmonie auf allen Gebieten, er, der halbe Analphabet ist der Größte, seine Frau, die Analphabetin ist Dr. Ing. und Akademiemitglied. Eine falsche Welt des Wahnsinns; er läßt Goldtüren einsetzen, das Volk lebt im Finstren und hungert, seinen Traum aber will er sich nicht stören lassen. Sogar der Wetterbericht wird gefälscht, damit die Leute meinen, weniger zu frieren. Jede Störung der Friedhofsruhe, jede Öffnung ist mit äußerster Gefahr verbunden, das weiß er, der totalitäre Großvater aus der Stalinzeit; überlebt hat er nur durch Lüge, Skrupellosigkeit und mit einem phänomenalen Personengedächtnis. Überall witterte er Gefahren, Komplotte, Feinde, Mißgunst. Den Staatsstreich haben aber Leute vorbereitet, die in der gleichen Atmosphäre aufgewachsen sind, die liberal-totalitären Söhne. Alle aber geschult im Komplottieren, also im Absurden. Das Entropie- Konzept, daß ein geschlossenes System unweigerlich in Chaos umschlägt, das Chaos wächst, paßt genau hierher. Bei Diktatoren muß das zu Paranoia führen, überall vermuten sie feindselige Kräfte am Werk, die komplottieren. Je mehr die Paranoia wächst, umso näher ist auch die Paranoia der Realität - absurderweise. Vermutete Zusammenhänge, überall Anzeichen, dafür war die Securitate zuständig, die Urheber aufzudecken; es gab ein enormes Spitzelsystem, um diese destruktiven Kräfte von innen und außen zu personalisieren. Hitler oder Stalin saßen in einem ähnlichen Spinnennetz, nur waren die technischen Mittel, vor allem die elektronischen, damals noch sehr beschränkt. Diese Welt reicht fast schon ins Gebiet der Ästhetik des Absurden: plot heißt ja Handlungsstruktur, ist aber auch verwandt mit dem Wort Verschwörung (Komplott).

 

Auf den Straßen das Geschiebe der deklassierten "grauen Masse". Da siehst du das Resultat der verheerenden Nivellierungsprozesse seit 45 Jahren. Ein atomisierter grauer Ameisenstaat. Leere klingt in Monstergebäuden, aber auch in Neubauten an den Stadträndern. Ihnen entspricht die formlose Verkommenheit des armen Wohnstils in diesen ehemaligen Bürgerstuben meiner Kindheit, im Straßenbild, den Restaurants, Hotels; Ungastlichkeit, weil es keine gewachsene Form mehr gibt, schmerzhafte Unordnung überall herrschen. Was bedeutet dieser "Bazillus", diese Einmischung in die "Natur" des Menschen, der Städte, der Gemeinwesen durch ein SYSTEM, durch Systeme?

"Das Allegorische," schrieb Walter Benjamin im "Ursprung des deutschen Trauerspiels", "bedeutet genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt." Schön stillgelegt hier von Sprache und Vergängnis, als wäre ich jetzt davon auch befreit. Wozu? Wir erleben die Nachfolge. Auch daß es die "Realität" gibt. Die wir freilich nicht kennen, wir kennen nur Worte. Aber wir sind durch die offene Grenze, durch diese schnelle Zeit sprachlos, und wir sind Gespenster der Geschichte geworden. Den Grund freilich muß jeder bei sich selber suchen. Und du, mein Freund, mein bester Feind, wo liegt dein Grund (und Boden)?

 

III

DIE NEUE FREMDE 1. HEIMFAHRT INS NIRGENDWO.

9. März. In der Calea Victoriei mietete ich ein Auto und fuhr über Ploiesti und durch den Bucegi, nach Siebenbürgen ... alles so unwirklich, ich hatte in dieser Nacht geträumt, daß es Siebenbürgen noch gab: mitten durch eine Abwesenheit, nur das Licht war sehr fahl, und die Straßen voller Schlaglöcher, Löcher, Löcher, durch ein Loch nach Hause, ich hatte alles vergessen, doch den Umweg über Neumarkt hatte ich noch nicht vergessen. Dann das braune Wasser der Kokel, es floß unter Weiden, ich sah die Wirbel da, genau, Hochwasser, wieder die "Kokel," ein Name, im Hirn blitzt es auf...

Am Morgen dann die Fahrt in meine Stadt. Mitten durch eine Abwesenheit: Nach Hause. Zuckmanteln, welch ein Name, tief im Hirn blitzt es auf, Nadesch, "Weinland". Es war einmal: Das Bild, aber ich bin nicht da. Eine "Scholle" in die Hand nehmen? Felder bebaut, es ist gesät. Welch eine Wiederentdeckung: die Kontur der Berge. Und plötzlich erschrecke ich: schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas. Weißen Speck und Brot im Mund.

Marienburg, die Kirchenburg von außen. Sie ist abgezäunt, Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, der Pfarrhof aber ist leer. Auch nachts brennt kein Licht hier. Der Blick, der da hinaufgeht, die Treppe hoch, durch die Luft über die Mauer fliegt, ist wie abgeschnitten.

Nur noch einige Kilometer bis S., am Herzberg vorbei. Viel zu rasch geht alles. Die Distanzen sind so klein. Früher der Pferdewagen. Da brauchte man Stunden. Zu schnell sind wir in der Wench. Wiese, Fluß, Wald. Die Wench, sie ist es, und sie ist es nicht, wie ihr entstelltes Gesicht, es ist vorbei mit den alten Erinnerungen. Eine Müllverbrennungsanlage. Berge von alten Reifen unter dem verlassenen jüdischen Friedhof. Das Bild erfaßt mich: Rauch darin, Abfallhaufen brennen am Ufer, an der Wenchbrücke, die der Fluß mitgerissen hatte, jetzt steht eine neue Betonbrücke da neben einer Abfall-Wüste. Ich steige aus, versuche zu sehen; alles ist kahl. Am Ufer der Stadt zu, die man noch nicht sieht, sie ist hinter dem Berg mit den Friedhöfen, dem verlassenen jüdischen Friedhof, versteckt. Hinter den Berg, denk ich, werden wir nicht mehr kommen; am Ufer eine verlassene Industrieanlage, Röhren, Gestänge, dahinter die Bergkuppe, früher Schußfahrt auf Schiern. Die Gegend war ja einmal dicht mit meinen Erinnerungen besetzt, mit jenem Kind, das ich nicht mehr bin, das aber immer noch in mir ist. Schneegeruch? Was löscht da aus? Wir biegen rechts ab, da an der Stelle, wo mir Großvater auf dem Pferdewagen die Himmelsrichtungen erklärte, und Hüh, Tschea, wo "links" und wo "rechts" ist, ich fühle es noch an den Armen, der Hand, seinen Griff, mit dem er das Wort an der Hand festmachen wollte. Wir biegen rechts ab, fahren an Viehställen entlang, ein Zigeunerlager. Ich denke plötzlich an den Abfall in Haiti, in Mexiko City, während wir den alten Bezeichnungen nachfahren, die in meinem Hirn platzen: Hula Danesului, Atelshill, Attilas Höhe. Die "Gottesgeisel" soll da gewesen sein! Versunken. Vergessen. Am Waldrand entlang lebt es noch, Grün. Stämme. Sogar Blumen. Doch von rechts der beizende, stechende Geruch des brennenden Müllberges. Sogar hier, Jann, sage ich: sogar hier, wo Kleinst-Idylle war, wo Füchse und Wölfe in die Strohfeuernacht bellten, ist Welt, hat sich sogar hier der Stil des Schreibens der Zerstörung anzupassen: Ökologie?! Wie zum letzten Trost ists, wenn ich hochsehe, der Himmel da, die Wolken, darüber freilich die am Tag unsichtbaren Sterne, kaum anders als damals. Die Juden glaubten noch, der Messias könne jeden Augenblick in das Ticken der Sekunde treten. Dann bleibe sie stehen. Bald, Jann, zeige ich dir ihren alten Friedhof hier: Doch es gibt keine Lebenden mehr, Erich, er allein verwaltet die Synagoge. Du wirst ihn kennenlernen. Also hierher käme der Messias nur wegen eines einzelnen. Im Dezember 1989 hatten für wenige Momente vielleicht alle die Chance.

Alter Träumer.

In der Revolution, dachte ich, sprach es aber nicht weiter aus: bricht die Überraschung jenes Wartenden, bricht jede Gewohnheit auf, die dieses Neue verstellt, doch was schon geschehen ist, holt das Überraschende ein, vernichtet es wieder.

Ich stieg aus. Nahm eine Faustvoll nasser Erde und warf den Lehmklumpen auf das weiße Auto mit deutscher Nummer, das mitten auf dem würzig riechenden Waldweg stand. Der Blick verschleiert, feucht, grau an den Rändern, schon halb aufgelöst das Bild und der Blick in die Ferne - flache Berge, ein Dorf, ich buchstabierte "Dunnes-Dorf"; und wir fuhren rasch ab, die große Distanz zu überwinden.

 

Dämmer im Kopf, schon als Junge, den ersten Becher, Dreikäsehoch, und reichte mit den Armen grade eben hoch auf die Tischplatte, da stand ein Weinglas, ich nahms und trank es aus, mein erster Rausch, Nadescher Wein, mein Gott, das Künd, schrie die Oma, "Weinland", ha, und mit Großvater im Koberwagen, Pferde schnauben, Pferdeduft, sie äpfeln, ich darf kutschieren, Großvater zeigt es mir und zeigt auf die Kontur der Berge... und plötzlich erschrecke ich, schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas, Weißer Speck und Brot im Mund. Ja, wir sind da, in einem Jahr, in zweien, in hundert Jahren in tausend, nahe am Herzberg die Kirchenburg von außen und abgezäunte Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, unser Pfarrhof, ich hatte da mal mit Großvater gestanden, kam zu seinen Patienten, den Pferden, Schweine quietschten, dieser penetrante Gestank der Ställe, Kot erinnerst du am genausten, ach, die Madeleine, dort der Stall, ach, da waren wir drin gewesen, aber der Koben ist leer alles so leer, daß auch ich kaum begreife, einfach den Kopf ducken, Staub und alter Mist rieselt in den Nacken, Kitzel, stinkt, und du liegst auf den Knien, Nichts wirklicher als ein Schweinestall im Traum... Meine Leute aber hielten ihn für die größte Sünde, den Geruch, mein Hund nicht, mit Wollust saugt er ein an Welt, wo sie am stärksten nahekommt, im Gestank, weiche Materie, wälzt sich darin, der Schweinehund. Wir halten sie uns fern mit den Augen, alles andere ist unfein. Großvater pflegte über sein Dorf zu sagen Augen schöne Fensterlein, Augen.

Aber da hängt jetzt ein Schleier davor wie der trübe Himmel da oben, die Augen: Vergeht es dir die ersten Häuser sind geduckt, siehst du eines ohne Dach, und die Fenster vernagelt aufgeweicht wie ein altes Hirn, die Straße inmitten und umgeben von Grün, sieh da, ein Kessel Eden niedergehalten: die Mühle am Anfang sagte damals der letzte Pfarrer, erzählen sie, dann hielten wir mitten im Kopf, die Welt sei ein Dorf, ich wie erschlagen, die Leute auf dem Fußgängerweg gegenüber, was meinst du die Frage ist spät: wer will der Natur dies bedeuten letzter Gedanke an solch ein verwüstetes Wort. Und sie kamen auf mich zu zwei Frauen die den großen Pfarrhof verwalten, sie kamen mit ausgestreckten Händen und offenen Gesichtern auf mich zu und führten mich hinein wo früher Frau Mutter gewesen war.

Ich stelle mir vor jetzt im leeren Zimmer ich stelle mir vor angesichts der Webstühle im leeren Zimmer die beiden anderssprachigen Frauen stelle mir vor den Pfarrer als er ging hier zuschloß im leeren Zimmer jetzt gewebt die Muster der für immer Gegangenen die letzte Frau ihrer Mund Art hier Paulini verheiratet mit einem Anderssprachigen sagte: das Gras ist hoch am Friedhof da werden sie jetzt naß die Wände feucht der Schimmel im Leeren hallenden Zimmer und als der Pfarrer zuschloß den Schlüssel abgegeben an die Anderssprachigen die weitermachen im leeren Zimmer und fünf Särge noch da nehmt sie für euch sagte der Pfarrer und die Kirche abgesperrt den Schlüssel der Sakristei an die Anderssprachigen an die Andersgläubigen wir sind aber ökumenisch sagte der Pfarrer als er das Dorf verließ daß nichts verfällt so muß die Leere bewohnt sein bis ans Ende bewohnt die Toten versorgt und das Gras wächst sanfter Untergang hier im Morast Großvaters Weinlese Mutter als Kind und die Tante wie warm ein Gedächtnis Kindsmutter Basen Nachbarn Vettern aber es heißt der Pfarrer habe sie hinterlassen um auszuwandern dann möglichst in großer Eile Wort für Wort um noch anzukommen vor dem Torschluß Panik die bösen Zungen drei Särge im Mittelschiff schwarz ausgeschlafen noch und einige Blumen gefunden dann von den Anderssprachigen und bestattet mit ihrem anderssprachigen Popen ein Glück noch so ökumenisch daß es dies gibt wie die Erde noch inmitten der leeren Räume und in den Zimmern der Webstuhl da weben sie Muster der Weggegangenen und warten natürlich auf niemanden mehr

Und die letzten Schmerzen sind die Folgen von anderen Schmerzen und wir wollen nicht fort aber wir müssen sagten sie beim letzten Besuch unwiederholbar wie jetzt nur die Leere kommt immer wieder und kommt und würgt und aus der Leere kam alles und die "Mutter fester angezogen" aus Angst vor der ewigen und dem tiefsten Loch der Schwärze Dorfstreit und Dorfpoesie und Dorfsprache und der wie Staub auf der Gasse und Seelenfett über den klaren Himmel gezogen Heulen der triefenden Abgründe Schlägereien und die Kinder zu Krüppeln Prügel das Vieh in den Ställen wie einst alles über den Himmel gezogen und sagten dann diese langen Kerle als sie vom Töten zurückkehrten nicht nur die Front die Lager Herr Lehrer, seit ich das gesehen, kann ich nicht mehr schlafen... und alle Dörfer zusammen die Summe nicht nur alle die blühenden Dörfer mit Hattert Wein und dem weißen Speck den Maden und den Burgen mit einem georgelten Gott in den Bänken war ein sichtbares Zitat auf dem Strafplaneten hier auch Glück und reich wunderschön ich bin einer der ihrigen und sags mit Stolz genannt als Sinne Betrug und alles in allem im Laufe der Zeit auf andauernde Vergeltung, wie ich von einem Kollegen hörte: für den selbstverschuldeten Zustand gilt nun die Menschenleere die Bänke der Kirche und die Fenster Höhlen die Gasse wie ein großer Fehler der Wildnis da fehlt der Untergang und sogar der Friedhof wartet umsonst die Leere wütet lauter und lauter zu hören ist nichts

Geduldig wartet Natur da geäußert gesehen mild auch am Bach dem Wald und das Gras mit ihr ists ein grünes Kreuz und möglichst besiegen und besseres Leben dort oben in einem Reich auszuwandern herab vom grünen Kreuz und dem milden Morast wo es steht am Weg und sehr verständlich der Wald und das Gras am Bach die Brücke wie ein Seil hinüber ans andere Ufer fallen sie nicht sagte das Mädchen die Weberin sagte fallen hier das Wasser ist kalt und ich weiß das alles wartet auf uns tut so sanft und wartet aufs Ende und ich sprach dann in diese großen Augen von der Ähnlichkeit mit früher daß die Zukunft vorbei sei und wir uns dem Vergangenen zubewegen sprach vom langsamen längst und längst gewesenen Zuwachsen der alten Mayastädte in Amerika wohin früher noch ausgewandert wurde aber als Heimkehr sogar wo man die Sprache noch hier ließ und Leute im leeren Zimmer das Weben und Atmen noch Wort für Wort im Dorfhinterhalt Dorfsprache aussprachen und Briefe las längliche Silben gedehnt seitwärts und hilflos zusammen geblieben vergilbtes Papier und fragte wo sie geblieben die Menschen die Briefe verbrannt auf großen Scheiterhaufen alles vergangen was ist nur die Asche früher Lauge für weiße Hemden Totenhemden sehr rein und duftend Waschblau und Kräuter dazu geliehen vom Wald erzählte aber auch die Reisen in die großen Städte und kam wie ein Märchen an hier alles so still und doch als wäre es ja Zeit da nah gesehen auch dort sagte ich in Amerika Fensterhöhlen in der Bronx von New York breitet sich aus das Unbewohnte wie ein Krebsgeschwür die Atome auch im Stein sind nicht mehr normal nicht nur der Kopf und ist groß wie ein Idiot und ein Alf der auf die Welt fällt

 

Erst als ich die Silhouette der Burg sah, unverändert alt, war wieder dieser Stich freudigen Erschreckens da.

Von der Albertstraße bogen wir in die Holzmarktgasse ein; Und ich erkannte das Erinnerungshaus wieder; grünverblichene Jalousien, wie altgewordene Augen, niedriges Gassentor, gelbverblichener Zaun, Farbe vom Wetter verwaschen, abgeblättert: unser Haus. Wieso steht es so vor mir, wie eine Kreatur und wie ein Schlag ins Gesicht. Im Garten arbeitete ein Mann mittleren Alters, sah über den Zaun, mißtrauisch. - Wer sind Sie, was suchen Sie? Ich zögerte, stotterte, sagte: Ich bin DS.

Freude auf seinem Gesicht? Kommen Sie bitte herein, meine Frau wird sich freuen.

Er ist nicht mehr tabu, dieser Ort. Früher: das Haus der Securitate. Der ehemalige Folterkeller daneben, der Schrei, nachts, die frühere Landwirtschaftskammer, sie ist jetzt eine Klinik. Erinnerungen fließen, die Wand ist weg. Und da bricht Wirklichkeit durch.

Zwei Nächte schlafen wir im ehemaligen Herrenzimmer. Die Bewohner, sie heißen Agapie, kümmern sich um uns, als wären wir zerbrechlich. Ich tastete die bekannte Tapete ab, die Wände.

Da, ein Stück blaue Wand, alte Ölfarbe, oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA, es kommen zu viele Einzeldinge und Eindrücke auf mich zu, voller Zeit noch, bekannt also, doch sie binden sich nicht mehr, fallen aus der Gegenwart heraus, diesem Alltagsgefühl: heute. Dagegen die Namen: Dr. Filipescu, der Nachbar, Kuales, der andere Nachbar, der mit dem Wolfshund, sein Bellen nachts, Blumennamen: Klematis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses Namen, sie allein sind geblieben, sie wecken Gerüche, Gefühle retten über Absenz über Abgründe hinweg etwas Anderes ich kann es mitnehmen, ich brauche nicht hier zu sein! Aber im Bad fehlt der alte Kupferbadeofen, jetzt ists ein Boiler. Der abwesende Ofen ist realer als der Boiler.- Aus dem Badezimmer kam der Lichtschein, Fiebertraum des Kindes, der heiße Kupferofen, der Dampf, dazu die Märchen. Ich versuchte, den beiden Lehrern, den Heutigen, versuchte ich, das Phantom, zu beschreiben, ließ meinen Roman auf dem Tisch liegen, damit ich so hier wirklicher werden könnte, die beiden Töchter sprechen gut deutsch. Rede lustvoll in diesen alten Lauten, genieße das Rumänische, denke an den rumänischen Semantiker Noica, und fühle die Laute wie eine Geliebte auf meinen Lippen: Im Osten, sagte ich: aici acasá, hier zu Hause, und meinte dieses Wort dor, dies gibt es nur im Portugiesischen noch, Saudade und im Deutschen: Blaue Blume Sehnsucht, floarea albastrá dor, da hatten wir den AUSNAHMEZUSTAND immer mit uns herumgetragen, l-am purtat cu mine, l-am sperat: ich habe ihn erhofft, hier, und auch in Italien kann ich ohne ihn nicht leben, erst in der Ausnahme für die Ausnahme Mensch lebe ich, daher dieser Ersatz, scrisul meu, Schreiben: und er ist jetzt wirklich da. Daher erhoffte ich Revolution, Umsturz, Befreiung nicht nur vom Tyrannen, sondern vom großen Feind: - acest inamic, si eliberarea dela trivialitatea cotidiana; der zähen, langweiligen Realität; die aber ist nun hier ausgebrochen.

Im Garten viele Beete, Levkojen, Stiefmütterchen, aber auch Spargel und Krautköpfe, Petersilie, Möhrenbeete. Eiersuchen zu Ostern, die Eier in den Büschen versteckt, Flieder, Pfingstrosen, Bajariesen. Warten auf den Heiligen Geist zu Pfingsten, Zittern, wenn die Dienstmagd Roszi den Rock hob. Oder Mariechen nackt in die Wanne stieg und wir am Schlüsselloch zusahen. Wenn wir ein Osterbild mit der Leica schossen, dann zwitscherte die schöne Minch: Achtung, jetzt, da kommt das Vögelchen. Joi.

Jetzt fand ich nur eine kalte abweisende Wand, die Augen sehn zwar diesen Zaun, wo einst der Rappe des deutschen Hauptmanns stand, aber ich sehe alles wie durch mattes Glas; der Rappe wiehert, der Bursche striegelt mit einer harten ovalen Bürste den Pferderücken, der deutsche Offizier hebt mich aufs Pferd: ich reite; vier Jahre später zogen Russen durch die Gasse, ein Major kam ins Haus, Erschrecken, aber er verlangte nur weiße reine Leinwand, ein Flintenweib hatte geboren, die Nachgeburt, das Blut, da, auf einem der kleinen Panjewägen, Stroh, Klappern, endlose Kolonnen von Panjewägen, die durch die Albertstraße zogen, arm; bei den Deutschen waren es Panzer, waren es Kradfahrer gewesen, die rasten da die schnurgerade Straße entlang, berührten kaum den Boden, flogen, sagte Mutter, durch die Kindheitsstraße, wo der Kastanienbaum fehlt, jetzt ist die Staubstraße asphaltiert; keine Bilder kommen, nichts regt sich; sie kommen beim Wachliegen nachts, das Kissen am Kopf, weich, ein Tier, das alte Schlaftier, und der Rost der Eisenstäbe und Gitter der Laube, an der zarte hellviolette Klematis hochwuchs, rissiger Holztisch, sein Rund, diese rauhe Oberfläche an der Hand, sie kommt hoch, die Schaukel am Apfelbaum, niedere Äste im Beet, Astern, Löwenmaul gepflanzt nach der Schnur, Erdgeruch dick, und weiße Engerlinge, die sich winden, am Kopf bräunlich wie Zacken Fresswerkzeuge, er wird mit der blitzenden Klinge der Schaufel halbiert, windet sich in der Furche des aufgegrabenen fettigen Beetes; wir lebten, wir waren da, Prickeln, die Angst im Bauch, in der Nase Schulbodengeruch, schwarz... Und in der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und die Oma sagte: schön war, graulst tea net, menj Jang, Nor. antwortete ich, genau in diesem Zimmer!

Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als "Pelzkugel auf der Zunge", aber der Kopf dick/ wächst wie eine Wasserkugel, die ich im Hohlraum am Gaumen und an der Zunge schmecke, der Kopf ist auf der Zunge riesengroß, summt, er, auswärts gewachsen ein Ozean, der Wassergeschmack. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel, den die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen hat, der Mann kommt langsam herein, die Tür knarrt, der Mann will mich erwürgen, es ist ein Gespenst mit knotigen Fingern. Und Leute, die blendeten, sie hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da - hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, als wenn jemand Schubladen auf und zumachen würde. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Unmöglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren natürlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, etwa anderthalb Meter groß, die hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis, einem Lichtkegel, der sich durch die Türe auf mich zu bewegt, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Jetzt war es ähnlich, ein vibratorischer Übelkeitszustand, und Gedächtnisfetzen kamen hoch. Ich war befremdet... Und hoffte noch rechtzeitig aufzuwachen...Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Mit ihr stehe ich vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanzgraben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, diese Adjektive, Frühjahr, wie ein verkapptes Verb, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropft ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Lastzug mit Panzern vorbei.

Und wenn diese geschmeckten Bilder sich zusammentun, ists ein dichtes Netz von Gerüchen, und dann sind wir im Paradies, jaja, in der Kinder Zeit; aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie ganz am Anfang die Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen kriecht in Scheiben die Lampe von der Gasse hereinm. Und als wir dem Senator Lang die Fenster einwarfen, schrie er: Verflachter Heangd. Iwer kurtsch awer lang bekutt et ir Fratzen noch ze spieren. Und wir: Nor e kitzken, Herr Senator, nor e bitzken, tea Dracu.

Aber Zuhause setzte es Dresche, bis wir Wasser verlangten, fast wie damals an der Keakel, wo Miker mir die Ziehgarr gab, Hireh, gaemer en Ziehgarr, sagte einer. En Heangtskniefel, sagte der, gef mer e ketj, jammerte der, loß mech e wenig zurpen. Halt die Lap. Halt du dein Schleifes, sonst dreh ich Kukurutz aus deinen Flotschen. Ich: Deine wilde Übergroß! Dann aber war der Vater da, und vor Schreck sagte ich adje Pepi. Der aber Na Buck. Der MikerVater aber schrie: Ich will euch zeigen Ziehgarr. Und gab dem Miker eine Pletsch, daß der sich überdrehte. Ich will euch zeigen, daß ihr wieder an die Kokel zieht, und auch mir das Budjilar ruiniert und eure Gesundheit.

Als aber Mama nachher fragte: Um was bist du so grandig, da sagte ich nur: um das. Piha, bäst en Schoasselt, hör ich sie. Und Vater schrie, als er's vom Senator dann hörte, der war auf Verweis gekommen: En Liehmhoken, net en Teremtete. Dresche setzts dafür, du Flegel. Bitte, bitte nicht. Er aber auf alles Bitten: En Flur mät er Hink. Hol den Riemen! Und Mama schrie: Jessas Tesi, Kurt, bitte, bitte nicht. Half alles nichts, der Hosenboden rauchte, verlangte Fleisch die Rute, die er auch schwang, Witsch, Witsch.

Und jetzt ists Heimatgefühl? Das Ende löscht alles Böse? Und jedes Fitzelchen Wärmeeck und zu Hause ist besser als dies Graue. Mein Gesicht im Spiegel, ich erschrak: so sollte ich aussehen, so elend und trüb? DS.? Die Augen matt .... nackt der Zement, ein Zittern vor Frost.

 

Ich erwachte dann "wirklich", es war spät, ich rieb mir die Augen, war erstaunt hier zu sein im alten Herrenzimmer; wachte ich oder träumte ich? Nein, ich war da, ich ging ins Bad, duschte, und frühstückte; die netten Lehrer sind in der Schule; sie haben mir im "Speisezimmer" schön gedeckt. Damast. Ich bin "Ehrengast". Im Kühlschrank finde ich wie früher Butter und Milch. Ein Pferdewagen rollt eben vorbei. Und ich denke daran, daß sich kein Bogen schlagen läßt ins Vergangene, zu 1944 oder zu 1950, als wir hier wohnten. Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein, auch hier im "Speisezimmer". Gelber Kachelofen, der summt nicht wie früher, die Glas- und Schiebetüre zum Herrenzimmer ist offen, alles noch da, die Vorhänge, das Rauchereck, sogar das alte Spiegeltischchen meiner Mutter, braun, an das ich fasse, als wollte ich so den `Durchbruch` erzwingen, die Zeit zusammenfallen lassen in einer Fingerberührung, Kindermagie. Obwohl die Agapies, sich rührend bemüht haben, alles so zu erhalten, wie es einmal war, weshalb eigentlich? - ist über allem eine fremde Schicht von Unerkennbarkeit, die Jahre, die Atmosphäre; es sind nicht nur die Nägel, von Securitateleuten, die einmal hier gewohnt haben, in das Furnier der Schiebetüre geschlagen, oder die Parketten, die von ihnen mit Linolöl eingelassen, nun schwarz wie ein Schulboden aussehen, nein, es liegt auch in mir selbst... "Zu Hause" in der Holzmarktgasse...? Frei, nicht in der Zelle? Ja, etwas hat sich in mir verändert: die Angstwand ist weg. Die gibt es nicht mehr. Diese Kluft, dieser Abgrund zu unserer Kindheit, die Folterer hier, die Securitate gibt es nicht mehr, im Kopf aber, ja, da ist sie noch, wie Mircea, Mircea, der arme Selbstmörder...

 

Eine Woche nach Mirceas Verhaftung holten "SIE" auch mich. Das Verhör am Anfang, das Verhör. Du zitterst in den Worten. Du schreist. Ich weiß nichts, schreist du. Du weißt, brüllen sie dich an. Wir wissen es, daß du es weißt, red, du verdammtes Schwein! Wo ist dieses dreckige Buch, wo ist das Manuskript von Mircea? Er hat alles gestanden, er hat alles gesagt, wir wissen alles, hier... und der Knollengesichtige zieht eine Schublade auf, hier, siehst du dieses Protokoll, da steht alles schwarz auf weiß: steht; bestätige es und du bist frei. Frei! Wo hast du es versteckt, dies Drecksmanuskript. Dein Freund ist längst dort, wohin er hingehört: du weißt, die Hölle, der Kanal, du, sein Komplize, du weißt. Die Hölle der Kanal. Du, sein Komplize, Staatsverrat, rede oder du darfst ihm Gesellschaft leisten. Und so war es dann, auch ich kam für eine Zeit in diese Wahnsinns-Mühle der Securitate.

 

Über diesen Graben sollte ich jetzt springen. Zu spät! "Normal" werden. Nein, eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Ein Emigrant in Pension. Soll ich wieder wie früher sehen können, riechen, als wäre sie mein, diese damals so jungen Sinne: Da, ein Stück blau Wand, alte Ölfarbe, oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA, Einzeldinge, Eindrücke strömen, Zeit noch, bekannt also, doch es bindet sich nichts, fällt aus dem Augenblick, Alltagsgefühl: heute. Nur die Namen sind da: Filipescu, der Nachbar, Kuales, der mit dem Wolfshund, Bellen nachts, Blumennamen: Klematis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses zergehts, macht glücklich? Die Namen allein sind geblieben, wecken wie die Gerüche starke Gefühle. Ich kann sie mitnehmen, ich brauche gar nicht hier zu sein! Diese Kluft läßt sich nie mehr überbrücken. Meine Erinnerung stammt aus einem andern Jahrhundert, hier, meine Kindheit: Diktaturen hatten den Zeitbruch und die Vernichtung der Wahrnehmung und der Fähigkeit glücklich zu sein durch Wachtürme und Stacheldraht wie in einem Indianerreservat erhalten, die Zeit mit Fahnen und Gewehren umstellt und so angehalten. Jetzt fließt sie wieder und alles verwirrt sich.

Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht möglich. Das Wesentliche der Vergangenheit verschließt sich, das Außergewöhnliche scheint nun verschwunden; was jetzt da ist, das Herrenzimmer, die Gasse, sind in eine fahle Normalität getaucht und wie verlassen, nur Trümmer, Relikte, - es ist wie eine Stadt nach einer Überschwemmung, da ragen die Reste aus dem Schlamm hervor. Wenn ich die Augen schließe, das Gedächtnis aufbricht, nah, wie ein Traum und unschuldig wie jedes vergessene Erleben... fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein, die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen, am Zaun entlang auf ihrem Beet neben der Laube, bis hin zum Kompost und den Abfalleimern in der Gartenecke zur Landwirtschaftskammer, Camera Agricola, vor der es mir grauste, wo aber damals die Familie Márgineanu wohnte, zwei Töchter und ein älterer Sohn; aber wenn ich die Augen öffne, und nicht ab sehe davon, ist nichts mehr da.

Echo des Zeitbruches, jahrelang nur in der Phantasie. Durchbrach den Boden des Bewußtseins und es lag jahrelang irgendwo im Dunkeln. Furcht, es könnte durch diese Begegnung vernichtet werden. Weiterleben wäre dann unmöglich. Eine endlose innere Wüste.

In der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und dann die Nacht.

Ein Pferdewagen rollt vorbei. Und ich denke daran, wie sich der Bogen schlagen ließe zu 1944 oder wenigstens zu 1950. Wann? Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein.

 

Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde; nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich noch spürbar. Wie es wirklich war, ist weniger wichtig. Aber die Hausfrau in meinem ehemaligen Elternhaus fand es sogar richtig, sich zu entschuldigen, daß es den Kupferofen nicht mehr gebe. Und daß die Tür zugemauert worden war, die Tür vom Schlaf- zum Badezimmer, dafür gebe es ja eine Türe aus der Küche ins Schlafzimmer. Sie zeigten mir die blaue Bemalung mit den goldenen Sternen in der Diele. Die ist geblieben, sagte Frau Agapie, die ist uns kostbar. Nur die Diele mußte abgetrennt werden vom Treppenhaus, das hinauf in die Mansarde führt, dort wohnt eine andere Partei, Partei? Worte sind Gefühle, manche machen Angst, ja, Parteien, anders besetzt?: das Haus ist geteilt. Wie das Gedächtnis, denke ich.

Die netten Agapias lebten, so schien es mir in der Wüste meiner eigenen Empfindungen.

Die Zeit also so lang abliegen lassen, unbewegt, bis sie sauer wird auch in den Gegenständen, einem unendlichen faden Warten? Oder gibt es die Aura nicht, verfaulte Zeit, auch in den Mauern, den Läden, den Stühlen schwingt nichts. Es nimmt mich nicht auf. Was heißt noch "zu Hause". Die Dinge sind kaputt, auf dem Weg zum Abfall, ihre Zeit ist vorbei, und keine neue? Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern vor ihrer Ausreise nach Deutschland, gezwungen wurden, wieder in dieses alte Haus einzuziehen, es gab da ein Gesetz der Rückgabe, der halben Wiedergutmachung, immer wieder, als hätten die Machthaber den besten Instinkt, als hätten sie immer nur in der Angst vor dem Jahr 1989 gelebt, und das "Normale", um die Revolution zu vermeiden, unter Kontrolle wieder eingeführt! So hatten meine Eltern mit meinen beiden Geschwistern und deren Kindern hier in diesem Zimmer versucht, "wie früher", Weihnachten zu feiern; die Möbel, die Vorhänge, die Bilder, die Lieder waren die gleichen, sogar der Christbaumschmuck war der gleiche, und doch wirkte alles wie gestellt, wie eine arme Kulisse, erzählte meine Mutter, es gab eine untergründige Vernichtung, die uns und auch die Dinge so verändert hatte, daß sie wie gestorben erscheinen. Und wir, sind wir denn auch schon längst tot? Die Biographie dieses Hauses, und die seiner Menschen war brutal unterbrochen worden.

Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet das Modell des kleinen Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt den Gedanken dazu mit ihrer Langsamkeit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die Wirklichkeit gibt es nicht mehr.

Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, freilich dahinter dehnt sich ein im Vergessen wachsender Abgrund, und diesen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte, nicht-lebend.

10. März. Als ich an diesem Tage in der Baiergasse an den Kränen des Tyrannen vorbeikam, die hier immer noch standen, um Häuser einzureißen, die Unterstadt zerstören sollten, ein Teil liegt schon in Trümmern, dachte ich: wie nach einem Erdbeben oder nach einem Luftangriff, so sieht ein Teil des Neuen Marktes, der Mühlgasse aus. Die Kräne strecken ihre gewaltigen Märklin-Spinnenarme in den heimatlichen Himmel, den ich gesucht hatte.

Und ich biege in die Mühlgasse ein, sehe die alten Torbögen nicht mehr, kein fauler Geruch, da kannst du dich nie mehr hineinlehnen. Hier, dieser Trümmerhaufen: das ist Hubatsch, der Bäcker, da holten wir die Semmeln, und dieser Schutthaufen vis á vis das Haus von Reinhard Pretz, mit Großvater holten wir bei dem seltene Briefmarken, der hatte auch die Blaue Mauritius, und in diesem nicht mehr vorhandenen Haus hatte meine Mutter als Kind gewohnt.

Erschütternde Szenen von weinenden Müttern am Grab der im Dezember 89 Gefallenen. Dann von einer Alten, die in eine Betonwohnung verbannt worden war, sitzt da, die alte Bäurin wie in der Zelle. Ich habe nichts, kein Stück Garten, weder Hühner, noch eine Kuh, wovon soll ich leben. Alles haben sie mir genommen. Schlimmer als in der Zeit der Türken. Sie weint. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, und mit einigen tausend Lei pro Monat soll ich auskommen? Der "Neubau" ist schon halb verfallen. Unbeschreibliche Szenen, Küche, Klo. Kein Bad. Haufenweise Dreck, Risse in der Mauer.

Ich suchte nach einem Telephonbuch, ging zuerst in einen Optikerladen, dort ließ ich meine Brille, deren Rahmen sich verbogen hatte, geradebiegen, werde ich nun besser sehen können? ich ging dann in einen Bäckerladen, früher "Kwischinsky", wo ich als Kind Stollwerck gekauft hatte, und schließlich in ein obskures Amt im Toreingang zum Baruchhaus, wo ich vor einigen Jahrzehnten geboren worden war, also "auf die Welt gekommen," eine ganz andere Welt freilich.

Schön, wie Kindergedanken kommen, erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch. Jetzt sitzen dort drei traurige Menschen, der Vater, er ist Eisendreher, nun krank, die Lunge, er fragt nach Medikamenten. Ich sage: das Rote Kreuz. Die Mutter mit dem Sohn in der Küche. Der Sohn hat eine Siebenbürger Sächsin geheiratet, sie werden auswandern, sagt die Mutter müde von der großen Traurigkeit, niedergeschlagen; sie hebt den Kopf die ganze Zeit nicht hoch, sie hebt ihn nicht wirklich, er bleibt auf der Tischplatte liegen. Das Haus, sagt der Vater, soll abgerissen werden. Er weiß gar nicht, daß die Vernichtung gestoppt worden ist. Für sie ist die Revolution wie nicht gewesen; der Alltag ja, der geht so weiter, wie die Sekunden. Sie scheinen zu frieren. Ein Frösteln in allen Räumen. Ich gebe ihnen eine von Gisela abgelegte Pelzjacke.

Spiegel der alten Täuschungen, ich versuchte in den Garten zu gehen zur alten Trauerweide, das Großvaterhaus, der wacklige Gang, der Hof mit dem "Galgen" wiederzufinden, wo Großvater Pferde anband, seine Patienten, das Fell zuckt, dicke Bremsen auf dem haarigen Glanz, der Ort ist nicht mehr vorhanden, das Haus gibt es nicht mehr, es ist abgerissen worden; und die Katzen neben dem Haustor hatten eingerissene Ohren. Ein Wasserschaff mit Regenwasser stand früher am Kellerfenster. Nichts mehr davon, alles abgerissen, eine Asphaltstraße führt darüber hinweg, Bitum. Zugedeckt. Wer so die Wunden verheilt? Im Garten streckten sich Schneehügel über die vergessenen Krautköpfe. Dürre Kümmelstengel rasselten, letzte, unhörbare Geräusche...

Und dort, ja im Garten der Bombentrichter, zehn Meter Durchmesser. Friederike bügelte in der Küche, da gab es einen gewaltigen Knall, ein Stein rollte aus heiterem Himmel auf den Gang, Fenster klirrten, verrückt gewordenes Espenlaub, zittert innen, und alles schepperte, Augen, Pupillen geweitet vor Angst. Nicht mal mehr Schlamm drüber, Kokel, Fluß. Und Friederikes Augen längst geschlossen, für immer, sagst du. Jedermann. Und jenes Buch geschlossen, unauffindbar, Bleistiftzeichnung auf einem grünen Buch von der Schönen Lau im blauen Mädchenzimmer, das Friederike gehörte. "Die Wasserfrau ist kommen/ Gekrochen und geschwommen." Den Blautopf. Der ist geblieben. Und sind wir nicht alle "oben", sagt einer und lacht. Wenns nur nicht der Töff wär, SS- Ingenieur. Da hörst du den Piccolomarsch Friderixus Rex unser Kööing und Herr. Vater pfiff den gern. Im Astra-Kino konnte man den Film sehn. Per Aspera. Aspern. Stalingrad. Und so. Oder die Nibelungen. Und in der Heeiiimat, da gibt's ein Hastdumichgesehn... Zeit, bleib bitte stehen: Der große Friedrich flötenspielend zur Kronprinzenzeit. Catte sah man auch, seinen besten Freund. Und beide ungehorsam, Deserteure. Catte verurteilt im Film. Mußte auf dem Sandhaufen knien, das Hemd weiß, die Augen weiß. Die Augen fest geschlossen. Gewehre. Bunte Uniformen, spitze Tschakos. Es riecht nach Pulver, Feuer!!! Reiß dich zusammen, heulnicht, sagt Töff, der Soldat. Beiß die Zähne zusammen, hartsein hilft! Pflicht ist Gottes Stimme in uns. Der Unsichtbare kam nun doch so auf die Welt. Wie doch die Alten und die Toten so nah kommen, hier reden. Wie sie lachen und sich erinnern: Ganz benommen traten wir dann ins Licht, die Baiergasse. Wo ist Catte? Und mußte zum Haarschneiden. Schlechte Luft beim Friseur Roth. Vor der Tür eine Glocke, die schwingt und bimmelt. Drinnen roch es gemischt, Öl, Pomade, Kölnischwasser. Scheitel, gestutzte Köpfe, Nullerköpfe. Darunter einer mit Totenkopf an der Offiziersmütze. Früher gabs dazu eine unerklärliche Ausstrahlung, schwere Aura, prickelnde Hysterie. Das "gesunde Gefühl". Instinktsicher, sagte man. Mußt du darüber, hier an der verkommenen Treppe stehend, lachen? Die Eingangstür, die Glocke sind noch da. Jetzt ein armer Staatsladen, auch nach der "Revolution".

Ich, ein neutraler Ort in der schon vorgestrigen Nachfolge? Da gibt's keine Lücken, keine Tunnels mehr, wo ich durchschlüpfen kann, als fiele ein Licht von der Ursprungsschrift hier ein. Müssen da nicht noch an jener Ecke, nahe der Kokel die Pferde und faden Gerüche stehen, Zeitungen von 1944, wegen der Nachrichten von "heute", am Eiskeller dort in der Trafik sind sie zu kaufen. Sie fallen vielleicht noch auf dieses Zeichen. PRAETERITA MUTARE NEMO POTEST. Am Stundenturm, heißt es, unter der Sonnenuhr da soll jener Spruch einmal gestanden haben. Von der Zeit gelöscht. Am Wietenberg aber die Platten vom "Ewigen Buch" Szaruga. Eine Vielzahl von Platten gabs, die, in der ganzen Welt verstreut, nur bruchstückhaft aufzufinden sind; wären sie noch alle vorhanden, könnte man die Reihenfolge, die richtige, festlegen, mit der sie unter die Sonnenuhr gelegt, von ihrem Zeiger gelesen werden könnten.

Was suchst du da, Erleuchtungen, um wirklich heimzukehren? Lesbarkeit des Verborgenen, "Berührung": Daß das Wirkliche identisch sei mit dem Geschriebenen? Da mußt du doch nur zum Grundbuchamt gehn, hör ich meinen Großvater. Aber da sind wir nirgends mehr eingeschrieben, sage ich: Vergeblicher Besuch beim Grundbuchamt im Hämchen.

 

Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu träumen. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters ist jetzt eine Konditorei. Auch da sah ich und erkannte Einzelheiten. Es gab nur einen trüben Saft zu trinken, sonst nichts. Konditorei. Und alles so klein und unbewohnbar. Es ist anders, als ich mich erinnern kann. Sonntag, ein früher Morgen oder Ostern schienen hier nicht mehr möglich. Auch die Käuzchen, die ich in der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl. Etwas Alptraumähnliches geschieht hier in der Sonne, unter dem blauen Märzhimmel zwischen den Fassaden der doch schön renovierten alten Stadt. Menschen und Stadt passen nicht zusammen. Restaurants, Konditoreien, Geschäfte überfüllt, das Angebot mager. Auf der Hauptstraße eine graue Menschenmenge, kaum Autos, im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben.

Häuserzeilen, Gassen sind leer. Ich besuche Verwandte. Die Familie Norberts. Eine ältere Verwandte sagt, sie habe leichteren Herzens 1945 die Verschleppung nach Rußland ertragen: diese Verschleppung aber nach Deutschland sei für immer und ewig, wir sind am ausgehen, ein Wald von dünnen Kerzen.

Was aber passiert, wenn wir gebrechlich werden. Ich habe mir das "Altersheim" angesehen, sagte die Verwandte: es ist im ehemaligen Arrest der Stadt. "Nein, danke." Es wird jetzt besser, sag ich. Es gibt inzwischen sächsische Altenheime. Wann? Das Haus gehört uns. Hier, in diesem Bett bin ich geboren. Wir sind fast froh, daß es mit dem Paß nicht so schnell klappt. Salz der Erde? Haha. Glaub doch daran. Ohne diese einzige Gewißheit wird auch das erhoffte Echo, und du mit ihm sterben. Kannst nicht dauernd nur im Nichtzuhause leben. Ohne erinnerte Zeit, die euch im Westen erwartet, ist die Gegenwart ein Trümmerhaufen, wir mit ihr. Gräßliche Zeitlosigkeit scheint aber auch hier ausgebrochen. Jetzt hat sich der Text umgekehrt, übergangslos ist er die Realität selbst.

Aber welch ein Umweg des Todes, der Zerstörung, um zurückzukehren zum "Alten". Der Alte, ja, wo sich der aber aufhält, versteckt. Hinter welchem unsichtbaren Paradiesbaum?

 

11. März. Ich hatte ja tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt, unser Haus zu kaufen, zurückzukehren. Denn was fällt jetzt ein? Der Hohlweg im Baum Garten mit raschelnden, dürren Blättern, randvoll gefüllt, darin Waten, Geruch mürbe Erde Blatt zerbröselt, und ein Holzweg fällt ein, Laufen der Kinder, die heißen Boden spüren unter nackten Sohlen, holprige Wege, unter dem Nußbaum ein Sandhaufen, und ein Astloch, da vergruben wir Sand bis das Loch zuwuchs... und eben fährt der Verwandte auf grünem Rad surrend den Weg hinab. Leuchten nachts der Farraddynamolampe, Scheinwerfer. Wir aber hockten unter zwei Felsbrocken, die sich aus der Wand gerissen hatten, einem fiel er auf die Füße, mir vielleicht jetzt so spät auf den Kopf, darunter begraben Erinnerungen. Den Weg hinauf aber dem Haus zu, da ging es an einem Lindenbaum vorbei, da saß ich mit einem Säckchen um den Hals und pflückte den Tee. Warten, ja, auf den Ästen. Heute sind sie abgesägt. Und Mutter lobte mich, rief. Kommt essen, ihr Fratzen. Kinderparadies? Unten am Steinplatz aber der Fiaker, Brr. Hoh. Pferde, wie nah, wie anders, ein Leben, damals, das, was jetzt die Autos sind, welch ein Unterschied, Mann. Und aus dem Fiaker stiegen die Mitzmother und der Großvater, klein mit Stock, Brille und Hut, die dicke Warze unter dem milden hellblauen Auge, die Mitzmother mit Sonnenschirmchen, ächzend, fettleibig den Weg hinauf, die Steigung am Lindenbaum, vorbei, ich hör ihr zittriges, zerbrochenes Stimmchen, wehmütig: Ich schnitt in seine Riiinde, so manches süße Wort. Ah, das bleibt. Und hinter ihnen Erschi, die Magd aus dem Szeklerland, mit einem riesigen Henkelkorb, da gabs Eßbares, frische Kipferl vor allem, Semmeln, Yoghurt, Mineralwasser, Borsek oder Wasser aus Homrod, wo wir als Schüler einmal auf einem Harghita-Ausflug badeten, Sauerwasser an der Haut, prickelnd, altes, verfallenes Holzbad mit Holzkabinen, faul schon, und auf den faulen Brettern mit nassen Füßen, Spuren, ein Sprungturm aus Balken, im Wald alles, halb zugewachsen, gut vorstellbar die Mitzmother mit gestreifter Badekappe, Badeanzug mit Rüschen, oben und unten eng geschlossen, quergestreift. Juchzend, die Oma, kreischend vor Angst und Vergnügen.

Das Nebenbei, das Unwichtige haftet. Was sonst war, Krieg, Soldaten, die nach Zigaretten rochen, und hatten gelbe Finger, auch Vater, kam als solche Botschaft an, vertraut, denn da dachte ich noch nicht, so konnte sich schöne Erinnerung bilden. Und was erhoffst du dir, daß Schreiben nicht mehr nur Verlorenes, Wirklichkeit überhaupt ersetzen muß. Wolltest in S. ein Schriftstellerhaus gründen, alter Träumer.

 

12. März. Mit Jann der Besuch bei den jetzigen Besitzern, zu Fuß durch die Cornesti, nein zuerst über den "Neuen Weg", da sah man schon die beiden bekannten Ausblicke, Steilau, die Sommerhäuser klebten am Berg, vertraut, wir gingen am Kinderspital vorbei, ja, sagte ich, hier konnte man abkürzen früher, bei der Orendt-Neni, da stieg man in einem Zaunbereich über ein längsgestrecktes Brett, an beiden Seiten über zwei Pfähle gelegt, eine Brücke sozusagen von Grundstück zu Grundstück, keine Metapher, da stieg man, auch Großvater, wenn er aus der Stadt durch die Hüllgasse kam, es war näher, Abkürzung, da stieg er über dieses Brett. Jetzt gibt es dieses Brett sicher nicht mehr, wer weiß, wer jetzt da wohnt, und wir gingen lieber am Fielkischen Schlößchen vorbei, - alles steht noch, hier fielen ja keine Bomben, ein Dorf, sagt Jann, so ländlich, - gingen wir am alten Brunnen vorbei, diese metallenen Säulen, wie Wasserzapfsäulen, Hebel, das Wasser zischt in dickem Strahl hervor, da tranken wir, da füllten wir die weißen Flaschen, denn Wasser gabs im "Baumgartenhaus" nicht, nur Regenwasser in der Zisterne, Kochwasser holte der Zigeuner Puscas von der "Lehmkeule", der Ziganie, mit einem Eselchen das vor die "Tinne" gespannt war. Wasserleitungen gabs noch nicht, und der Brunnen am Schleifengraben, den Großvater graben ließ, hatte kein trinkbares Wasser, es war zu weich. Immer wieder wurden weiße Flaschen an einem Faden da hinabgelassen, um das Wasser zu probieren, er trank es mit Todesverachtung, wollte erfolgreich sein. Ja, diese Brunnenhäuschen mit Dach und Gitter, sogar ein versperrtes Türchen, damit da niemand Dreck reinschmeißt, reinspuckt gar, die Purligaren, ein Rad, eine Kette mit Eimer gabs auch, das quietschte. Und es roch nach Farn und nach dem dicken, haarigen Blatt, haarig, fein wie das Ohr junger Hunde, "Balsterblädder", sagte Mama. Und nach Schrot roch es an diesen Ohren im Schleifengraben.

Durch die Cornesti waren wir mit Jann hierher gekommen. Am alten Mauthaus vorbei. Dann an den kleinen blauen Bauernhöfen, dort in einem dieser Höfe hatte ich meinen ersten Toten gesehen, aufgebahrt im offenen Sarg, wir gingen dann am Bachufer entlang, ich mit diesen Bildern in mir, schweigend, Jann hatte keine Erinnerungen und ich schwieg, denn ich hätte bei ihr kaum Echo gehabt, auch wäre es mir zu mühsam gewesen, auszuholen, und war doch selbst noch so beschäftigt, diese Erinnerungen zu registrieren, als würde ich sie neu sehen, wie zum erstenmal, jetzt ist der Weg asphaltiert, dachte ich, kam da der Andere endlich, tauchte mich ins Unbewußte ein, daß ich ein wenig Frieden finden konnte in dieser Anspannung, es selbst zu tragen, was ich nicht mehr war, und ich sah, was es nicht mehr gab: früher wars ein zweispuriger Karrenweg, in der Mitte mit Gras bewachsen, Staub, Pferdeäpfel, Kuhfladen, Bremsen klebten an den Pferdeärschen, die Luft flimmerte durch die Schweißgerüche... UND - ein Bindewort, ja: und sehe der Zeile nach: ich bin ja dort absent, und alles ist im Nachher, wie es sich annähert also, hier in der Zeile der Wirklichkeit, die ebenfalls nicht mehr existiert! Ich sehe auf, und weiß, daß ich "Zuhause" an meinem Schreibtisch bin, fremd zu Hause, dort oder hier in Italien... Ich hatte es vergessen in der Ekstase des Schreibens. Und die ist selbst ÖFFNUNG. Eine besser als im "Sommerhaus", das ich keinesfalls kaufen werde. Erinnerungen sind nicht käuflich. Ich würde mir dort an der fremden Wand den Kopf meiner Erinnerungen einschlagen, sie könnten sich nicht halten...

Dagegen steht die bunte Kaffeetasse, Kühle, Frische, ins Gras laufen, barfuß. Oder feuchten Sand, kühl wieder an der nackten Sohle spüren. Bäume rauschen. Und sogar hier die weiße Mauer, tausend grüne Blätter, Osmose wäre möglich, Wasser fließt. Die Härchen auf der Wange. Luft daran. Oh, Kindskopf. Die Sinne hasteten damals noch nicht. Das heißt, es war Frühe. Angst aber, der Gedanke, ein böser Same, ein Fotonegativ, das sich entwickelt im Licht, und zählt das Geschehen ab, das unaufhörlich läuft; schon ist auch dieser Tag vorbei, irre Sequenzen. Flimmern. Vorbei. Bilderwechsel Tag und Nacht. Was bleibt? Die Zeile eine Kurze Weile bleibt, verblichen. Fingerknochen, die dies schreiben. Atome dieser Hand, die Elemente.

...An jenem Tag, im August 1944, da kam die Nachricht; sie veränderte das ganze Leben. Und jetzt verändert sich der Tod. Neue Zeit. Und nichts mehr gilt. Der Kalte Krieg, die Spaltung - lächerlich. Für alle gilt es, Ende. Die Mauer der Augen scheint durchbrochen. Die Hirnzeit rast ganz ohne Halt...

Dies vergangene Jahr ist fast nur in solchen Lichtjahren zu messen.

 

Walter Benjamins Einsicht: "Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, `wie es denn eigentlich gewesen ist`. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt." (Über den Begriff Geschichte). Und jemand, der nicht nur die Begebenheiten, sondern diese Begebenheiten posthum sehen kann, wie durch Jahrtausende getrennt, "erfaßt die Konstellation, in die seine eigne Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der `Jetztzeit`, in welcher Splitter der Messianischen eingesprengt sind." Genau um diese "Splitter" geht es. Sie aber können, bisher jedenfalls, nur von der Sprachberührung eingekreist und angenähert werden. Auch wenn gerade sie, die "Augenblicke" des Schocks, vor allem während der Todesgefahr, im Krieg, aber auch 1989, die Zeit bewegte, indem sie diese still stehen ließ, wie mir Augenzeugen versicherten, weil ihnen jene Augenblicke als die Uhr einer unbekannten Zeit zu summen, zu schlagen begannen, ihnen die Sprache verschlagen mußte.

 

Norbert Elias war 92, als er die Augen schloß. Norbert Elias. Er erinnerte sich oft an seine Breslauer Kindheit; und als er starb, kam ihm seine Gasse in den Sinn, ein Bild, die letzte Zuflucht. Amsterdam, die Grachten, seine zweite Heimat, die er nie so nannte; doch der Waterlooplain brachte ihm den Brillenschleifer nah, Baruch, das scharfe Auge, dem er sich überlassen hatte: nicht er war es, kein Ich mehr, weder Haß noch Leidenschaft, weder die Erinnerung an seine Mutter, die 1938 in einem deutschen Aschenlager geblieben war, wo keine Erkenntnis hinreicht. Oder war es schon zersprungen wie ein Glasgefäß, sein Ich, bei der Nachricht vom Tode seiner Mutter.

Er hatte einem der professionellen Befrager gesagt, er fühle sich wie der Reiter über den Bodensee - am andern Ufer angekommen.

Nicht jeder, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat, fühlt es so; es gibt Leute, die mit Autos oder mit Jachten ans andere Ufer kommen, und sie bemerken es kaum.; es ist nicht einfach, die Distanz, die Fremdheit zu bewahren. Zu anstrengend ist es, weiterzuleben - seit August 1944... August, jener letzte Sommer, da war ich zehn. Morgensonne blendet durch die Bäume des Nußbaumes. Morgengeruch. Alles noch selbstverständlich nah wie der Geschmack eines Apfels, wie Wind, Regen, Schnee, Sonne: wie die angewärmte, wie die nasse Erde. August. Schaukel am Batullapfelbaum, dahinter geöffnet ein Schlafzimmerfenster. Durchs Laub und Geäst fielen dumpf die Äpfel, Es war ja Kinder- also Paradieseszeit, letzte Sekunden. Mutter stand im geblümten Morgenrock unter dem Apfelbaum. Und in der Ferne eine Glocke. Baumlanger Milchmann, klapperndes Kannenblech. Steht neben uns sagt: Stiti doamná - vin rusii. Kuurt, schrie Mama erschrocken, die Russen kommen. Vater kam rausgelaufen, er hatte keine Pyjamajacke an, der Oberkörper nackt, sein Fleisch rosig und weiß. Sagte der Milchmann: Im Radio kams! Und hinter dem schwarzen Bart bewegten sich rote Lippen, kleine Ungeheuer; im Radio, nachts, der König... seine Rede An mein Volk. Die Erwachsenen flüsterten dann den ganzen Tag. Sie hatten verwapelte, blasse Gesichter und gingen ins kleine Großelternschlafzimmer, um sich zu besprechen. Radio. König. Milchmann. Russen. Umgeschwenkt. Sie glaubten zu träumen. Ist es denn die Möglichkeit? Ein hohes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aussetzen der Zeit... Als wärs - plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Alles fiel ins Wasser, obwohl alles so geblieben war, wie vorhin auch. Später dann die kleinen Russenpanjewagen - fuhren hinüber, polternd, rumpelnd. Aber es waren nicht mehr dieselben Brücken; auch der Fluß - es war nicht mehr derselbe Fluß. Doch unser Kronen-Apotheker, der SS-Sturmbannführer und Auschwitzapotheker Dr. Capesius hat mutig und tapfer mit einer Kompagnie Freiwilliger versucht, sich bis zu uns durchzuschlagen - als "Befreier". Ja. Großartig, alle Achtung. Aber es war dann doch nicht gelungen, die asiatischen Horden standen dazwischen, riesiges Menschenmaterial. - Alles aber schien schon wie aus der Welt gefallen, fremd und unheimlich, umgeben von Stille; so wars, als wäre ein heftiges Uhrenschlagen mitten in den schrillsten Tönen des Zeitfadens abgerissen: rasendes Pochen des Herzschlages - und dann nichts mehr. Nichts. Ein Unnennbares scheint durch uns durch, als wären unsere Augen geheimnisvolle Fenster... Und in diesen Tagen die vielen Begräbnisse... vor allem in der Cornesti.... klagende Frauen schwarze Kopftücher... Kerzen... Weihrauch Geruch... ein Pope in silberbesticktem Messgewand sang, aber das Gesicht des Toten hochgestellt. Doamne miluieste, milu-e-este, la cásuta ta cea nouá, nu te ninge, nu te plouá. In das neue Haus in das sie dich legen, fällt kein Schnee und fällt kein Regen.

Sie sind mir so fremd, sagte Mutter. Und schon die Sprachen, unser Sächsisch und Deutsch, und ihre sanfte, fast mystische Sprache, die Klageschreie jetzt, waren so verschieden! Und doch, jener Tod der für alle kommen sollte, hatte uns das gleiche Schicksal beschert.

Der König...Ja, ich erinnere mich plötzlich an den ehemaligen König Michael samt Frau und Tochter im Januar 1990 im Französischen Fernsehen. Auch er nun im Exil. Er ist eine Kindheitserinnerung, er kommt mir vertraut vor, damals war er 25, jetzt ist er 7o. Keine Leuchte. Und er spricht langsam, müde und schlecht Französisch, der Hohenzoller.

Am 23. August 1944 hatte er im Radio mit "An mein Volk" den "Zusammenbruch" angekündigt, vier Jahre später wurde er aus dem Land gejagt. Emigrant. Im Radio, nachts, der König... seine Rede An mein Volk. Die Erwachsenen flüsterten dann den ganzen Tag. Aussetzen der Zeit... plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Oben auf dem Wiesenhang, wenn die Nacht einbrach, blies Onkel Georg, den sie sechs Monate später nach Rußland verschleppten, blies in die Nacht hinein den Trompeter von Säckingen: "Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein." Ich sagte zu Jann, versuchte es ihr zu erklären: Wie ähnlich diese Vergeblichkeit, doch dem abgrundtiefen rumänischen Nu a fost sá fie: "Es hat nicht sollen sein" ähnelt. Es gibt etwa 10 Optative. Im Lateinischen, aus dem das Rumänische herkommt, nur einen, dazu einen geliehenen. Eine Wunschform wie den "Presumtiv" gibt es in keiner andern Sprache: Va fi fost sá fie, ist kaum übersetzbar: Auferstehungshoffnung der längst vertanen Gelegenheiten und des Lebens, denn es wird da etwas gewesen sein werden, was noch kommen müßte.

Im Familienfoto stand die Zeit still. Und ging bis zum Dezember 89 nicht mehr weiter. Und nun? - Der König, kommt nun der König wieder, heute? Eugène Ionesco, der Rumäne, Dichter des Absurden, meint, der alte König wäre über das Vakuum hinweg auch für uns noch am Leben. Dabei hat er doch "Der König stirbt" geschrieben.

Aber lies doch nach, DS, der KÖNIG, der ganz Andere, der steht für das Fehlende. "Im Nichts - wer steht da? Der König. Da steht der König, der König. Da steht er und steht." (Paul Celan). Ort der jedem schien, wo aber noch niemand war. Gefühle gehen langsam und besser die Zeitspanne hinab, und kommen ins kommende Nirgendwo nach Haus, das so wahr ist wie mein eigner ausstehender Tod. Und kaufe das Sommerhaus ganz sicher nicht, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, dieses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirkliche zu holen. Ins Wirkliche?

Dieses Land gehört nur erinnert noch mir, in der Wirklichkeit hat es sich viel weiter von mir entfernt, als ich von ihm.

Sternlieder. 3 Könige, mein Gott, wandern dem Lichtjahr der Kindheit entgegen. Doch nicht der Genfer.

 

(Ich überlege, wie ernst doch die Sache mit dem König ist, wie oberflächlich aber der König als Herrscher in der Wirklichkeit. Ein un- heimlicher Moment des JETZT, wirklich, nicht geredet, evoziert: Das "Es lebe der König" Lucilles unter dem Blutgerüst in Paris 1792 nach den "großen Worten" Camilles und Dantons, ist es etwas Absurdes, eine Geste, provokativ, kein Wort mehr, Ereignis, etwas Wirkliches: sie gibt sich damit den Tod, wird sofort verhaftet. Was sie tut "befremdet" in diesem sich freisetzen, "Gehuldigt wird hier", wie Celan in seiner Büchnerrede 1960 sagt, "der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden," dem Tod und Wahnsinn am nächsten stehen, aber auch der Einbruch des "Ganz Andern" im Schock, jenes "Nichts", mit dem z.B. das Gedicht über den Rosa- Luxemburg-Mord endet, wo, auch der Wunsch Lucilles "der Strom des Lebens müßte stocken":".. Der Mann ward zum Sieb, die Frau/ mußte schwimmen, die Sau,/ für sich, für keinen, für jeden -// Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts/ stockt."

Oder wie der wahnsinnige Lenz, der auf dem Kopf gehen möchte, um den Himmel als Abgrund unter sich zu sehen. Wenn alles umkehrt: Zeit stockt: so "Nichts" erfahrbar wird. Wie bei Hölderlin die "Zäsur" und "gegenrhytmische Unterbrechung" in der Tragödie.)

 

13. März. Ich gehe eben durch das Tor des Stundenturmes mit dem Fallgitter auf die Burg, es riecht dimpig, staubig, und der Rost des grausigen eisenvergitterten Fensters, ausgerechnet des Folterstübchen, welch eine Schmerzidylle, und geht mir in die Augen... höre die Uhr nun schlagen, und es wird vielleicht das letztemal sein.

 

O Hämmerchen, Hämmerchen klopfe,

die Uhr schlägt schon bald zwölf,

die Augen, sie fallen am Ende,

gäw Kraft o Gott hälf.

 

Den "Umweg" aber den gibt es hier wirklich, er führt zum Friedhof, zur Bergkirche und zur Gruft; er führt am Hause des alten Zeichenlehrers Donath vorbei, der den Friedhof malte, wie mein Vater, der sein Schüler war, der "Umweg", da saßen sie und zeichneten, ein Weg führt daran vorbei, ein verrostetes Eisengitter, ein Tor, ich gehe da durch, lauter Namen, viele Gräber, ich lese, so denkt noch jemand an diese Menschen, viele Gräber sind vermauert, Erde mit Beton zugedeckt, kaum Blumen, die Verwandten wandern aus, der Friedhofsbesorger hat viel zu tun, wo Deutsch zur Sprache der Grabsteine wird, hat jemand die Namen gefunden, einmal Transsilvanien, und stelle mir dort auf einem Stein ein gut lesbares Epitaph vor.

Steht dieses "Jetzt" aus, steht vor dem Turm der Bergkirche, sie steht, sie wird lange hier stehen, noch lesbar, sie überragt alles, sie ist klobig, zeitfern, und ist doch, als wäre ihr Gedächtnis ein Stück Zeitlosigkeit,

sie, das Gesicht meiner Erinnerung, und sah ja auch, daß die Fenster in der Bergkirche Katzenaugen sind.

 

Ich gehe weiter. Der Burghüter Georgi, ein hagerer agiler Mann überholt mich, er fragt, ob ich noch auf den Turm steigen wolle, die Große Glocke und das Panorama sehn, ob ich die Kirche sehen wolle, ja, ich wollte die Kirche sehen, Georgi läßt mich in die Kirche ein, es hallt, und da höre ich die Orgel, ich wundere mich, Daniel ist doch längst tot, und nur er spielte diese Fuge von Bach. Vorn wie immer die vier Evangelisten, das Kreuz; es wird gebaut, renoviert, Georgi zeigt auf die Fresken, ich aber stehe vor dem Grabstein des Senators Mann, und höre Stimmen, Freunde, Bekannte kommen hinzu, es ist Sonntag, wir begrüßen uns, als wäre nichts geschehen und gewesen; wie aber soll ich dem Senator, erklären, daß ich nicht mehr hier lebe, sondern im fernen Italien, ich höre ihn danach fragen... Deiner Sprache, deiner Sitte, deinen Toten bleibe treu... Italien? Ich starre ihn an, als Kind habe ich ihn oft gesehen, und erkenne ihn wieder. Großvaters Geschichten über ihn, sie kommen jetzt wieder, als hörte ich seine Stimme, sie hallt im Gewölbe wider, obwohl er ganz leise, kaum vernehmbar spricht, es ist schon ein Spaß, denke ich, nehme mein Notizbuch und schreibe weiter und alles auf: ja, der Commandante von Sigismunds Leibwache, mein Freund, kam ja auch aus Italien, hör ich ihn, sagt er, und wundere mich nicht, daß er: Und Nicolao Granucci, sagt, und ob ich den kenne, Totengespräch, Brücke, nun begehbar, ausgerechnet jetzt, wo ich darauf nicht vorbereitet, eher geschwächt bin, er: der Commandante hat Euch die Geschichte des Malers erzählt? Ja. Giotto hieß der Maler, und der hat den Mut gehabt, zwar nicht die Faust, aber die Null den Mächtigen zu zeigen, die Null dem Papst Benedict IX. von Treviso, der Giotto für die Fresken des St. Peter haben wollte... er wisse das genau: in seiner, Giottos, Werkstatt, als der Delegat des Statthalters Petri seine Bitten nach einer Probe an Giotto herangebracht, nahm dieser höflichst ein weißes Blatt Papier und einen Pinsel, tauchte den in rote Farbe, stemmte den Arm fest in die Hüfte, damit er ihm als Zirkel diene, und zog, indem er die Hand bewegte, einen leeren Kreis.

Ich starrte auf die grünen Ärmelaufschläge des Senators, auf den breiten weichen Gürtel aus Rotseide, erkannte seine Mente aus blauer Farbe wieder, denn er stand ja jetzt fast schon vor mir, halb herausgelöst, als könne er sich mit den Worten vom Stein abstoßen und so lösen; und seine phantastische Geschichte verlor sich in dem Gewirr von vielen rätselhaften Stimmen aus dem Gewesenen. Ich stand vor Staunen da, als ich plötzlich so deutlich diese Stimme aus dem Unmöglichen hörte. Er sprach über seine Sorgen, als gäbe es die noch, und wir müßten sie teilen. Daß zum Beispiel die Burg völlig entvölkert, infolge unbequemer Lage und wegen der vielen Einquartierungen unter König Wladislaw II, viele Burgmanen ins Niedertheil, in die Unterstadt verzogen. Sah auch Wladislaws Wappenschild an der Wand, denn der König hatte den Bau der Bergkirche kräftig unterstützt, las dann dort an der Wand den Spruch: "Drei Dinge scheinen so ernst mir, daß ich oft muß weinen. Es ist mir herbe zu wissen, daß ich einst sterbe. Mir bangt zum andern, weil ich nicht weiß, wann ich muß wandern. Zum dritten ist mir wehe, weil ich nicht weiß, wohin ich gehe." Und während nun die von Meister Michael Thallmann umgegossene Große Glocke erklang, hörte ich wieder Manns Baß dazu, diesmal im Ohr: So habe die Große auch gerufen, wenn der Feind vor der Stadt dräuete mit Waffengeklirr und Geschrei. Da war eiserne Kriegszucht, auch für Frauen und Kinder giltig: ruhig sich im Haus verhalten, wenn der Tirk oder der Kurutz oder der Unger, der Zeckel oder wer weiß wer vor dem Tor brauste und stürmte, wie der General Basta auch, das verfluchte Johr. Mußtn Frawen und Känjder Schäffer mit Wasser fülln und nasse Löschdäcken bereithalten zur Abwehr des Feuers, anflehn den Himmel, Beistand erbitten. Und da habe der Doktor Granucci sowohl mit seinen Zaubereyen, als auch mit seiner Heilkunst und Medicin sehr gute Hilfe und Beistand geleistet. Auch erkannte der Italiäner sofort, wer des Todes war, sah dieses so auch in den Augen des Henter Benedek, und warnte den Benedek, und auch uns, den Rath. Denn niemand durfte Zeichen hinaus senden, gar den Posten verlassen, wie zu mayner Amtszeit der Edelmann Henter Bendek, sagte der Senator Mann; und schnell fällten dann die 12 Rathsherrn den Spruch im peinlichen Rechtsfall, wir hatten ja jus gladii, sagte der Senator, und kein Aufschub oder auch Appellation galt; dem Benedek wurde von unserem Hencker, der ein Pharaon war, das ist ein Zigan, auf dem Stallum, einer Bühne und Gerüst, die rechte Hand abgehauen, und dann wurde Benedek auf dem Kreuzberg durch den Spieß gezogen, er schrie, das Blut spritzte zu Ehren der Gerechtigkeit, er hatte Hochverrätherei vor dem Feind begangen, und der Doktor hatte es schon vorher in seinen Augen gesehen. - Dann aber forderte der Senator mich ganz unvermittelt auf, ob ich denn nicht in sein Haus kommen wollte, Nr. 143 auf dem Burgplatz, das mit den gothischen Fenstern ist es. Da sah ich den Senator nur an, wagte ihn nicht über die Dinge zu informieren, die sich seither außerhalb dieses geschützten Raumes zugetragen hatten, hier, wo die Zeit stillstand, war es ruhig und alles noch in Ordnung, und Mann redete immer noch, als wäre tatsächlich noch ordo animae rerum - und wie Roth unser Märthyrer, später geschrieben, abzulesen alles schon am Umlauf des Himmelsgewölbes.

Nun gut, ein andermal, auf ein Glas, sagte der Senator begütigend, als er mein Zaudern wahrnahm. Und begann dann Anekdoten zu erzählen, denn er wollte mir keine so harte, aber notwendige Tat der Blutgerichtsbarkeit mehr zumuten. ( Der Ahnungslose...) unsere Schritte hallen, ziemlich dumpf der Erzähler eine Treppe hinab, eine Fackel im Kopf hochgehoben, es wird hell hier, Rauch, und führt uns in die Grabkammern der Gruft; Staub der Patrizier; alte Schmerzen verfaulen schneller; ganz nahe am Gitterfenster in der Nische links ein grinsender Totenkopf, das Geklapper fast hörbar, mein Kopf, dachte ich, zahnlos fast, im Mund eine verwelkte Rose, wer hat es angestellt, dies Leben? Und Kerzen tropften, anstatt Tränen, etwas Licht. Gepolter, dann ein Strahlen von links, seltsam, von links: dort wirbelte Staub auf und flimmerte im Lichtsplitter, zog, Sog, so schien es als wirbelten Buchstaben. Elementarteilchen aus einem Buch, silbrig schimmerte es, große Initialen...

 

Dann kommt Georgi, der Friedhofswächter wieder, er fragt, ob wir noch auf den Turm wollen, die Große Glocke und das Panorama sehn? Nein. Aber wir wollen die Gräber sehen. Grabstein meines Großvaters, diesen Namen... Georgi war gesprächig. Er sagt, jemand sei da gewesen, mit einem Buch von mir, sagt es, als er meinen Namen hört, liest auf dem Grabstein meines Großvaters diesen Namen, die Schrift ist sehr verblasst, ich gebe ihm zehn Mark und bitte ihn, sie auffrischen zu lassen, er sagt, ja, ein Leser, so habe er sich vorgestellt, sei dagewesen, und habe die Kirche und auch das Grab meines Großvaters nach der Beschreibung im Buch "abgegangen", ja, so sagt er, abgegangen. Er habe auch die Familientafel verglichen, die Namen. Und ich sehe jetzt den Namen der Mitzmother, geb. Wagner. Den andern Namen verschweige ich mir.

In S. am Grab. Der Name ist das Gewesene. Auch meiner. An ihm hängt das gelebte Leben wie ein Grab. Das Kommende, das offen ist, wird vernachlässigt, aufgehalten. Ist dieses Unbehagen an meinem bisherigen Leben, nein, daran, es fortzuführen, und auch weiter "Heimat" hier zu suchen, ein Bewußtsein des Zeitungerechten? Der Name, die Namen auch Zitate, Selbstzitate wie die Figuren in einem Text? Langsame Zeit, die schal ist, abgelegt, quält, wie das Warten mit der Familie auf einem Bahnhof. Auch hier in S. Hier ist der Schock zu langsam. Und dieses Entkommen nötig. Die alten Toten, die neuen Toten. Als wären sie ihnen überlegen. Scham. Schon bei Vaters Tod hatte ich dies erkannt. Die Revolution als lichtschneller Aufbruch und Schockmoment allein gibt hier neue Dignität, die Begegnung mit dem Toten vom Fernsehen am 21. Dezember 89. Die Alte im Gemäuer.

"Geschichtliche Wahrheitserkenntnis ist nur möglich als...(die) Konfiguration eines schnellen Bildes", heißt es bei Walter Benjamin, die mit der "Agnoszierung des `Jetzt` in den Dingen" zusammenfalle. Agnoszierung des "Jetzt" in diesen umgebenden Bergfriedhofsdingen? Schale, schal.

Aber dies Posthume meines Namens, auch dort auf dem alten Grabstein, dem ich entkommen bin, heißt nicht, daß ich ihn ab- legen kann, wohin, in welche Kammer: die Schrift verfolgt mich in den Büchern, die vom Gewesenen und Vergangenen handeln, auch von den beiden, als sie noch lebten, so ein wenig weiter leben, nicht nur für mich. VERWESER also? Was verwest aber, was bleibt? Unbehagen vorerst.

Die Schrift ist aber sehr verblasst, ich gebe Georgi nochmals zehn Mark und bitte ihn dringend, sie auffrischen zu lassen. Der Name ist das Gewesene, denke ich und wundere mich, daß ich ihn auffrischen lassen will! Alles so ruhig, Knospen. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da.

Als gäbe es eine Beziehung zwischen dem Alterszustand der Welt und der Person. Doch ich habe ihn erst jetzt nach 1989 akzeptiert, das Langsame, das zu erreichen sei, also das Gewesene, endlich abgelegt. Der Traditionsbruch ist endgültig. Und das Gefühlige, das Zeit braucht, gehört zum Gewesenen. Trauer, Melancholie. Ohnmacht. Unlust. Denn es schien bisher alles bequem geschlossen, lernbar, machbar, planbar, erfahrbar. Das ist aus .

Wie lange ist der Grabplatz eigentlich gemietet, frage ich Georgi, den Friedhofswächter.

Noch sehr lang, sagt der: Jetzt ist ja viel Platz hier! Und lacht. Das Grab ist schief, der Betonrahmen eingesunken. Ich sage, wie kann man das reparieren. Er: eigentlich nur, wenn ein neuer Sarg hineinkommen soll, wenn ein neues Grab geschaufelt wird.

Diesem Grab bin ich entkommen, murmelte ich, doch Jann hörte es und lachte spöttisch.

Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den Händen, ich habe das Grab angefaßt, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Keine Blume auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da. Ich warte, bis alles vergangen ist, dann kommen die Geheimnisse. Hoffentlich wieder. Die Frauen können es besser, auch Jann. Sie spricht zu Hause mit ihren Bougainvilleas. Die Mitzmother mit ihren blaßvioletten Klematis an der Laube. Und Tante Friederike redete mit ihren Zimmerpflanzen beim Gießen gegen die Einsamkeit an: Na, ihr Lieben, wie geht es euch heute, schön, schön, blüht nur, blüht. Und ich seh auf den Turmhahn, denk an ihren Mörike-Vers: "Zuoberst auf dem kleinen Kranz/ Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt. - Rührend. Wer so schwingen könnt. Und sehnte mich jahrelang danach, in solcher Geruhsamkeit aufzugehen, dachte sie sei hier. Hier ist der Tod im Staub hinaus bis auf die Gasse und den Hof. Ein sehr alter, verrotteter Tod, der auch schon gestorben ist.

Ein Loch mit zwei Seiten, der Wind, ein merkwürdiges Geräusch, keine Blätter, die Bäume noch entlaubt, wie Skelette, doch irgendwo zu hören, eine lebendige Stille, Vögel, alles entzogen, abgeschieden, nur Friederike hatte die verlorene, weil zu gewiß artikulierte Sprache verloren, sich im weichen Singen der Luft gefunden, und sie spreche gerne mit ihren Blumen, sagte sie, als sie noch lebte, die Vasen, hier, das Blumenwasser ist faulig, erneuere es. Wieviele Mütter gäbe es hier, auch ihre Mutter lag wie eine ewige Täuschung hier unter der Erde, wie dicht doch so ein irdisches Auge mache, das Schwingen der Atome nicht mal erkannt, ist es ja selbst, als Licht, wie soll es da etwas erkennen, das Erkenntnis sei, rätselhaft, und früher hatte sie Angst vor Geistern, jetzt ein ganz normales Leben, und Mütter, wie die Musik, lassen den Tod nicht zu, der ein Männergeschwätz sei. Jaja, genau so, und Kriege bis Todesstrafen, Vernichtung im Herzen. Du hast es selbst einmal erlebt, wurdest ins Furchtbare gerettet... Wer aber bittet noch für dich, ein Mutterland? Hörst du den Schlag, ein Sirren der großen Uhr, jetzt sogar die mittlere Glocke, und ein Läuten der Kathedrale, es muß fünf Uhr sein. Ja, die Glocke, die hörst du. Und erinnerst dich: blumengeschmückte Waggons, Freiwillige, hier an die Front gefahren. Männer aus halbgeöffneten Fenstern winken, Mütter auf dem Perron, und wie die Bewegung des Zuges den Verlobten, SS-Freiwilligen, da von der Hand des Mädchens losreißt, und sie schrie, siehst der Zeit nach, die Fahrenden sahen nur noch hinter Glas die Stadtsilhouette, denn das Bild war und ist bewegt, noch immer. Keiner wird je zurückkehren, die Lebenden schon gar nicht, die Toten aber sind im Augenblick, der nie vergeht... Morgensonne blendet noch immer durch die Blätter des Nußbaumes, Morgengeruch, alles nah, wie der Geruch eines Apfels, Sein Geschmack, Wind, Regen... die Türme der Stadt, wie Schemen, mit dem Rücken nur noch gesehen, dazu eine Glocke wie eine Armesünderglocke schwer über dem Land, 50 Jahre.

 

Die neuen selbstgemachten Mauern wachsen um uns zu, die alten aber sind so arg verlassen, wie wir so selber von uns längst verlassen sind, den guten und den bösen Geistern unserer Väter. Und brennend da ein Punkt, kindlich gehütet, doch keiner rührt daran, die Schuld, die Scham, die uns nur andere angetan?

 

Vater ist nicht hier, er liegt in A. auf dem Waldfriedhof, der ist nicht so leer, der ist ordentlich bewohnt mit Schwaben, auch Lebenden. Da kommen sie und gehn, ganz normales FriedhofsLeben und Begräbnisse.

In der Langertstraße im Appartement der Eltern da sehe ich uns sitzen. Wir sehen Fotos an, Lichtbilder am runden Tisch. Schön, wie die aufbewahren können. Röntgenbilder der gelebten Toten, da. Wer ist da? hör ich Mutter. Ein verwackeltes Jugendbild des Toten, der es damals noch sehen konnte. Zum Schießen, sagt sie, und alle lachen. Und Vater nahms in die Hand, fuhr mit dem Finger über die Ränder: Phantastisch, und es ist unfaßbar, daß man Erinnerung jetzt so zurückspulen kann. Struwwelhaare hattest du. Aber jetzt hab ich keine Struwwelhaare mehr, sagt er. Du warst eben jünger... - Einzig die Rührung ist am Platz, hier, denkst du jetzt: aber die ist ja nur ein Hauch, ein Nichts, das vergeht. Und das sind die Großeltern, sagt er. Wie alt waren sie als sie starben? 74. Das war Vaters Stimme: Sie sind in Schäßburg begraben, dort wo die Heidelischen wohnen....Pause, großes Gelächter. Vater vor allem, lacht, lacht, Tränen rinnen über sein kleines Gesicht. Korrigiert sich: wo die Heidelischen begraben sind! Diffus, verwischt, wie der Familienalltag: Jetzt. Inmitten dieser Fotos, Haufen von Bildern toter Leute. Komisch ists schon, wie wenig ernst wir das nehmen, und tun so, als lebten sie noch. Leben sie? Zwischen den Fotos eine alte Ansichtskarte meiner Schwester: Lieber Tutsche, liebe Mutsche, viele Pussi von Maus. Familienjargon. Oh, diese schöne Nähe. Das war dann vorbei, als alle frei und oben waren.

Traurig und unsicher war Mutter am Anfang in Deutschland, und eine Schmollfalte unter dem zusammengepressten Mund war oft zu sehn. Angst, nicht mitzukommen mit der Kälte, der Distanz der Leute, dieser Fremdheit, die sogar im Geruch der Luft spürbar wurde. Woher nur, wieso und warum? fragte sie verzweifelt immer wieder! Die Leute sind doch so nett. Woran leiden sie alle?

Aber das Heimweh, das wurde langsam schwächer, sie sei nun fast geheilt, sagte sie, nach Vaters Tod erst geheilt. Ihre Heirat, ach, so lang her, 1932. Und Vater liege ja nun hier, alles liege nun hier, auch die Erinnerungen unten in S., wie begraben. Wir sind ja nicht allein, und selber schuld, hier zu sein, sagte sie.

Doch Du bist daran schuld, daß ich hier bin, versuchte ich damals zu scherzen. Das ist vergangen, alles vergangen.

Ich weiß, daß ich aus zwei verschieden Personen bestand, und es fiel mir oft schwer, zwischen ihnen zu unterscheiden, jetzt ist eine sehr schwach und auch krank. Und ich rede mich nicht mehr wie Kinder und Irre in der dritten Person an. Jetzt ist bald alles so wie es ist. Und das Ich ist ein Leichtgewicht, jeden Augenblick anders, wie nicht da. Und gut für die Behörden. Keine Wut und Lieblosigkeit wird durch den Andern, der sich noch erinnern kann, gebremst und abgelenkt.

Vaters Stimme, diese Nähe, so, als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, da ruft die Stimme wieder: er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein, oben von der Terrasse schießt du ihn in den Schleifengraben, oder hoch in den blauen Himmel. Als wärs ein Erwachen: Und jetzt bist du hier, morgen wirst du diese Terrasse, das Haus sehn, den Maulbeerbaum, ich schmecke die blauschwarzen Beeren. Vater aber zählt in A., "jetzt", wann war es, die Klassenkameraden aus einem alten Schulfoto. Oben vor der Eingangstür des "Bischof Teutsch Gymnasiums". Morgen wirst du es sehen, sag' ich, du bist hier, du stehst vor einem Grab. Und von den Fotos ausgehend, diesen unmöglichen Hüten, die die Frauen damals trugen, Wagenrädern mit Blumengesichtern, auch die Mitzmother. Da kannst du schon sehen, was die Frauen früher dem Mann zu Liebe alles tragen mußten, um ihrem Herrn und Gebieter zu dienen, sagte Mutter. Und die waren so verschiedene Naturen, sagt sie, mein Vater und meine Mutter, die Mutter noch ein halbes Kind, sie hat mit 18 geheiratet. Und der Großvater war sehr autoritär. Und der wollte sie auch irgendwie noch erziehen.

 

Nein, das tat weh, gar nicht mehr weh, zu spät, zu verborgen, fast überkam mich Gleichgültigkeit da, in mir trug ich jenes andere S. sowieso wieder fort; ihr könnt mit diesem weiter leben. Und dann fiel es mir doch ein, wenn ich die Augen schloß, nur den Stundenturm schlagen hörte, das zuckte dann in mir, als hätte ich einen Schlag erhalten, Erinnerung zu nah, zu murmeln: Gott erhalt dech Scheszbrich, im Dialekt. Der ist hier geblieben, gehört. Wem? Ich brauche Distanz, jetzt erst auf der Zeile, später, spät, spät öffnet sich in Ruhe, wenn sie mich berührt, sonst nur zusammenhanglos ein Nichts dieses Äußersten auf der Straße, kaum noch Spuren des Wirklichen.

Ich hätte gerne Jann das Folberth-Haus gezeigt. Da hat sich eine Hausvater auf dem Dachboden erhängt; es gibt wenige Häuser hier, wo kein Selbstmörder durch die Räume geistert, nachts, wenn man daran glaubt. Dort, diese hohen Fenstern, sag ich, darunter stand ich, Weißt du wieviel Sternlein stehen...Lichtjahr. Nur das Wort blieb im Stern, den du siehst ist vergangen. Die Stirn allein, die Bahn am Himmel, ein Warten; als kämen wir noch an. Könige, mein Gott wandern dem Lichtjahr der Kindheit entgegen. Sterne zählen, eine poetische Aufgabe, die Lichtjahre waren uns nah, auf den Lippen fanden wir diesen warmen Korngeschmack aus der Sonne in einem Kuß. Nachts, Mondschein und Ständchen, sag ich und lache verlegen, für meine erste Liebe, ich war damals fünfzehn, sie vierzehn. Und wir küßten uns die Lippen wund, standen am Zaun, und ich tastete mich dann mit Schmerzen in den Hoden nach Hause, jeder Schritt zurück tat weh.

Genau diesen Weg, den wir jetzt gehn, die Treppen hinab zum Misselbacherischen Magazin in der Gartengasse, vis á vis vom Barth-Haus, sieh, es steht noch, und wenn der Weg vereist war, fuhren wir mit einem "Hanthe", das war ein Brett auf das Schlittschuhe montiert wurden, den Hang hinab, die Füße ausgestreckt, und hielten uns an zwei seitlich angebrachten Griffen fest.

 

Du kehrst noch einmal zurück im schnellsten Gedanken: Wer kann es glauben, daß es die Stadt nach soviel Zeit noch geben wird. Die Liebe? Ihre Gedanken und die Gedanken der Mutter erreichten dich immer noch, Liebe, die vergangen ist, bleibt bestehen, Gottes Augenblicke.

Die Fassade täuscht. Mein freudiges Erschrecken, jetzt hier zu sein, auch. Wie war das früher mit jenen gefestigten Konturen der Welt gewesen, der Wald war mit seinen Gerüchen ganz bestimmt und an einem bestimmten festen Ort: ein Wald! Und du? Einklang mit den Jahreszeiten, mit dem Alter des Herzens, die Farben stimmten noch, die Gerüche, der Wind an den Händen. Die Freundschaften paßten in die Häuser und Gassen...

Jahre der Abwesenheit wie eine Wand zwischen mir und meiner Stadt. Es gibt andere Tränen. Der Stundturm, ich sehe an ihm hoch in den Himmel... dieser vertraute Stundenschlag. Die "alte Zeit", heute ist alles möglich, sagen die Leute. Zeit ist schneller als der Traum.

 

Ich stand nachher mit Jann unten auf dem Burgplatz. Sie wollte ins Museum, sie wollte auf den Turm; ich aber telefonierte mit der Wohnung des ehemaligen Securitatechefs, dem Geheimdienstobersten. Und fand seine Tochter zu Hause, die sagte: Ich war dreimal verheiratet, ich kann noch ein viertes Mal heiraten. Bist du mit dem Auto da? In zehn Minuten öffne ich dir die Tür. Ich ging hinaus, suchte Jann, sie war auf dem Turm , kam die Treppe herab, und ich erinnerte mich an einen Traum, wie wir gemeinsam durch das Museum gefallen waren, tiefer immer tiefer.

Rundgang durch die verwinkelten Gassen; herausgebeugt aus ihrem Fenster, erzählt eine Frau vom Tod ihres Neffen bei der Verteidigung des Fernsehgebäudes in Bukarest. Der Vater stand jeden Tag dort am Eingang, sagt sie, und wartete auf seinen Sohn. Der Junge war zu plötzlich gestorben, sagt die Frau im Fenster. Und was nützt uns da Heldentum. Von Märtyrern sprechen sie. Das hilft doch keinem. Aber dieser Tod, der bleibt, der bleibt hier, sagt sie, und hat uns dazu gebracht, daß auch wir hier bleiben. Dies ist ja jetzt mehr als vorher unser Haus. Die andern, das hat mir eine Freundin erzählt, sind schon im Westen, anderswo und doch hiergeblieben. Sie denken jeden Tag an das verlassene Zuhause, das sie nirgends mehr finden, in keiner deutschen Stadt. Sie leben wie Gespenster.

Der Vater wartete, und konnte es nicht fassen, nicht glauben, wartete jeden Tag auf den toten Jungen. Nur die Revolution hat für einen Augenblick alles umgekehrt, so daß die Toten für diese Augenblicke, wo mit einem Schlag alles neu wurde, ihre Stimme erhoben, die Leute immer weiter trieben, selbst bis in den Tod. Die Toten sind der Umraum der Welt, alle Opfer, die je unschuldig fielen, sind es. Sie wissen, was wir noch zu erfahren haben. Und wir zollen ihnen Respekt. Aber es ist schon lang her: - Die Revolution als das Äußerste im plötzlich offenen Augenblick, sein letzter Außenrand als unerwartetes neues Geschehen, das den bisherigen gewohnten Ablauf des Alltags durchbrach und alle von etwas erlöste, was ewig zu sein schien, Stoff für viele Jahre, ja, Jahrzehnte, um zu lernen - seinen Augen nicht zu trauen.

 

Jann aber wollte ich noch die "Schwimmschule" zeigen, sie steht neben dem "Eisplatz". Auf Eis gegangen. Herr Fänk, Herr Fänk, nor noch iist ämeränk, riefen wir auf dem Eisplatz, der Augenform hatte, Ellipse, Oval, und flohen vor dem Wärter, entkamen aber nicht. Gleich daneben aber der Sommer. Die "Schwimmschule," wo ja, so behauptete er, Hermann Oberth, beim Unterwasserschwimmen das Raketenprinzip entdeckt hatte. Aber ich tastete danach. Da war kein Wasser im Becken. Dort hatte ich mit dem Winter Rick gestanden, an der Treppe, die ins trockene Wasser führt. Und er hatte mir erklärt, wie er "aufsteigt" im Parteiapparat. Er war dann Primsecretar von Hermannstadt, der Printsisor Nicu sein Nachfolger. Ceausescu. soll Rick bei einer Blitzvisite angebrüllt haben, und Rick, der Schulfreund, der Stärkste von allen, verprügelte mühelos jeden, hatte Machtinstinkt wie keiner, saß jahrelang gelähmt im Rollstuhl. Der Unglückselige. Jetzt ist er tot. Seine Mutter eine arme Tagelöhnersfrau, Ungarin, geschwängert vom Winter Schorr, dem Fleischer der Stadt, ein Brutalinski. Rick, das uneheliche Kind hatte von Kindheit an wohl eine Wut im Bauch gegen alle Reichen und sächsischen Ausbeuter. Wurde Kommunist, schikanierte die Leute. Als ich Lehrer war, zitierte er auch mich vom Dorf zum Kreisparteikomitee, mehrfach, um mich zu verhören, um mein "revolutionäres Bewußtsein" anzuschärfen, das ich verloren habe. Ich zitterte vor solchen Vorladungen ins gleiche Haus, in dem sich auch die Secu befand. Eine Außenstelle mit Keller, wo geschrien wurde, war unser Nachbarhaus. Da spielte der lange knochige Rick mit dem freundlich-sadistischen Lachen die Hauptrolle. Er ließ mich, den Verräter nicht durch. Er hielt als böser Geist in mir die Stadt besetzt. Und verhinderte, daß mein Bruder, der "Ausbeutersohn" studieren konnte. Das hat meinen Bruder gezeichnet. Aber das Infantile an ihm, diesem unglückseligen Rick oder auch beim Tyrannensohn blieb die Hauptsache. Alles ein blutiges Kinderspiel. Als kleiner Junge war er immer der Stärkste, schlug sich mit einem gewissen Konrad. Es gab blutige Kämpfe. Ich stand neugierig dabei, schüchtern, völlig ohne Interesse an solchen Dingen, es grauste mir nur, ich hatte Angst, vor dieser unheimlichen Sphäre der Ungerechtigkeit; und nur die blauen Mitleidsäderchen jener, die geschlagen wurden, schwächer waren, wie der kleine Otto, trieben mir die Tränen in die Augen.

 

14. März. Besuch beim ehemaligen Securitate-Chef meiner Heimatstadt, Oberstleutnant Toma.

Er war einmal die Angstwand meiner Phantasien gewesen. Er empfing uns bescheiden im Keller. Wir waren verdutzt: er umarmte meine Frau und mich. Sagte, du, wunderbar, daß du endlich mal da bist; früher hätten die dich nicht reingelassen; mit deinem Bruder hab ich Fußball gespielt. Am 22. Dezember konnte er es sich leisten, zu den Demonstranten zu gehen, zu sagen: Revolution ja, doch keine Fenster einschlagen. Seine Leute hatte er entwaffnet. Militär bewachte das Rathaus. Die Parteisekretärin, befahl ihnen zu schießen, doch der Offizier rief, sie solle den Mund halten. Und verhaftete sie.

Ich hatte es mir früher immer erträumt, meinen Geheimdienst- Dossier einzusehen; in diesen nach altem schlechtem Papier stinkenden Mappen wären alle sozialen Geheimnisse meines Lebens, die mich in ihrer Unübersichtlichkeit quälten, vielleicht entschlüsselt, so dachte ich früher; im Westen hatte ich dieses Geheimnis verlernt, es war nicht mehr so einfach, ein Zentrum zu haben, das Rätsel zu lösen; zu Hause aber die jahrzehntelange Illusion: so wüßte ich "Ausbeutersohn", und "Waisenkind des Klassenkampfes", entwurzelt, anonymisiert, sozial kontur- und schicksalslos, durch diese Akte endlich über mich Bescheid.

Jetzt war ich nicht mehr so naiv, doch neugierig. Im Osten war man der Angst hörig gewesen; und jetzt war das Angstzentrum, die Geheimpolizei, aufgelöst, wie Toma sagte, sie existiere nicht mehr. Wirklich? Das Zentrum; was aber blieb als Ersatz? Der Oberst behauptet, er sei zu alt und so eben in Rente, die andern aber, seine Untergebenen, "zu Hause". Und was machen sie? Fast die Hälfte arbeitslos, sie suchen einen Job. Die Angstpolizei sucht einen Job. Wir waren doch alle nur Idioten des Größenwahnsinnigen, sagt er. Und wurden selbst überwacht. Seine Frau sagte, sie habe 20 Jahre Angst ausgestanden: "Denn die haben doch eine Securitate der Securitate gehabt, Leute im persönlichen Dienst des Tyrannen... Erst jetzt sehen wir, wie wenig wir gewußt haben, was für Idioten wir waren."

Klingt uns das nicht vertraut? Nichts gewußt, und gewesen! Vieles erinnert an die Lage in Deutschland nach Kriegsende.

Er verbittet sich in seinem Haus gewisse Namen, z.B. Ceausescu, auszusprechen. Aber es gibt jetzt einen neuen "Dienst", der soll auch die alten Computer, die Büros, die Akten und so "übernehmen". Auch die Leute.

Haben Sie keine Gewissensbisse, diesem "Orden" angehört zu haben, frage ich den Chef: die Securitate war doch eine Art SS. Und Toma prompt: - Ja, ja, das stimmt. Aber ich habe mich frei gemacht, ich habe einen Bewußtseinsprozeß durchgemacht. Und auch meinen Untergebenen habe ich gesagt, redet anständig mit den Leuten, brüskiert sie nicht, denn egal, aus welchem Grund du zu solch einer Institution gerufen wirst, der Gerufene hat Angst, macht sich Sorgen. In Bukarest wurden die Phantasiefeinde produziert. Paranoia... Ein ganzer Orkan von Papier. Die Bürokratie war ein Wahnsinn. Alles lief so... nur Papier. Wenn Sie die Akten sehen, greifen Sie sich an den Kopf, welch Unsinn da drinsteht...

Ich traute meinen Augen nicht, so redet jetzt der ehemalige Angstchef der Stadt? Ein "Revolutionär" nun auch er? Die Revolution, letztlich eine Inszenierung der Geheimpolizei, wie manche behaupten? Das kann doch nicht wahr sein?

Doch war das Aufbegehren, der Untergrund, sonst einer Minderheit reserviert, nicht ein Akt der Masse, die die Gesellschaft der Funktionärselite überwältigte, die eine Minderheit war, eine fade und langweilige Minderheit von Greisen und Paranoikern? Diese Umkehrungen schienen sensationell und ermöglichten erfolgreich den Aufstand. Es war eine Art falscher Mystik, falsches Geheimnis, etwas Unverständliches, das sich aufblähte und angab, das sich aber dann langsam als Banalität, als Dummheit entpuppte, und je evidenter diese Nacktheit des Kaisers wurde, umso näher war sein Ende.

Denn der gegen den Staat gerichtete Untergrund in den Köpfen und Seelen der Menschen ging mit einem echten, mit dem andern Unverständlichen, dem eigentlichen Rätsel um, der eigenen Existenz, dem eigenen Leben und dem eigenen Tod: bis hin zu den Opfern, den Toten, so daß dieser geheime Untergrund siegen mußte, als gewichtigeres Dasein. Nach dem Gelingen aber war der Ort so leer, brach jenes andere Unverständliche, wenn die sozialen Barrieren und Schutzzonen fallen, so gewaltig durch, daß die Angst größer war als vorher, Depressionen eintraten.

Doch in der Lücke, im Übergang in der Stunde Null brach das Unfaßbare wie im Tode durch, war jede Logik, Plausibilität, Rationalität gelöscht, Wissen entlarvt. Ja, es zeigte sich gerade wie alt und abgestanden das wirklich Vorhandene gewesen war.

 

Ein Auferstehungswunder also, das auch im Film möglich ist; schon 1893 hat es Méliès (in der Mallarmé-Zeit) praktiziert: den Abbruch einer Mauer zeitverkehrt vorgeführt, so daß daraus ihr Aufbau wurde. Oder in "Charcuterie mechanique" die Verwandlung einer Wurst - in einem umgekehrten Prozeß der Schlachtung - wieder zurück in ein Schwein. Die Schweinerei Zeit und Realität so aufgehoben. Genau dies wäre ja auch das Ideal jedes Diktators. Und jedes Künstlers. Und die "Echtzeit" wird wie in der Musik oder im Schreiben ekstatisch ausgefüllt, Anwesen geschaffen, Sekunde für Sekunde, Sequenz für Sequenz das Leben ersetzt. Der Tod vergessen, auch wenn wir über ihn schreiben, wird er in der Zeile "aufgehoben".

Dieses Besäufnis beim Spiel des Todaufhebens gibt es auch bei Festen. Und viele können und konnten im Osten das Leben als drückende, als tödliche "Schweinerei" nur mit Alkohol ertragen. Doch es gibt ja jetzt nicht einmal mehr billige Wodka. Sogar der miserable Wein ist in Rumänien rar. Und früher sagten wir an der Uni, aber auch mit Maria, meiner Ehemaligen, sagten wir zueinander, wenn etwas besonders erhebend war: "ca in filme", wie im Kino, sagten wir, wenn etwas unwahrscheinlich schön war. Wie oft kam ich "hinaus" auf die Dreckstraße, in die überfüllte Straßenbahn nach einem Film mit Maria, nach so einem Kinogang: Hinausblinzeln, von der Erregung flimmernder sinnvoller Bilder noch gefangen, ins fahle Licht der Straße, der Boulevards, der grauen Masse. Wo es kein Delirium, keinen Traum gab, Schmerz des Alltags, nicht nur das gepflegte Unbehagen an der Kontingenz wie im Westen, wo Licht des Alltags nur eine mäßige Drohung darstellt. Dort geht das Fernsehen, zumindest der Konsumfilm weiter, Kino auch durch die Windschutzscheibe oder in einer Kneipe durchs Glas. Traumfabriken allüberall. Meine Flucht also, das Exil dorthin in jenes Westkonsum-Paradies einer zweiten Wirklichkeit, schien mir plötzlich die Fortsetzung der alten Schuld, schreibend mein Leben aufgehoben zu haben, mit andern Mitteln.

 

15. März. Im Dracula-Lokal "auf der Burg" sagte mir ein hintersinniger und wortkarger sächsischer Gärtner, der uns mit seiner Liebsten am Tisch gegenüber saß: dieses rote System am Rande seiner selbst mußte einmal explodieren. - Wissen Sie, das war alles so, wie wenn einer zu Ihnen käme und sagte, sie übernehmen jetzt von mir einen Waggon Rosen, hier die Probe, und er hält Ihnen die Faust entgegen, als hielte er sie, die rote Rose, doch es ist nur die Faust zu sehen; wehe dir, du sagst, da gäbe es doch keine Rose, nur die Faust, du mußt das Spiel mitspielen, so tun, als begutachtetest du die Ware da, redest lobend, ja in höchsten Tönen über deren wunderbare Frische und die Farben, ja die, und wie sie doch ungeheures Glück bringe mit diesem Duft, mit diesem Leben in rötesten Farben, du steigerst dich immer mehr hinein, denn mißtrauisch folgt der Besucher jeder Geste. Er könnte ja von der Securitate sein. Nein, er ist zumindest auch von der Securitate, denn welcher Inspektor war es nicht. Du zahlst. Und er geht wieder, und alles hat so seine Ordnung.

Nur mit einer abgründigen Allegorie konnte Herr Böhm, der Gärtner, sein Lebensgefühl beschreiben. Hat also Literatur, so aus der Alltagserfahrung, Erkenntniswert hier, wo das Absurde Lebensprinzip ist, kann man "es" gar nicht mehr anders ausdrücken!?

 

16. März. Ist die Hinwendung zum Transzendentalen eine Alterserscheinung, wie einmal über den Nobelpreisträger J.C. Eccles geschrieben worden war, als er auf seine alten Tage damit begann? Muß man um ein Leben im Jenseits sozusagen kämpfen, wenn das "Diesseits" zu Ende geht? Und läßt sich dieses gar auf das alternde Menschengeschlecht, auf die alternde Erde übertragen? Aber alles weist darauf hin, daß dies stimmt, weil das Späte mehr enthält, den Anfang reif wiederholt, eine Grenze erreicht. Das wußte schon Hegel.

 

Margret Thather z.B. ist längst abgetreten. Mußte fallen. So zeigt sich auch schon in diesem Bereich, wie verknöchertes Denken, alt, wie die der Abgrenzungsgreise im Osten, auch im Westen nicht mehr möglich ist. Imperiales, insulares Denken, das etwa behauptete, preisgegeben habe England schon genug an Souveränität, wirkte lächerlich angesichts der entstandenen Realität, etwa dieser: im gleichen Zeitraum dieser Behauptung war Britannien keine Insel mehr, die es seit der Eiszeit gewesen war. 22 Kilometer von der englischen und 15 von der französischen Küste entfernt, trafen sich die beiden Bohrmannschaften unter dem Meer, ein fünf Zentimeter dünnes Loch verband vorerst auf einer Hundertmeterstrecke die beiden Schächte. Aber es verband sie! Möglicherweise wird so ein Tunnel bald elektronisch auch zwischen den Dimensionsgrenzen der Lebenden und der Toten gegraben. Die Träume schaffen es ja längst auch ohne Apparate.

 

"Metaphysik war die Verwechslung solcher Datenkompressionen mit einem sogenannten Wesen, immer nur die Unterstellung, daß Kontingenz in Schrift aufgeht, Klang in Musik und Entropie in Ordnung." (F.Kittler in: Zeit-Zeichen, 1990, S. 370).

 

In der Gemeinschaft waren im Osten jahrelang alle Menschen Gegner des Staates und Außenseiter, dazu brauchte man nicht sonderbar oder verrückt zu sein wie in gewöhnlichen Gesellschaften, mußte man keine unglückliche Anlage haben, sondern man mußte nur "normal" sein. So war das Aufbegehren, der Untergrund, sonst einer Minderheit reserviert, ein Akt der Masse, die die Gesellschaft der Funktionärselite überwältigte, die eine Minderheit war, eine fade und langweilige Minderheit von Greisen und Paranoikern.

Im Dezember 89, in der Lücke, im Übergang in der Stunde Null brach das Unfaßbare wie im Tod durch, war nicht zu meistern zu durchschauen mit den vernünftig-normalen Erkenntnis- und Lebensmodellen. Daher sprechen die Betroffenen, wie viele meiner Kollegen von "Inspiration" von "Stimmen" von einem Andern, der da in ihnen drin saß und ihnen diktierte, als sie vor den Gewehren der Securitate standen.

 

17. März. Auch das Papier ist weniger geduldig geworden. Der Stuhl brennt. Und es ist kein Spiel mehr. Wieso soll auch noch das Schreiben, meine Wunschmaschine im realen Schwindel mitgerissen werden? Wie Musiksätze, Noten bisher, die die Echtzeit waren, Note um Note Sekunde, und auch Wort um Wort am Schreibtisch hatten "die vergehende Zeit zum Stillstand gebracht" (Claude Lévy-Strauss, Mythologica I) : Aufschub des Todes. Aber dieses Spiel wird jetzt entlarvt; ist nun die U-Topie in den Gegner, in die Zeit selbst verlegt? Was ist da geschehen? Oder müssen wir besser, genauer, uns selbst nicht ausgenommen, in unendlichen, nicht mehr faßbaren Perioden, über das, was Zeit ist, nicht nur Reden und Schreiben, wie bisher, sondern nun wirklich den Autor zum Verschwinden bringen, den Text langsam löschen, Seite für Seite: Modell auch für das, was wir bisher waren? Periode für Periode ein Weißes Blatt annehmen: die versäumte Lebenszeit. Was bisher verhüllt wurde durch das allesbestimmende ostwestliche, mit Endzeit- Tod abgesicherte Ruhekissen, das "Gleichgewicht des Schreckens", der ebenfalls ein Schwindel des Aufschubs war, annehmen, und dort alles aushalten, wo jetzt nach der Öffnung das Versäumte nun zum wahnsinnig schnellen Nachholen zwingt?! Und dann werden wir leider erkennen müssen, wie die Revolutionäre und alle Menschen im Osten, daß Reversibilität der Zeit unmöglich ist, keiner ins Jahr 1948 zurückkehren kann. Was dann noch bleibt, ist wieder nur stellvertretend DAS BUCH.

 

Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit meinem Bruder. Da sprachen wir über diese neue Art des Geschehenlassens, der Bescheidenheit, das Rätsel des Offenen, des Nicht-Beherrschbaren zu akzeptieren, sich auf die Ereignisse einzustellen, diese nicht erzwingen zu wollen: "Tun, was geschieht", sagte ich zu ihm. Und da erkannte ich mich in ihm wieder: Nein, sagte er, Tu, was du sollst! Kant, sagte ich. Kant und seine Kategorien, alles in uns angelegt, die Regeln. Wir, der Einfall Gottes, freilich, an ihn angeschlossen. Dieses Apriorische der Erkenntnis bei Kant ist schon faszinierend. Weniger die Moral. Und noch weniger, der Zwang, allem Namen geben zu müssen. Ich habe Kants Auseinandersetzung mit Swedenborg, dem schwedischen Hellseher gelesen. Kant akzeptiert als Privatmann Swedenborgs außersinnliche Erfahrungen, bis hin zum Hellsehen und dem Umgang mit Toten. als Professor aber attackiert er Swedenborg ziemlich unfair. Diese Angst Kants vor den Geistern war weniger groß als die Angst, sich als königlicher Professor zu diskreditieren. Aus einer methodischen "Verdrängung" entstand seine "kritische" Philosophie. Der "Vater der Aufklärung" benennt das, was ihn beunruhigt, was wir nicht wissen können, "Ding an sich", und schiebt alles in jene Gegend des Nicht-Wissen-Könnens ab, was ja ein großartiger Trick ist; also schon bei ihm wird das Nicht-Wissen-Können erkannt, leider auch benannt. Und die Aufklärung, auszugehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, sich seines Verstandes gegen Kirche und autoritären Staat zu bedienen, wäre auch für Ostrevolutionäre wider den roten Feudalstaat sehr aktuell, und mit 1789 zu vergleichen. Unmündigkeit als Unfähigkeit, Einsicht zu gewinnen aus Mangel an Mut, wäre aktuell. So gesehen, und noch tiefer gesehen, wäre Aufklärung auch heute genau das Richtige. Einsicht, diese haben die Revolutionäre nur anfangs gezeigt. Zur Neurosenheilung, auch jener politischen Neurosen und psychischen Schäden, gehört die Einsicht, wie sie C.F. von Weizsäcker sehr schön begreift: "Erkenne ich einen Fehler, in dem ich befangen war, so gibt es keine Heilung, kein Freiwerden von den Gründen dieses Fehlers, solange ich diese Gründe außer mir suche, also in dem, was man mir angetan hat, in den Eltern, der Gesellschaft, oder in einem seelischen Zwang, unter dem ich gestanden habe..." (Im Garten des Menschlichen, 247). Aufklärung wäre heute im Erkenntnisbereich der eigenen Verdrängungen und der eigenen Schuld notwendig. Nicht nur in Ost, sondern auch in West, daß man "mitgemacht" hat, mitmacht auch im irreparablen Sündenfall dieser Zivilisation mit jedem Handgriff. Den Fehler des Fehlens bei andern zu suchen, würde den eignen verdecken, wäre seine Projektion nach draußen. Daher ist im Osten etwa der ganze Prozeß-Rummel, z.B. gegen die Diktatoren und ihre Genossen, auch der Prozeß gegen das Diktatorenehepaar in Bukarest, wie lang ist das her, solch eine Verschiebung.

 

Fortschritt und Emanzipation heute? Sind sie gescheitert, und können wir uns gehen lassen in die neue Unmündigkeit? Zu lange sind jene Kräfte der Emanzipation von einem alten, schier selbstgemachten Gott nur rein äußerlich vorangekommen, als Industriewachstum und falsche Autonomie des Ego, Freiheit als Wirtschaftsfreiheit und Besitz im Westen und als schizophrene Spaltung in Privatheit und ideologiebestimmte Hörigkeit im Osten. Und zwar seit 1945 im Schutz des Kalten Krieges; so ist die Entwicklung enorm verspätet.

 

Doch der Tod allein bildet schärfstes Gedächtnis. Ein Schnitt im Vergessen. Alles wird vergessen. Wo sind die Toten des Aufstandes? Die "Fackel" Liviu Babes, der sich am 2. März 1989 in der Schulerau neben Kronstadt selbst anzündete, dann als Fackel zur Schußfahrt ansetzte, einen Zettel in der Hand, dreisprachig, darunter auch Deutsch: "Damit das Leben in Kronstadt nicht dem in Auschwitz gleiche."

Oder Jan Palach in Prag. Hatten sie zum radikalen Bruch mit beigetragen, der gar nicht eintraf? Sie alle jedenfalls, sie haben es nicht nötig gehabt zu schreiben, sagt Ernesto Sabbato in "Abbadon" (Abbadon, Engel des Abgrundes, der Fünfte, jener der der Apokalypse).

 

SIEBENBÜRGEN LAND DES SEGENS, Land der Fülle und der Kraft, sang einmal meine Großmutter, das hatte so dunkle Innenräume, der Klang vibrierte, es war meine Kindheitsmelodie, weite Kornfelder, Bauern, Hitze, Gold und Weingärten. Überlandfahrten. "Meeresboden" einer "längstverflossenen Flut", das Bodenlose eines tief tönenden Gefühls, Cello, und das zittrige Stimmchen der Toten.

 

Das Absurde hat Konjunktur; all diese psychischen Sprengköpfe und mehr noch Sätze, denn damit beginnt die Beschimpfung und Kränkung, werden nun alimentiert durch die neue heillose Lage der Übernahme eines parasitären Kapitalismus und falscher Hoffnungen, Hunger, Armut, sozialem Abstieg. Ein schlimmeres Pulverfaß kann man sich gar nicht vorstellen. Und dies auch noch im Atomzeitalter, wo die Raketen in jenem ärmer gewordenen und vom Chaos betroffenen Teil der Welt, in der Ex-Sowjetunion bereitstehen. Die Regionalisierung, der Zerfall in Ministaaten mit Zollgrenzen, eigener Währung etc. etwa in eine slowenische oder transnistrische oder gagausische Republik, nimmt seinen verheerenden Lauf, wo doch die Formen für eine globale Kommunikationsgesellschaft auf der Erde geschaffen werden müßten.

 

18. März. Es gibt auf dieser Entropie-Welt eine in der Nachfolge Augustins erarbeitete Vision, daß nur einzelne Teile des Universums aus den Fugen sind, und eine manichäische Vision, die etwa Emile Cioran in seiner Philosophie der Verzweiflung propagiert: daß eine böse Zerstörungsmacht in der Welt am Werk sei. Dies stimmt; nur, sie ist "objektiv" im System selbst enthalten, das überschritten werden muß, um wieder Offenheit, Berührung mit den hoffnungsvolleren Kräften einer "höheren Vernunft", eines großen Reichtums der Möglichkeiten erreichen zu können. Eine Zeitlang glaubte alle Welt an die Öffnung durch den Aufstand, die die totalitäre Welt des geschlossenen Irrsinns, der Paranoia, weggefegt hat. Doch sie war ja nicht außen, sondern innen in all den Leuten, der Masse, der Nomenklatura, den Polizisten, den Leuten der Geheimpolizei, den Beamten usw. Ich merke das im Negativbild, sogar so weit davon entfernt und nach langen Jahren der Absenz an mir selbst: Jedesmal, wenn ich mich dieser totalitären Zone der Geheimdienstunterwelt nähere, überlagern sich die Erinnerungen an meine Bukarester Zeit mit erschreckenden nichtverbalisierbaren Angst- und Scham -Gefühlen und Bildern, die an eine Domäne der Alpträume reichen, Traum- und Erinnerungsfetzen steigen aus dem Unbewußten hoch, Angst vor Wahnsinn packt mich, löst Übelkeit aus, und ich muß die Beschäftigung mit dem Thema abbrechen. Und nun geht die Angst vor jener rumänischen Staatsunterwelt, die ich erlebt hatte, mit der Angst einher, von neuem in meinem Glauben an möglichen Sinn erschüttert und in meinem vermeintlichen Wissen von Indizien für "höhere Vernunft" verhöhnt worden zu sein; eine Art RealitätChock meiner naiven Bewunderung, eine kalte Dusche, wie man sagt, oder die Bestätigung jener Erfahrung des Absurden, des Chaos, die mich in meiner Bukarester Zeit, als gäbe es Kafka pur im Leben, so "geschlaucht" hatte, in einer fiebrigen Existenz im "Nichts". Und dies steigert sich seit einiger Zeit, und fast täglich gibt es dafür Beweise. Das Vertrauen für alles und jedes, ist bei mir, bei allen, die jene Unterwelt miterlebt haben, für immer erschüttert. Freilich nur in dem Sumpf sozialer Lebenszusammenhänge, Staaten und Institutionen. Denn es war ja die zweite Vertrauenskrise, nach jener der braunen Unterwelt und Höllenmaschine, die sich mit "Reinheit" maskierte. Die nächste schwer zu verkraftende Enttäuschung war die westliche Welt mit dem Wahrnehmungsverlust und dem Gefühl weder zu leben, noch zu sterben, ein Zwischenzustand des Lebensverlustes, der mit der Verarmung der Sinne und dem Umbau der Person viel zu tun hatte. Und der vierte Schock der Entlarvung jeder möglichen Illusion soll nun die Revolution sein? Ich wehrte mich dagegen, wie ich mich gegen die andern Verluste gewehrt hatte. Doch es nützte nichts, spätestens 1990 zeigte sich, daß die Nach-Revolution tatsächlich die Maske des Todes und des Chaos gewesen war. Allein die transzendentalen Bereiche sind haltbar geblieben. Und jetzt sind auch sie stark beschädigt worden.

19. März. Diese lange Bahnfahrt über den Roten Turmpaß nach Schäßburg. Ich fühlte mich krank. Es war eine Art psychosomatisches Fieber. Und ich nahm wenig wahr. Ich blättere im Tagebuch, ich lese: 18. März 93. Ich wohne bei Verwandten und Freunden, bei Marianne und Erich, und werde "bemuttert". Ich arbeite bis zum letzten Augenblick an meinem Vortrag. Der Versuch, ihn nach Hermannstadt durchzufaxen, damit er ins Rumänische übersetzt werden kann, ist ein Abenteuer, und gelingt dann doch nicht. Die Erregungen bei der Ankunft auch in Hermannstadt. Wiederbegegnung mit Inge und Joachim Wittstock, die sich rührend um mich kümmern. Ich wohne bei ihnen. Mein Eröffnungsvortrag in der "Evangelischen Akademie Siebenbürgen", die Gerhard Möckel leitet. Ich provoziere schon mit dem Titel: "Östlicher Reichtum und westliche Armut" Der Saal ist voll.

Meine Damen und Herren, liebe Zuhörer, Ich komme also als Fremder nach Hause, ich habe mich hier vor einem Vierteljahrhundert zurückgelassen, mich selbst verlassen, und bin ein Anderer, dieser Andere kehrt nun nach Hause zurück, er ist es und er ist es nicht mehr: der Blick hat sich verändert, der Umbau der Person im Westen ist allzugut gelungen. Ich bin ein Anderer geworden, der sich nun von sich selbst getrennt hat. Gespalten. Eine Art Phantom, Mensch der dritten Art. Als normaler Geisteskranker durch die Welt gehen ; ist das so und richtig, weil die Welt selbst krank, geisteskrank ist? Und ich ihr nur als Fremder beikommen kann, von innen also, wissend?

Ich komme nun zu Ihnen, und merke, mein Adressat ist hier, auch wenn ich von ihm getrennt bin - durch die neue Grenze des Geldes. "Als Einheimischer zum Bild eines Landes zu kommen erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene anstatt ins Ferne reist," sagt Walter Benjamin.

Ich gestehe, es ist eine Art Selbstprüfung, hier fällt der Schein ab, der im Westen Leben heißt, wenn man sich von den Ursprüngen und Bindungen entfernt. Authentizität wird hier erst geprüft, wo die Erinnerungen und Gefühle hart ihr Wächter- und Richteramt ausüben! Heute, nach dem vielen Leid im Osten, und nach dem Beispiel, das der Osten 1989 gegeben hat, wäre hier der Ort der Geschichte und der Überprüfung und nicht umgekehrt im Westen, der sich als Sieger und Retter aufspielt.

Ich weiß, meine Damen und Herren, es müßte einen Austausch geben, das, was dem Osten fehlt, gibt es im Westen, was jedoch dem Westen fehlt, hat der Osten. Der Austausch findet nicht statt. Der Osten ist nur Bettler und Bittsteller. Ohne Selbstbewußtsein. Gegen die Securitate kann man kämpfen, nicht aber gegen das Geld. So wird die Wahrheit verdeckt. Nämlich der ÖSTLICHE REICHTUM UND DIE WESTLICHE ARMUT. Denn die historische Epochenerfahrung liegt im Osten, nicht im Westen, auch das existentielle Wissen aus dem Leid, ein enormer Reichtum an Epochenerkenntnis. Doch ein Umbau des Ostens und seiner Menschen nach westlichem Geschäftsprinzip soll stattfinden. Die historische Chance soll vertan, eine bedeutungslose Kolonie geschaffen werden. Die neue historische Schuld, es könnte die vierte sein, zeigt sich am Horizont!

 

Ich erlebe das psychologisch und kulturell täglich an der schärfsten Front, in Deutschland, der ehemaligen nationalen Nahtstelle der Systeme, und wo Ost und West heute nun in ein Land zusammengezwungen werden. Ich habe westdeutsche Freunde, meine Frau ist Westdeutsche, und ich registriere mit Entsetzen eine merkwürdige neue Denkart, nein,. Emotionsart, ja, Aggression, eine Art Neorassismus, was den Osten betrifft, Ostdeutsche, Russen, Polen, Rumänen etc. eine Animosität, die alle Charakteristiken der Vorurteilsstrukturen, wie sie etwa Adorno in seiner Untersuchung über den "autoritären Charakter" analysiert hat, wiederholen. Wie sie früher für Juden, Zigeuner, Schwarze galten. Die Kategorien von Faulheit, verlottert, Untermenschentum sind wieder da, und sie werden auf den Osten angewendet. Es ist verheerend, sage ich Ihnen. Es ist die Angst, "überflutet" zu werden, die Idylle des eigenen gesicherten Zwergenstaates nun zu verlieren in diesen neuen historischen Dimensionen, die man leugnet, den Kopf in den Sand steckt, und meint, die da drüben gehen mich nichts an, die sollen meinetwegen verrecken. usw. Es ist das neue Dritte-Welt-Syndrom, wo der gewendete innere und äußere Eiserne Vorhang neu eingerichtet wird, obwohl, das unmöglich, ja wider jede Vernunft und Geschichte ist, vor allem nun was die Ostdeutschen betrifft, die zum eigenen Land gehören, zur eigenen Geschichte, ja zur eigenen Schuld samt Nazizeit, Krieg und Teilung. Die Ostdeutschen haben politisch schon das Mittel gefunden, die Demütigungen heimzuzahlen: ihre Partei, Schrecken der vergreisten westdeutschen Parteienlandschaft und deren festgefahrene Sinekurenwirtschaft, bringt auch den geruhsam-verrottenten Westen auf Trab, wird die verlogene FDP bald ersetzen.

Doch bei den deutschen Kontrahenten kommt ein schwelender Konflikt, der nur durch die D-Mark so gedämpft ist, daß man ihn kaum bemerkt, aus einem ähnlichen Reflex der Animosität wie etwa bei den Serben, den Slowenen, bei den Norditalienern, hier bei den Ungarn und Rumänen. Nur das Erstaunliche ist, die Herstellung von Ost- und Westdeutschen ist ein Systemerfolg Ost und West, und hat kaum etwas mit alten Nationalismen zu tun, denn sowohl die Ost- als auch die Westdeutschen wurden (positiv) verändert, die Westdeutschen in Richtung Demokratie, leider auch des Besitzegoismus, - und die Ostdeutschen in Richtung sozialer Solidarität, wenn auch leider mit Charakterverbiegungen durch das totalitäre System und die mangelnde Öffentlichkeitskontrolle; bei den andern, vor allem bei den ehemaligen Vielvölkerstaaten, fallen plötzlich alle Vernunftschranken, jede Verstandeskontrolle, die "emotionale Pest", wie das Wilhelm Reich nannte, kommt hoch, oder auch das "gesunde Volksempfinden aus reinen empirischen Erwägungen, ohne Horizont und Geschichte, oder wenn, dann nur als Frustration, angetanen Traumata usw. Der innere Brast, das Instinkthafte, fast möchte ich sagen, das "Blut" und die Instinkte kommen hoch, gruppenspezifische nationale Partikularismen, die "man" bis ins Tiefste "fühlt" und plötzlich verteidigt, obwohl man sich bisher für einen aufgeklärten Europäer hielt. Hat das damit zu tun, daß Aufklärung gescheitert oder durch das angeblich alles Machbare in der Planwirtschaft diskreditiert zu sein scheint, Leib, Liebe und Tod, die Biologie und schwärzeste Restauration wieder da ist? so etwa 1815? Oder 1933? Oder alles zusammen? Das Erbe jedenfalls seit 1918, wo drei Kaiserreiche zusammenbrachen, das Chaos durch zwei Diktaturen dann eingeeist wurde, jetzt wieder da ist? Und noch mehr. 1940, 1944 hier wieder da sind? Siebenbürgen ist ein heißer Boden, wenn wir dies bedenken.

Meine Damen und Herren, liebe Freunde, es gibt nichts besseres als genau zu sehen, Aufmerksamkeit, so sagte einmal einer, den ich hochachte, der große Bukowiner Kollege Paul Celan, der erste deutschschreibende Dichter, der damals, der schon 1947, kurz bevor der König abdanken mußte, Rumänien verließ, zwar ein weltbekannter Dichter, aber als Mensch in der Fremde tief unglücklich wurde, sich in Paris selbst tötete, Aufmerksamkeit sei das "Gebet der Seele", sagte er damals. Heute lese ich freilich, es gäbe etwas, was es in früheren Zeiten noch nie gegeben hatte: nämlich "die Währung Aufmerksamkeit", meinte eigentlich das Fernsehen und die Reklame damit, so knapp und so zu Geld geworden sei die Zeit nun geworden. Unsere Zeit. Unsere immer gemeinsamer ostwestliche Zeit. Mir stellt sich die brennende Frage: welche Abwege gibt es von dieser immer breiter werden Straße, die gottseidank, manche freilich meinen, noch ziemlich leer ist vor allem von West nach Ost, umgekehrt ja leider nicht. Einbahnstraße also?

 

Es wäre nur konsequent, wenn das mit Zukunftshorizonten arbeitende okzidentale Modell, das ja jüdisch-christlichen Ursprungs ist (Eschatologie, Messias), nun so deutlich fällt, im Osten sowieso, im Westen als Ruin ("Wachstum") erkennbar wird, tatsächlich als großer Betrug ad acta gelegt würde, nämlich die Einbildung linearer Zeit, die uns dazu auch noch fertig macht, aussaugt und das Leben stiehlt. Wirklichkeitsnah, nicht aufgesetzt, ist das im Augenblick hinter jener Hast- und Zeitmauer Verborgene, das wahrscheinlich schon da ist, sich nur schrittweise enthüllt, und ebensoviel mit dem was war, als mit dem, was sein wird zu tun hat. Freilich - je größer die Hast, umso dicker die Mauer!

Meine Damen und Herren, das Unerwartete, Überraschende macht erst seit 3 Jahren Geschichte, wie ich hier vor Ihnen stehe, hier in Hermannstadt, in einer neugegründeten und freien Akademie, noch vor dreieinhalb Jahren war dies für mich ein verbotenes Land, und jetzt kann ich ganz frei über all dieses zu Ihnen sprechen, - wer hätte das von uns damals gedacht. Und ich habe das Gefühl, daß das Leben doch auch aus dem Stoff ist, aus dem die Träume gemacht sind. Obwohl mehr als drei Jahre vergangen sind, kann das Bewußtsein, das Gefühl, ja, das Leben der geschaffenen neuen Lage nicht nachkommen.

Wir können die Kraftlinien des Geschehens zwar aufschlüsseln, einen erklärenden Rahmen herstellen, und es bleibt in den Ereignissen doch ein Rest an Überraschungen und auch an furchtbaren Gefahren. Alles gehört eher dem Möglichkeitsdenken von Kunst und Religion an als praktischer und nüchterner theoretischer und begrifflicher Überlegung. Dabei ist gerade jetzt zugreifende und praktische Tätigkeit und sogar das, was nach dem Krieg "Aufbau" genannt wurde, nötig. Aber das Besondere von 1989 im Gegensatz zu allen früheren Revolutionen und Aufständen in der Geschichte, besteht ja gerade im Mangel an solchen Entwürfen und Konzepten. Außer - zu wissen, was man nicht mehr will. Oder - pardon etwas schon Vorhandenes, den bisherigen aufgezwungenen Feind, das westliche Konsum- und Kapitalsystem zu wollen. Nicht nur, weil das Verbotene reizt, sondern weil die Mangelwirtschaft, das vertane Leben, die Armut zu diesem Wunschgedanken führen mußte. Aufgestaute Hoffnung, zurückkehren zu dürfen in das einmal gestohlene, enteignete Leben vor 1945, als noch alles "normal" war, eine Art Dornröschen-Effekt, man wollte wachgeküsst werden durch den Prinzen Revolution, der die Dornenhecke wegräumen sollte zur ersehnten "Freiheit". Die erweist sich aber viel grauer als der Traum von ihr. Vor allem, erkennbar wird: daß sich nun der Weltgeist auf Geschäftsreisen befindet. Alleskleber für sämtliche Brüche und Schwierigkeiten aber, die jetzt erst auftauchen, scheint wieder nur ein unerreichbares Klischee zu sein: das da "Marktwirtschaft" heißt. "Freiheit" aber hier hieß freilich auch Rückkehr zu allem bisher Verbotenen, vom eigenen Besitz und Besitztrieb, Reisen, ohne Angst alles äußern, schreiben, kommunizieren, dazu gehört aber leider auch: der losgelassene Schrecken der nationalen Instinkte.

Aber gibt es denn überhaupt eine umgekehrte Bewegung, also West Richtung Ost? "Geistige Wege in den Osten"?

Ich meine: es gibt sie kaum. Zumindest zur Zeit nicht. Die Macht war immer im Westen. Und seine Klischees funktionieren großartig, auch was den Osten betrifft, die stülpt er ihm über, Vorurteile bestimmen meist seine Handlungen, am schlimmsten war dieses im 2. Weltkrieg, wo es die "Untermenschen" im Osten gab; heute gibt es sie genau so, auch was Rumänien betrifft, das Land hat darunter heute sehr zu leiden.

Von einem russischen Autor, Alexander Jakimowitzsch (ZEIT 11. Dez 92) lese ich die Klage, daß sogar die Ostdiktatur vom Westen mißverstanden, auf seine Art ausgelegt wurde: nämlich rational. Als wäre das System zentral übergeplant und kontrolliert gewesen. Es war, wir, die wir darin gelebt haben, können es bestätigen, anders: nichts hat funktioniert. Und die Maschen waren riesig. Die Korruption enorm. Aber auch das Sich -Arrangieren und Organisieren. Zwar mühevoll und lebensvergeudend, doch war es zweifellos eine Schule im Umgang mit Armut und Chaos. Der russische Autor Alexander Jakimowitzsch meint sogar, das Ostsystem habe sich (sicher nicht bewußt, doch nachweisbar) nach Prinzipien der neuen "Chaostheorie" am Leben erhalten, ja, habe diese sozusagen gelebt: dies sei den östlichen Menschen sogar natürlich gewesen, diese ordnungslose Geschichtslosigkeit. Und es ist nicht das einzige, wo westliche Theorie unabhängig vom Westen erst im Osten erfahren und erlitten wurde. Dieses Schatzhaus der Erfahrung aber ist der Reichtum des Ostens.

Der politische Osten wäre ohne das Ostchristentum nicht möglich gewesen. Byzanz hat ihn geprägt. Es gab keine rationale Staatsverwaltung wie im Westen. Man wußte nicht, wer herrscht. Jakimowitzsch behauptet, es sei die "mystische Unbegreiflichkeit des Systems" gewesen, die totale Unsicherheit "Niemand-weiß-wer-Welt" Und die "historische Falle... entsprach der Mentalität des Landes, wie ungeheuerlich das auch immer klingen mag." Doch genau dieses hat die Einübung in die "neue Zeit" des Postkommunismus möglich gemacht, wo diese alten Strukturen nun offen zutage treten. - Im Westen wird analysiert, im Osten erfahren und gelitten. Doch nicht nur die Chaostheorie ist solch ein Beispiel, auch jene etwa der "offenen Systeme" und viele andere bis hin zur Ästhetik.

 

Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt dieses provozierende Thema vom armen Westen und vom reichen Osten zu begründen versuche. Muß ich gegen die Gewohnheit andenken, und ich wage dieses, weil ich beides in mir trage, ein Ostwestmensch, ein Deutscher der Dritten Art bin, aus eigner Erfahrung vergleichen kann. Viele wurden durch den Weltwechsel zerstört, einige in den Selbstmord getrieben in der Kälte und Seelenarmut. Die schlimmste Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West ist das Gefühl, eine lebende Leiche zu sein. Es ist das Danaergeschenk dieses "Paradieses", der seelische Reflex dessen, was mit der Natur geschieht, es geschieht auch mit uns. Der Neuzuwanderer muß seine Substanz exorzieren, um zur Scheinwelt zu passen. Ein Leiden, das dann sogar "vernarbt", so daß man es "vergißt" und nach einigen Jahren munter als neupräparierter Zombie und Toter herumläuft. Mein Gott, wie viel wurde in Literatur und Philosophie über diese "Entfremdung" geschrieben; soll das nun alles "überholt" und ad acta gelegt, dem Bewußtsein entzogen sein? Ist vielleicht gerade dieses die eigentliche Krankheit?

Aber das sind angesichts der Katastrophen unseres Jahrhunderts kleine, wenn auch tägliche Katastrophen. Die andern liegen im Keller, und wir wissen davon, nicht mehr. Und täglich passieren in nächster europäischer Nähe deren Konsequenzen.

Aber unser zurückgebliebenes sattes Lebensbild kommt heute nicht nach, als wäre es nun vom wirklichen Geschehen erledigt, daß wir verblüfft zuschauen, oft, wie gelähmt: Geschehen, Zeit, Nachricht, überstürzen sich. Seit einigen Jahren leben wir auf einem völlig veränderten Planeten. Die im Kalten Krieg lange eingefrorene Geschichte ist aufgetaut, als müßte sie das Versäumte nachholen, rast sie ins Unbekannte.

Heute, nach dem vielen Leid im Osten, und nach dem Beispiel, das der Osten 1989 der ganzen Welt gegeben hat, wäre hier der Ort der Geschichte und der Überprüfung und nicht umgekehrt im seelen- und erfahrungsarmen Westen, der sich als Retter aufspielt. Es ist eine siegreiche Niederlage. Soll er nun hier verspätet eingeführt werden, nachdem seine andere "Gabe" Marx gescheitert ist?.

Der reiche Osten? Ich kann und will ja nicht wirtschaftlich argumentieren, das wäre absurd. Es ließen sich auch eine Menge sozialer und politischer und medientechnischer Mechanismen anführen, die der Osten vom Westen lernen muß und langsam lernt, zu langsam. Doch davon ist ja andauernd die Rede. Auch wenn weniger von sozialen Dingen die Rede ist, die der Westen auch vom Osten lernen könnte. In der ehemaligen DDR sieht man es, daß er dies nicht will!! Ich möchte heute lieber vom Kulturellen und von der Substanz des Ostens sprechen! Dabei weiß ich natürlich, daß z. B. Rumänien und jeder einzelne in den Zwängen des schweren Alltags steckt, und materielle Wege, nicht geistige Wege in den Osten viel gefragter wären, Ängste gerade jetzt isoliert zu werden, von Krisenherden umgeben, Diplomatie zu üben, EG, NATO usw. als Partner, Hoffnung auf Investition, Wohlverhalten üben, um vom mächtigen Zentrum, vom Herrn der Welt akzeptiert zu werden. Oder zu überlegen, möglichst schnell hier wegzukommen. Doch um all diese Fragen soll es heute einmal gerade nicht gehen.

Konsensus ist: der Westen hat vom Osten überhaupt nichts zu lernen! Der Osten braucht den Westen, der Westen sieht den Osten nur als Last. Alles was aus dem Osten kommt, scheint negativ zu sein. Bisher war der Osten dienlich als Alibi fürs eigene System. Und nun? Die Macht ist immer im Westen. Im Osten aber wurde Geschichte erlitten. Und wenn wir nach den geistigen und historischen Werten fragen, müssen wir daran anknüpfen. Diese Werte und Erfahrungen werden den Westen mit der Zeit ebenfalls verändern müssen.

1. Der untergründige, nicht der oberflächliche Zeitgeist, die Tiefenwirkung dessen, was an der Zeit ist, im Westen nicht geschieht, nur analysiert und via Technik und Wirtschaft exportiert wird, ist so auch 89 im Osten GESCHEHEN und nicht im Westen, wo die überlebensnotwendige Veränderung vom elastischsten Herrschaftssystem der Weltgeschichte geschickt verhindert wurde und wird. Ich spreche von einem weltweit notwendigen grenzüberschreitenden Verteilungssystem, von der Tatsache, daß sich heute keiner mehr sperren und absperren kann, um auf seiner Insel seinem Egoismus und Machttrieb zu frönen wie es die roten Diktatoren versuchten. Und es jetzt der Westen immer mehr tut mit gewendetem Eisernem Vorhang! Es läßt sich auf der Erde nichts mehr kleinplanen! Schon die eruptionsartigen Prozesse der osteuropäischen Aufstände zeigen dramatisch im Sichtbaren, was im Innern der Geschichte längst schon latent da war: die Zerstörung fester Grenzen, "Inseln", Weltbilder und Sicherheiten, Ideologien und alter Machtstrukturen, wo eine weltweite Öffnung vorbereitet wurde, die auch den Westen langsam aber sicher verändert - zu seinem Schrecken! Es ist ein Wagnis und ein Risiko sich dem Offenen Augenblick, dem Unvorhergesehen zu überlassen, der an der Zeit ist. Robert Musil definierte einmal wirkliche Demokratie mit einverständigem und bewußtem "Tun, was geschieht".

Es geschieht und geschah im Osten etwas Niedagewesenes. Im Zusammenbruch und Umbau der Lebensverhältnisse. "Katastrophen und Wunder". Und der Osten steht mitten drin, macht Geschichte, probiert aus, der Westen wartet ab, schaut zu, obwohl er längst hineingerissen ist in das Geschehen. Die Offenheit muß der Osten ertragen, er hat bisher die totale Geschlossenheit ertragen müssen. Doch das täuscht, "unten" war immer das lebendige wabbernde Chaos. Nur oben Schwarzweißtöne. Improvisationen, Leben organisieren aus dem "Nichts", unvorhergesehen war alles im Grauen Alltag. Das aber, dies Improvisierenmüssen, angstlos im Offenen, das kommt jetzt dem Osten zugute in dieser neuen Zeit des "Tun, was geschieht".

Unsinn, jetzt den Osten zum Aufholknecht zu erklären, der nachholen muß, um so wie der Westen zu werden. So sieht es aber der Westen, und er wird sich, wenn es zu spät ist, wundern.

Heute erleben wir die dritte Phase des Umsturzes im Osten: Die erste Phase des Umbruchs seit 1989 war der Aufstand. Die zweite Phase aber war die Zeit der trägen Masse, die Hoffnung auf den Westen, der Coca-Cola- Komplex, und das Abwarten. In der dritten Phase aber kam die Enttäuschung und die Besinnung auf die Realien und auf sich selbst. Das nun resignierte heldenlos und ohne Ideale Tun bei oft gefährlich offenen und erschreckend wilden Chancen, die natürlich rauhe Naturen bis hin zu den Mördern anziehen. Kolonisten- Goldgräber- Kriegszeit. Auch das Aufbrechen der eingeeisten Emotionen und Gifte sehr gemischter Erfahrung und Tricks. Ob es der Osten nun im Globalen gesehen ebenso friedlich schaffen wird, wie den Aufstand, das Wegfegen eines Machtsystems? Vom Gelingen dieses postkommunistischen Syndroms hängt die Zukunft ab. Millionen arbeiten im Chaos daran, die meisten gottseidank erstaunlich geduldig und friedlich. Ohne Institutionen, ohne besondere Hilfen. Im Nichts, im Übergang: wo das Alte nicht mehr da ist, das Neue noch nicht funktioniert, Grauzone, und Umlernen, nochmals neu anfangen, so spät? Dabei sind alle eigentlich ziemlich müde, und illusionslos. Doch die Inkompetenz ist gar nicht allzu groß; weil es weniger Experten im festgefahrenen Wissen, als Meister des Risikos und des Erprobens benötigt. Und dafür war die Diktatur eine Schule. Improvisieren muß großgeschrieben werden.

Es ist Einübung freilich auch in die Inhumanität. GELD im Mittelpunkt, Konkurrenz, primitiver Kapitalismus. Und die Aufwärtsbewegung der Gewitzten; Spekulanten, Mafioten. Neureichen. Hier die harte Klassengrenze schon jetzt. Es schichtet sich, was diffus war.

Improvisationen also. Man braucht sie dringend, sie sind sozusagen jetzt befreit ins Mögliche, nicht im Zustand der Depression, sondern des Wirkenden und der möglichen Überraschungen, ja, daß man die Resultate des eigenen Tuns sogar sehen kann! Daß damit selbst Zukunft herbeigeführt werden kann, wie zu Kolonistenzeiten? Oder gar Goldgräberzeiten für manche. Eine riesige terra incognita, ein Amerika kurz nach der Entdeckung, fast noch Wildnis, leider auch schon aufgebrauchte. Und wichtig dabei ist: die Chancen solch eines Tabula rasa zu sehen und nicht mit dem Fertigen im Westen zu vergleichen, das sowieso das Gewesene ist, wie alles zu und fertig ist, und nun, man sieht es ja, den rückläufigen Prozeß antreten muß. Arbeitslosigkeit zuhauf, Gürtel enger schnallen, Skandale, Abbau des Sozialen, neue Klassengrenzen, immer mehr Armut, rückläufiges Bruttosozialprodukt bis zum Wachstum Null. Usw. Alte Welt.

2. Das wichtigste aber, was der Osten dem Westen zu bieten hat, ist der damit zusammenhängende, heute so notwendige GESCHICHTSBOYKOTT, der primär aus dem Leid an der Geschichte, aber nun auch aus einer neuen Einsicht kommt, die neue Schläge voraussieht, ja den Untergang, sollte diese okzidentale Hure sich weiter betätigen dürfen. Wirft man z.B. einen Blick auf die kleine rumänische Geschichte, ihre Kultur und Literatur, nicht nur auf ihre gegenwärtigen Entwicklungs- und Kraftlinien, dann erkennt man eine erstaunliche Konsequenz in Richtung einer "Nachgeschichte", Leid an der Hure Historie dieser immer nur verhinderten Nation, deren Menschen stärker als andere von widerstreitenden Kräften und innern Gegensätzen zerrissen sind. Minderwertigkeitskomplexe und Zwang zur List, zum Ausweichen, zur Taktik, ja Zynik aus bittersten Erfahrungen, denn die unmöglichsten Kostümierungen und Lebensweisen mußte dieses Volk am Kreuzweg zwischen Ost und West, Levante und Abendland, Byzanz und Rom, zwischen vier Imperien Rußland, die Türkei, Österreich und Deutschland erleiden.

Was mich am Rumänischen anzieht, ist das Gegenteil der protestantisch-deutschen, und der westlicher Fortschritts- Denk- und Arbeitswut und "Pflichtkantigkeit," Emile Cioran, der große rumänischfranzösische Essayist, der aus der Hermannstädter Gegend stammt, drückt es in einem Nachruf auf den englisch-rumänischen Religionshistoriker Mircea Eliade so aus: Eliade sei der "unbalkanischste von uns allen" gewesen (er meint die Generation um den - leider profaschistischen rumänischen Philosophen - Nae Ionescu), "die Vergötzung des Scheiterns war ihm fremd, er ahnte nicht wie tröstlich es ist, einen Plan aufzugeben, welche Wollust jedem unrealisierbaren Vorhaben innewohnt. "Der Makel, die "nationale Orginalität" der Rumänen steht eben unter diesem "Zeichen der Nichterfüllung", des "Walachischen Nichts". Das hat Emile Cioran in eine Art negative Theologie umgekehrt, und ist damit berühmt geworden, weil es viele, vor allem auch im Westen, satt haben, dem Leistungsprinzip zu huldigen, jener "Pflicht", sich vollständig einem Wegwerfmoloch hinzugeben, für ihn ihr Leben zu verausgaben. Nirgends hab ich die schamvolle und peinliche Selbstentlarvung heftiger gespürt, als unter rumänischen Menschen, diesen naiven Selbstbetrug des Planens und "Wissenmeinens", ohne es auch erfahren und gelebt zu haben. Als hätten sie jenes "Ich des Ich" (Cioran) (diesen im Westen so hochtrabend "transzendentales Subjekt" oder einfacher Selbst genannten "Beobachter" in uns) immer dabei, so daß sie gar nicht handeln müßten, sich etwas vorzumachen, wobei jener Andere uns doch nur auslache! Cioran meint, "was ich tue und sogar, was ich bin, hat für dieses Ich weder Bedeutung, noch Wirklichkeit: es ist, als handele es sich um ferne Ereignisse, die längst abgelaufen sind und deren scheinbare Gründe wir entwirren, ohne ihre innere Notwendigkeit zu gewahren. Sie hätten ebensogut nicht sein können, so äußerlich sind sie uns."

In einer Glosse zu Eliade, beklagte Eugène Ionesco, der französisch-rumänische Dramatiker, daß der Okzident nicht der Wahrheit des Orients gefolgt sei, im Gegenteil, der Osten sei am Westen zugrundegegangen, zuerst am Geistesimport, den Ideologien (Marx) und der Technik, er habe sich, wie die Dritte Welt ja auch: den Wahnsinn des Westen zu eigen gemacht, und dies zerstöre die eigenen Lebensgrundlagen.

Es ist nun freilich an diesem Punkt problematisch, heute noch mehr denn je: diese Grundlagen einbringen zu wollen, die eigentlich gegenaufklärerisch sind. Und nur heute, wo die Aufklärung eindeutig gescheitert ist, ihre Dialektik und deren Anstrengung auch im Westen nicht mehr aufrechterhalten wird, müßte dieses zu einer neuen Diskussion führen. Der gescheiterte Marx im Zentrum. Die gescheiterte Fortschrittsidee im Zentrum. Das kann ich hier in meinem Vortrag auf die Schnelle nicht leisten. Nur soviel: ich sehe jene Grundlagen des Ostens bis hin zur ostkirchlichen Mystik und östlichen Weisheit Indiens etc. als Katalysator. Carl Friedrich von Weizsäcker, der Physiker und Philosoph, hat sich ausführlich damit beschäftigt, hatte sogar ein Institut gegründet für östliche Weisheit und westliche Wissenschaft. Die Resultate, die Erkenntnisse, sogar auf so verschiedenem Wege gewonnen, sind frappierend.

Weiter: im Politischen sind die Gefahren der Gegenaufklärung und des Irrationalismus im Osten äußerst virulent. Da sollten wir uns nichts vormachen. Und die mahnenden Stimmen hier im Politischen sind ernst zu nehmen: Denn in diesem Tabula rasa heute ist eine demokratieungewohnte "Nation ohne Geschichte", der Europa immer noch sträflich den Rücken zuwendet, nicht nur von hemmungslosem Fatalismus und von dem Todestrieb gefährdet, die Mystik und die Komplexe übersetzt ins Politische können selbstmörderisch sein: die Legionärsbewegung in der Zwischenkriegszeit zeigt es. Und der gegenwärtige Rechtstrend und Chauvinismus gibt von neuem zur Sorge Anlaß. Und scharfe Kritik ist an jeder Tendenz zu üben, wenn es um die Auswertung des "Transzendentalen" für politische Zwecke geht. Die direkte Übersetzung in die Praxis der mörderischen Weltmaschine ist nichts als "Fundamentalismus" jeder Couleur. Was es freilich und trotzdem an Wertvollem und Eigenständigem in der rumänischen Literatur etwa gibt, kommt aus dieser Quelle und Tradition, und es kann auch keine andere sein. Das Satirische, Absurde, Sprachspielerische etwa in der Linie des Dramatikers Ion Luca Caragiale verfließt über Urmuz, den ersten Dichter des Absurden und Surrealisten Europas mit der Tradition Eminescus, Blagas, Bacovias, Arghezis, Ciorans und Eliades.

Im Deutschen aber ist es oft nicht anders. Heidegger stand den Nazis nah, Mircea Eliade den Legionären.

Nicht die Fortschrittspropheten haben heute etwas zu sagen, sondern die Geschichtsskeptiker, ja, Geschichtshasser. Wir müssen ihnen zustimmen.

Leid, Verzweiflung, Tod im Mittelpunkt, nicht leuchtende Siege und Zukunftsbilder; es geht ums Überleben, ihre Taktiken, es geht um eine altgewordene Menschheit, um Altersweisheit, nicht um Sturm und Drang, der ist 1989 als Greis zu Grabe getragen worden, mit Ekel. Es geht aber nun um erlebte, erlittene Geschichte, die z.B. auch zur Form erlebter Literatur wird.

Und diese Erfahrung der Geschichtsbrüche, der möderischen Hure Historie gehört zur Substanz. Hier ist heute der Ansatz überhaupt Geschichte richtig zu sehen. Es ist die zentrale Frage des Überlebens, und sie kommt aus dem Osten, er bringt jetzt die Erfahrung für diesen berechtigten Geschichtshaß und sein Wissen vom Geschichtsbetrug und Geistbetrug und Sozialbetrug als bitter mit der Lebenszeit bezahlte Hypothek mit. Vielleicht wars gar nicht Geschichte sondern Geschichtsverhinderung? Wer weiß. Doch auch das träfe sich gut, stillstehender "Fortschritt" als Ruin - und jetzt nachdem die große Klammer des Kalten Krieges zerbrochen ist, Gleichgewicht des Schreckens - wäre das nun ein Zischen der Geschichtsventile? Dazu ist es, so glaube ich: zu spät!

Das Absurde der Geschichte einsehend, die sich durch sich selbst vernichtet hat: aus Notwehr, wie z. B. Mircea Eliade postuliert: Um Fortzuleben, muß die Menschheit versuchen, keine "Geschichte mehr zu machen". Diesen Boykott der Geschichte, den vielleicht sogar die Kommunisten betrieben haben, sie eingeeist, mit Fahnen und Gewehren umstellt haben, als Leiche, den Boykott der Geschichte, nicht freilich jenen der Kommunisten, sondern den alten Boykott des Ostens, müßte der Westen bis hin in das seelische Substrat der Verweigerung von Effizienz übernehmen. Denn es ist im Westen, im Gegensatz zum Osten, alles zuviel: es wird zu viel erzeugt, so wird heutzutage nicht die Ware, sondern zuerst der Bedarf produziert, Bedürfnisse künstlich geweckt durch Reklame etc. Nicht nur zwischen Vorstellung und Herstellung klafft ein Bruch, sondern auch zwischen Herstellung und Verwendung. In allem ein enormer Verschleiß. Ein Computer enthält etwa 1000 mal mehr Daten als 1000 Menschen in 1000 Stunden verwenden können. Doch auch sonst wird alles zum Abfall gemacht, ein Naturverschleiß findet in astronomischen Maßen statt. Dabei wird das Machbare immer noch gemacht, und alles ausgeführt, was möglich ist auf höchsten Touren. Hier wäre ein Jahrtausendebruch überlebensnötig, das Nichttun, das Unterlassen, Nichthandeln. Auszusteigen, im Westen auch aus dem unverschämten Lebensstandard des Unnötigen und Überflüssigen. Ich habe freilich kein Rezept, wie das im Osten sein sollte, denn von Nichts kommt freilich nichts, und jeder möchte gerne etwas, und immer mehr, und regt sich auch, anscheinend ist es mit der Ruhe vorbei, und das einfache Alphabet des grundlegenden Egoismus ist leicht erlernt. Haben wir aber erst einmal im ganzen Osten den gleichen Lebensstandard des Unnötigen wie im Westen, dann gute Nacht Erde! Da hilft nichts anderes, als mein anfangs erwähntes neues Verteilungssystem. So einfach ist es, so rational wäre es, und ist doch nur eine Utopie angesichts des siegreichen Systems des Profits, das nichts anderes kennt: eben: der Weltgeist befindet sich auf Geschäftsreisen, während zu Hause langsam der Weltuntergang vorbereitet wird.

Verharren wir trotzdem, aufsässig geworden, beim "Boykott". E.M.Cioran, der Eremit von Paris, hält ihn hoch: hält sich für den untätigsten Menschen, urchristliches, indisches Nichttun, Nichts-Tun, da in jedem Tun ein Schuldigwerden steckt, hält er für sich wichtig. Schon bei Bertrand Russel und bei den alten griechischen Philosophen finde ich das Mißtrauen, ja das vernichtende Urteil wider die Effizienz, ja wider die Produktion und Arbeit. Er ist heute im Westen im Steigen begriffen, dieser Widerstand, und viele betrachten ihn als das einzige Heilmittel, um der sich deutlich zeigenden Apokalypse, ein Produkt hektischer Arbeit, zu entgehen.

Heute wäre dieser östliche "Boykott der Geschichte" weltweit eine Haltung des Überlebens. Drastisch sind die ökologischen Warnungen, nicht weniger drastisch die demographischen, urbanistischen, die Gefahren von Wetter- und Hungerkatastrophen, und als apokalyptischer Endpunkt und Schluß - die atomaren und thermonuklearen Katastrophen.

Auch das gehört zum Schrecken der Geschichte, nun ausnahmsweise auch direkt auf Westterritorium. Vielleicht wird der Herr der Welt aus Selbstschutz nun endlich etwas wider den Horror der Geschichte tun, sie aufhalten? Vom Osten etwas annehmen? Es muß bezweifelt werden. Aus dem einfachen Grund, weil der Okzident von unserem Jahrhundert das Leid, die Brüche nicht mitbekommen hat, - aus eigener Erfahrung kennen, außer den Deutschen, die westeuropäischen Völker diesen Horror zu wenig und nur mit dem Kopf.Sie sind zu sehr ans Siegen gewöhnt und ziemlich ahnungslos im vermeintlichen langandauernden faulen Frieden.

 

3. Was die ost-westliche Grundtrennung betrifft, sind die durch jahrhundertelange Einwirkung der verschiedenen Religionsformen zu sozialen Seelenbildungen gewordenen Haltungstypen nicht zu unterschätzen. Und ich wage zu behaupten, daß jetzt am Endpunkt einer historischen Entwicklung mit all ihren durch den Westen und seine "Werke" in einem kolossalen Raubbau an dieses Ende geführte arme Erde, die Gegenwirkung der anderen Teile, der östlichen und südlichen Teile der Welt nötig geworden ist. Vor allem bei Max Weber und dann bei Albert Ritschl und Franz Borkenau finden wir die Analysen, um dies bedenken zu können. Sträflich verkürzt und schematisch ergäbe sich dabei strukturell das geographische Bild der nordwestlichen und atlantischen angloamerikanischen Calvinisten und Puritaner, ein Teil der Franzosen, der Schweiz, und konsequenterweise auch des Mercedes-Benz-Reiches der Puritaner im Schwabenlande. Max Webers Forschungen ergeben, daß hier die Wurzeln der modernen abendländischen Lebensform zu suchen sind, dem Arbeitsethos, individualistischer Pflicht und Verantwortung im modernen Industrialismus und Kapitalismus mit seinen Wachstums- und Werkheiligkeit als Erlösungslehre der "Auserwählten". Der katholische Süden ist da weniger radikal, doch ebenso vom Werk bestimmt, wenn auch nicht von der bedingten Erkennbarkeit der "Gnade" und ihrer Wirkung am äußeren Lebenserfolg wie im Calvinismus. Östliches Denken ist das Gegenteil, ist passiv, leidend, ist noch geist- und transzendenzverbunden mit "Nachbar Gott". Man sieht es schon an der nicht überstrukturierten Mutterhöhle der Ostkirche. Lucian Blaga hat in seinen kulturkritischen Büchern, wie etwa in "Spatiul mioritic", entscheidendes über dieses "Sophianische" gesagt. Oder der hervorragende Theologe Staniloaie. Im russischen Bereich gibt es natürlich noch viel mehr dazu in Theologie und Literatur. Die westeuropäische Kultur wäre ohne diese Einflüsse sehr arm. Es ist notwendig, im Sinne der "geistigen Wege in den Osten" diese Tiefenstrukturen neu zu durchdenken, östliche Werte und ihren Lebensstil zur Korrektur der Effizienz- und Wachstumshaltung auf der gequälten und ausgebeuteten, ja, untergangsreifen Erde ernstzunehmen. Und dies kann auch nicht am Ural oder in Sibirien enden, sondern setzt sich fort in die andern, die Stammesreligionen der fünf Kontinente und fernöstlichen Religionen, bis hin zum Buddhismus, wo ziemlich einhellig das Gegenteil jener okzidentalen Werkbesessenheit und Erfolgsneurose gilt, die die Erde ruiniert, und von der heute fast allgemeine und überall die zur Ideologie verhärtete Meinung herrscht, sie müßte nun, nach dem Fall ihres letzten potenten Gegners, der sich dann nur als mieser roter Zwillingsbruder und Bastard erwies, überall nun hintransportiert werden und siegen zum Triumph des weltweiten Vernichtungskartells. Wobei hier wieder auf eine ganz neue fernöstliche egolose Art mit genügsamen Ameisenheeren ein pseudokommunistischer Kapitalismus fernöstlichen Typs entsteht, der die Welt erobert, wo alles zur Firma gehört, bis hin zum gemeinsamen Bordellgang, Dienst rund um die Uhr.

 

4. Wichtiger sogar als Freiheit und Gerechtigkeit, die sich entgegenstehen und Machtinstrumente werden können, ist also die Frage nach der Substanz im Osten. Dabei bleiben zwei "Realitäten", Mischprodukte aus positiven und negativen Dingen, die zur "Substanz" gehören auf dem Hintergrund der hinterlassenen Schlammlandschaft der Diktatur und der negativen Traditionen, die eben aufbrechen. Die Landschaft, die sich da auftut, ist:

a) Das schon erwähnte Chaos. Richard Wagner beschreibt es in einem seiner Bücher ("Völker ohne Signale", 1992) negativ: als Verrohung, Verrottung, Korruption, Gesetzlosigkeit, Kriminalität, Schlendrian, Vetternwirtschaft, Artbeitslosigkeit usw. All dies erinnert mich in primitiverer Form an Italien, an den italienischen "compromesso caotico". Und das italienische Chaos als Überlebenstaktik, ein unglaubliches Durcheinander, das aber seine eigene Ordnung überraschend schafft und das Gleichgewicht, scheint mir geradezu ein Studienmodell für den Osten zu sein. Der Unterschied: daß die ehemalige Nomenklatura im Osten kräftig mitmischt, ihr Herrschaftswissen ausnützt, ihren noch teilweise intakten Verwaltungs- und Beamtenapparat, natürlich auch die umfunktionierten Sicherheitsorgane benutzt, in Rumänien besonders deutlich, um Macht und Geld zu erhalten, sich ganz persönlich zu bereichern, jeden bisherigen noch so kleinen Rest an Moral oder Kontrolle oder Ideologie der Zukunftsversprechungen aufgegeben hat. Mit den deutschen und angelsächsischen Erfahrungen lassen sich die Ostmitteleuropäischen und Osteuropäischen Staaten nicht sanieren und vergleichen, wohl aber mit dem Italiens chaotischer Demokratie. Alles ist offen, Freude am Komplexen, Vielfältigen, Risikoreichen, am Paradox: Masken, Verstellungen, nichts ist das, was es vorgibt zu sein, Phantasie, Legenden, Gerücht als Realitätsherstellung usw. Und Planlosigkeit, Nichtmethode, alles als das Gegenteil von allem. Mir scheint es etwas vermessen, in diesem Chaos nun zu fordern, daß ein anderes, als das, was geschieht, vor sich zu gehen habe. Die Traditionen der alten Schicksalergebenheit und des Fatalismus, asta-i viata, hier anders werde. Klar, daß nun "alle Opfer waren". Oder Helden. Unmündigkeit wird verklärt, Verbrechen beschönigt. Pogrome verkleinert, Verbrechen minimalisiert, Schuld unterschlagen. Prozesse finden nicht statt etc. Und daß das große nationale Versöhnungsfest mit den ehemaligen Henkern unterschwellig da ist. Caragiale lacht mit. Man kann Satire, Ironie, aber auch höhere Bedeutung nun bemühen. Es war nach all den Traditionen, die ja überall nun aufbrechen, doch vorauszusehen! Da hilft nur eine gute und starke Verfassung, junge idealistische Richter und Staatsanwälte, die etwas riskieren wie in Italien, eine lernende Öffentlichkeit und starke Opposition, vor allem eine Vierte Gewalt, die sich nicht korrumpieren läßt, und genau recherchiert und anprangert. Es wird lange dauern, obwohl es alles schon in Ansätzen gibt!

b) Aber die erwähnte Substanz, die vielleicht ein moralisches Gegengewicht zur Tradition des Durchwurstelns und Chaos bieten könnte, hat vielleicht schon den moralischen Kern bei einigen bereitgestellt: Extreme Lagen bringen im Schock Erkenntnisgewinn. Unter Druck wird erkennbar, was in der Gegenwart verdeckt, Geschichte macht, Securitate, Stasi, KGB erzeugten einen permanenten Ausnahmezustand, irre staatliche Unterwelten, als wäre Realität Plagiat, Fälschung gewesen. Und dieses gilt auch für jede Ostliteratur: Desillusion, Impetus zum Widerstand! Ich kenne nicht wenige junge Autoren, die nach 1989 so angetreten sind, und weitermachen. Freilich: es ist leichter wider die Securitate Widerstand zu leisten mit dem Gefühl, auch mutig zu handeln, als gegen die Geldwelt, mit der es weder Diskussion, noch Kampf geben kann. Sie hat immer schon gesiegt. Und der Kämpfer wird zermürbt, alles wird aussichtslos.

Was wird auf die Dauer vom Positivsten aus der Diktaturzeit bleiben, dem Revers der Diktatur, Utopie gelebt im Untergrund, als Kompensation durch Kultur, durch Lesen wirklich war: im Osten, in Rumänien noch mehr Literatur, Kunst, Spiritualität, eine "Lunge" war durch die in dünner werdenden Luft der Freiheit, ein Großteil der Bevölkerung atmete.

Geblieben ist mir, ein Constantin Noica gewidmeter "Aufruf" des Literaturkreises "Agora" meiner Heimatstadt Schäßburg über die unter der Diktatur bewahrte, ja, erworbene Substanz: "Gibt es etwa in dieser Erfahrung Zeichen für die Zukunft der Menschheit. Ohne Zweifel: ja. In diesen Jahren einer schrecklichen Finsternis haben wir überlebt, und dabei ein wunderbares inneres Licht entdeckt, das wir auch jetzt in der Freiheit nicht verlieren dürfen. Die materielle Misere hat uns hin zum Geistigen geöffnet... diese neue Spiritualität hat uns nun in unerwarteter Plötzlichkeit eine formlose Substanz beschert." Ja, die Freiheit des Gefangenen. Und dies erinnert mich an ein Wort des ungarischen Philosophen Georg Lukács, der in seinem Buch über Solschenizyn schrieb, daß die Welt von dieser unter furchtbarem Druck entstandenen und bewahrten Substanz im Osten verändert werden wird. Zur Hälfte jedenfalls haben wir dies 89 erlebt. Die andere Hälfte freilich, die steht noch aus. Ich sagte schon, was im Westen theoretisiert und gedacht, analysiert wurde, ist im Osten erlitten worden. Das geht bis in die Formen der Literatur. Ich nehme dazu als Beispiel die Erkenntnisse und das Werk eines anderen Kollegen, der heute in Paris lebt: Paul Goma. Beim ehemaligen Häftling und Romancier Goma werden die Erfahrungen von Folter und Zelle zum geistigen Vehikel. Die hier verdichtet Erfahrung läßt keine Handlung mehr zu. Jeder "realistische" Ansatz wird zerbrochen, fortgesetzt in jener emotionalen Häftlingswirklichkeit, die die faßbare Außenwelt durchbricht, weiter zum Schmerz, der seine Korrespondenz sucht, zur Auflehnung, die zurückspringt in die menschliche Substanz des Individuums. Die Zelle komprimiert eine historisch belastete Innerlichkeit. Und Goma biegt in die Wirklichkeit nun zurück, was an formalen Findungen aus dem Zeitbruch im Westen, etwa bei Joyce oder Proust zur Sprache kam, hier aber im Osten in der Hölle erfahren wurde. Am Grunde der Hölle beginnt es zu singen, heißt es im Roman "Ostinato".

Es geht heute um eine neue Geschichtsauffassung, die aus der Erfahrung dieses Schreckensjahrhunderts erwächst. Die Substanz dazu ist im Osten. Meine Damen und Herrn, das weltberühmte Werk "Kosmos und Geschichte" von Mircea Eliade endet mit dem Kapitel "Der `Schrecken der Geschichte`". Eliade hat sie nicht erlebt, aber im Westen beschrieben. Letztlich geht es in seiner Geschichtstheorie, die eine ostwestliche Synthese ist, dann doch um die Unerträglicheit, um die vielen Massaker, Deportationen, die jede Vorstellung sprengenden Massenmorde - in ein jenseits der Geschichte aufzubrechen, alles als Zeichen zu sehen, Denken, ja, Moral, Kunst sowieso sogar als Komplizen der Macht zu entlarven. Geschichte, wie bei Marx, ohne Transzendenz, geschieht dem Opfer noch einmal. Und vom Osten, von Dostojewski und Belinski, von Solowjew kam der Protest wider diese Unheilsgeschichte ohne Transzendenz. Bei Marx aber gab es wenigstens noch im Negativen einen Sinn des Sinnlosen im Endzustand als so in den Dienst genommenes Pseudo-Paradies. Mircea Eliade kritisiert die westliche Historismus-Riege von Rickert bis Croce, Mannheim und Ortega y Gasset, und meint, diese Unerträglichkeit sinnloser Millionenopfer zweier Diktaturen, rot und braun, sei mit der westlichen Geschichtsauffassung allein nicht mehr zu verkraften.

Mircea Eliades östliche Überzeugung etwa, daß in diese Zone des Geschichtsschreckens an der Grenze unserer Vorstellung kein Begriff, sondern nur Überschreitung der natürlichen Ordnung sein kann, da diese ja tatsächlich überschritten wurde, ist hochaktuell, freilich in die Tiefe der Zeit. Die apokalyptische Tiefe aber käme der Dimension des alten Glaubens gleich, da er allein vom natürlichen Gesetz befreit, dessen Ordnung durchbricht, ihm alles möglich ist, er allein hat "die Freiheit in das ontologische Statut des Alls selbst einzugreifen".

Beim Czernowitzer Paul Celan finden wir eine ähnliche negative Theologie. Durch Gaskammern, den Lichtblitz der Bombe, den östlichen Lager- Gulag war das Unvorstellbare Geschichte geworden, und wir, als Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung können uns nicht in das Gewohnte zurückziehen. Wenn Sinn sein soll im Tode der vielen Opfer, muß die schier aberwitzige Hoffnung eine Chance haben, oder wie es in einem Celangedicht heißt:" der geharnischte Windstoß der Umkehr,/ der mitternächtige Tag,/ es komme, was niemals noch war!// Es komme ein Mensch aus dem Grabe." (GW I,36).- Was Walter Benjamin, der über die jüdische Mystik eben auch zum Osten gehört: seine "messianische" Dimension der Geschichte nannte. Benjamin schreibt: "Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir eben erleben, im zwanzigsten Jahrhundert `noch` möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang eines Erkennens, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.". Das "Wahnsinn", "Wahnsinn"- Stammeln etwa beim Fall der Berliner Mauer, zeigt beispielhaft, daß wir uns an einen unnatürlichen Zustand gewöhnt hatten, daß nur ein Schock uns, auch im Terror, die Augen öffnet, in welcher Unmöglichkeit wir sonst leben. Das war auch die Chance des Ostens, des Gefangenen, des Gefolterten, Eingesperrten.

Freiheit ist also heute nur in höchster, ja, nur in transzendentaler Bindung möglich, sonst kann sie dem Geschichtsschrecken nicht entsprechen, verkommt zum Bankgeheimnis und Unternehmertraum. Zur bindungslosen Flucht. Oder zur wilden Verantwortungslosigkeit der Mafioten, Terroristen und Bombenleger. Sogar das angestrengt Moralische ohne das Heilige kann böse und zerstörerisch werden. Dieses Jahrhundert hat es bewiesen. Mit jener andern Freiheit aber korrespondiert auch die Undenkbarkeit in jeder Sekunde, wo noch niemand war, in allem, was nicht vom Menschen gemacht ist. Und auf jede Überraschung dieser Öffnung hat uns die östliche, die neue Zeit nach 1989 vorbereitet, das Unvorhersehbare regiert hoffnungsvoll und gefährlich alles, was geschieht.

 

 

21. März. Frühlingsanfang. Nichts-Tun.

Wenn ich an dieses Zerbrechen der bisherigen Logik und des Kopflastigen, das der ganze Stolz und Hochmut des Okzidents ist und war, erinnert werde, und damit auch an meine eigne Abneigung dagegen, die eine Abneigung gegen dieses Erbe in mir selbst ist, die "totalitäre Seele" des Abendlandes, die die drei große Vernichtungskräfte unseres Jahrhunderts hervorgebracht hat, die rote, die braune und den gnadenlosen Raubbau der Wegwerfggesellschaft, weiß ich, daß es ein besseres Erbe, ja, heute sogar ein notwendiges Erbe ist, das mich zum Schreiben, aber hier jetzt auch zum Reden treibt. Und geprägt bin ich davon, und fühlte mich bestätigt und gestärkt als mir E.M, Cioran aus Paris über meine Gedichte schrieb: " Indien ist nicht weit; Ihr geistiger Weg mußte zu einer Form der Mystik führen. Dennoch ist die äußere Welt auch da - von Siebenbürgen bis nach Mexiko; wobei immer im Hintergrund die Suche nach der andern Wahrheit steht, einer tieferen Wahrheit, die der Geschichte entkommt oder sie überschreitet."

Ich bin vor der seelischen Armut und Pflichkantigkeit in den Süden geflohen, es hätte auch der Osten sein können, denn eine Zeitlang trafen sich die humanen Mentalitäten Süd und Ost, und jetzt fallen einem furchtbare Dinge im Osten ein, die zaudern lassen bei solch einer schönen Bewertung.

Harmloser war das noch zu Sokrates Zeiten, wer da beim Arbeiten überrascht wurde, war ein banausi, kein denkender Mensch, sondern ein , vulgärer Handwerker. De Crescenzo, der aus Scheidungsgründen nach Mailand verschlagen wurde, fühlte sich dort unglücklich. D. ist Neapolitaner. "Es waren für mich der Dialog," schrieb er," die zwischenmenschliche Beziehungen, die Musik, das Gefühl und all jene menschlichen Äußerungen, die ich in Mailand am meisten vermißte." Er spricht mir aus dem Herzen, spricht es aus, wonach ich Heimweh gehabt hatte all die Jahre. Doch mit De Crescenzo darf ich nicht absolut sein, denke auch mit Trauer an das Fehlende in Rumänien , wie in Süditalien. Das typisch Mailändische oder auch Westdeutsche ist nach De Crescenzo: "Die Achtung vor dem andern... die Pünktlichkeit und der Gemeinsinn." Es gebe Menschen der Liebe und Menschen der Freiheit, wobei ich meine, die ersten sind in Süd und Ost, die andern im Angelsächischen und deutschsprachigen Raum angesiedelt. Mischungen aber machen gottseidank das Leben aus. Trotzdem will ich mein Thema aufrechterhalten: Östlicher Reichtum und westliche Armut - und auch: Beobachtet von einem `Deutschen der dritten Art`, der das Gegendenken üben möchte zwischen Ländern und Systemen.

 

23. März. Auch in diesem Jahr wieder ein Fahrt nach Bukarest. Am Bahnhof von Hermannstadt mit Joachim W. Das Östlich-Verkommene. Das Gewusel. Die Menschenmassen. Die Schlangen. Jetzt vor dem Fahrkartenschalter. Die sensible Überhöflichkeit von Joachim W. schafft uns einen Frei- und Innenraum.

 

Der Verfall wird ebensowenig aufzuhalten sein wie in andern "weltabgelegenen" entvölkerten Gebieten, ich denke an Kalabrien, Sizilien, an kretische Dörfer, bald kommen Gebiete der Ex-Sowjetunion, Ex-Jugoslawiens etc.etc. als neue "Dritte Welt" hinzu; Ex aber heißt aus. Dabei sind die ehemaligen k. und k.- Länder Ungarn, Tschechien, Slowakei, eventuell noch Polen, Slowenien, Kroatien am besten dran. Siebenbürgen gehört schon nicht mehr dazu, obwohl es einmal k.- und k.-Ländchen war, zu "Mitteleuropa" gehört hatte: Und je weiter nach Asien hin gelegen, umso weiter ist ein Land vom heißen Zentrum des Kapital- Geschehens entfernt: Aus-Länder Europas gegen die sich dieses reiche EG-Europa durch einen gewendeten Eisernen Vorhang von der andern Seite nun zu "schützen" beginnt, um sich die "Habenichtse", die es "überrollen" vom Leib zu halten; und wie gern machen da die westlichen Wohlstandsseelen in ihrer Enklave mit, um das "hart Erarbeitete" nicht zu teilen, gar zu verlieren! Und das steigert sich bis zu einem neuen Rassimus in Ost- und Westdeutschland; besonders schlimm da, wo jenes Dritte-Welt-Syndrom sich auch im Wohlstandsgebiet selbst zeigt, in seinen eigenen Armutsgegenden oder Kolonien, denn der Riß geht ja überall auch durch diese reichen Gesellschaften selbst; die Zahl der Obdachlosen und Armen steigt, aber auch die der Millionäre, die "Schere" wird immer unerträglicher, viele ersticken im Luxus, anderswo verhungern Kinder, am Rande auch der reichen Städte (Beispiel New York, Neapel) die Slums; in Budapest, Warschau, Bukarest stochern Alte schon in Mülleimern, in Leipzig tauchen die ersten Obdachlosen auf; die Ballungsgebiete, wo das Kapital die Arbeit anzieht - logisch und menschlich müßte es umgekehrt sein - sind bevölkerungsdichte stinkende Höllen, "paradiesische" und entvölkerte Gegenden stehen ihnen gegenüber, wo Reiche Urlaub machen. Im furchtbarsten Sinn von Armut und Verfall entsteht nun auch im ehemaligen Ostblock eine neue Dritte Welt mit allen Regeln der Geschichtslosigkeit; die Krankheit des "Weltabgelegenseins", also von jenem "Schicksal" der Welt gemieden und vergessen zu sein wegen mangelnder Infrastruktur, Standortnachteil usw. nimmt rasant zu, erfaßt seit 1989 ganz Eurasien, den ganzen Globus. 1989 wurde eine künstliche Zweiteilung der Welt hinweggefegt; und ich frage mich, ob sie nicht ein guter Schutz, eine die Katastrophe vermeidende Einrichtung für ärmere Länder ohne privatwirtschaftliche und Industrietradition war, dieser der Konkurrenz entzogene "Binnenmarkt" der "Staatshandelsländer" RGW, jetzt aber, dem Weltmarkt ausgeliefert, steht das eigentliche ruinöse Gefälle der Welt, die Höllenrichtung Nord-Süd, ganz offen und wie eine schwärende stinkende Wunde bald allen vor Augen. Denn die Revolutionen und Revolten im Osten haben nur ein Tabula rasa geschaffen, das Alte hinweggefegt, ohne einen Ersatz dafür zu haben; und es ist leider nicht nur ein schlimmer Übergangszustand bis zum Aufbau, bis zur Restauration des Kapitalismus; in vielen, vor allem asiatischen Ländern, gibt's nichts zu restaurieren, weil die gesamte westliche Zivilisation zuerst importiert werden müßte. Es ist völlig unmöglich, sogar für die Ex-DDR, von Rumänien oder Rußland ganz zu schweigen, daß da jetzt plötzlich "Marktwirtschaft" und damit westlicher Wohlstand, sogar sozial abgesichert, sofort einkehrt. Dabei ist der Verelendungsprozeß erst am Anfang, diese schöne "Freiheit", die nichts als Ungeschützheit und Ellenbogentechnik bedeutet, wo die Schwachen und die Minderheiten an den Rand gedrängt werden: Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Arbeitnehmer generell, Rentner, Schüler, Studenten sind davon betroffen. Geschütze Mieten, subventionierte Lebensmittelpreise fallen fort. Das erste, was die Währungsreformer in der DDR taten, war ihre Abschaffung. Die Mietpreise klettern ins Ungemessene. (Dabei darf man das "sozialste" Kapitalwesen der alten BRD nicht als Maßstab für den allgemeinen Zustand des Westens nehmen. Neue Statistiken zeigen welch Wild- West- Zustände z.B. in den USA herrschen.) Wird die alte DDR, wo ja das brd-eigne Sozialwesen eingeführt wird, das trotzdem schlechter ist, als das bisherige, noch lange Zeit eine Art Sizilien Deutschlands bleiben? Mit kleineren Filialen und "Tochtergesellschaften"; das Kapital hat den Standort im Westen, wie im "industriellen Dreieck" (Mailand- Turin) in Italien; und auch eine Spritze von Hunderten Milliarden DM hat wenig bewirkt; Rußland, Rumänien oder Turkmenien haben aber kein West-Rußland, West-Rumänien, West-Turkmenien, und da ist die "Marktwirtschaft" eine Fata Morgana eher zur Sozialberuhigung, ein Beschiß wie die gescheiterte rote Zukunftsutopie, genau so betrügerisch und illusionär, aber ohne deren, zumindest eingebildeten ethischen Wert, der sich nun freilich als Machtinstrument und Ideologie erwies, der auch noch jede Art von U-Topie diskriminiert hat, ein schlimmes Verbrechen, da diese U- Topie gerade heute so nötig wäre! Denn: Die wahnsinnigsten Konflikte stehen diesem Eurasien noch bevor, falls eine wenigstens notdürftige Sanierung, um Überleben zu garantieren, nicht gelingt, Bürgerkriege, Aufstände, Diktaturen (von rechts) wären die Folge. Und ein vernünftiges, gar soziales System wird kaum machbar sein, denn das Kapital gehorcht nur seiner eigenen Logik, und die ist die des Profits und nicht die Logik humanitärer Bedürfnisse, die zu befriedigen wären. Der italienische "Mezzogiorno" ist dafür ein Beispiel, nicht einmal in einem so kleinen Land wie Italien und mit EG-Hilfe konnte der Süden saniert werden. Die Mafia herrschte dort ungebrochen. Und solche Mafia-Strukturen und die Wirtschaftsunterwelt boomen nun auch im Osten, freilich auch als West-Import, sowie frühkapitalistische Zustände. Und was solche Produktion auf niedrigstem Niveau bedeutet, zeigt sich in Polen, Ungarn, Rumänien, einige Gewitzte und Skrupellose, vor allem aus der alten Nomenklatura, werden rapide reich, der Rest verarmt genau so schnell und wird deklassiert, schlimmer deklassiert noch als zu Diktaturzeiten, wo diese Proletarisierung, etwa von Ceausescu, bewußt eingesetzt wurde. Dreißig Prozent der Ostbevölkerung lebt an der Armutsgrenze, der Ex-Sowjetunion steht wieder ein Hungerwinter bevor. Und hoffentlich wird China nicht von der "Öffnung" heimgesucht mit seiner Milliarde Menschen, die dem neuen Chaos ausgeliefert wären.

 

Hier aber hilft nur noch eine Art schwarzer Science Fiktion weiter, die auch weiß gedacht werden kann, geht man von der Voraussetzung aus, daß all diese Öffnungen unvermeidlich waren, weiter unvermeidlich sind, ja, ein Versäumnis aufholen müssen, daß die Aufstände im Osten verspätete Zeichen der Zeit waren, weil die Erdbevölkerung inzwischen tatsächlich eine globale Kommunikationsgemeinschaft und total vernetzt ist; staatliche und regionale Abschottung mit Gewalt zum Scheitern verurteilt sein muß. Dabei beginnt nun in diesem östlichen Tabula-rasa-Gebiet ein furchtbarer rückläufiger Prozeß, die durch das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg aufgehaltene Zeit und Geschichte beginnt zu fließen, die Kühltruhe der Konflikte und Probleme taut, alte ja uralte eingefrorene Grenzkonflikte und damit verbundener historischer Haß führt zum Bürgerkrieg wie im Ex- Jugoslawien, bürgerkriegsähnlichen Zuständen wie in Armenien oder in Siebenbürgen. Das geht zurück bis zur Konfessionsgrenze Rom-Byzanz etwa bei Serben und Kroaten oder bei Rumänen und Ungarn, Mitteleuropa und Türkenreich.

 

 

 

 

IV

DIE NEUE FREMDE 2. EINE ÖSTLICHE METROPOLE: CHAOS UND GEFAHR IN INEM POSTKOMUNISTISCHEN LAND.

 

Zuggespräche auf der Fahrt nach Bukarest. Ein junger Informatiker liest "Turbo Pascal". Der junge Schaffner setzt sich zu mir. Er meint, viele trauerten der Ceausescu-Zeit nach, als noch alles solide und sicher war. Er würde gerne zur Schwarzarbeit in den Westen kommen, jede Dreckarbeit annehmen. Ein Auto kaufen.

Dann spreche ich mit einem Theologiestudenten. Theologie, ja, werde jetzt hier sehr gebraucht. Die Seelen seien hungrig, sagte er. Doch sicherheitshalber studiert er auch Philosophie und Medizin. Zwei junge Mädchen, die aus dem Fogarascher Gebirge kommen, sitzen mir gegenüber. Sie sind neugierig, ich muß von mir, von Deutschland, von Italien erzählen. Sie wollen alles ganz genau wissen. Ob sie dort Arbeit finden würden, interessiert sie am meisten. Sie haben alle Angst vor der Arbeitslosigkeit... Dies alles erinnert mich an Gespräche mit jungen Leuten in Sizilien und Kalabrien.

 

Überall die Erinnerungen in dieser Stadt, wo ich früher einmal gelebt hatte - 17 Jahre. Auf dem Weg zum Pressehaus erinnerte ich mich an meine letzte Fahrt, hier vorbei zum Flughafen Baneasa. Hier fuhr auch der Hingerichtete von seiner Nobelresidenz mit seinem Autopulk vorbei. Blicke können töten. Die armen Dörfer störten ihn. Die Dörfer wurden ausgelöscht, dem Erdboden gleichgemacht.

Doch eine recht merkwürdige Empfindung, als wäre alles, was ich sah, längst vergangen, passte zu jenem Zeit-Trauma, das mich andauernd verfolgte, es war in die Realität gekommen, und diese schien ein Museum zu sein: Ich saß im Auto, war eben am Flughafen vorbeigekommen, aber schon war ich längst weitergefahren, obwohl ich noch immer an meinen Flughafenerinnerungen hing: der unvergeßliche Abflug "für immer", jene Erregung, wenn man zum erstenmal dieses Ostgefängnis verlassen durfte. Aber schon war das Auto "real" und "jetzt" an den Seen. Und - rechts der leere Lenin-Sockel vor dem Pressehaus. Der arme Lenin, der Statuenlenin mit dem Drahtseil um den Hals. Und alles mehr noch als längstvergangen. Zustandsgrenzen trennen mich von früher. Und der alte Zustand kaum noch erinnerbar. Welchen Denk-Zustand etwa hatte der von mir verehrte Walter Benjamin in den dreißiger Jahren gehabt: ich erinnerte mich an seine "Städtebilder." "Moskau" der zwanziger Jahre. "Wendepunkt des historischen Geschehens...das Faktum `Sowjet-Rußland`, dessen "Wahrheit innerlich mit der Wahrheit" "konvergiere", Zeugenschaft, nicht gegenüber dem Zeitgenossen, sondern gegenüber dem zukünftigen Zeitgeschehen sei, schrieb er damals. Und jetzt? Die "innere Wahrheit" scheint es so nie gegeben zu haben, und das künftige Zeitgeschehen? Welch ein Betrug und Selbstbetrug von Generationen, wie viele Denkende sind da in diese Falle gegangen?! Oder war dieses "notwendig", war es mit eine Lokomotive der Apokalypse? Kann das ein Trost sein?

Woher kommt dieses neue, ganz und gar nicht glückliche, fast zynische Bewußtsein. Diese leere Zukunft, und die Vergangenheit, die Erinnerungen werden davon angeschlagen, entwertet. Kann das gut gehn?

 

Bei der Ankunft in Bukarest fand ich in keinem Hotel ein Zimmer, alles war voller Ausländer, Wirtschaftsleute vor allem. Ich erinnere mich: Beim Flug von Frankfurt nach Bukarest gab es eine ganze Wirtschaftsfachschule an Bord, die in Rumänien Erfahrungen sammeln wollte. Nur in einem elenden Bahnhofshotel komme ich unter. Ich fahre erst 22 Uhr ins Zentrum zum Restaurant "Dunárea", das ich von früher kenne. Vor dem Lokal drängen sich die Huren und ihre Loddels, ebenso vor dem "Intercontinental". Die Geduld reißt mir nach einer halben Stunde Warten und ich gehe auf die Straße. Kaufe Bananen und Kekse. Trinke eine Coca-Cola, sie ist hier abgefüllt, sie hat einen seltsamen Geschmack. Alle trinken dieses Prestige-Gesöff. Ich gehe dann in die Bar "Melody". Fast nur Ausländer an den Tischen. Ein Clown produziert sich. Eine Revue nackter Frauenärsche. Ein fünffacher Wodka wird mir auf den Tisch gestellt.

 

Dann rief ich Ioana an. Die Nacht waren wir zusammen gewesen. Ioana hatte in ihrer kleinen Wohnung groß gekocht. Dann der Wunsch nach Vögeln. Ioana legte sich nackt aufs Bett, in halber Seitenlage, ein Bein unter dem Bauch angezogenen, daß ich ihr großes schwarzes Gewächs und den rosigen Spalt von hinten sehen konnte; sie rief mich mit diesem mir wohlbekannten Flüstern zu sich; ich wußte sofort, wie sie es haben wollte, und ich legte meinen Kopf in ihre geöffneten Schenkel, als wäre ich eben wieder geboren worden...Zwei Körper nebeneinander, weiß, du noch...schwer, atmend, nach der unendlichen weichen Verschmelzung der Zellen, der Atome liegen sie da getrennt, große Körper fremd, wieder hier. Und Stimmen, als hörte ich sie, weiß die große Sphärenkugel, die Ungeborenen, die uns zum Leben drängen; ich dachte so dumm weise, ich sei darüber hinaus. Dein Leib in Seitenlage gekrümmt neben mir, und wie ein Schrei, eben aus dem, was geschehen ist, die Erinnerung, alles so langsam, als wäre die Seele fast ohne Berührung gleitend eingedrungen in den Leib, in deine, in meine Wunde, die du an dir trägst, und irgendwo auch dein großes weißes Gestirn; doch die Nacht ist nicht allein, die Härte ist immer da, das was ist, und ich höre dein verschrecktes Flüstern, sorg dich um mich, du wirst mir eine Tochter machen, schütz mich. Es rückt ein, drückt herein, und ich höre jenen offiziellen Streit, als gehöre er Niemandem, ein Rahmen, draußen, und gehört doch zu uns. Leere im Kopf jetzt, der schwarze Hintergrund, nicht weiß, nein. Was stand da, es steht hier, das weiße Laken sehe ich, dich, alles immer unterbrochen, dein Lachen, nebeneinander, nachher, lichtjahrweit wie immer, und suchten sie zu überwinden, redend ineinanderfallend, ein Versuch, stundenlang auf dem weißen Linnen, du seist Leinenspezialistin, sagtest du, Lachen, umgrenzt von unserer Erschöpfung, und erzähltest von einem, der während des Brandes der Bibliothek von Alexandria sein zu reiches Bettlaken verkauft hatte, da er nicht schlafen konnte bei dem Gedanken, daß andere keines haben und hungern, von den Mönchen im orthodoxen Kloster hattest du die Geschichte erfahren, und so in der Seitenlage, an meiner nackten Haut, erzähltest du von diesem Erzähler, Sanct Johannes, was ich beschreiben kann, und vom Prinzip der Vision, das allein gilt, ein genaues inneres Bild, da wir von einem geträumt werden, wir uns darin träumen, du mich, ich dich, und hatte ich dich nicht so kennengelernt, mich zögernd dir in der Cafetaria genähert und unvermittelt und heftig gesagt: Du bist meine Projektion. So hatte alles angefangen. Der alte Serapion aber, der aus Alexandria, während die Bibliothek brannte, sitzt immer noch am Weg, der nirgendhin führt, und gibt seinen Mantel einem Zerlumpten, dann sein Kleid einem Frierenden, der erbärmlich mit den Zähnen klappert, nackt sitzt er da und liest, vielleicht genau diesen Spruch aus Korinther 13, den du an die weiße Wand pinnst, dann liest er dies: "Geh hin und verkaufe alles," - wischt das, was sonst nicht sein kann, aus dem Buch, das ihn so beraubte, sich durch ihn selbst vernichtet, das Lesen, Tun, was es wollte, verkaufte es, stand mit leeren Händen da. Und nackt. Es gibt diese Schrift weiß auf weiß und schwarz auf weiß.

 

Das Unterbrochene geht weiter, nur das Unterbrochene ist lebensfähig, hier. Wir müßten unser bisheriges Leben unterbrechen, es kann so nicht weitergehen. Alle Phasen und Möglichkeiten des Unterbrechens haben wir durchgemacht, und daher sind wir erschöpft. Wir haben alles unterbrochen, den Tag, die Nacht, und in der Mitte steht er, der die Natur unterbricht, weiß auf weiß, und dein Mund hätte es sein müssen. Nicht die Zeichen auf dem Leinen. Sag nie, dies häßliche Wort "Pflichtübung", hör ich dich. Wer nicht unterbricht, wird zum Sklaven, auch nur: der Natur, wer nicht unterbricht ist ein Tier, du lachst: des Vatikans. Wer nicht unterbricht, ist außerhalb der Welt, in seinem Traum gefangen. Wahnsinnig. Man muß wissen können, daß man träumt, daß dich die taghelle Halluzination ergriffen hat. So laß sie, die Leute uns doch unterbrechen, laß sie uns stören, ich will gestört, ich will ans Licht gebracht, hart auf die Erde fallen! So lebe ich, sagst du. Wir sollten den Tag beginnen!

 

Ich hatte Angst vor Aids, aber hier schützt sich keiner und es wird wild durcheinandergeliebt. Doch die Angst half mir nichts, verging: für einen Augenblick vergaß ich alles, denn nicht nur Ioana, viele Frauen hier haben eine raffinierte Sinnlichkeit und Naivität, der man sich nicht entziehen kann, du gehst aufs Ganze, nur dieser Augenblick zählt, sonst nichts, läßt ihn, der nie mehr wieder kommt, nicht ungenützt vergehen, ich hatte im Ausland vergessen, daß es solch eine Wildheit und Zärtlichkeit überhaupt noch gibt. Sie aber nervös wie immer, nach dem Orgasmus unruhig im Raum wie immer, hatte sie den riesigen Himmel erwartet und dann kam nichts als der Absturz.

 

23. März. Ioana, die Fernsehfrau hatte mich zu einer Aufnahme eingeladen, zu einem Gespräch. Nun war ich also selbst beim Fernsehen in Bukarest zu Gast.

Oben in der Redaktion im zehnten Stock Sicht wie aus einem Glaskäfig, nach allen Seiten Bukarest, Fernsicht, unheimlich, glasklar, rauchig.

- Das ist die Smogwolke, sagte einer.

- Bleiben Sie doch bei uns, spottete eine junge Redakteurin. Sie brachten mir Kaffee, bedienten mich, ich wurde verlegen.

- Wissen Sie denn nicht, daß Sie jetzt hier im Zentrum der Welt sind? sagte die resolute Sprecherin, deren Gesicht im Land jeder kennt.

- Ja, sagte ich, es heißt, daß in diesem Gebäude, und ihr wart dabei, ein Experiment stattgefunden hatte: Die Telerevolution.

- Die Revolution war wie ein Wunder, Wunder aber dauern nur einen einzigen Augenblick, sagte Maria, die junge Sprecherin, leiser als bisher: Aber sie hat wirklich stattgefunden, das scheint ihr im Westen nicht mehr glauben zu wollen, und das finde ich infam. Der Ton der Sprecherin wird scharf: Es war doch nicht alles nur vom Fernsehen geschnitten oder gar "getrickst", dies war kein politisches Mickimousspiel, da sind Menschen gestorben... ein Freund lag schwerverwundet im Spital, er wird nie mehr sehen können. Und die Toten, sollen die jetzt noch einmal sterben, ihr und Iliescus "Front" wollt, daß es die Toten nicht geben soll!

Ioanas Kopf taucht plötzlich in der Tür auf:

- Ich wollte nicht stören.

- Kennst du Enzo Biagi?

- Freilich, er war ja hier bei uns; er hat ein asketisches, graues angestrengtes Gesicht, der Mann der Wahrheit aus Italien.

- Ich schätze ihn, da er andauernd, auch im Süden unheimliche Machenschaften aufdeckt. Weißt du, was Biagi im RAI, dem italienischen Fernsehen, nach seinem Besuch hier in Bukarest gesagt hat?: Die Wahrheit liegt immer nur hinter dem Fernsehbild.

- Ich weiß, ich weiß, und du willst durch die Mattscheibe durch... Wollt ihr das Gespräch sehn, wir haben eine Kopie?

Wir sahen uns die Kopie an...

- Wir waren alle hier mit dabei, sagte Ioana, als das passierte, sagt es in den Film hinein: Vom ersten Stock hörte man vereinzelte Schüsse; Ceausescu war noch im Gebäude...doch nach einer Weile, als wir auf den Balkon vor die Menschenmenge traten, der Platz war voll, so weit das Auge reichte, hörten wir sie rufen: Olé, olé, Ceausescu numai e. Vom Dach des ZK war ein Militärhubschrauber abgehoben, der Diktator floh...

Im Film war der Major Malutan zu sehen, er erzählt, dann ein Bild vom Palastplatz, der Hubschrauber, von dem Malutan berichtet: am Himmel, er fliegt wie in seinem eben gesagten Satz ab... Parallelen. Aus den Worten steigen die Filmbilder, Malutans Worte, sein Gesicht, das graue Gesicht von Biagi, scharfe Brillen sehn Malutan an. Und ich sehe den Film... Causescus Abflug.

- Es folgten Augenblicke höchster Erschütterung, sagte Maria, dieser Abflug war vielleicht der wichtigste Augenblick meines bisherigen Lebens, ich hörte die Zeit summen, ein Traum war Wirklichkeit geworden. Ceausescu geflohen. Wir im Innern, im Zentrum der Macht. Ich habe noch einen Film hier, den wir gedreht haben, leider war kein Team dabei als das ZK gestürmt wurde, so mußten wir uns mit Augenzeugen und Schwenks, Einblendungen und Musik begnügen. Aber wir haben eine sehr wichtige, gute Zeugenaussage, die von Dr. Tánásescu, dem Sportarzt von "Rapid". Doch eine Aufnahme gibt es schon, die vom ersten Balkonredner. Hier seht ihr ihn: (Der Techniker legte die Rolle ein.)

- Der erste, der vom Balkon, wo sonst nur der Diktator sprechen durfte, zu der Menge redete, war Dan Iosif, sagte Stefan, der Regisseur, Iosif war die Seele des Aufruhrs.

- Wie man leider jetzt hört, war Iosif Securitateoberst.

- Das stimmt.

- Aber die Herrn Genossen von der rumänischen "Firma" sollen bei der Revolution doch kräftig mitgemischt haben!

- Es gibt diese Version, sagte Stefan, der Schweigsame, daß gleichzeitig ein Putsch stattgefunden haben soll. Viele Fragen bleiben offen. War es ein Staatsstreich? War der Diktator völlig alleingelassen? Weshalb ist er allein mit Frau im Hubschrauber abgeflogen, aus Angst oder weil er das Land verlassen wollte?

Es gibt einen "Augenzeugenbericht" über die Flucht des Diktatorenpaares, sagte Stefan: Petrisor, ein Arbeiter aus Tìrgoviste gab der Presse zu Protokoll, Securitateleute seien plötzlich vor ihm aufgetaucht, hätten Benzin verlangt, dann Petrisor gezwungen, sich ans Steuer seines Wagens zu setzen. Das Paar hatte angeblich Pistolen in den Händen, stieg in seinen schwarzen Dacia 1301 TX. Und er erzählt dann ausführlich wie die beiden in Tirgoviste herumirrten, wie sie verhaftet wurden.

 

Kann man diesen Geschichten trauen?

So kamen wir also wieder zu dieser leidigen Frage, zum Erzähler als Augenzeugen. Und seine Glaubwürdigkeit..

- Der AUGENZEUGE bei Dürrenmatt, sagte ich, da findet man die beste Verhöhnung des Augenzeugen. Daß alle etwas anders sehn, weiß man ja von Prozessen. Daß manche in Gefahrenlagen halluzinieren auch. Wißt ihr, was mir in Kronstadt ein alter Bekannter, der dortige Stadtpfarrer über seinen Küster erzählt hat: Der habe mit "eigenen Augen gesehen," - so behauptete er: wie Terroristen aus dem Turm der Schwarzen Kirche geschossen hätten, und wie auch Tauben verletzt wurden. Die tote Taube wollte er mir zeigen, doch sie war verschwunden. Wir suchten dann oben auf dem Turm gemeinsam mit Soldaten vergebens nach den Terroristen.

Auch jetzt hat Dürrenmatt in einem neuen Buch eine absurde Wahrheit beschrieben, sagte ich: ein zu 20 Jahren wegen Mordes Verurteilter, den er vor aller Augen in einem Zürcher Restaurant am hellen Tag begangen hat, beauftragt einen Rechtsanwalt, eine Hypothese zu erarbeiten und zu beweisen, daß er unschuldig, ein anderer schuldig sei. Das soll und könnte gelingen, weil die Welt absurd ist. Denn Wahrheit scheint ja inzwischen ein unbrauchbarer Begriff zu sein, wie alle Begriffe unbrauchbar sind. In seinem Werk "Sterben der Pythia"... und das könnte hierher zur jetztigen Schuld nach der Revolution am besten passen, setzt Ödipus die Ermittlung, wer an der Pest schuld sei, selbst in Gang. Und es wird am Ende der Ermittlung klar, daß er es nur nicht gewußt hat: er selber ist der Schuldige, er hat, ohne eine Ahnung davon zu haben, die schlimmsten Verbrechen begangen, den Vater getötet, die Mutter geheiratet. Doch war das Schuld, oder das "Leben" selbst, das wir hier geführt haben? Und schon bei dem transparenten Planspiel wird klar, daß je mehr der Verstand da bewegt wird, umso dunkler wird die Geschichte, bis der Erzähler schließlich selbst mit reingezogen wird, ja, die Suche wird zur Mitschuld, gehört zum gleichen Anspruch des Besserwissens, wie die Nötigung vorher, nämlich Gesetze aufzuzwingen, die Liebe und Tod erzwingen, Macht als höchstes Gut... Wer wirft den ersten Stein, wer hat Recht zu richten? Nur wer sich selber richtet, die eigene Schuld aufdeckt. Und der blinde Seher sieht das ein, daß er das Gegenteil von dem, was er wollte, erreicht hat.

- Nun gut, alle halluzinierten, und halluzinieren weiter, sagte Stefan nach einem Augenblick des Nachdenkens und der Verstörung über meine Abschweifung, aber man muß sich vorzustellen versuchen in welcher absurden Welt der Paranoia und der Überwachung jene in den oberen Rängen des Terrorstaates lebten. Die primitive Psyche des Diktators, der sich einschloß und Kojakfilme sah ...

Form ohne jede Substanz; eine falsche Harmonie auf allen Gebieten, er, der halbe Analphabet ist der Größte, seine Frau, die Analphabetin ist Dr. Ing. und Akademiemitglied. Eine falsche Welt des Wahnsinns ...

Eine Zeitlang glaubte alle Welt an die Öffnung durch den Aufstand, sagte Stefan, eine Öffnung, die die totalitäre Welt des geschlossenen Irrsinns, der Paranoia, weggefegt hat. Doch sie war ja nicht außen, sondern innen in all den Leuten, der Masse, der Nomenklatura, den Polizisten, den Leuten der Geheimpolizei, den Beamten usw.

Der Druck hatte sich angestaut. Ich kann es heute auch nicht begreifen, daß alles nur ein großer Moment gewesen sein soll, und Betrug im Hintergrund: sagte Stefan, der Moderator und Regisseur, der die ganze Zeit im Studio 4, der Revolutionszentrale, mit dabei gewesen war: Um die gleiche Zeit, etwa 11,50 am 22. Dezember war der Schauspieler Ion Caramitru im Fernsehgebäude: Oben erwartete ihn das gesamte Fernsehteam, es war von der Menge verständigt worden. Alle zitterten vor Aufregung und Begeisterung. Ich weiß nicht mehr genau, wer meine Weggenossen waren, doch auf einmal stand Mircea Dinescu neben mir, er war auf einem Tank aus seinem Hausarrest hierher gefahren worden, ebenso der Regisseur Sergiu Nicolaescu. Ein Vertreter der Armee stand mit uns da vor der Kamera. Wir waren verwirrt, nicht ganz bei uns vor Erregung und Freude, konnten gemeinsam alles aus uns herausschreien, was uns auf der Seele lag. Mircea gestikulierte wild in die Kamera, legte die Hände auf die Brust, aufs Herz, besser: auf seinen schwarzen, gestreiften Pullover, irgendwie sah er bizarr wie eine Renaissancefigur aus, und rief: Das Land ist frei, der Diktator ist geflohen, Gott hat unserem Land wieder sein Gesicht zugekehrt, oder so ähnlich. Und ich dachte, bisher wars wohl der Hintern, anus mundi. - Dann verkomplizierten sich die Dinge: als wären Zeit und Raum zu einem einheitlichen Ganzen geworden, die Zeit war ausgelöscht, sie versuchte neu zu fließen, blieb aber immer wieder ruckartig stehen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, verschiedene Persönlichkeiten tauchten auf, alles war wie im Nebel; erst allmählich begannen sich die Dinge für mich zu klären. So kann ich mich erinnern, daß auch Vertreter der alten Garde versuchten, ihren Standpunkt zu erläutern, sie kamen und gingen auch gleich. Unter ihnen der grauhaarige Corneliu Mànescu, ehemaliger Außenminister, der auch aus dem Hausarrest gekommen war. Und er hielt eine traurige Rede, in der er sich selbst und seine Genossen beschuldigte, ihr ganzes Leben als verfehlt darstellte. Es schien so, als ob er, jedenfalls für diesen Augenblick, die Macht übernähme.

- Der Eindruck täuscht, sagte Maria, ich weiß, daß Petre Roman auf dem Revolutionsplatz die Gründung der Front bekanntgegeben und als Präsidenten Corneliu Mánescu genannt hatte. Es gab ja an jenem Tag eine Menge Fernsehrevolutionäre, die haben sich eine Armbinde umgebunden, die Revolutionsarmbinde, auch solche waren damals dabei, die eben eine Geburtstagssendung für Ceausescu vorbereiteten, so kamen sie auch ins Studio 4, es kamen auch andere, die rein zufällig da waren. Und es ist einer Reihe von solchen Fernsehrevolutionären gelungen, hohe Ämter zu ergattern. Wichtig war allein, daß der General Andrei Chitac neben uns stand und die Truppen aus diesem Studio dazu aufrief, die Revolution zu unterstützen. Sonst gab es ein totales Chaos, alle redeten durcheinander, stammelten etwas vom großen Augenblick und von Freiheit ... Brüder, Brüder... Erst als Iliescu kam, der auftreten konnte, auch im Studio 4., war Autorität spürbar. Und er verlangte sofort bei seiner Ankunft vom wachthabenden Offizier ein bestimmtes Büro, das des Generaldirektors Petre Constantin und rief eine Geheimnummer von einem bestimmten Telefon an. Es waren zwei Anrufe, der eine mit General Stánculescu, der Adressat des zweiten ist bis heute nicht bekannt. In den Augen der Militärs stieg so die Achtung vor Iliescu und der neuen Revolutionsregierung enorm. Er war sofort uneingeschränkt der Chef.

 

War dies der Augenblick der Umkehr? Wer hatte dieses gesagt? - Nicht nur Abschiedsfähigkeit, sondern auch Reife ist gefragt, also ein Aufhellen durch den Schock, daß plötzlichen nun alles anders war. Denn es war ja alles anders gewesen: Am 22. Dezember auf dem Platz der Republik in Bukarest wurde die provisorische Regierung durch Zuruf aus der Menge zusammengestellt. So kamen die beliebten Poeten Ana Blandiana und Mircea Dinescu, dann Pastor Tökes oder Doina Cornea zur "Front." Es war ein Augenblick wie 1789, die Öffnung, Wiederherstellung einer Öffentlichkeit, mauerlos, gemeinsamer offener Augenblick wie ein unsichtbarer ORT, wo Leben und Politik zusammenfielen, ja Lebenszeit und allgemeine Zeit eins waren; die verheerende Trennung gab es nicht mehr.

- Wie ein Zauber, dem wir kaum gewachsen waren, sagte Stefan, der zum Analysieren neigt: Man spricht jetzt gern von einer Tele-Revolution, aber sogar die Hauptakteure haben doch diese Revolution zum Teil vor dem Fernseher erlebt. So Andrei Plesu, der auf Mircea Dinescus Vorschlag Kulturministers geworden ist; der saß die ganze Zeit zu Hause vor dem Bildschirm.

Das tat mir gut, dem Adabei, der in jener Zeit vom italienischen Berg aus, freilich live, denn RAI 3 hatte über Satellit den ganzen Tag Studio 4 im Programm, die Revolution verfolgt hatte, fast tröstlich als ich von Stefan hörte: Mir hat Plesu gesagt, er habe sich von Anfang an in der Situation dessen gesehen, der mit einem Geschehnis konfrontiert wird, das er nicht verursacht hat, ich platzte von außen mitten hinein, hat er mir gesagt: nachdem ich ein bißchen davon durch das Fernsehen mitbekommen hatte. Ich verfügte über keine genauen Daten, infolgedessen war mein Hunger nach Information unersättlich... Der Fernseher schien in jener Situation die einzige Informationsquelle zu sein....Wir hatten ja auch unter Beobachtung gestanden... so blieben wir in meiner Wohnung im naiven Glauben, hier ein Versteck zu haben. Es ist natürlich die Frage, inwiefern wir durch das Fernsehen die Ereignisse richtig wahrgenommen haben. Ich weiß nicht, wie richtig das Bild war, das wir uns machten, doch ich kann mir nicht vorstellen, daß ich ein wahrheitsgetreueres Bild erhalten hätte, wenn ich mich irgendwo draußen aufgehalten hätte. Gewiß ich hätte die Ereignisse unmittelbarer erlebt als vor dem Fernseher, doch das Phänomen war von solcher Intensität, daß selbst die Medien glühten. Das Medium hatte also die Stilmerkmale einer Inszenierung abgelegt, die normalen Programmen anhaften... Ich bin genau dieser Auffassung, setzte Stefan hinzu: Weil man die Leute im Studio frei ein- und ausgehen und ihre Meldungen direkt durchgeben sah, entstand der Eindruck, hier werde unverarbeitete Information geboten. Mehr noch, es schien so, als wäre das Studio selbst Schauplatz der Ereignisse. Auf den Korridoren der Sendeanstalt wurde geschossen, das Team, das die Nachrichten sendete war in Panik. Man fühlte sich nicht als Fernsehzuschauer. Das war kein Programm, sondern eine Direktübertragung. So sah es aus. Und es war nicht mehr das Fernsehen im üblichen Sinn, das Medium wirkte nicht als Medium, schien reine Unmittelbarkeit. Und ich muß schon sagen, als Fernsehmann, der dabei gewesen war, konnte ich nichts von einem Betrug entdecken. Freilich, alles konnten wir auch nicht senden, sondern mußten selektieren!

 

Ich bin ja kein Journalist, und das scharfe Fragen nicht gewöhnt, auch hatte ich ein lähmendes Ortsbewußtsein, von dem ich mich nie befreien konnte. Und hier beim Fernsehen, nahe dem Studio 4, hatte ich nicht den Mut, allzu arg zu provozieren, als genierte ich mich, die Leute hier anzuklagen und auch von der Arbeit abzuhalten. So verabschiedete ich mich. Während ich durch das Gewirr der Gänge und Türen an den Studios vorbei ging, eine schlanke junge Mediascherin begleitet mich hinaus, sie hatte bisher kein Wort gesprochen, nach diesem Abschied erinnerte ich mich an die Beobachtung meines Freundes Andrei Ujicá, den Kommunikationswissenschaftler aus Mannheim, daß zum erstenmal in der Geschichte, ein Fernsehstudio, ein Nichtort par excellence, zum Ort des Geschehens geworden war, zum Schauplatz der Ereignisse. Unter normalen Umständen bleibe ja das Fernsehstudio unsichtbar, meint er, topographisch inexistent, ein leerer Ort, der mit dem, was zu senden ist, gefüllt werden müsse. Jetzt aber sei Kamera auf Kamera gerichtet gewesen wie bei der Enttarnung eines Kostümfilmes. Baracke, Ausstatter, Kamerateams werden sichtbar. Da denke ich an Fellinis Technik.

 

 

V

 

UND WIEDER "SPRICHT DAS BLUT". ERFAHRUNGEN MIT DER "KOCHENDEN VOLKSSEELE" AN DER HEIßEN GRENZE TRANSSYLVANIENS

 

Nach der Aufnahme stand ich am bewachten Tor; die Straße leer, kein Mensch; ich erinnerte mich das bei meinem ersten Besuch ganz anders gewesen war, damals 1990: Ein grotesk angezogener und stockhagelbesoffner Mann spielte damals den Clown, amüsierte und unterhielt die Wache, er schrie, zog sich nackt bis auf die Unterhose aus, und rief Parolen. "Es lebe unser toter Präsident Nicolaie, es lebe die glorreiche abgeschaffte kommunistische Party."

Nach einer Weile, der Mann rief immer noch seine komischen Parolen, hörte ich einen Demonstrationszug sich nähern. Es ist wie ein skandiertes fernes Rauschen; erst beim Näherkommen wird es erkennbar, man "versteht" etwas von dem Geschrieenen: Ardealul nu cedám! (Siebenbürgen geben wir nicht her !)

Sie gingen mit haßerfülltem Schreien an Ketten von Soldaten vorbei, die ganze Fernseh-Kaserne war allarmiert worden. Nicht jene rasante Zeit, jene sich verdichtende und enorm beschleunigte, die auch den Diktator gestürzt hatte, bestimmte das Geschehen jetzt. Es war etwas anderes. Sofort waren Kameras da, die filmten. Und die Masse wurde dramatischer, lauter, hysterischer. Denn jetzt wurden sie vom ganzen Land gesehen, nicht nur von ein paar Passanten, die sie wirklich sahen, die aber zählten überhaupt nicht. Nein, nicht in dieser neuen Zeit waren die Vorbeiziehenden, auch das Geschehen da auf der Straße war nicht in dieser Zeit. Es wirkte alles ganz alt und abgestanden, als wären dies lauter Phantome aus der Vergangenheit.

Als die Masse von Leuten vorbeizog, sprach ich mit einem jungen Polizisten. Er wies auf die schreienden Demonstranten und sagte: Zu Ceausescus Zeiten gab es mehr Disziplin und Ordnung, mehr Sicherheit. Jetzt kann jeder machen, was er will. Und die Angst? Er habe keine gehabt. Doch mit mir, dem Ausländer, habe er nicht sprechen dürfen. Nein. Auch nie ins Ausland fahren. Nein. Und auch frei wählen nicht. Nein. Ich überzeugte ihn schnell, daß seine Meinung falsch ist, sein Nein aber richtig war. Ich verabschiedete mich und hielt eine Taxe an; in der Taxe saßen zwei Frauen. Sie redeten haßerfüllt über die Ungarn, eine zitierte den Artikel eines bekannten Schriftstellers, der von "Hunnen" gesprochen hatte, die man aus dem Land jagen müsse! Ich erzählte ihnen von meinen ungarischen Freunden, meiner Kindheit mit ihnen. Ich habe acht ungarische Ammen gehabt, sagte ich. Sie waren gerührt. Sie ließen sich umstimmen. So war es überall. Die Leute waren nicht gewöhnt, eine eigene Meinung zu haben, und auch nicht, daß ihre Meinung zählt, mit zur Wirklichkeit gehört, Wirkung haben kann. Sie hatten bisher nur eine halluzinatorische Intimität der inneren Wahrheit gehabt, die nichts zählte, die sie verbergen mußten, ihre Wahrheit und ihre Meinung waren mehr ein Traum gewesen, der bisher nie Wirklichkeit werden konnte. Diese millionenfache verbotene Intimität ist dann freilich in der Revolution explodiert. Und heute, heute scheint es ja nicht anders zu sein; kaum, daß sich so etwas wie eine demokratische Öffentlichkeit gebildet hätte, nur wilde Schimpferein und Injurien, haßerfüllte Reaktionen, Geschwafel, und vor allem links- und noch viel mehr rechtsextreme Parteien und Gruppierungen gedeihen, Faschisten und Legionäre, die Mischung rot und braun ergibt einen ekelhaften Absud der beiden sumpfigen Vergangenheiten des Totalitären mit der feuchten Stelle "Rumänentum" - die chauvinistische Krankheit unreifer Völker.

Meine Gespräche nach der Aufnahme im Fernsehstudio, vor allem aber die Erlebnisse auf der Straße ließen mich nicht mehr los; in der Strada Popa Savu, sie liegt in der Nähe des Fernsehens, eine Seitenstraße der Aviatorilor, ging es weiter, denn meine Freunde, bei denen ich wohnte, waren natürlich neugierig, und ich mußte erzählen, was ich beim Fernsehen erlebt hatte, und wie die Sendung gewesen war.

Fernsehen also, klar, will den Stillstand, aufbewahren, im Ewigen auftauchen, "nunc stans", Magie und Mystik, da hast du schon recht, sagten sie. Und es ist ein soziales Machtmittel. Nur der zählt, der dort auftritt, gesehen wird, von möglichst vielen. Auch hier bei uns.

Ich erinnere mich, als ich 1990 kurz nach dem Aufstand hier gewesen war, immer wieder kommen die Erinnerungen aus jenen Tagen, sie scheinen intensiver, frischer zu sein, als die "abgestandene" Gegenwart ihrer heutigen Zurücknahme, fast wie ein ontologisches Modell, zum Abendessen kam damals im März 90 ein ZDF-Mensch mit seiner schönen Freundin, Tänzerin, glaub ich. Er erzählte, er sei da, um einen Film über die blutigen Ereignisse in Siebenbürgen zu drehen. Er habe auch schon den Titel: Viel Haß und wenig Hoffnung. Ob ich ihm keine Tips geben könne, wo "Material" zu finden sei. Ich bekam einen Wutanfall, sagte noch schnell, daß die Wirklichkeit wohl dazu da sei, um Sklave des Fernsehen zu sein! und war schon an der Tür, um "Wein an der Ecke im Restaurant zu holen." Der Regisseur aber entgegnete schnell, kaltblütig und professionell abgebrüht: "Und was ist hier mit den Leichen von Temeswar geschehen? Ein Jahrhunderte-Medienskandal, nicht bei uns sind die letzten Schleier gefallen! Mußten nicht Szenarios von Geschehnissen bezeugt werden, die dann als erfunden erkannt wurden?"

Daß der Mann Recht hatte, kann leider niemand bezweifeln!

Ich ging an die Ecke zum nächsten Lokal, es war voll, ich zwängte mich zwischen den Tischen durch, winkte dem Kellner, verlangte drei Flaschen Wein, zeigte ihm ein paar Hunderter, mein Gott, damals waren es noch Hunderter, heute müssen es wohl Zehntausender sein. Er rückte mit 2 Flaschen ganz gutem Murfatlar heraus. 300 Lei. Wahnsinn, dachte ich damals: wie 300 DM. Dem Schwarzmarktkurs nach aber nicht mehr als 5 DM. 5 DM sind heute 5000 Lei. Schon die Zahlen und Relationen sind völlig absurd, in fünf Jahren die Preise um das Zehnfache gestiegen, der arme Leu, was ja Löwe heißt.

Kein Wunder, daß hier die Tele-Revolution, jene Umkehrung von Bild und Wirklichkeit stattgefunden hat. Hier blüht die Phantasie, weil die Realität sich entzieht. Für die Literatur eine Chance. Fürs Leben eine Katastrophe.

 

Damals hatte wir in Tg. Mures für einen Nacht und einen Tag unsere Reise unterbrochen, und unseren Kollegen Mihai Sin in seiner winzigen Wohnung besucht. Und nur ganz bescheiden sagte Mihai Sin, er schreibe übrigens in seinen Romanen gegen den Betrug der Glücksvorstellungen an: "Es gab diesen Überlebenskampf bisher. Es war grauenhaft, physisch und psychisch. Ich übertreibe nicht. Probleme mit der Ernährung, der Energie. Wärme, Licht. Die Familien zu ernähren, das nahm alle Zeit in Anspruch. Und dann psychisch dieser Druck, Tag für Tag, sich gegen den Terror zu wehren."

Er nahm Zigaretten und Kaffee, Fleischkonserven, Fisch, die ich ihm gab, mit gemischten Gefühlen, aber er mußte sie ja nehmen, das Essen war rar, auch nach dem Umsturz, nur mit Worten konnte er sich gegen sein eignes Schamgefühl wehren, er sagte: "Du behandelst mich wie einen Papua."

Das Wort vom Biafra Europas ging früher hier um; den wirklichen, viel massiveren Genozid gab es lange vor dem Dezember 89; Elend, Hunger, Finsternis, Kälte, die drei F, "foame, frig si fricá" führten zur totalen Vernichtung der Person. Der Zwang zu Korruption, zur Lüge, zur Zweigleisigkeit des Denkens und Sprechens, der tägliche notwendige Gestus des "Organisierens", der Vetternwirtschaft, der "Beziehungen", um zu Überleben, war die "Lebensform", in der man alle moralischen Werte über Bord werfen mußte. Die Bedürfnisse waren nahe an Null, ein Stück Brot, zwei Scheiben Salami war das "Glück". Es könnte sogar sein, daß Rumänien so auf halbem Weg zur Demokratie stehen bleibt, tausendmal mehr als in der DDR, wo ja Konsumgier wirkt, nicht nackte Not, spricht hier der Bauch. Auch in Ostdeutschland funktionierte alles auf dem Weg des "Organisierens". Aber die Zersetzung und moralische Agonie ist in Rumänien viel tiefer und degradierender. Für ein Kilo Fleisch, ein chinesisches Turnhemd, ein Päckchen Malboro, das zum Zahlungsmittel geworden war, mußte die Unterwelt betreten werden. Wo Lüge, Betrug normal waren. Doch auch im Umgang mit Behörden, Direktoren, Polizei, sogar der Sicherheitspolizei galt Bestechung.

Am 21. März 90 waren wir in Tg. Mures gewesen: Ich habe die haßerfüllte Masse, die "kochende Volksseele" auf den Straßen von Tg. Mures, auf dem Platz vor dem Rathaus, von Fallschirmjägern, Panzern, Polizei in Schach gehalten, gesehen, gehört: in den hingeworfenen Fetzen aggressiver Rede wird ein schauriger Abgrund sichtbar, die Kehrseite der Revolution, Fratzen der Masse Mensch, die uns Angst machten. Und meine Zweifel am "Neuen" wuchsen. Der Diktator ist tot, doch sein "Erbe", ach nein, das Erbe der vier Jahrzehnte Hölle lebt in der Macht und in der Masse unsichtbar weiter.

In Tg. Mures, genau zur Zeit der Krawalle, als sich Ungarn und Rumänen gegenseitig umbrachten, mit Stöcken, Äxten, Sensen schlugen sie sich tot, wohnte ich mit Jann und der kleinen Schriftstellerin Carmen Francesca, die wir von Bukarest mit unserem Auto mitgenommen hatten, sie hatte einen Paß für den Westen, im "Continental", das Hotel war voll mit ausländischen Journalisten, Japanische, französische, belgische, irische Fernsehleute mit Ü- Wagen. Dabei gabs außer Gerüchten und den zwei Zusammenstößen wenig zu berichten, der Konflikt war schon beigelegt. Eine Schlichtungskommission hatte Erfolg gehabt; die Hoffnung in Transsylvanien einen neuen international interessanten Brandherd zu finden, hatte sich nicht bestätigt, eine Katastrophe für die Leute mit ihren Ü-Wägen. Da bedienten sie sich des Mundfunks. Das ZDF kam schon mit dem Titel "Viel Haß und wenig Hoffnung". Hier müßte Karl Kraus aus dem Purgatorium zur Gastkolumne kommen. Er wußte es schon: Schein ist mehr als Sein, beherrscht die Welt. Was in der Stadt wirklich geschehen war, konnte ich aus vielen Einzelerzählungen, die nur einen Teil der Wahrheit enthielten, wie ein Puzzles zusammensetzen. Diese Teilwahrheiten zum Teil auch noch verdreht, schrien mir die Demonstranten auf dem Rosenplatz ins Ohr, als sie entdeckten, daß ich Journalist bin. "Gehen Sie nach Bukarest und erzählen Sie dem Herrn Iliescu, was hier geschieht", rief mir eine Frau aufgeregt zu. Wir bekamen es mit der Angst zu tun, so eingekeilt, und wie uns mehrere immer näher auf den Leib rückten, als sie sahen, daß ich etwas aufschrieb. "Wollen sie wissen, was hier geschehen ist," fragten zwei Männer drohend! Wissen Sie nicht, was die Ungarn getan haben? Bei der Apotheke, der Apotheke, ist einer mit einer Dacia in unsere Leute reingefahren. Es gab acht Tote, viele Verletzte. Und eine Neunzehnjährige, die ins Krankenhaus eingeliefert worden war, haben sie nicht behandeln wollen, sie gleich in die Totenkammer gebracht. Dort hat sie sich vor Schreck nicht gerührt, weil sie fürchtete ermordet zu werden.

Greuelmärchen über Greuelmärchen. Ich kenne den ganzen "Film" er war anders. Es wird erfunden und alles total verdreht, Mundfunk. Und daraus entwickelt sich Mord und Totschlag.

 

24. März. Ob etwas wahr ist oder nur ein Gerücht, keiner kann es wissen. Und die Geheimpolizei streute und streut gezielt Gerüchte aus. Aber nicht nur sie, jeder erfindet, erzählt, setzt noch einiges drauf. Sie haben sich alle diese Geilheit auf Gerüchte erhalten, diese gewitzte Mündlichkeit, die im Zustand der uninformierten Gesellschaft, auch im Vorkriegsrumänien, aber dann in der stalinistischen Enklave oft lebenserhaltend war, das Kryptische in einen erträglichen Zusammenhang zu bringen. Anstatt einer nicht existierenden Öffentlichkeit gab es eine erfundene, es kursierten "brennende Neuigkeiten", um wenigstens so "informiert" zu sein, und man lebte doch nur in einem so geschaffenen sozialen Ersatzgeflecht der Phantasie. Ich erinnere mich an meine Unfähigkeit früher in diesem phantastischen Labyrinth der erfundenen Wirklichkeit mitzuhalten. Meine Freunde taten mich als "neamtule" als deutsches Schwerblut ab.

 

Gerüchte, Übertreibungen, - man kann keiner Nachricht trauen, die wichtigsten aber bleiben aus. Über die Zahl der Toten weiß niemand Bescheid. Beim Prozeß gegen den Diktator waren es 60 000 , dann hieß es, dies sei die Gesamtzahl der Ermordeten, die der Clan auf dem Gewissen habe, es seien nur 7000 Opfer der Revolution zu beklagen, und jetzt sind es plötzlich nur etwa 700. Alles scheint manipuliert. Die Wut der Bevölkerung sollte vielleicht während der Revolution gesteigert werden . Verantwortlich zeichnet die "Front" Iliescus, um durch solche gesteigerte Wertigkeit der Revolution dann als Retter des Vaterlandes umso höher in den Befreierhimmel zu klettern.

Im Tagebuch 1990 lese ich: DAS ZEITGERECHTE KOMMT NOCH ZU FRÜH. Der Bann brach zwar, die Jugend und die Armee Rumäniens hatte mit unvorstellbarem Mut den Panzern und Gewehren der Securitate getrotzt. Doch wohin jetzt mit der blutig erkämpften Freiheit? Innere Grenzen brechen auf, Traumata, Wut. Odorhei, Stadt in den siebenbürgischen Ostkarpaten; ein Mann lag auf dem Pflaster, das Gesicht blutüberströmt, ein Agent der Secu, gelyncht; ungarische Gruppen aus dem Nachbarland, verbrüdert mit Ungarn aus Transsylvanien hatten ihn erschlagen. Heiße Grenze Siebenbürgen. Heiße Grenze Moldau, Bessarabien. Aufgebrochen der Haß, die Rache auch in andern Städten. Rechtes chauvinistisches Potential. Das Volk war vom Scheintod erwacht, damit aber auch alles Verdeckte, scheinbar Vergessene. Risiken der Freiheit. Nationale Spannungen, aber auch bisher eingefrorene Landes-Eigenarten, alte Traditionen aus dem Unbewußten. Die Besten dieses Volkes haben die Revolution gemacht. Jetzt kommen die andern. Postrevolutionäre Irrationalisten, Irredentisten, Egoisten, Wendehälse, Profiteure. Die Hydra, die schon Ceausescu möglich gemacht hat, lebt! Bei den neuen Zeitungen, der neuen Lokalpresse gehen Ergebenheitsadressen an die "Front zur nationalen Erneuerung" haufenweise ein; nur der Adressat Ceausescu ist ausgetauscht, der Stil ist derselbe. Das Gerangel um Pöstchen und Sinekuren geht los, jetzt werden die Schleimer und Opportunisten aktiv. Der Levantinismus könnte die Revolution ersticken. Dagegen steht ein ungeheures Lern- und Informationsbedürfnis: Lange Schlangen nicht mehr vor Metzgerläden, sondern vor Zeitungskiosken. Echte Nachrichten nach 5o Jahren Lügen. Wie arm aber sind diese Blätter, wie Kinderzeitungen. Parteien wurden gegründet. Doch sie haben keine Erfahrungen, keine Schreibmaschinen, Fotokopiergeräte, kein Papier. Östliche und Westliche Parteien und Gewerkschaften müßten dringend Experten und lastwagenweise Material schicken! Fachleute von Solidarnosc sind in Bukarest. Es geht um Weichenstellung in einer Stunde Null, es geht um die Zukunft auch Europas hier, wo Europa tot war. Der Wahltermin ist verschoben, doch er kommt! Ohne Schule der Demokratie, ohne Institutionen. Vernichtet wurden die Parteien, die Öffentlichkeit, alle politischen, sozialen, wirtschaftliche Strukturen, außer den stalinistischen, außer denen des Militärs, es gibt nur KP-Kader und KP-Fachleute, doch das Volk der Revolution will sie nicht. Woher aber andere, demokratische nehmen? Studenten, Bauern, Intellektuelle demonstrieren wieder. Mircea Dinescu, Doina Cornea, Mitglieder der "Front," äußern sich besorgt über die KP-Lastigkeit, über das Medien- und Machtmonopol der "Front". Zwei gefährliche Gifte, levantinische und stalinistische, die die Seele des Volkes zerstörte, könnten sich vermischen und kombinieren. Die erste Wunde ist verbunden, wenn auch nicht geheilt, jetzt klafft die zweite.

Die eigentlichen Schuldigen sind also nicht nur jene, die heute auf den Anklagebänken sitzen, nicht nur der "Prinz" Nicu Ceausescu, der befahl: "Schießt ohne Anruf", sondern es sind auch die heute regierenden Verschwörer selbst, die sich als "Revolutionäre" aufspielten, nachdem sie vielleicht selbst zumindest einen Teil der "Terroristen" aus den eignen Beständen der mitputschenden Securitate abkommandiert hatten. Ein Wahnsinn, das Labyrinth dieses Machttheaters im Hinter- und Untergrund vielleicht niemals aufschlüsselbar, es wird sorgfältigst von der "Front" verdeckt. Nur Silviu Brucan, ihr ehemaliger Ideologe, mit allen Wassern gewaschen, packt langsam und vorsichtig aus, bereitet sein Terrain vor bis nach Krenz... Pardon Iliescu. Wir wissen: Ihr Staatsstreich sollte im Einvernehmen mit dem KGB Mitte Januar stattfinden, denn der Diktator war auch für den Großen Bruder nicht mehr tragbar. Warum aber verheimlicht diese Regierungspartei ihre Vorgeschichte? Warum gibt sie die Konspiration nicht zu, es wäre doch nichts Ehrenrühriges, im Gegenteil, es wäre eine patriotische Tat gewesen. Aber sie können nicht zugeben, daß "SIE" ein Revolutionstheater aufgezogen haben, während das Volk wirklich unter Todesgefahr auf die Barrikaden gegangen, Todesverachtung und Mut bewiesen hatte. Verschwörer also, und wenn die Indizien stimmen, sind sie Mitautoren des Genozids! Die blutige Revolution absurdes Theater? Die Revolution ein gigantischer Massenbetrug, Theater mit wirklichen Toten, um die Verschwörung, den rumänischen 20. Juli gelingen zu lassen? Das Absurde - daß die Revolution gleichzeitig lief wie ein Film, bewußt angeheizt, mit Panik versorgt, mit falschen Informationen. Als wären sie phantasievolle Autoren, die findigen Terrorspezialisten der Securitate. Die Verschwörer- "Revolutionäre", sie stellen heute den harten Kern der Regierung, kommandierten zumindest einen Teil der mordenden "Terroristen" aus den Beständen der mitputschenden Securitate gegen das Volk ab. Dada. Ein Gruselfilm, ein Wahnsinn, sollte diese Version stimmen, falls sie nicht wieder ein Truggebilde, eine PHANTASTISCHE ERZÄHLUNG ist: unter hilfreicher Mitwirkung der Westmedien. Zweifel an allem ist angebracht.

 

Bei Lucian Raicu, der viel während der Diktatur mitgemacht hat, er war dem Hungertod nah, lese ich: " Am Anfang des Schreibens steht der Schock, besser gesagt: Der Riß; nur die Risse im Ablauf des Gewohnten, erlauben es uns, das Leben wirklich wahrzunehmen; plötzlich ein Erstaunen, eine Überraschung, eine Erschütterung: also dies wars... so standen also die Dinge wirklich...; der Augenblick in dem wir feststellten, daß wir uns bisher getäuscht haben, ist entscheidend für das "Schreiben" Gides Einsicht: sowas geschieht nur in der Jugend."

 

Es ist wie bei einem Todesfall, oder einer heftigen Erfahrung in Gefahr jener Schock, oder wie die Erfahrung der Revolution, wie meine Freunde in Rumänien sagten: Erfahrung, die keiner vergessen kann.

Ich erinnere mich: Anfang 1991 hörte ich es wieder im Münchner Sender "Free Europe" von zwei Temeswarer Wissenschaftlern und einem Bukarester Studenten bei einem round-table-Gespräch mit Emil Hurezeanu. Und, um ehrlich zu sein, ihre neue Sicht auf die Dinge, die aus dem erlebten Geschehen kam, löste bei mir die Mutlosigkeit und die Krise aus. Ich wußte, daß sich seit den Wahlen, dann seit der Bergleute-Affaire dort alles verändert hatte. Aber es war mir noch nicht so klar gewesen, wie verheerend nun die Lage zu Hause ist. Dazu kam dann noch die Nachricht, daß der Verteidigungsminister Stánculescu in einem Interview mit Reuter verkündet hatte, daß die alte Securitate nun in den neuen Informationsdienst eingegliedert werde, nicht mehr ihm, sondern dem Innenminister unterstehe, zur "Verteidigung der Ordnung". Na also, da haben wir es. Adieu Archive, gespeicherte Daten, Spitzellisten. Welch Unterschied zur DDR, zu Ungarn, zu Polen. Jetzt wird wohl auch Toma, der gute Secu-Chef von Sighisoara wieder aktiv werden. Er hatte am 22. "den Schlüssel" dem Militärkommandanten Comsa übergeben, seither habe es in S. keine Securitate mehr gegeben. Und er sei in Rente.

25. März. Ein Russe, Ilya Prigogine, gibt mir neue Hoffnung. Nämlich, daß menschliche Gemeinschaft immer offen ist, und seine Nähe an Möglichkeit, einem andern "Plan" folgt, als dem, den wir ausdenken können. Daß Natur alles ist, was in der Zeit ist, aber daß sie nur durch uns die Augen aufschlägt, erkennt, daß und wie sie in der Zeit sein kann. Sie kann also durch uns erlöst werden, wenn wir sie nicht, wie bisher zwingen und "bezwingen wollen. Sogar ein Autor, seine Sprache spürt es, daß "Berührung" möglich ist, wenn wir sie in uns wirken lassen. Wie weit die schmerzliche Dauerbeschäftigung mit jenem total geschlossenen Angstsystem des Totalitären Prigogine dazu gebracht hat, das Offene als Gesetz zu entdecken, weiß niemand. Doch es liegt nahe, dieses anzunehmen.

 

*

Nein, es ist nicht die "Chronik der laufenden Ereignisse", die in einem Buch, das aus sich selber heraustritt, um wahr bleiben zu können, möglich wird. Es ist nach wie vor ein Buch, in das die Ereignisse eintreten, um "geschützt" zu werden vor dem, was mit ihnen geschieht beim Wegwerfen der Zeitungen. Und die zurechnende Phantasie, nein, sie ist immer noch nicht überholt, muß nur überholt werden durch Skepsis, zerschlagen und wieder zusammengesetzt durch die laufenden Ereignisse.

Fiktion des Realen also, nur das gilt noch? Spür- und siebenter Sinn dessen, was geschieht, "Tun, was geschieht", wie Musil die Demokratie definierte? Wie setzt du dieses ins Werk hier um, dichter?! Was erzählst du und wem willst du noch etwas erzählen?! Ausgehen von täglicher Zeitungslektüre, diese "verwandeln", wie es schon Johnsons "Jahrestage" versucht haben, die Tage des Toten? Wenn er uns besuchen könnte, aus jener hypothetischen weiteren Übersicht, ließe er uns jetzt und dieses Jetzt wissen, woran wir sind, es gebricht. Seine Realität als mein strapazierter, gestresster Gedanke, der gemeinsam mit diesem unfähigen Ich eingehn muß, um auferstehen zu können? Wenn er noch den Rollentausch mit der erfundenen Person im Buch vorschlägt: "Wer erzählt hier eigentlich, Gesine./ Wir beide. Das hörst Du doch, Johnson," vom rein Erfundenen nichts mehr hören will, so ist heute dieses im selbstgemachten Buch Verharren nicht mehr möglich, man muß heraustreten, die Seite, die Zeile weit öffnen, weil es heute ein Erzählen der Wirklichkeit selbst ist, denn nur sie kann mich noch erregen, damit auch den Leser, die mit Spürsinn erkannte, intuierte, vorausgeahnte Wirklichkeit, denn "Gegenwart" tatsächlich, wann war das noch? Wie hieß es doch gleich bei Einstein, der zum Tode eines Freundes schrieb: "Nun ist er mir auch mit dem Abschied aus dieser sonderbaren Welt ein wenig vorausgegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion." Und jenes, was wir für Wirklichkeit hielten, ist ja nun tatsächlich tot! Wir dürfen nicht ihre Diener und Erzähler sein, sonst wären wir Erzähler eines Vorgetäuschten, der vorgetäuschten Tatsachen nämlich, und davon gibt es, weiß Gott, genug im Geschäft der getarnten Ideologen und PolitIdioten heute. Und sind nicht alle Fakten wirklich nur Täuschung? Aber leichter gesagt als getan, und subjektiv, denn unser alt gewordenes Leben wurde uns mit Hilfe dieser Trennung gestohlen. Im Warten auf die Zukunft, die Gegenwart, das Jetzt zur ungültigen Abwesenheit gemacht. Bis die Zeit sich erschöpft hatte. Und die Zukunft Vergangenheit war. Am schlimmsten "zu Hause" im Osten. Ist jener "Osten" nun davon befreit?

 

In meinem, ach, schon so "alten" Tagebuch lese ich:

Meine Revolutions-Begeisterung kannte im Dezember 89 noch keine Grenzen: "Ironie, daß der 30. Dezember, die "Volksdemokratie" l947/48 nun so gefeiert wird. 42 Jahre Tyrannei. Aber schon gibt's Schlangen vor Kino, Theater und Konzerten. Und Kaffee in den Auslagen, Südfrüchte, Fleisch. Zwei Mädchen stehen vor dem Atheneepalace und binden einem Lämmchen eine Trikolore um den Hals. Es ist wohl Mioritza, das prophetische Lamm mit dem weißen Flaum."

Das waren freilich Advent- und Weihnachtszeiten. Wie in alten Tragödien Rührung, Mitleid, Tränen, jaja, die Katharsis, und das Sichtbare schien gerettet, zwischen dem, was man da sah und dem was wirklich geschah, schöne Harmonie. Was wir sahen, gerade auch im Fernsehen schien die volle Wahrheit. Im Fernsehen. Ha. Aber vor allem die Westmenschen scheinen so reagiert zu haben. Die Freunde im Land hatten ganz andere Gefühle. Wir haben nur für ein paar Stunden aufgeatmet und gejubelt, sagten sie.

Ich aber dachte seit November, alles sei eitel Freude. Ich dachte, wie werden die Freunde dieses Neujahrsfest feiern. Und stellte mir vor, wie die neuen Sektkorken knallen, sogar großes Feuerwerk in der Nacht, für dieses Neue Jahr, das sie auch "Anul Unu", "das Jahr Eins" nannten, wie 1789. Seit November dieser Kuß der ganzen Welt an der Berliner Mauer. Frieden... Frieden... Ich hör den Engel oben auf der Tannenspitze aus Bölls Geschichte "Nicht nur zur Weihnachtszeit." Das immerwährende Glück. Bisher schien Geschichte anders: Lager, Folter, KZ, ZK, Machtmaschinerien, Blutspuren der Geschichte in riesigen Megamaschinen von Masse und Macht. Alpträume der Hure Historie. Und nun das Wunderbare. Hatte sich die Hure besonnen? Aber wir wissen ja, daß sie, wie jedes Kunstwerk ein phantastisches Kunstwerk der Täuschungen ist, nur ganz real, und das Blut, das fließt, die Toten sind tatsächlich tot und nicht nur Schauspieler, die den Tod nur kurz darstellen, dann wieder aufstehen, wenn der Vorhang gefallen ist. Den Tod, auch den der Revolution kann sowieso niemand fassen, wie wäre er im Bewußtsein, gar auf Tonband festzuhalten.

 

Ich habe seit dem Massaker auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" im Mai 89 täglich an diesem Buch geschrieben, so die osteuropäische Revolution, ohne zu wissen, daß es eine werden wird, von Anfang an im Schreibprozess verfolgt: da öffneten sich dazu Erinnerungsräume bis in die Stalinzeit. In Reflexionen und Denkbildern versuchte ich diesen positiven Schock des heißen Sommers und Herbstes und dann des rumänischen Revolutionswinters zu begreifen; eine Aktualität "aufzuarbeiten", die viel mehr war und mich bis in den Traum verfolgte, mit Hilfe meines einzigen Mittels, Welt im Zusammenhang zu sehen: der Sprache zu sehen. Dabei erkannte ich immer mehr, daß ich dabei selbst "aufgearbeitet" wurde.

Wird es also ein Buch über ERLEBTE GESCHICHTE, Geschichte in DENKBILDERN, die vom unmittelbar und täglich Erfahrenen ausgehen, also tagebuchartig angeordnet sind? Keine Konserve, sondern eine Entwicklung wie in einem Roman, ja, einem Krimi, während der Ereignisse beobachtend, selbstanalytisch mitdenkend und teilhabend?

So wäre schon in der Machart eine fällige, nicht gefällige, Ästhetik der Wahrheit als Strukturansatz da (in Therapie und Wissenschaft längst Gesetz.)? Es müßten sich Bewußtseins- und Nachrichtenprozeß durchringen, sagte ich mir am Anfang des Unternehmens, und so transparent werden. Am 24. Dezember etwa wußte ich nicht einmal mit Sicherheit, ob der Diktator Ceausescu verhaftet worden war. Erst als am 29. das Fernsehbild des Hingerichteten durchgegeben wurde, konnte jeder aufatmen. Aufatmen? Vielleicht für einen kurzen Augenblick, denn dieses Aufatmen täuschte. So wie Tag für Tag das, was am Vortag "ausgemacht" und "gesichert" schien, täuschte! Alles verwandelte sich langsam in zunehmende Beklemmung. Kafkastil also: der Schreibende weiß nicht mehr, als die Handelnden, er weiß weniger. Er ist ausgeliefert. Er wird auf sein wirkliches Maß reduziert. Der Autor verschwindet noch einmal aus dem Text, nun radikaler denn je. Zugleich aber hat er das ohnmächtige Privileg der Distanz und der "Fernsicht". Er wird auf sich selbst zurückgeworfen, sucht sich, jenen, den er nicht mehr finden kann, wie er nun nichts mehr, was gesichert schien, finden kann. In diesem Fall ist die Fernsicht der Nähe, weil die Ereignisse ihn direkt betreffen, er stark emotional beteiligt ist und auch versucht, sich (zunächst telefonisch, über die Medien, dann auch durch die Heimreise, die Kontakte) in die revolutionären Prozesse einzumischen, fast schon eine zu belächelnde Illusion. Nur eines ist klar: Der bisherige Status des Exils ist aufgehoben, um sich in ein neues, ein viel weitreichenderes zu verwandeln; er wird mit der Tatsache konfrontiert, daß er ab heute nicht dazu gehört, die Illusion je dazu gehört zu haben, wird drastisch aufgehoben.

Und doch gehört er sehr nahe dazu, denn am Beispiel der in zwei gespaltenen Ereignisse, der Zwiespältigkeit der Wirklichkeit in jenem Land, das immer noch seines ist, wenn auch nur als unvergeßliche Referenz des Erinnerns, des einmal gehabten festen Bodens unter den Füßen, zeigt sich seine eigene Schizophrenie nun als realer, ja tödlicher Prozeß die Spaltung von Geist und Macht in einer Revolution und vor allem in ihren Folgen. Der Versuch ihrer langsamen Auslöschung durch Masse und Macht. Nein, es ist nicht die Zurücknahme der revolutionären Ereignisse, die dort die Jugend getragen hat, nicht der Verzicht, ihren Stolz zu akzeptieren, ihren Mut, die eigene Begeisterung jener Tage nun als naive Blauäugigkeit zu ironisieren, wenn der Beobachter nun im wachsenden Informations- und Bewußtseinsprozeß erkennt, welch ein übles Spiel die heutigen Machthaber nun mit jenen, die mit nackter Brust den Gewehren und Panzern der Armee und Sicherheitskräften gegenübergetreten sind, getrieben haben, ja, sie sogar im Machtkalkül als Schachfiguren dieses Spiels eingesetzt haben; nein, die Attacke gegen den eignen Enthusiasmus, die Ohnmacht der Ironie gelten nur gegenüber dieser Ahnungslosigkeit, zu meinen, es sei eine schöne Geschichtspause im Schock eines totalen Wandels gewesen, die Fronten eindeutig, es sei ein Sieg "des Volkes" gegen die Macht und die Diktatur gewesen.

 

Ich höre die langsame, von Bonhomie und Bonhomie-Ironie geladenen Stimme von "Croh", des Literaturprofessors Crohmalniceanu, den ich im März 90 in Bukarest besucht hatte der jede Idee sofort in den Alltag herabholt, banalisiert, um jeden Anschein von "Professor" zu vermeiden Ein Bücherraum, ein Schreibtisch, Nirgends, leerer Raum, Vakuumangst, Glasplatte überfüllt mit Manuskripten, Büchern, Zeitungen, SCHRIFTEN. Canettis Blendung fällt mir ein. Vor mir "Croh", Crohmalniceanu, wir sprachen über Celan in Bukarest, ohne Gherasim Luca, den niemand kennt (ich sagte "Niemand") hätte der Berühmte nie seinen Stil gefunden. Woher aber dieser Stil, der sich selbst aufhebt. Die Majestät des Absurden. Hier konnte man sie erleben. Und jetzt? Croh ist jüdischer Herkunft. Er weiß viel von der Angst. Er schenkt mir aus der Bibliothek die Schrift eines Kabbalisten. Ich gebe ihm meine "Vaterlandstage", zeige auf den Untertitel und die 10 Kapitel: "Die Kunst des Veschwindens". Und sage: hier ist die Spitze des Eisberges, HIER, die Revolution folgt dem spätesten Zustand, dem totalen Nachher... dem Sog der abgeschlossenen Posthistoire. Er runzelt die Stirn: "Ich hab dir schon gesagt, du machst dir Illusionen!" Ich schaue ihn an, 20 Jahre! Wir waren Redaktionskollegen, besser: Nachbarredaktions- Kollegen gewesen, er bei einer rumänischen, ich bei einer deutschen Zeitschrift. Er hat sich kaum verändert, als hätte er sich "aufgespart". Mich erkennt in meiner ehemaligen Stadt keiner mehr. Bei mir hat freilich im Westen ein Umbau der Person stattgefunden, obwohl ich auf meinem Berg in C. lebe. "Du hast ein anderes Gesicht", sagt er, sagen alle Freunde. Höflich. Dabei meinen sie "alt". Ein Emigrant in Rente. "Bleibst du hier?" fragte er zögernd. "Ich werde pendeln".

Von Ferne hörte man damals die schreienden Demonstranten: "Hörst du sie, begreifst du Jetzt?" sagte Croh. Ich begriff, die Revolution dauert, wie das Glück, nur ein Augenblick, Aufleuchten der Zukunft, dann ist das Gewesene wieder da, das wirkliche Jetzt, es hat das sichtbare Gesicht des Gewohnheitsaugenblicks angenommen, seine Masken beherrschen uns, Auge, Hirn, ins Alte geht's: Verfallen. "5. Sephira" in der Kabbala. Das Vergangene tritt nie freiwillig ab. Oder auch das Vorurteil, das machtvoll als Erbe wirkt. Wir sprechen über den fünften Ast des Sprachbaums der Kabbala: Niemals läßt das Alte, jenes, was kommen will, los, außen ists weniger stark als innen. Der Tyrann war besiegbar, doch nicht der Mist, den er unsichtbar in den Hirnen hinterlassen hat, sagte Croh.

In der Literatur, sagte Croh, da gäbe es das Konzept der Öffnung, ja, bei den Jungen, der Literatengruppe der " Achtziger Generation". "Die haben den Konflikt längst vorweggenommen, z.B. Hanibal Stánculescu, einer der Begabtesten, in seiner Prosa, doch auch in andern Texten schlägt sich jene Einsicht des Offenen mit den absurden Vorherbestimmungen und Planungen, Denkidiotien und Redestereotypien, und führt im Leben der so angepaßt Handelnden zur Komik und auch recht oft zur Tragik. Aber diese Hoffnung nach einem freien Leben, ohne Planung und Bevormundung von oben, und von innen, ist nach der Revolution bei allen da, aber die Widerstände, die dieses verhindern, sind nicht über Nacht verschwunden, sie wirken sogar in jenen, die die Revolution gemacht haben weiter."

Ich fragte ihn nach dem Kritiker Lucian Raicu, einem der Begabten.

"Raicu, der hats so gemacht, wie einer, der aus einem Zug gesprungen ist, der nach Auschwitz geht; und hat sich die Frage nicht gestellt, was nachher sein wird. Er springt aus dem Auschwitzzug, um zu entkommen, vielleicht stirbt er unterwegs, versucht aber zu fliehen. Er war in dieser Lage," sagte Croh über den Freund und Kollegen: "Dabei war er ja gar nicht verfolgt, doch in einem furchtbaren Elend, er ist in einem dieser Winter fast gestorben, vor Kälte, Hunger, er ist eben ein Mensch, der sich im Praktischen nicht recht

durchschlägt, hatte eine halbe Norm, niemand half ihm, er lebte so von einigen Rezensionen

und Chroniken, es gab ja eine Zeit, wo man auch wenn man Geld hatte, verhungern konnte. Man mußte Leute haben, die einem Nahrungsmittel bringen konnten...Beziehungen".

 

26. März. Nun ja, es geht um den "plot", eine Geschichte, die am besten mit rumänischem Witz und Galgenhumor, Schwarzen Humor erzählt wird, also mit totaler Skepsis in den Sinn des Geschehens, davon überzeugt, daß alles sowieso undurchschaubar, im Grunde aber Betrug ist. Eine große Verschwörung. Um den levantinischen Nihilismus und seine Mentalität des totalen Mißtrauens in Ordnungen, geht es. Ist das Absurde in Rumänien schon geographisch gegeben? Das Land ist nicht nur ein Zwitter zwischen Orient und Okzident, sondern lebt im Nord-Südgefälle, das nochmals dies Spannungsfeld Ost-West verdichtet. Im Norden europäischer Glaube an "Sinn" und "Fügung," im Süden an den Irrwitz des Zufalls einer wahnsinnigen Realität, Fatalismus und Passivität. Auch die Revolution ist ja von den ehemaligen k.u.k.-Provinzen, dem Banat und Siebenbürgen ausgegangen. Und vorher die Revolten: Der Streik der 35.000 Bergarbeiter im Banat, die Hungerrevolte von Kronstadt/ Siebenbürgen im November 87, der Widerstand der rumänischen Hochschullehrerin Doina Cornea und ihrer Gruppe in Klausenburg. Die Gegenwehr der jungen rumäniendeutschen Schriftsteller um die "Aktionsgruppe Banat", die schließlich aus Protest das Land verließen.

 

Wir müssen davon ausgehen, daß der Augenblick der Revolution nicht dauern konnte, daß er vom "Erbe" der Diktatur, den seelischen Giften, den Institutionen, Interessen, dem ganzen sozialen Geflecht, das ja da war, dies konnte der Diktatur nicht mit ins Grab nehmen, wieder aufgesogen wurde. Aber auch die Konterrevolution, die Rückkehr in die Vergangenheit, vor allem der Wunsch nach den Segnungen des Kapitals stieß in dieses Machtvakuum und Vakuum, das der Tod des Diktators hinterließ. Der Westen substituierte das vorhin noch als Glück der Befreiung erlebte "Paradies". Der Moment der Freiheit, der in dieser Geschichtspause, der Niemandszeit entstand, war kurz wie eine Sternschnuppe in der Ewigkeit. Die Revolutionäre aber blieben übrig, als ständen überall Freiheitsstatuen funktionlos im Müll oder auch nur im Dreck des Alltags herum, störten die Masse, störten die sich etablierende neue Macht, auch die der Gewohnheit. Die meisten hatten ja Revolution nur am Fernsehen mitbekommen. Die Revolutionäre aber fanden schnell einen Sündenbock: die Roten seien wiedergekehrt. Was nur zum Teil stimmte. Wiedergekehrt waren deren schlechte Gewohnheiten, der potenzierte Spießer, der Haß, das Vorurteil wie überall, die Banalität, von der schon Isaak Babel gesagt hatte, sie sei die eigentliche Konterrevolution.

 

Wir sprachen mit Croh natürlich auch über das rumänische Absurde, über den großen Zyniker Ion Luca Caragiale und Jaques Maritaines "Antimoderne". Der Unterschied zwischen dem relativen Macchiavellismus früherer Epochen und dem heute absoluten skrupellosen Machtspiel wird deutlich erkennbar.

Der bekannte Rechtsanwalt Florin-Gabriel Márculescu, Bruder meines Studienkollegen Sorin, hatte über jene phantastisch anmutende "Enthüllung" geschrieben, die viele geahnt haben, an die aber keiner so richtig glauben wollte: daß wir alle betrogen worden seien, daß all das, was uns in den Mitleids- und Fieberzustand während der Revolution versetzt hat, geschickt inszeniert, vielleicht ein riesiges Revolutionstheater aufgezogen worden war.

 

Ich lese in meinem alten Tagebuch: (21. 12. 1990.) Auf dem Universitätsplatz vor dem "Intercontinental", wo die Toten lagen, rufen Dreissigtausend ihre neuen Losungen, singen das Temeswar-Lied: "Nu te lása, nu te lása, Iliescu va cádea." Gib nicht auf, gibt nicht auf, Iliescu wird stürzen. Die ehemaligen Revolutionäre sind tief enttäuscht. Die alte Dame mit dem Pelzkragen hält ein Taschentuch in der Hand, sie weint. Die Popen zelebrieren die orthodoxe Messe vor einem riesigen Kreuz mitten zwischen den beiden Fahrbahnen, auf einer Insel, aber es gibt keinen Verkehr, die Masse flutet, Gesicht an Gesicht, Kerzen in der Hand: Durch das Loch der gesenkten Fahnen mit Trauerflor sind sie zu sehen: Flämmchen flackernd im Windhauch, die Toten. "Doamne miluiste", Herr erbarme dich, singen die Popen. Ungeduld. Schwarze Armbinden an den Landesfarben. Am Arm. "Ce pácat, ce pácat de sìngele vársat!" (Schade, schade, um das vergossene Blut.) Überall sieht man weinende ältere Frauen. Jeder weiß heute, daß ein Betrug stattgefunden hat. Die neue "Alianta civicá", die "Bürgerallianz", Intellektuelle, Studenten, Arbeiter und die wichtigsten außerparlamentarischen Oppositionsgruppen hatten zur Demo aufgerufen. Sie sagen es der Menge dort mit den Kerzen, den Blumenkränzen, den schwarzen Armbinden, an kleinen Altären, Votivtafeln, überall, wo eine Toter fiel, ist die Stelle bezeichnet. Die Gebete sind Gebets-Revolten. Nichts ist vergessen. Hunger und Chaos. In den Nebenstraßen der Boulevards gibt es unendliche Schlangen. Fleisch war plötzlich zur Beruhigung der Gemüter aufgetaucht. Doch wie vor einem Jahr ist das Warmwasser, die Heizung, das Licht rationiert. Alles fehlt hier, sogar Streichhölzer, Glühbirnen, Aspirin.

3 Millionen Rumänen sind emigriert, die Mehrzahl Studenten, Abiturienten, Schüler, junge Ehepaare mit Kindern, ein Intellektuellenaderlaß, der nicht wiedergutzumachen ist. Sie schlafen in Paris unter den Brücken, ganze Familien in Zelten im Bois de Boulogne, auf Zeitungen und Kartons im Gare de l`Est, auf der Piazza Navona in Rom, in Schönbrunn. Es sind nicht mehr nur die Deutschen und die Juden, die das Land verlassen. Das Land wird entvölkert. "Hungertouristen". An der jugoslawischen Grenze bei Stamora stehen sie Wagen an Wagen einen ganzen Tag im Schnee und Frost, um das Land zu verlassen, Flucht ins "Wahre Europa", das sie erträumen, mit Elementarwünschen wie die Auswanderer vor 100 Jahren nach Amerika; Freiheit und Brot.

 

27. März Meine Hoffnung jetzt wieder nach Hause kommen zu können, jetzt endlich: nach dem Fall der Diktatur, erfüllte sich nicht; ganz im Gegenteil, die Unwirklichkeit, die Fremde nahmen überall, vor allem aber zu Hause im Osten zu. Bei meiner ersten Heimreise nach dem Dezemberaufstand (Siebenbürgen und dann Bukarest) schienen die Relikte des roten Ancièn régime ebenfalls irreal, wirklich schienen nur die Fahne mit dem Loch, die Kerzen und neuen Friedhöfe, Symbole waren realer als die überholte "feste Welt" des ehemaligen "Systems". Doch schon nach einigen Monaten zeigte sich von Bukarest bis Sarajewo, von Zagreb bis zum Ural etwas "anderes", und bewies, daß die "Wende" wirklich und hoffnungslos die Maske des Todes ist, dessen nämlich, was IST, des Trivialen, der Triebe, des Fressen- und Gefressen-Werdens, was zäh IST und verdrängt worden war, ja, sogar die Gefühle und Erinnerungen wurden böse im Besitzenwollen dessen, was verloren schien, sei es die Sprache, sei es die Kindheit, sei es ein Land, eine Stadt, ein Grundstück, ein Haus, eine Vergangenheit, eine Nostalgie, ein Immer-schon-gewollt-haben: daß die Gnade der Feindbilder und des schrecklichen Gleichgewichtes mit apokalyptischer Todesdrohung, angemessen der Epoche gewesen waren, alles schön eingeeist hatte. Der riesige Kühlschrank mit all dem Zurückhaben-wollen taute mörderisch auf, der Tod nahm seinen Lauf. - Ich merkte dieses "Auftauen" auch als eigene Erfahrung im kleinen Privaten, merkte, daß der Wahnsinn droht, in der Zeitbewegung, die zurückführt; das war aber dann zwei Jahre später bei der zweiten "Heimreise", im gleichen Jahr wie die Reise nach Dresden: bei mir nicht durch Haß oder irgendeine Sucht aufgeladen, wie bei vielen Einheimischen; ich hatte nichts mit Totenköpfen im Sinn; ich wollte sie und nichts wiederhaben, auch nicht meine alten Ressentiments kultivieren, das "Erikalied" oder "Heimat deine Sterne" singen. Oder "Die Fahne hoch". Oder ein Haus zurück, oder den ordinärsten Grund und Boden. Ich kam als Fremder nach Hause. Und wollte es nicht bleiben. Die Erwartungen waren nicht groß gewesen; das Erstaunen dann umso größer über die weit vorangeschrittene Verwestlichung des Landes auf ordinärestem Niveau, vor allem im Altreich: überall feine Westwägen, BMW, Mercedesse, nirgends mehr die bettelnden Kinder vor "Westwagen", keine Valutajäger; das alte Triste verschwunden, und das Neue Bunte da: knallrot die Coca-Cola-Reklame überall, Baukräne und die Häuser neu verputzt, vor allem in Siebenbürgen, trotziger Neuanfang? Sogar die Straßen glatt, ausgebessert. Südlich der Karpaten im Altreich freilich begegnete mir zu Hause die Fremde ganz anders, ich sah mit freiem Auge den Unterschied, den Abgrund zwischen den Traditionen, die nun hervorschießen: das mitteleuropäische Siebenbürgen, und dort "unten" die maghrebinische Walachei, ich begriff plötzlich, wie jetzt überall neue, viel tiefere Grenzen aufbrechen, überall mitten durch die ehemaligen roten Ostländer: in Bukarest schon auf dem Bahnhof unzählige türkische Reisebüros, die Leuchtreklamen, aufdringlich levantinisch der Westen nachgeahmt auf arm und ordinär, Pornohefte, Huren und Zuhälter, Sex-Shops, überall "Marktwirtschaft" in voller Aktion, versaute Fernsehprogramme, kaputte Verlage und bankrotte Buchhandlungen, Strichjungen, Dealer; Drogenspritzen auf dem Boden, und schon gibt es überall die Weltklasse der Bukarester Taschendiebe. Daneben die Wahnsinnspreise, eine D-Mark: 1000 Lei, alles gibt's zu kaufen, doch niemand kann es sich leisten, Luxus, "Freiheit" - Reisebüros locken mit Reisen nach Tibet, Australien, - und die Leute hungern, leben weiter am Rande des Existenzminimums: absurd, grotesk, blasphemisch ist das, überall brechen nun roh, brutal die zugedeckten Kontraste auf. Zum Vorschein kommt die alte "Normalität", das Handels- und Händlerparadies Levante? Daneben das mitteleuropäische Siebenbürgen, einstmals k.-und k.-Provinz, und zu nahe an Ungarn. Wie soll das gut gehen?! Bürgerkrieg droht, das wissen alle! Doch bei der Außenhandelsbank, wo ich ohne weiteres Lei in Dollar oder Mark tauschen konnte, sah ich zwei junge Männer, die einen großen Koffer voll mit Dollars abschleppten. Ich erkannte nichts mehr. Ich erkannte Königsbilder, den Marschall Antonescu, den "ehemaligen" Kriegsverbrecher, der hingerichtet worden war, in Schaufenstern von Buchhandlungen Bücher über ihn, sein Bild, wo früher Ceausescubilder und "Werke" ausgestellt gewesen waren, und schon gibt es einen Bulevard Antonescu in Bukarest, ich warte auf marschierende Legionäre, die damals arme schreiende und weinende Juden an Fleischerhaken aufgehängt und mit großen Messern und Beilen abgeschlachtet hatten. Leider sah ich keinen Polizisten in der damaligen braunen Uniform. Jetzt sahen sie alle amerikanisch aus. Als wären verdrängte Kindheitserinnerungen plötzlich maskiert in der Wirklichkeit aufgetaucht wie Phantome, doch in starker Spannung nun zu meinem Denken, und das nahm zu, ein unergründlicher innerer Strom setzte ein, als wär dieser bisher gestaut gewesen. Ich kann mir vieles nicht erklären, nur - die Bilder überlagerten einander, daß es mir schwindlig und übel wurde, andere aus dem Unbewußten kamen als halluzinierte hinzu, mein irritiertes Denken mittendrin, das aber wurde überflutet, ich in einem Alptraum lange nicht erprobter Zustände, die nur in ausufernden Worthöfen der Berührungen wiederzugeben sind.

 

28. März. Eine Übersetzung unserer eigenen Absenz im historisch Späten, das Gefühl, daß wir Abwesende und Posthume sind, läßt sich als Existenzgefühl sehr intensiv beschreiben. Ein Prozeß, der schon 1950 mit Becketts "Molloy" in der Literatur begann. Auch wird so das Jenseits der Zeit jedes Textes fruchtbar, Spiegel des Un-Wirklichen, das wir heute ja tatsächlich ertragen müssen; jetzt kann also solch eine Fiktion wirklicher sein als das Leben. Schon Rousseau hat in seinen "Les Confessions" vom hypothetischen Standpunkt des eignen Todes aus erzählt - und im Hinblick auf das Jüngste Gericht.

 

Im historischen Koma also tritt möglicherweise auch jene Panoramaschau ein, wo das ganze Leben als Abschied und im Scheiden noch einmal wie ein Gerichtstag vorbeizieht; und das alles in einer zeitlosen Geschwindigkeit, so daß eine Sekunde wie tausend Jahre erscheint.

Interessant dabei ist, daß das anscheinend so Absurde dieses Zeitparadoxes nun auch fruchtbar wird: wie kann nämlich ein abgeschlossenes Leben, das in einer dichterischen Panoramaschau zum Urteil und Gerichtstag über sich selbst ansteht, noch, wenn auch nur punktuell dargestellt, also eine Zeitperspektive mit überraschenden Momenten haben. Dieses geschieht nun mittels jenes lyrischen Ich, das sein vergangenes Leben neu erlebt, erlebt, wie es intensiver wird in der In-Eins-Bildung durch den Todeszustand und das Gericht. Jedes Jetzt erhält dabei eine unendliche Perspektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist ja nicht so, daß dieses Ich nun nichts mehr erlebt, es erlebt nur ganz anders. Ähnlich wie beim Tagebuchschreiben, das ja die Ereignisse eines Tages erst bewußt macht, sie an den Sinn bindet, der ungeschrieben verloren ginge, so aber gerettet wird. Die Hintergrundzeit wird so zur Zukunft der Vergangenheit im Prozeß. Das ist kompliziert auch als Verb-Lösung. Die In-Eins-Bildung aber besorgt das riesige Gedächtnis der Sprache mit ihren apperzeptiven Formen.

 

Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die Unsterblichkeit der Personalpronomina der Sprache, die das Bewußtsein tragen, sich weiter erinnern zu lassen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen Bewußtseinshorizontes es eigentlich erlauben. Dieser Horizont ist freilich, wie wir gesehen haben, an seine Grenze gekommen, die übersprungen werden muß, um jene Partitur, die heute schon vor uns liegt, richtig zu spielen. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossene, scheinbar abgeschlossene Vergangenheit eingeführt, mit dem bitteren Fazit und Urteil: daß wir uns selbst das Leben geraubt, weil wir es uns haben rauben lassen.

 

29. März. Kaum Bedauern bei diesem "Für Immer". Die Leuchtschriften sind erloschen, am Himmel eisig funkelnde Sterne, siehst sie nicht, denke ich, Sonne blendet herein, Gott, der Vor-Schein. Und die Augen im Satz nur geschlossen. Kleine weiße Flecken, ganz nah am Bordfenster Wattewolken, Fetzen, hörst du das Weiche am Ohr wie ein zerfleddertes Blatt. Für immer den Boden auf gegeben, die Sinne. Wie vorbereitet nun für den langanhaltenden Tod. Ich schreib mal an dich, Ioana, hörst du mich? So sauste es im Kopf des gescheiterten Heimkehrers, der sollte neu anfangen, aber wie? Der sank hinab, ermüdet von der nervösen Anspannung; wie war das gewesen bei deiner ersten Heimfahrt, 74, damals noch in der Zeit des Tyrannen: Sie hatten dich verhaftet, du hattest unvorsichtigerweise fotografiert, ausgerechnet eine Kühlschrankfabrik, mußt jetzt lachen; in der Zelle noch zwischen Traum und Wachen, dachtest du, da kamen sie, dich holen, du, noch mit deinem Alptraum beschäftigt: sie hatten dich eben erschossen, dich: da, der Blitz des Mündungsfeuers, da, der kleine Vogel, der nicht mehr aufflog, in der Luft auf der Stelle surrend, blieb, der Regentropfen auf deiner Wange, das Rauschen der alten Bäume im Sommerhaus, Rusperbäume, die es nicht mehr gibt, verheizt im eisigen Winter, das Bild stehengeblieben, die Kugeln vor dir fielen wie Teig von dir ab, einem, den es nicht gibt, kann man nichts mehr anhaben, Kugeln, die du nicht mehr wahrnimmst, gibt es nicht: drehten sich wie irr vor deinen Augen, und Totenstille dann: da hattest du dein Leben wie längst weggeträumt, auch den Tod, wie das Leben geträumt, wenn ich bei mir war. Und daraus hatten sie dich dann noch einmal hochgeschreckt in der Zelle; da rasselte der Schlüssel, da holten sie dich, du rappeltest dich auf, gingst mit durch hallende Gänge, durch klickende Geräusche, Schlösser geöffnet, Eisentreppen hochgegangen, du bist vogelfrei nun, und hatten dich ausgewiesen ins Ausland... doch ich, der andere blieb ja liegen: und plötzlich dies Turmgefühl, das mich verwandelte: Wasser tropft, übers Stroh raschelts, dieses Nackte, etwas Feuchtes im Gesicht, und du schreist. Und ein Pfeifen. Und totale Finsternis um dich, wundgerieben Schenkel und Hintern, und dann ein Ruck, und du schwebst, bist draußen. Wo, ja, fliegst wie als Kind jeden Abend pünktlich um Zehn, zubettgegangen, eine Lust. Nur nebenan reden sie und lachen, eine Murri, es wird getrunken, Gläser, feines Klingen wie zu Weihnachten. Der Turm. Wer spricht da? Und Zigarettenrauch in der Nase, Gestank wie nach Pisse vom Stroh, du aber schwebst darüber, die Landschaft, hoch oben, die Sterne kalt ein Funkeln, unten die Stadt, ein Gewimmel von Leuchtpunkten, so sahen die es auch im Krieg aus den Bombern, nein, da wars doch verdunkelt. Alarm. Heulen. Pax, dann Pace, war das erste, was mir, wem also, einfiel, auf Deutsch nur "Frieda", und Frieden... Frieden des Weihnachtsengels hoch oben auf den Tannenspitzen, weil Oma es jeden Tag hören wollte. Lang her. Und nur noch gelesen, dieses Leben? Der Herrgott träumt uns, hatte Vater gesagt, als er noch lebte. Und aus seiner Stimme war es dir kalt über den Rücken gelaufen. Wie jetzt, Rührung, wenn du dich erinnerst: Nie durfte das Fest aufhören, nie. Kling Glöckchen, Klingelingeling, kling Glöckchen kling. Nie. Durfte das Fest abreißen, weil es keines gab. Und so wieder alles wieder gutmachen, ja wie, zurück...und sah es, wie Vater meint, wo er ist, im Himmel geschiehts:

 

 

VI

 

RÜCKKEHR INS AUS-LAND, WO ICH ZU HAUSE BIN. UND ERZÄHL, ERZÄHL, DAMIT DU GESUND WIRST.

 

5. April. Rom oder der Zerfall . Eine Woche später, wie "notgelandet" mit Mühe, und mit dem Schrecken dieser Heimkehr im Herzen, kam ich nach Rom. Voller Trauer, auch "zu Hause" die Gegenwart nicht mehr zusammensetzen zu können; der Ort, es wieder zu versuchen, so schien mir, war Rom; eine Romreise schlug ich dann auch Jann und einem Gast, Christian, vor; ich redete von der Sixtina als von einem vergangenen Wunder, das uns immer noch an-geht. Und auch von ihrem Gegenpol: der Engelsburg redete ich. So versuchte ich mir, arg deprimiert und angeschlagen, etwas Selbstgefühl zu erhalten, denn Johanna und Christian waren an meinen östlichen Erlebnisberichten überhaupt nicht interessiert, sie winkten ab: Ach, der Osten.

In Rom wohnten wir in der Villa Massimo, Spottpreis: zwanzigtausend Lire die Nacht, und auf dem bläulichen Schein das bärtige Gesicht Michelangelos, es kam direkt von der Banca D`Italia. Der Schein war mit der Zeit immer wichtiger geworden. Im Hof, wir hörten zuerst nur den Kies, wurde Johanna von Hunden der Frau Wolfen überfallen, sie zerrissen, zerbissen ihr fletschend den Rockärmel, und wollten ans Fleisch; als wärs nur jener Satz des Hundes, brutal, zerfetzt etwas, immer wieder der Sprung, Cave canem stand auf einer antiken Kachel, darauf gemalt der bellende Hund. Wolfshunde, Sklavenjagden, Lagerjagden im Moor, oder Weimar? Weißt du noch, Jann, die Baracken, kennst du den Ettersberg, das Todesgelände? Aber wir fühlen es nicht mehr. Nach meiner Rückkehr ins AusLand nun neu zu beginnen, das wäre nicht möglich gewesen, wir sind immer mittendrin, und können nicht neu anfangen. Aber auch Christian war hier in der Villa gewesen, Dorothea, seine Schwester, eine Schauspielerin aus Köln, war mit dabei. Und bevor wir in die Stadt zur Sixtina fuhren, machten wir ein Experiment, um mehr zu erfahren, als eigentlich möglich ist: Dorothea animierte, und "hypnotisierte", das Fenster stand offen, ein betäubender Duft strömte aus dem alten Garten mit den geköpften Statuen ins Zimmer. Ach, Roma, da ist nichts oder alles schon längst vergangen, Augenblicke blitzen auf. Dorothea sagte, und sah mich an: es gebe bei Dante ein schönes Wort für unseren späten Zustand, der uns am Leben hindere: "Die Seele kann also in der Person übelgestellt sein aus Mangel an Veranlagung oder durch Ungunst der Zeitumstände, und in einer solchen wird der göttliche Strahl niemals widerscheinen."

Christian wollte uns unbedingt das Physikalische Institut mit "dem Goldfischteich" zeigen, hier sei der Zerfall erprobt worden, schon vor 1933: 1932 die Entdeckung des Neutrons. Und dann erst das Wunderjahr 1934! da hatte der junge Enrico Fermi, weil ihm die Zeitschrift NATURE eine Arbeit über Betastrahlen abgelehnt hatte, einfach so aus Spaß und per Zufall die erste Kettenreaktion ausgelöst, er hatte aus Langeweile die Neutronen aller möglichen Elemente bombardiert; bei Fluor tickte der Geigenzähler; nur eine Minute lang Strahlung, so daß Fermi und sein Kollege D`Agostino in ihren langen ölverschmierten Mänteln wie Sprinter zu den am andern Ende des Korridors gelegenen Messinstrumenten rennen mußten.

Am Colosseum also vorbei mit dem redseligen Christian zur Via Panisperma. Ha, lachte der Lange und sah Jann an. Panisperma. Erstaunlich sei auch die Jahreszahl 1933/34. Gott würfele nicht. Er zeigte auf das Straßenschild PANISPERMA: Pulverisierung, Explosion, Hierogamus am Ende. Mein alter Freund Adam würde sagen: Nun, der alte Prozeß Tikkun, der Höhepunkt, die letzte, die wichtigste Phase, die Vernichtung und Entlarvung des Scheins sei im Gange.

Die Sixtinische Kapelle aber ist eine Sache für sich. Ich hatte, bevor ich mich hier an dieses Buch wagte, vier Jahre lang an ihrer Deutung gearbeitet, in der Vatikanischen Bibliothek gesessen, und war natürlich nicht fertig geworden. Seit der Restaurierung, die 1981 begonnen worden war, sind die Dinge noch viel komplizierter geworden. Auch der enge Kontakt mit dem Chefrestaurator und mit Bruno und seinen Entdeckungen, die halfen mir weiter, denn hier war ein geheimer Weltplan aus patristischen, orphischen und kabbalistischen Lehren entworfen worden, davon war ich überzeugt

Es war für mich und mein schwaches Selbstbewußtsein ein Labsal nun unserem Gast und Johanna meine schwierige Deutung zu erklären, die ich freilich zum Teil einem alten Manuskript des Kardinals Egidio di Viterbo entnommen hatte; sogar Johanna sah mich erstaunt von der Seite an, als wir unter dem Zaharias an der Eingangstür den Gang in Richtung Altar begannen, und ich zu reden anfing, dabei dachte ich an den besessenen Apokalyptiker, Chialisten und Verbannten Nicolao Granucci aus dem sechzehnten Jahrhundert, den ich in der Biblioteca Governativa von Lucca entdeckt hatte, und an seine Heimkehr, eine Heimkehr, deren Grund durchaus nicht nur Alter oder ihr seniles und sentimentales Heimweh gewesen war, sondern mit der Macht des Buches zusammenhing, das er aus dem Exil mitgebracht hatte. Ich bin davon überzeugt, er hat dabei absichtlich den Verrückten und Verwahrlosten gespielt und hatte etwas ganz anderes vor, manchmal glaube ich sogar, daß er den Prozeß, der ihm gemacht wurde, so erwartet und sogar gelenkt hat: es ging ihm um jenes LOCH in der Welt, und wie der Tod in die Welt kam: um jene tiefe Metapher der "Erbsünde" also, die auch die Mitte der Sixtina ist.

Jann und Christian staunten, sahen die "Diademe" dort oben an der Decke, redeten allerlei Quatsch dazu, fast schadenfroh freute ich mich über jeden Unsinn, den sie von sich gaben, gar nichts begreifen konnten. Hier ists besonders deutlich sichtbar geworden: daß man nur sieht, was man weiß.

In alten Sagen, aber auch in der Sixtina etwa, dem gemalten Tod Mosi, findet noch ein Kampf im Sterbeprozeß eines Menschen statt, ungeheure Wesen und Engel ringen miteinander um die sich befreiende Seele; es ist als trennten uns Unendlichkeiten von diesen Bildern; und doch wissen wir gar nichts über unseren eignen Tod. Diese Distanz aber könnte unsere Wahrheit, unser so flach gewordener Abgrund sein, der sich umstülpt, als wäre er schon wieder ein Berg, aus dem Sog heraus, der auf unser Denken, auf unsere Bilder wartet.

Am gleichen Abend schrieb ich in der Villa Massimo ein Gedicht:

 

ER WEIST ZURÜCK mit seiner Hand

zurück den Schall den Mund bedeckt

der Luftstrom Laut

die Hand der Daumen weist hinab

was da an Stimmen zu ihm kommt

zu laut spielt ihm

Musik/ die Haut von jedem Ton

zieh ab. Nackt sei der Himmel

 

Die Toten und die Engel

sie singen unhörbar

 

KEIN OHR an dem zurückgezogenen Kopf

das Ohr ist innen

 

Doch von der Seite

Vögel seine Finger

 

So steht er fester

auf der Erde

sie/ sind der stärkste Traum.

 

3

PIANISSIMO / der Ort

ein Übergang zu Gott

wo nichts mehr ist

 

die Tür.

 

ZIEH EIN den Leib nimm

ihn hinein

nun weg aus dieser Welt

macht alles ungeschehen

was ist

was war

die Zeit steht still.

GEHT EINE SEELE schwingend

Hauch fein als wär es Scham

hier sichtbar da zu sein

 

im Licht den Körper

Jetzt sein Ebenbild

 

der Krüppel Gottes dirigiert

Sein Lied.

 

6. April. Rom. Besuch in der Engelsburg: In Sälen, Kammern, Treppen, Gängen des alten Mausoleums ein perfektes Labyrinth, und unsichtbar ein Ungeheuer, brüllend, verirrt, wohl der Stier der schönen Europa. Und ein Faun überreicht der Unersättlichen auf ausgestreckter Hand seinen großen Penis, den er sich, heftig tropfend, amputiert hat; Entsetzen in den Augen, Lächeln auf den Lippen, hier im Grab. Träumender Geist, aufgelöst das Grauen? Wie die vegetalen beinlosen Mädchen, aufgereiht und aus Blumen sprießend. Rückerinnert, der Schock: aber er hat sich gemildert, es wird Traum, was Tod war, die Grenze überschreitend, die Höhle, um aufzusteigen, und überdreht, mit ihm, einem Gefolterten, oder Giordano Bruno, er wirds nun besser wissen, oder ist er schon wieder da, wer weiß, vielleicht in jenem Kind, das die Blumenröcke begraptscht... auf dem Campo di Fiore ein Blumenstand, eiergelb und wuchernd aus eimerhaften Dosen in dichten Sträußen, flammendes Rot aus einer Gurkendose, dazwischen die formlos fleischige Masse Frau, Römerin, verquollenes Gewabbel, gegenüber der offene Fleischstand mit Würstchen, ausgetropften roten Fleischstückchen, und an den Fenstern grünliche Unterwäsche, gebleicht, Schlüpfer, Büstenhalter. Tropfen. Und darüber ineinandergebaute Häuserkästen. Da war ich schon, da war ich... Hoffend nie auf Wiederkehr? Pflaster des Platzes feucht. Niesel. Musik auf dem Platz, heißt ja: Campo di Fiore, einer hat einen Blumenstrauß auf dem Kopf, sitzend vor einer Trommel. Extracomunitari. fuori! an der Wand gegenüber zu lesen, samt Hakenkreuz als Garnitur. Und gleich da der Verbrennungsplatz; einer mit Comic-Heft, liest... Ordnung aller Dinge und die Ordnung aller Theile des Weltalls zu schauen. Und Bruno, ganz richtig, gehörte ins Feuer... ungeheuer aktuell auch jetzt, gehörte ins Feuer, Kern der Welt, der euch alle in Frage stellt, weil er wirklich ist! Und ich stand lange Zeit vor der Groteske in der "Cancelleria" im "Saal der hundert Tage" am Kamin, da fließen aus einem augenförmigen Ornament zwei Tränentropfen, die zu Monstren werden, ein Bockskopf und daran hängend eine Art Mißgeburt mit dem Gesicht eines Mannes herab und erhitzte meine Phantasie; so wurde aus dem miesen Kopf, der sich heftig und geifernd auf mich zubewegte ein offener Mund, der schrie mich an, es war ja wegen des Buches; wieder wegen dieses Buches...

 

Beim Blättern im Tagebuch finde ich diese Notiz: 12. Januar 1993. Vor dem Gefängnis Potosi von Missouri standen Demonstranten mit einem Transparent genau in jenem Augenblick als eine Hinrichtung mit der "Injektionsmaschine" stattfand. Sie trugen diesen Spruch vor sich her: "Warum töten wir Menschen, um zu zeigen, daß Töten nicht sein darf?" - Nur solche Sätze zeigen Wahrheit, die sich selbst und den gelebten Augenblick in Frage stellen.

 

Ende April/ Anfang Juni. Jedes Datum ist ein Wahn, ein wunder Punkt im Unendlichen. Beschwörst du es, riskierst du von neuem den Verlust! Dieser Gleichklang von "Wann" und "Wahn"...

Wer hat eben gesprochen? Ich sah mich im Raum um, aber niemand war da.

Die Toten wissen besser Bescheid, vor allem die Opfer, sagt die Stimme: sie haben das, was uns erwartet, längst hinter sich. Die Grenze zu ihnen ist heute offen ... offenes Ohr, heißt es. Wiederkehr jetzt, die Toten wollen alle wieder leben. Ein leises weißes Rauschen vor allem nachts im Ohr. Heute wars wie ein künstlicher Vollmond. Ich konnte wieder nicht einschlafen.

Hier sind nur die Jahreszeiten zu Haus, hier auf dem toskanischen Berg, kaum die Zeit. Und jedes Datum ist ein Irrtum. Auf der Hecke Winden mit kleinen weißen und hungrigen Blüten, und an den Kleidern Harzgeruch. Wie zu Hause - Tannenduft. Und Kräuter im Garten. Ich hörte Gesprächsfetzen aus der Nachbarschaft von jenseits der Hecke: "...brings us by a commodius vicus of recirculation back..." Erlösend können Fremdsprachen sein, jetzt Italienisch und Englisch. Ich sehe aber weder die Leute, noch die Bilder, die aus ihren Worten kommen, dicke und dünne, auch eine sehr magere und eine heisere Stimme - vielstimmig tönendes Geräusch. Alles durch die grüne Wand der Hecke. Sie täuscht. Dort der Kirschbaum, der weiß wie Schnee blühen müßte vor der Zypresse; beide verdorrt und wie verbrannt; Dinu, der kleine Bauer, sagte gestern mit ungewohnt müder Stimme: Die Kartoffeln verfaulen sicher wie im vergangen Jahr schon an der Wurzel; irgend etwas stimmt nicht, und liegt unsichtbar in der Luft.

Dabei war doch alles so friedlich hier auf dem Berg. Nur Circel, der kleine schwarze Hund mit den halberblindeten glasigen Augen, bellte wie wild, seine Schwanzhaare sträubten sich, er schien etwas zu sehen, was wir nicht sehen können.

D.´s Augen sind grün und klein; und was ich zu sehen meine, ist vergangen, jetzt vor mir zwei Postkarten, nur wenn ich sie sehe, ist die Karte da: darauf der verwitterte transsylvanische Stundenturm, der sich abwesend in mir bewegt und schlägt. Mein Herz schlägt mit ihm schneller, das Uhrwerk rasselt ...

Die untergehende Sonne vom Meer wärmte jetzt auch draußen rötlich alle Mauern, schön, wie durchlässig, als könnte man durch die weichen Wände hinab- oder gar hinaufgehen in den längstvergangenen Turm.

Ich hörte sogar den alten Stundenturm von zu Hause schlagen. JETZT wars, und an diesem Punkt Null, wo die Vergangenheit und die Wartezeit aufhörte, hörte ich deutlich jenes langerwartete Summen. Tickt die Welt-Atomuhr, tickt neben, tickt aus der Zeile, die Uhr nun ganz Auge, ganz Ohr geworden. Schlag Adern pulsen. Und ich hörte es rauschen, ein Strömen des Regens von links nach rechts, als wärs ein großes Tränenwunder, und die Toten werden wieder sichtbar, Traum, den manche für Wachen halten, und ein blendendes Licht ist durch das Fenster zu sehen. Ich dachte an einen Blitzschlag, aber kein Donner. Der Himmel sehr klar, Sterne, der Sirius über dem Berg, ein ferner kalter Punkt. Und auf der Wiese vor dem Fenster regt sich etwas. Da tappen kleine Gestalten herum mit riesigem Kopfgewächs. Und ein Fahrzeug steht auf der Wiese, eine Art Hubschrauber. Sie hoppeln da herum wie Hasen, sie schweben an den Blumen vorbei, die kommen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, Leute aus Licht kommen durch die Mauer, als wär sie Butter, kommen wie Röntgenbilder durch die Mauer ins Zimmer, und da - hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spüre eine Lähmung, will schreien, doch kein Laut dringt durch.

 

7. August. Lange Pause mit dem Tagebuch. Als hätte mir die Heimkehr die Sprache verschlagen. Ich will mir Siebenbürgen nicht nehmen lassen. Ich kenne noch ein anderes, als das dort jetzt erlebte... Heute Geburtstag, da erlaube ich mir den Luxus, gefühlig zu sein. Eigentlich bin ich, wie viele Siebenbürger Sachsen sentimental. Wie gewöhnlich las ich noch im Bad, da nehme ich mir die meiste Zeit.. Las in Christine Fischers Roman "Eisland", den sie mir eben aus St. Gallen geschickt hatte. Sie ist Logopädin, und im Buch geht es um die gestörte Sprachkommunikation zwischen einem Liebespaar, die Hauptfigur ist Logopädin, wie Christine. Großartige Idee: Schweigen, diese Unmöglichkeit von Sprache, die Liebe stärkt und das Verstehen. Wie klein die Welt ist, Lektorin ist Barbara Traber, die ich von Bern gut kannte, die meinen alten Lektor von Hallwag geliebt hatte, enthusiastisch und sensibel ist. Die die "Vaterlandstage" auf Berndütsch im Radio besprochen hatte. Ich war ein wenig enttäuscht von diesem Romanerstling, dessen Thema mich faszinierte. Besser hatte mir Christines Reisebericht über Rumänien gefallen, der vorurteilsloser und gerechter war als jeder andere, den ich kannte: "Rumänien - ein Puzzle". Sie und ihr Freund Richard Butz waren zweimal dort gewesen, Freundschaft mit Werner Söllner, der in Zug Stadtschreiber gewesen war, so ein Sonderheft von "Noisma" über rumäniendeutsche Literatur entstanden war. Meine Lesung in St. Gallen und die Bekanntschaft mit beiden war so zustandegekommen. Im Literaturcafé die wenigen Leute. Letzte Veranstaltung, ein wenig makaber. Immer diese Angst, daß niemand kommt zu den innerlich schon vorher zehrenden Lesungen. So geht Literatur kaputt. In St. Gallen ist die Konkurrenz der Veranstaltungen zu groß. Und es war Samstag. Ich war wenig weise, um in solchen Fällen an "Niemanden" zu glauben.

Christine Fischer beschreibt die Schönheit Rumäniens. Als gäbe es dieses Sehnsuchtsrumänien noch, das mir meine Reisen genommen haben, zerstört haben. Christine F. sieht es mit fremdem Blick, sieht, daß auch Westler Hotels, Autos, etc. zur Genüge vorfinden würden, daß aber alles leer ist. Ein Vorurteil hindert die Westmenschen daran nach Rumänien zu reisen. Ich finde dieses Vorurteil ja schon bei meiner Frau wieder. Die Ostdeutschen entdecken nun Bulgarien neu, machen DDR-Nostalgie-Ferienreisen - kommen nun als Westdeutsche quasi dorthin, wo sie als Deutsche ohne D-Mark, also zweiter Klasse, einmal gekränkt worden waren, um diesen Frust "wiedergutzumachen" : Deutsche zweiter Klasse gewesen zu sein. Vielleicht entdecken sie für solche Nostalgiereisen auch Rumänien wieder. Schön wärs. Was Christine F. empfand, war ja auch mein Gefühl, als ich in den Westen kam: Zeithaben (Cioran fand diese Beschreibung damals in VISA, 1970, auch seiner Erfahrung entsprechend: Daß ich nun plötzlich keine Zeit mehr habe! Und das Intime, die Nähe der Mutterhöhlen in den orthodoxen Kirchlein und Klöstern jede Nähe aus der Banalität herausnimmt, menschennah:. Menschliche Nähe, im Gegensatz zu den Domen, zu ihrer Kälte, dem Alleinsein, wo nur abstrakt sozusagen, in der Nähe des Altars einer Art Vibration stattfindet, ich spürte es in Florenz besonders. Aber auch in Ulm.). Christine F. beobachtete auch das "Wohnen im Körper, wie es vielleicht Kinder noch haben", das Stehen und Schauen "als eigentliche Tätigkeit". Dieses andere "Gefühl beim Verstreichen, den Gebrauch von Zeit". Die Gastreundschaft beruht darauf. Dauer: Mindestens eine Woche, "ein kurzes Gespräch beinahe ein Affront". Und im Gegensatz zu dem, was etwa Herta Müller, aber auch Richard Wagner oder besonders Monika Maron an Ekel gegenüber ihren alten Landsleuten empfinden: dies Östlich-Laute, Egoistische, Verkorkste, beobachtete Christine F. eine "Kultur der Sanftheit", wie sanft etwa ein Schläfer in einem Abteil geweckt werde, wenn er einen Platz widerrechtlich besetzt hielt. Oder wie ein Sitzplatz für ein Mütterchen gesucht wird, unbekannte, übermüdete Frauen sich gegenseitig stützen, um im Stehen schlafen zu können. Und dann die noch vorhandene "Kultur der Sinnlichkeit", im Westen dagegen "Wahrnehmungsverlust".

Momentaufnahme am Dorfplatz von Heltau in einer Minute "ziehen zwei Kinder ein klappriges, mit leeren Flaschen beladenes Holzwägelchen, andere Kinder spielen am Straßenrand mit Steckchen, die sie auf kunstvolle Weise zu kicken versuchen, ein Mann stößt ein Rad, über dessen Längsstange er einen großen Sack gelegt hat, zwei Männer tragen einen großen Fensterrahmen vorbei, zwei Pferdefuhrwerke kreuzen sich, ein Zweispänner, beladen mit kaputten Velos, ein Einspänner mit einer fetten zweifarbigen Sau. Das alles an einer einzigen kleinen Minute."

 

Über das Altern als unheilbare Krankheit möchte ich eine Novelle schreiben, das Schicksal von Jean Améry, der Auschwitz weniger schrecklich fand, als das Altwerden, und freiwillig in den Tod ging. Dieses rätselhafte und enorm komplizierte Körpergeschehen, jetzt werden neue Steuerungs- und Informationsvorgänge in den Körpergenen gefunden, Metastasen und Mutationen. Jann meinte, es sei doch kaum verständlich, woher denn dies Wunderwerk der Zellen käme, und wie das funktionieren könne. Ich versuchte vorsichtig eine Deutung: meinte, es sei das "Wissen", in jeder Zelle, Teil einer höheren Intelligenz. Trotzdem habe ich Angst, sagt sie. Ich auch. Was da in uns in jeder Sekunde vorgeht, Millionen Zellen sterben , erneuern sich. Vom Kopf ganz zu schweigen. Auch Aids scheint mit dem versagenden oder falsch gelenkten Selbstmordprogramm der Zellen, die kranke Zellen eliminieren, zusammenzuhängen, daß sich massenhaft die Helferzellen selbst töten, und so den Körper schutzlos lassen.

Mutters Anruf dann, mit etwas Bitterkeit, wie ihr Brief auch, weil wir sie hier "gewaschen " hätten. Jann meinte, aus dem Brief schon habe ein stiller Vorwurf herausgeklungen, daß wir zu "offen" gewesen seien, ihr die Wahrheit geagt hatten. So, das hatte sie selbst gesagt, so spräche niemand in der Familie mit ihr. Alle Spannungen werden verheimlicht, oben Tütütü, aber verborgen die Animositäten. Das ist doch immer so, sagte ich zu Jann: Die Spannungen sind doch Tabu, darüber wird nicht gesprochen. "Häßlich" nannte meine Mutter früher das Aussprechen von solchen Wahrheiten. Sie hat mich wütend gemacht, mich leiden lassen, sagte ich, das konnte ich nicht mehr ertragen. Früher habe ich geschwiegen. Sie ließ mich einfach links liegen, weil sie meinte, mich hätte sie ja sowieso und sich um dich bemüht, nur um dich. Das kam fast einer Verachtungshaltung gleich. Und da ich emotional doch sehr an sie gebunden bin, meine Arbeiten bisher ohne sie - als Erinnerungsverlängerer- kaum auskamen, so war das doppelt katastrophal für mich. Auch weil sie nun versucht, uns nur als Einheit zu sehen. Bisher hatte ich ein separates Verhältnis zu ihr, ein sehr gutes, intimes, herzliches. Am Telefon sprachen wir nur über unsere Seereise. Ich erzählte von den Delphinen vor Korsika. Und sie hat Angst wegen ihrer Augenoperation im August. Grauer Star. Heute gehen wir zu R. baden, sagt sie, auch deine Vetter "kommen". Das betont sie immer, als wäre es eine Ehre. Und es ärgert mich. Deine Geschwister sind inzwischen auch wieder zu Hause, sagte sie. Und ich dachte gleich, ob die wohl heute anrufen. Janns Bruder hatte angerufen, und ich erzählte ihm von der Reise. Und von dem segelgerechten Verhalten seines Sohnes, den wir mitgenommen hatten. Ich komme nicht frei von dummen Gedanken, denke an das langsame Abbröckeln alter Freundschaften, wie sich das Verhalten vieler Bekannter aus dem herzlichen und gar enthusiastischen Verhalten und einer Anteilnahme in Fremdheit, Gleichgültigkeit, gar Kälte verändert hat, so I.B. aus Köln, noch vor zwei Jahren als ich im G.Hauptmann-Haus gelesen hatte, hatte er mich überall hin begleitet, auch nachts zum Bahnhof, zusammen mit einem alten Schulfreund, der alles notierte, was ich sagte, und jetzt verabschiedete er sich schon ganz früh nach der Lesung im Schnabelowsky, und es kam kaum zum Gespräch, er war nur sehr hinter Kontakten her, als wäre ich da eben uninteressant geworden, ohne Machtposition. Ist es so? Ein wenig Distanz, Fremdheit schürt das Interesse, läßt die eigene Phantasie, was den andern betrifft, arbeiten, je näher man sich kennenlernt, umso mehr wird diese Vorstellung abgebaut, und man wird zum normalen Menschen, banalisiert alles. Sogar wenn noch so interessante und geistige Gespräche und auch geistiger Gewinn dabei ist. Kommt nun bei mir die Altersparanoia? Jann richtete mich auf: sagte, ja die Fünfziger, überall steht ja in den Zeitungen, wie toll die doch sind, und wieviel sie noch vor sich haben, erst jetzt kommt ihre ganze angesammelte Erfahrung zum Zuge, auch wenn die Vitalität und auch die Erinnerungsfähigkeit etwas abgenommen hat, wird es kompensiert durch das, was sie angesammelt haben .

Doch seelisch belastend ist das dann schon. Auch konnten wir nicht wie früher ruhig 4 Wochen segeln. Der Kreis wird enger durch Bekanntheit. Das Inkognito war Freiraum. Frei werde ich nicht, eben kommt ein Prospekt zu den "Baden-Württembergischen Kunstwochen", wo ich lesen soll; offen aber schließt sich der Raum um mich, wenn ich zu Hause bin, auf dem Meer ganz frei, und nach drei Wochen Wohnen nur im Körper, Luft, Sonne, Meer, Wind. Und fast keine Sorgen mehr.

Der Traum von heute Nacht zeigt es. Es war die erste Nacktlesung der Weltliteratur. Na also, eine Premiere. Zuerst verabschiedete ich mich von irgendjemandem, einem Paar, um "hin" zu fahren, es wirkte wie Ostdeutschland, und weggefahren wie von S. Es gab einen kleinen Hof, Stühle an der Wand. Mutter war da, glaub ich, auch Jann. Aber sehr dunkel alles. Ich stellte die paar armseligen Stühle in zwei Reihen auf. Dann ging ich aufs Klo. Dort hatte ein deutscher Camper seine Sachen in der Pisse liegen. Ein Junge war dabei. Ich kam wieder raus, da war der Hof viel größer, und eine Menge empfing mich. Ein Bus nach dem andern, auch Kinder. Ich aber war nackt, und hatte eine Errektion Schämte mich nicht, es war ganz normal. Schwierigkeiten machte mir nur, daß ich auch die Lesung "von gestern", die ich eigentlich genau kannte, mit einbringen sollte. Ich stand schon vorne. Dachte, daß ich eigentlich eine attraktive Stimme habe. Viele Frauen hatten mir doch gesagt, am Telefon hätte ich eine sehr sympathische Stimme, und waren nur der Stimme wegen zu einer Lesung gekommen, in Ulm z.B. Die letzte Lesung in Ulm, bei der VHS aber war ein Fiasko gewesen, nur meine Nichte und eine Freundin mit ihrer Hausbesitzerin und dem Freund waren da gewesen. In der Traum-Lesung standen vor Beginn eine blinde Engländerin da mit ihrem Kind, und sagte etwas über Hölderlin, unterbrach sich und ging wieder. Jann meinte dazu: manchmal ist es so, du redest und schämst dich, hörst auf. Und jetzt sollte ich laut reden, lesen? Fast froh war ich als die Kinder reihenweise aufsprangen und auf den Schulhof liefen, wo die Pause begonnen hatte, und andere Schulkinder lärmten.

 

11. August. Wieder ein merkwürdiger Traum: in S. ein altes Haus. Werde von vielen Mädchen begrüßt. Eine liegt neben mir, Marcella. Sie sind alle komisch freundlich, aber zurückhaltend, reagieren aber sofort auf jede Bewegung von mir, als ich nach M. die Hand ausstrecke, rollt sie sich sofort in mein Bett. Und kriecht wie eine große Katze unter die Decke, ja, ja, so ists gut, sagt sie, zu mir. Dann schickt sie eine andere, kleine, alles spielt sich in einer Art Küche ab, im Nebenzimmer liegt die Kleine, die bringt einige große Scheine, Franken und D-Mark. Die soll ich bekommen. Wieso, frage ich mich, schweige aber, nehme das Geld und gehe schnell die Treppe hinab, beginne zu laufen. Es ist klar, sie haben mich für ihren Zuhälter gehalten. Viele Hindernisse, Zäune, Sackgassen., Bauplätze usw. stellen sich mir in den Weg auf meiner Flucht. Es gab da auch eine Begegnung mit jungen Typen, doch zu einer Schlägerei kam es nicht. Hab ich meinen Beruf verfehlt?

 

12. August. In der "Hermannstädter Zeitung" ein Artikel über den Schüler- Aufsatzwettbewerb "Ich, als Deutschsperchender in Rumänien". (Aus einem Schülerwettbewerb ist einmal die "Aktionsgruppe Banat" hervorgegangen.) 98 Aufsätze. Die Hälfte der Schüler sind Rumänen und Ungarn. Schüler vom Land erleben die Verlassenheit. "Ausgewandert sind sie, die Bewohner dieser schönen Häuser, einen Teil ihres Leben hatten sie hier liegengelassen." So schreibt ein Schüler. Und ein anderer: "Hätte ich auch gehen sollen? Hier gibt es was aufzubauen, dort ist alles schon fast fertig. Fleiß braucht man überall, doch dort läuft alles fast von selbst... Hier braucht man Pioniergeist, Begabung im Improvisieren." Das Hier ist Siebenbürgen, das Dort ist Deutschland. Bei mir ist es genau umgekehrt. Die meisten wollen "dort" bleiben. Tränen in den Augen beim Treuebekenntnis der Mehrheitler (Rumänen) zur sächsischen Kultur in Siebenbürgen.. Seelische Bindung ans Deutsche, sagen sie. Welch Ethnoreflexe bei mir, wenn es aus der Fremde kommt, nicht aus der Sauce des Eigenen. Als wäre es gelüftet. Ein frischer Wind. Sie werden unsere Kultur möglicherweise fortführen. Auch wenn sie Nachteile, ja Haß hinnehmen müssen. Bindung an diese Sprache und Kultur und an die siebenbürgische Tradition. Jetzt im Verschwinden, wird sie wertvoller.

 

13. August Allerherrgottsfrüh. Ein Hahn kräht in der Nachbarschaft, Morgendämmer, aus der Dachschräge fahles Licht. Der Hund träumt und grunzt in seinem Korb. Vögel singen durchs offene Fenster in die Synkopen des Hahnes. Und ich sah das Gesicht eines Freundes vor mir. Mußte an Christian denken. Denken nachts. der Freund, gleichaltrig, der sehr krank zu sein scheint. Aids? Er hat meine grenzüberschreitenden Ansichten nie geteilt, es gab Streit. Zwei Jahre Pause. Und jetzt, ausgerechnet jetzt hatte ich ihm geschrieben.

Er wollte es mir nie glauben, daß es kein Ende gibt. Ich muß an meine Mutter denken, an die siebenbürgische Nüchternheit, die alles "Mystische" ablehnt, als wäre es unreinlich. Angst geht dabei um. Huh, die Geister. Hör auf damit, sonst kann ich nicht schlafen. Die andern "Völkerschaften", vor allem die Rumänen, waren da viel offener. "Sie sind mir so fremd", sagen meine Leute. "Rationaliät" trennt uns von ihnen. Jaja, die falsch verstandene Aufklärung. Wir haben immer in diese okzidentale Tradition gehört, haben kaum etwas vom Osten angenommen, von seiner Transzendenz, seiner Weite. Die Barrieren des "völkischen" Denkens drücken etwas sehr Intimes aus, nämlich die Angst vor dem Tod, der Natur; das Vergessen, Sichselbstvergessen. Die Angst vor Mäusen und Fledermäusen war fast die gleiche Angst, wie die vor den "Geistern", also dem Un-Heimlichen! Und hing so eng mit dem "Liederlichen", der Unordnung zusammen. Dabei war die Aufklärung doch etwas ganz anderes. Plötzlich fällt mir K.H. Bohrers Bemerkung in seiner "Plötzlichkeit" ein, daß Kleists Selbstmord durchaus auch mit der Überzeugung jener Zeit zu tun hatte, es gäbe eine Weiterentwicklung der Seele nach dem Tode. Lessing, Kant und die Aufklärer hatten es propagiert (ist dies die "Erziehung des Menschengeschlechts"? von dem wir weder auf dem Gymnasium noch an der Universität, nachher im Kulturbetrieb erstrecht nie etwas gehört hatten?!) Kant? Hatte ich ihm mit meinen Angriffen Unrecht getan, daß seine Philosophie aus der Verdrängung dieser Sphäre (ins "Ding an sich") entstanden sei?

14. August. Was wird hier im Tagebuch beschrieben, doch nie der Moment, sondern immer Gedächtnis; also ist der Text , das Datum fiktiv, wird aufgehoben. Und hat auch wenig mit der äußeren Realität zu tun. Jann weiß nichts davon, das Tagebuch berührt sich mit ihrem Tag kaum. Morgens hatte ich beim Frühstück versucht, ihr etwas über Lessing und die innere Überzeugung, jenen Punkt zu sagen, der doch sehr wirklich in uns allen ist, wirklicher als die "Tat Sachen". Ich schwieg und wir redeten über Belanglosigkeiten. Daß die Sonne bei uns später aufgeht als bei Christel D., daß die elektrischen Leitungen da neueingeführt bis zum alten Brunnen, wo spekulativ einer bauen will, um dann mit Gewinn zu verkaufen, nicht genützt werden, daß der Nachbar Dr. B. reklamiert habe, ENEL keine Genehmigung von ihm hatte, die Pfosten in seinem Grundstück zu versenken, und sie wieder ausgegraben werden müßten. Dann daß Ch. Buggert vom Hessischen Rundfunk meinen Kant nicht sehr mag, zu historisierend. Aber gerade diese authentische Montage fasziniert mich ja, entgegnete ich. Wieder war nur im Negativen, in Janns Kritik ein Anknüpfungspunkt gegeben, fast diabolisch gern stellt sie meine Welt in Frage. Nie ist etwas Anerkennendes zu hören.

ABENDS. Ich schrieb an einem Vortrag ("Das verdrängte Inferno") in meinem Zimmer, es war Nacht. Da knackte es im Raum, irgend etwas klirrte, vielleicht ein Vogel, der aus Versehen ans Fenster geschlagen hatte. Und die ganze schöne Ordnung in dieser Rede, die ich vorbereitete für ein Tagung an der Kölner Universität, brach zusammen, und was ich da sagen wollte, schien mir plötzlich höchst lächerlich. Das Alleinsein nachts hier, vor allem nach zwölf Uhr ... Eine Ecke ist da in meinem Zimmer, wo es hoch hergeht, woher ich nur den Ausdruck habe, "hoch her geht", stimmt genau: da die Unsichtbaren dort "wohnen," ganz nah am Fenster zum Wald, sind hoch und nie zu greifen, aber da. Mondsgefrieser, könnt ich meinen. Und wenn es Nacht wird, reichen sie herein, und rühren mich von hinten an. Da steh ich auf, dreh die Deckenlampe an, dann erst knipse ich die Schreibtischlampe aus und geh mit dem Gesicht der Tür zu, Rücken ihnen zugewandt und rückwärts, Schritt für Schritt, immer den Blick in die Vergangenheit, schnell, so schnell es nur geht, zur Tür hinaus zum Schlafen, zum Treffen mit ihnen im Traum, wo sie eher hingehören als in den Blick, der mich trifft und erschreckt, denn im Traum bin ich ja ganz bei ihnen, einer der ihrigen. Doch hochgefahren aus dem Traum, ist das Zimmer auch besetzt von "ihnen", und ich geh unter die Decke, um nicht mehr da zu sein, das löst sich heiß und weich auf.

 

Ich dachte an den armen Onkel Wilhelm, der mondsüchtig gewesen war; er stand mitten in der Nacht auf, rannte in die Küche, lief rund um den Küchentisch und schrie: Ech sterwen, ech sterwen, ech sterwen. In unserer Familie erzählt man sich: als Wilhelm, ein Bruder meiner Großmutter, 1915 in Galizien fiel, da habe seine Mutter seinen Todesschrei deutlich gehört, der Tag seines Todes ist in dem schwarzgeränderten Brief des Regimentskommandeurs bestätigt worden, auch die Uhrzeit; sie schlief in jener Nacht wie immer allein im alten Ehebett, ihr Mann war tot, sie war Witwe. Es war Spätherbst und schon bitter kalt... Und hörte sie plötzlich die weiche, kindliche Stimme ihres Sohnes: Mother, Mother, Mother...

19. August. Heute ist wieder ein Sonntag. Und ich bin in der kleinen Landkirche unten im Dorf gewesen. Als ließe sich dort etwas erkennen. Auf der hintersten Bank und vor dem Altar, Erinnerungen, die nicht nur mir gehören. Alle möglichen Erinnerungen, im Raum hallte es. Die Predigt war längst vorbei. Aber ich war wenigstens nicht allein. Am unerträglichsten ist dieser Schrecken des Alleinseins. Dieses Summen im Kopf. Sie beteten und sangen. Wenn ich wenigsten da mitmachen könnte. Ich kann weder beten, noch singen. Obwohl ich weiß, daß es so viel mehr gibt, als wir sehen können. Und nun hatte es mich erreicht. Als wäre ich zu sicher gewesen, daß alles so ist, wie es ist. Es wird einen Augenblick in deinem Leben geben, da trifft es dich, und du bist weder tot noch am Leben. Ich spürte die Nähe in der Kirche. Als wäre das Holz der Bank nun wieder wirklich, ich griff danach, roch daran. Ich gab meiner Nachbarin nach der Kommunion die Hand. Es war eine abgezehrte Greisenhand, ich spürte die Knochen. Ich kann die Nonnen und Mönche verstehen: der einzige Schutz auf Erden ist, seinem Leben ein Ende zu machen, ohne zu sterben.

Als ich wieder am Tisch in meinem Zimmer saß und schrieb, war es genau so. Und da kam Freude auf. Und nur so kommt noch Freude auf. Und wie im Märchen war ich nun meiner selbst mächtig, und es war mir, als könnte ich plötzlich zaubern. Konnte ich ja auch. Es war mir klar, ich mußte mir die Umgebung, die mir fehlte, hier auf der oberen Zeile erfinden. Freunde nennen mich Niemand. Ich habe es gerne angenommen, weil es mir entspricht, heimlich sage ich auch im Dialekt "en Nemest". Denk auch an Polyphems Höhle zum Glück und letzten Widerstand. An dem wird ja deutlich, wie es Weisgerber schon betont, daß Muttersprache die apriorische Form der Apperzeption ist, und in ihrer innern Sprachform den Einzelnen gefangenhält, sie wird in einer Autopoiesis zu einem autistischen Sich-selbst-ins Gesicht- Sehen. Niemand, als jenen, der sich in der Sprache versteckt, jener, der ich wirklich bin. Ich, der Niemand also, nahm so nur "sprachlich", in meiner Verzweiflung den Vorschlag Janns, an, Gäste nach C., einzuladen, die sollten, je zwei Gäste pro Abend, "alles" erzählen. Träume, geheime Begegnungen, früher gelebte Leben, um zu einem Schluß zu kommen, auf Quälendes nämlich für ihn und uns lösend einzuwirken, auf die Letzten Fragen: Jeder wisse mehr über die Unzeit, als er zugebe, mit erfahrenen Geschichten, mit unseren Todestherapien das zutiefst Verheimlichte dem Begriff zu entreißen. Doch wie das, fragte ich verwundert, ohne "wirklich" da zu sein. Mit Geschichten, sagte er, klar, dem Vorschein entzogen nur in der innern Zeit, die allein gilt. Na schön. Und am deutlichsten sei das nach dem Tode, da sei keiner dort zu finden, wo ihn der Verstand unterbringe, sagte er noch: da gäbe es nichts als ein leeres Grab, sagte er. Dieser Niemand also. Und sagte es noch, und ging dann selbst endgültig da ein, oder aus dem, was wir den Augenschein nennen, verschwand er ins Haus des Seins, wie er sagte: in seinen, in meinen Sätzen, in diesem Buch. Anzeichen gabs schon bevor er fort war, er schien abwesend, schrieb im Stehen, im Gehen, während des Essens, schreckte meist hoch, wenn ihn jemand ansprach. Sein Autistisches Syndrom hatte verheerende Formen angenommen. Wenn er aber sprach, wurde in den Akuemen, der phonetisch artikulierten Kundgabe seiner Affekte, wie wir wissen, Stimmveränderung erkennbar. Allgemeineindruck: Versunkenheit. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht doch um ein verborgenes schizoides Symptom , um ein chronisches Paranoid handelt.

Er lebte mit seiner neuen Wortwelt andere Innenräume, und meinte, wenn er zu einem andern Satz käme, sei das eine andere Begebenheit, und man könne ein Verb oder Eigenschaftswort von oben, von unten, von der Seite sehn, besser als seinen Gegenstand, der Nichts sei. Auch sei hier z.B. "Magahoni", er sagte nie Mahagoni, aus dem armen Restregenwald weniger eine Schuld, als etwa ein Sarg daraus, auf die Schulter zu nehmen. Und er wolle überhaupt nicht in die Erde, weil sie verseucht sei.

Er versteckte sich also hier , als wäre er gejagt, vor sich selbst, vor mir, jener äußeren Gestalt, die mitmachen mußte, nolens volens, vielleicht, zum Schluß, das war vor einem Jahr, dachte er, daß sei nun weiter sinnlos. Vor der geheimnisvollen Krankheit, die die Erde erfaßt hat, kann Niemand mehr fliehen. Und in Siebenbürgen sieht man es ganz deutlich. Sieht den Zerfall. - Da seh ich mich nun vor mir, ein Trost kaum, ergraut, gebeugt, auch kaum noch redend, Niemand habe schon alles gesagt, auch verriet er sich mündlich kaum, nur auf der Seite, da kam die typisch irre Grammatik zum Vorschein, Verbalsubstantive, adjektivische Partizipien und vor allem Paralogien, Amphibolien, Hyperbeln, Ellipsen, Fehlen von Konjunktionen und Pronomina etc.etc. Ich könnte aus seinen Texten Unmengen dazu anführen. Auch betont Erotisches.

 

23. August. Der Zustand also, in dem ich zu meiner eigenen Figur werde, ist durch Sprachhilfe zu erzeugen, ja, aber die Sprache muß hilflos, muß unnötig werden. Eine Art mysterium tremendum, vielleicht, wie Rudolf Otto sagt, es könne zu "fast gespenstischem Grausen und Schauder herabsinken". (Das Heilige). Ich nahm mir fest vor, es in Köln bei meinem Vortrag zu sagen, und wußte schon im gleichen Augenblick, daß dieses unmöglich ist. Und warum? Alle würden lachen, diese Angst kennt kaum noch einer, Niemand mehr, und ist doch das eigentliche Nicht-zu-Hause -sein, das Vertraute zerbrochen, von dem alle nur reden.

Die meisten Leute können das, sie erschleichen sich das Vertraute auch im Fremden, eine Soße deckt alles zu; noch besser im Dienst, Regierungsräte, Polizisten, Minister, Beamte, Lehrer, handeln alle in irgendeinem Namen "als" dies, als das, offizielle Geschäfte, Betriebe und so haben sie Vorrang... Rollen, diese Hülsen sind vorrangig.

Und da fiel mir, wenn ich so an Namen denke, eine Geschichte ein, die eine Bekannte erzählt hatte, und soll in Kronstadt passiert sein, einen merkwürdigen Ton bekomme ich da ins Ohr, ihren: Es war am 13. August 1905, da starb meine Tante, Milly M., Tochter des Ingenieurs M., hör ich die ein wenig singende Stimme der Schwerhörigen: Sie starb nach einem sehr zurückgezogenen ereignislosen Leben, wie viele von uns damals gutbehüteten Bürgersfrauen. Sie hatte einen Anfall oder eine Ohnmacht, während sie eine Treppe hochstieg, schlug beim Fall mit dem Kopf so heftig auf, daß sie das Bewußtsein verlor. Sie konnte sich nach einiger Zeit zu ihrer gebrechlichen Schwester hinschleppen. Nach einigen Tagen starb sie, nachdem sie nur für Augenblicke das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Sie wurde in der Familiengruft bestattet. Fünf Jahre darauf starb auch ihre kranke Schwester, die Gustitante. Die dritte Schwester aber, die Tante Marie, die bisher mit den beiden zusammengelebt hatte, zog zu ihrem Sohn Robert, dem Pfarrer ins große leere Pfarrhaus. Sechs Monate darauf, etwa im November 1910 begannen dort die seltsamsten Erscheinungen, mein Vetter Robert war ein geistig hochstehender und sehr wißbegieriger Mann. Alles, was dort geschehen war, ist in seine Aufzeichnungen eingegangen. Ich selbst war damals noch ein halbes Kind, doch die Mutter, die Frau, die Töchter und die Dienstmagd waren Zeugen und hatten alles ebenfalls sehen können, was dort an unwahrscheinlichen Begebenheiten die Gemüter so erregt hatte. Ich erinnere mich noch, wie meine Tante Marie zitternd von einem geflügelten kugelartigen Wesen erzählte, dies sei mehrmals über ihrer Tür erschienen, die Flügel flatterten wie die eines Vogels, erzählte sie atemlos, und der Vorhang an der Innenseite der Türe sei zur Seite gezogen worden... obgleich sich niemand näher als 3 Meter davon entfernt, aufgehalten hätte, erzählte sie, so gab es meine schwerhörige Großmutter wieder, lautes Kratzen sei zu hören gewesen, während der Erscheinung eines großen Vogels, zu sehen auf der Türfüllung, und anscheinend aus der Richtung der Erscheinung kommend, eine Stimme gerufen habe: "Ich brauche dich"!, wobei dies mehrmals wiederholt worden sei, und die Stimme rufend: Marie, Marie, Marie, habe es auch auf englisch wiederholt, nämlich: Mary, Mary, Mary, Maries Name, aber auf englisch, weil ein Bruder, den sie sehr geliebt, als Schiffsarzt unterwegs war, unerreichbar damals, und ein lautes Knurren wie von einem Tier, endend in einem Geheul oder Klagelaut, ließ es allen kalt über den Rücken laufen, und nichts konnte entdeckt werden, obwohl die vier Zeugen augenblicklich alles untersuchten, zumal der Pfarrer, der ja den Geist hätte bannen müssen, was seines Berufes war, Umgang mit dem Jenseits hatte, durchaus dies Gespenstische zu vertreiben und alles zu gesunden, er konnte nur in sein Buch, später, am 18. Dezember schreiben, daß dies Unheimliche sich wiederhole, sogar bei hellem Lampenlicht gegen sieben Uhr abends, während Hermann, der Sohn und Ilse, die Tochter Roberts, im Speisezimmer mit der Mutter saßen, da wurde die Tür plötzlich weit aufgerissen, und aus dem leeren Türrahmen rief die gleiche Stimme: Ich brauche dich! worauf gleich eine hohe Frauengestalt, schwebend und weiß durchs Zimmer gleitend, nach dem Nichts in der offenen Tür, den Vorsaal etwas über dem Boden gehend, durchschritten, zur Küche hin in dem dort sich erstreckenden langen Gang hinab, und die Mutter mutig, hielt sich unmittelbar hinter der Gestalt, griff wiederholt nach ihr, aber durch sie durch wie durch Butter, keine Hand konnte sie fassen mit diesen eigentlich, wie wir nun wissen, auch aus Licht bestehenden, aber nun festgewordenen Fingern und zu dicht, wie die nachfolgenden Tante Marie und Ilse rein gefühlsmäßig nur und unmittelbar als tasteten sie sich selbst, wahrnahmen, ohne jedes Wissen aber, und konnten noch sehen, wie die Erscheinung, den Fuß der Hintertreppe erreichend, die in den Gang mündete, die Treppe hinaufstürmte, und als wäre eine richtige Verfolgung im Gang, betraten die Frau Roberts und Ida , die Magd, den Gang von der Küche her, so daß nun alle sechs die weiße Gestalt ganz deutlich sehen konnten, und als die nun die Treppe erreicht hatte, warf sich Tante Marie sozusagen mit einer Art Hechtsprung, die ihr niemand zugetraut hätte, dem Unheimlichen nach; mit erstaunlichem Ernst und wie angetrieben von mehr als nur Neugierde; alle umgaben das, was geschah, mit mehr als ihrem sichtbaren Körper, so schien es, und keine der Frauen kreischte und zitterte gar, alles ging eigentlich ziemlich sachlich vor sich, als wäre ein fremdes, exotisches Tier ins Haus eingedrungen, das es zu fangen oder zu verjagen galt..

...

Was Milly, die Robert Lea nannte, was sie wollte, stellte sich im Laufe der Zeit heraus. Sie kam noch oft, Robert war vor allem von der Stimme (ein Außerhalb, Nichts, was beschreibbar wäre) beeindruckt, am 22. Dezember besonders deutlich, im Oberstock nebst großem Lärm und Läuten aller Hausglocken, sechs Personen hörten diese Stimme, langgezogene klagende Töne, laut und klar aber gesprochen, und gab sich zu erkennen der Mutter und den beiden Töchtern, am Ende "Gute Nacht"! in langgezogenem klagendem, Ton, und auch das Ich bra-u-uu-ch-e d--i-ch, wobei der sonst nüchterne und forschende Robert zur Ansicht kam, daß der anscheinend heftige Schmerz, der in der Stimme lag, der Art der Erzeugung der Stimme zuzuschreiben sei, und nicht so sehr einem wirklichen Kummer, vielleicht auch dem Echo in uns selbst, das Einmalige dieses Tönens aus einem Hohlraum der Ferne, der das Abwesende ganz nahe bringt, etwas, das alles Gewohnte zerreißt, den Anschein eines Durchbruchs dessen, das so fremd ist und dem wir doch angehören, meinte der Pfarrer, und ließ seine Frau und die Töchter untersuchungshalber diese Stimme nachahmen, was nicht gelang, die Wirkung war völlig unähnlich, nämlich es war möglich bei all diesen Versuchen, der Stimme einen genauen Ort anzuweisen, die Stelle, Richtung usw. aus der sie kam, die Andere Stimme aber schien von irgendwo aus der Luft zu kommen und sich von Zimmer zu Zimmer fortzubewegen, jedoch auf eine schwebende und hellhörige Art, wo ein unsichtbarer Hintergrund wie ein Trichter und Sog ein Echo bildete, das eine nicht erkennbare Mauer zu durchschallen hatte, und an keine Person gebunden war, wie die Stimme auch.

 

Ich dachte an Palladja, und daß "sie" die Toten, uns tatsächlich brauchen würden, doch sie dringen nicht mehr durch. Bei unserem Nachbarn, dem alten Verleger Bermann Fischer, der ein überzeugter "Ungläubiger" ist, wie er selbst immer wieder betonte, dessen Frau vor zwei Jahren gestorben ist, kamen auch seltsame Phänomene vor, und sie rufe ihn jede Nacht mit seinem Namen, als hielte sie sich daran fest, einmal hatte sie auch in alten Briefen und Dokumenten "gewühlt", etwas gesucht, alles auf dem Boden liegen lassen, doch keiner wußte, welchen "Sinn" dieses Suchen gehabt hatte, und in ihm hatte auch keine weitere Ereignisebene Platz, alles blieb stumm, bis auf den rufenden Namen.

Ähnlich gings auch in jener Familie vor vielen Jahren zu, nur, damals war der Kontakt noch zustande gekommen, immer wieder durch die Stimme, die "Ich brauche dich" rief. Man versuchte es, um bessere Auskunft zu erhalten, mit Klopftönen, die weniger anstrengend sind für beide Seiten, und da kam tatsächlich auf die Frage, "bist du glücklich", das Wort "Mi", aber nicht zu Milly fortgesetzt, also zur unmittelbaren Person, die es ja "dort" nicht mehr gab, sondern zu "Letters" auf Englisch, was wieder an den Schiffsarzt denken ließ. Ob sie die Buchstaben der Schrift über dem Familiengrab meine? "Ja", sehr lautes "JA". Und Erstaunen, warum sich eigentlich Tote um solch irdische Dinge, wie Sprache bemühen, Inschriften. Und Robert dachte an das darin enthaltene "Gedächtnis". Robert, der in der Materie bewandert war, er hatte viel gelesen, fiel auch eine Theorie von du Prel ein, die sich "Monodeismus" nannte, eine Art hypnotischer Traum jener, die im Ganz Andern Zustand sind, aber wie Schlafwandler, vor allem in der ersten Zeit des Übertritts, wobei Schlaf und Wachen, wie Leben und Tod nun sind, als Mondsüchtige des Todes hier ihre nächtlichen Gänge unternehmen, Folge eines tiefen Konfliktes, und es mit ihrem Erleben von hier, einem andern Gedächtnis wie in wirren Träumen verbinden und vermischen, so also zum Schauplatz jener Erinnerungen und des Konflikts gezogen werden, und die "Infizierung" könne Tage, Wochen, Jahre, ja, ganze Jahrhunderte dauern. Und Robert erinnerte sich, wie sehr Milly darunter gelitten hatte, daß sie in ihrem Leben kaum zur Kenntnis genommen worden war, auch unverheiratet geblieben, eine unscheinbare Erscheinung gewesen war, ein "Imchen", wie das hier hieß, ein Mauerblümchen, ein armes Wesen, und jetzt hatte man sie auch noch namenlos begraben, quasi anonym; gleich fiel Robert diese Sünde des Nichtbegrabenseins ein, des furchtbaren anonymen Todes in Massengräbern des Krieges, der Massaker. Ja, Robert besann sich nun auf eine Aussage seiner Mutter, Millys Schwester, daß wegen ihrer und ihrer Schwester Krankheit, keine Inschrift auf dem Granitpfeiler des Grabes angebracht worden war. Und auf eine entsprechende Frage, erfolgt ein lautes "Ja". Man versprach also Abhilfe, was aber wegen des Winterwetters vorerst nicht möglich war, so kam die Stimme auch am 1. Januar, am 8., dann am 1. März, als sie wieder eine Tür öffnete und im Leeren stand. Am 24. März wurde sie an verschiedenen Orten des Hauses von mehren Personen gleichzeitig gesehen, und sie rief: "Marie, Marie, ich will meinen Namen wieder haben". Was darauf hinweist, dachte Robert, daß sie ihn hier wohl nie gehabt hatte, und nun ehrenvoll im Gedächtnis aller sein wollte, was früher versäumt worden war. Die Arme, dachte er. "Wir sind dabei es zu tun", hatte Marie dann gesagt. Und als Antwort, die diesmal alle sehr rührte, und die Frauen weinen mußten, hörten sie: "Tu es jetzt", voller Trauer, Ungeduld und Enttäuschung, als sei alle Verletzung aus dem Leben nun wieder da. Worauf wieder alle Glocken läuteten, die Uhren schlugen, und man sehen konnte, wie Milly den Gong anschlug; nur wen oder was man dabei sah, schien diesmal unklar, weil sich alles in einem Gefühl der Reue aller auflöste, und Robert dachte: noch haben wir die Gelegenheit alles wieder gut zumachen... Und beeilte sich endlich die Inschrift anzubringen. Nachdem es geschehen war, hatte die arme Milly ihre Ruhe und wurde nie mehr wieder gesehen...

 

l 25. August. Mich hat da die Geschichte eines Russen, Herrn Mamtschitsch, beeindruckt, der die vierzehnjährige Schwester, Palladja hieß sie, Schwester eines Freundes aus Kiew als Reisemarschall auf die Krim begleitet hatte, und die wenig später an einem Aneurismabruch starb, und dann auch in Kiew, als er, Herr M., der Offizier, mit einem Dienstkameraden in Kiew eine neue Wohnung in der Prorjesnajastrada bezogen hatte, und auf einem eben hereingetragenen Klavier spielte, Palladja plötzlich in der offenen Tür stehen sah, einer Tür, die aus dem Saal in sein Arbeitszimmer, wo das Klavier stand, führte, sie, ein wenig von der Seite, aber ihm zugekehrt, das Gesicht, und ihn ganz ruhig anblickte, genau jene Kleidung trug, die sie im Tod getragen hatte, und verschwand dann nach wenigen Minuten hinter der Tür des Nebenzimmers, löste sich sozusagen in Nichts auf, und einmal, sie kam dann immer wieder, kaum sprechend, nur einmal das Wort "Ruhe", mit jenem besonderen Klang sagte sie,, und da hatte Mamtschitsch jedesmal dieses Schaudern im Rücken, er erblaßte, und schrie leicht auf, wie ein Anhalten des Atems empfand er es, wenn es ihm die Sprache so verschlug, als wär "es" auf der Schwelle der Tür, eine Art Versuch jenen uralten Sog aus dem Todeswissen zu erinnern, im Einzelnen, in ihm freilich auch noch, dahinzukommen, wo er mit seinem Bewußtsein sonst nie sein konnte, eben das Unheimliche so erzeugte, als außergewöhnlichen Zustand, der ein andauernder hätte sein müssen, um jeder Lüge zu entgehen, jener Lüge: als wäre das, was sich täglich zeigt, sichtbar, einzig wirklich. Und jener Zustand des Grausens sei auch nicht die Wirkung eines Erschreckens oder einer Erregung gewesen, sondern etwas Ganz Anderes, vielleicht waren es bei solchen Zuständen die oft beobachteten Anzeichen einer außergewöhnlichen Beanspruchung zum Zweck eines Sichtbarwerdens jener, die eigentlich keine Person mehr sind, sondern ein anderes Strömen und Wirbeln sind, unsichtbar, und unsere Halluzination mit einer Art Wahnsinn an sich ziehen, um erscheinen zu können mit Hilfe unserer Augen, Licht verarbeitend, und eines von uns im Gedächtnis gespeicherten Bildes - alles aus atomaren Konturen sozusagen hervorsteigend, und jenseits jener rasenden Lichtwelt, aber über sie hervorbrechend.

Und da fiel mir das Wort eines Florentiner Analytiker-Freundes ein, Forscher auf diesem Gebiet, der Jung zitierte, und von unserer Schwäche sprach, daß unser Traumleben enorm mitgenommen sei, beschädigt das Unterbewußtsein sogar, so daß uns die Kräfte fehlen, um sie jenen, die sich da drängen, leihen zu können; so sei auch die gesamte Totenwelt durcheinander geraten, nicht nur unsere. Sie versuchten es jetzt über Mikrophone und Fernsehen, an der Grenze der Lichtgeschwindigkeit, wo nun alles sozusagen "automatisch" und ohne uns vor sich geht.

Und meine Flucht, wenn mich ( selten genug) solche Zustände nachts überkommen, schien mir nun gewissenlos, wen versäumte ich dann, der mich brauchte.

Da bleibt nur der "interessante" Zustand, und ist ohne Folge - dieser Zustand. Es ist das Verborgene, Nichtvertraute. Daß es roh ist, aber äußerst intensiv, weiß jeder, der sich noch daran erinnern kann, an den Osten erinnern kann, oder an die Vorkriegszeit oder an Reisen in Länder, wo die Zivilisation nicht alles vernichtet hat, an die "Gänsehaut", Haare zu Berge stehen, und selbst Rudolf Otto erkennt an, daß "Spuk- und Gespenstererzählungen" "auch auf hohen Stufen der allgemeinen Gemütsbildung Gewalt und Reiz habe". Für Heidegger ist "Angst eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins", er verweist in seinem Werk "Sein und Zeit" auf Augustinus timor, auf Luther und Kierkegaard. Vertrautheit zerbreche, und in der Angst sei einem "unheimlich", es sei Nichts und Nirgends, das sei Nicht-zuhause-sein und zeige so die "Grundverfassung des Daseins" an, sogar die "Klärung des existentiellen Sinns". Und zerbricht "die alltägliche Öffentlichkeit des Man, das die beruhigte Selbstsicherheit, das selbstverständliche Zuhause-sein in die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins bringt". (S. 188/89.) Das eine "Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit" sei.

Weniger erhellend und nicht vom wirklichen Schrecken, nur vom Literarischen ausgehend, ist Karl Heinz Bohrer in seiner "Ästhetik des Schreckens". Wobei allerlei Unheimliches von Hofmannsthal bis Jünger beschrieben wird. (Plötzlichkeit, 1981).

Unvorhergesehene Ereignissse sind wichtig, als Zeitgeschichte sozusagen, denn es "gibt keine Aussage, die relevant wäre über einen Augenblick hinaus". Niemand war in der nächsten Sekunde. Grauen bei Nietzsche: weil "der Satz vom Grunde" eine "Ausnahme erleidet," wenn der Mensch plötzlich "an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre werde." Eine "große Loslösung": "Subjektivität eschatologischer Erwartung"? (Ändert euer ganzes Bewußtsein, denn das Reich des Himmels ist DA, steht in den Seligpreisungen) Keine Erkenntnis mehr aus der Theorie, nur Beschreibung dessen, was wirklich erlebt worden ist, kann gültig sein. War also schon damals das, was heute gilt: der "Anspruch antideologischer Freiheit" (Bohrer), wichtig? Das hieße also, jede Abwehr dieses Bereiches, jede Abwehr des Todes, jedes Vergessen-Wollen, wer wir wirklich sind, bleibt ideologieverhaftet, Vorurteil, Flucht vor der Wahrheit. Und meine Landsleute sind darin Geübte. Vielleicht ist ihr (und aller Deutschen) technischer Tick, ihr praktischer und rationaler Ordnungs-Tick, nichts als Kompensation eines Minderwertigkeitskomplexes, einer Schwäche, nicht natürlich sein zu können. Und der Rassenhaß, die Verachtung des "Andern" ein Bild für jenes Ganz Andere. Judenhaß vor allem. Das Okkulte, das Geheime, Unheimliche, Verborgene, bis hin zum Sexuellen - alles belegt mit moralischen Zeigefingerkategorien "unsauber", "liederlich" "unordentlich" "unsittlich", "ekelhaft" - eine Angstabwehr.

 

26. August. Wo aber wäre das, woran alle diese Geheimnisse gemessen werden könnten: das Totengespräch? Schrecken im Alltag. Vor allem aber: die Geistergeschichte. Alles, was Gewohnheit zerbricht. Es ist doch so, daß Geistergeschichten mit Schuldkomplexen umgehen. Und von Untaten und Gewalt handeln; sie sind aktueller denn je. Diese Erscheinungen eben reißen uns ins Fremde, und dies müßte im Satz gut übertragen werden auf den Leser. Aber ich muß selbst davon ergriffen sein, der unerbittlich andern Welt. An ihr muß nicht nur die Handlung, das Ereignis, die Zeit ins Paradoxe und Absurde kommen, sondern auch die Sprache selbst. Dies müßte erarbeitet werden. Jetzt habe ich wenigstens einen "Auf-Hänger".

 

Ein Stück, eine Prosa schreiben, wo Gespenster auftauchen: Wächter der alten Ordnung, und mich heimsuchen, weil ich die Grenzen ihrer Ordnung übertrete, was bisher war, mir lieb ist, aber überholt ist, wie das alte Siebenbürgen. Wie alles, was der bisherige Osten war. Bosnien als grausige Metapher. Aktueller denn je sind: auch Richard III., vor allem Macbeth. Auch diese Sehnsucht zurück ins Paradies, ins Kinderland Transsylvania, kommt aus solch einer Regression - wie auch der Kommunismus von Marx - ein Zurück ins Idyllische, eine Rache an der Moderne. Gespenster: Wächter eben, des Alten, daher meine Angst. Wie auch Wächter des Gewissen, das auch Stellvertreter des Verlorenen ist, der herkömmlichen sozialen und moralischen Ordnung.

So wird auch Hamlet heimgesucht, heim-geleuchtet. Soll Blutrache nehmen. Blutrachetragödie damals 1601. Mein ganzes Werk solch eine papierene Blutrache? Wie der ganze "Sozialismus" eine Rache war. (Rächen ist eine Arbeitsleistung, sagt Alexander Kluge). Und jetzt überall Rache, Blut. Das Alte soll wiederhergestellt werden!

Trauer als Ausgang der Utopie? Wenn eine alte Erfahrung, die man lieb hat, geschützt werden muß vor dem Einbruch der Realität? Sentimentale Affekte und Trauer über das Verlorene... daß sie regressive Utopien erzeugen. Das Kinderparadies. Einsicht: daß das Realitätsprinzip infantil eben nicht ertragen wird. Marx´ regressiv-idyllischer Antikapitalismus. Arbeitsteilung, Konkurrenz, Egoismus und Jagd nach dem Glück = gerade Motor der Moderne. Hamlet triumphans. Koba , der angenommene Namen Stalins: Hauptfigur aus Alexander Kasbegis Roman "Der Vatermord", rächt als der "Unbeugsame" den Mord am Vater.

 

27. August. Gespräch mit Jann über die Siebenbürger Sachsen. Viele sind neurotisch. Ihr Unbewußtes immer überanstrengt? Sie sind hippelig, nervös. dünkelhaft. Reden furchtbar viel und laut. J. sagte, sie kenne so viele Siebenbürger, die nervös, neurotisch sind. Nervattig sagten wir. Ich selbst mache keine Ausnahme, sagte ich. Die Neurose der Enklave, der andauernden "Minderheit", in der Minderheit-Sein, die der Bodenlosigkeit. Selbstüberschätzung, lautes Reden. Und gleichzeitig Minderwertigkeitsgefühl. Immer in Abwehrhaltung. Es würde sich lohnen, eine Erzählung mit solchen Sonderlingen zu schreiben. Unsicherheit, Bodenlosigkeit. Nachzuforschen wäre, was in siebenbürgischen Schicksalen angelegt ist.

Richard A. fragte mich einmal: kennst du diesen Komplex auch? Es ist die Trauer und Melancholie. Das "Zerrissensein", letztlich auch die Irreligiosität. Und diese seltsame Angst vor Geistern, vor allem bei den Frauen. Der siebenbürgische Lyriker Hermann Klöss nennt sie sogar: " 200000 Vagabunden ohne ein großes Vaterland", "es ist ein Unglück, als Sachse geboren zu sein."

Abends aß ich dann trotzdem ein Ei im Glas, weich. Brockte Brot dazu ein. Gelb. Salz. Brot und Salz. Die Hühner legen noch immer Eier. Ein Wunder. Alles geht weiter.

28. August. Doch ist dieses Feld der Unsicherheit und Rechtsunsicherheit, formlose Gegenwart an den Grenzen zwischen Kontinenten und Kulturen, ein totales Dazwischen, wo jene unendlichen Begegnungen möglich sind, formlos, aber auch abgründige Leere, ein furchtbares Vakuum, aus dem Monster entstehen: das Leben als Alptraum, losgelassen die Unentschlossenheit überhaupt da zu sein. Es entstehen Solipsisten, Diktatoren, grausame Tyrannen oder Heilige an diesem LEEREN ORT .

Der Westen wird den Osten nie besiegen können, dort ist das tödliche Dogma, aber auch die unendliche Offenheit der Transzendenz. Das Chaos und die lebendigen Mysterien der Formlosigkeit. Auch ich bin andauernd zwischen Ost und West herumgereist, mein Herz unentschieden; doch diese Unentschiedenheit gehört zu meinem Wesen; die Formen, die beruhigen, eine gewisse Lebenssolidität, die so tut, als wäre sie "alles", und das erregende Abenteuer, da zu sein, und die Tragik dazu, dabei zu vergessen trachtet, nahm ich vom Westen, auch von jenem in mir, den mir die strenge Erziehung und Disziplin beschert hatte, Disziplin gegen dies ewige Aufgestörtsein, diese Unruhe, dies andauernd nicht fertig sein zu können und zu wollen, das Improvisieren, die Vorläufigkeit; die Sehsucht bekam ich vom Osten mit, aus der Bodenlosigkeit und dem andauernden Mangel, die Sehnsucht in die Ferne, anderswohin zu kommen. Ovid könnte man als Gegenpol nehmen; aber folgendes könnte Dracula Wort für Wort unterschrieben haben: Mit diesem Diarium möchte ich die Leere ausfüllen zwischen dem, was ich bin und dem, was ich war: Jetzt erst zerbricht vor mir eine Wand, öffnet sich die Mauer der Zeit - doch es ist zuviel, was auf mich zukommt, ich sitze da und bin wie gelähmt von der faden, aber unaufgearbeiteten Zeit, die nun wie ein Echo eines ungelebten Lebens, schwach widerhallt, kaum mehr weh tut, nur die letzte Chance, daß das versäumte Leben noch aufgeholt werden könnte, vernichtet. Alles ist zu spät, das Zuspätkommen ist wirklich die bisherige Untat, die nicht mehr wieder gut zu machen ist, genau wie die Zeit, die nicht mehr wiederkehrt.

Und trat also unvermittelt in meinen Tag ein mit dem unausgesprochenen Gedanken, ich hörte es wie ein weißes Rauschen, ob ich bereit sei, für immer hier wegzugehen. Und ganz alltäglich: Was hast du eigentlich getan, kannst du etwas vorweisen, nicht ausgesprochen, sondern wirklich, ohne der Rede Sinn dazu, in dem man sich verstecken kann. Es tat mir sehr leid, mich nicht besser auf diesen Moment vorbereitet zu haben, doch jetzt war es zu spät. Hatte ich mein Leben vergeudet? Ich hatte doch gemeinsam mit Jann immer schon diese letzten Reisevorbereitungen treffen wollen, meist wenn wir hier an der kleinen romanischen Kirche und am Friedhof vorbeigefahren waren, der nachts mit kleinen elektrischen Glühlämpchen beleuchtet ist, um die Geister nicht in die Irre gehen zu lassen, glaub ich, redeten wir darüber und stritten uns leider auch manchmal, wo jeder liegen wollte. Ich keinesfalls hier, sagte ich, weil der Friedhof der Müllabladeplatz des Dorfes ist, Abfall, nahtlos über. Dann lieber die Asche oben auf unseren Weg streuen, oder sich ins Meer sinken lassen mit einem schweren Stein als Siegel um den Hals, dies bei einer Bootsfahrt. So hatte ich auch vorgehabt, mich wie auf einer Landkarte zu orientieren, es gibt ja solche Hilfen, Topographien zur letzten Reise. Man fährt auch nicht in ein fremdes Land, ohne genaues Kartenmaterial. Es war nie dazu gekommen, immer war anderes viel dringender. Und dann diese Frage: Was hast du mit deinem Leben angefangen, das bestehen kann, und bleibt. Was ich vorweisen kann? ... nun, eben dieses Buch, in dem wir uns eben gerade befinden, versuchte ich wieder zu scherzen oder so; und wurde lautlos, doch deutlich erkennbar vermahnt. -

Abends Stefano Baroni, der junge Fotograf. Er hat Fotos von mir gemacht, viel aus mir rausgeholt. Vor allem eine Art Totenmaske, ich war erschrocken, als sähe ich mich endlich selbst. Wieder zuviel getrunken. Komische Angst vorher, nicht zu entsprechen, zu enttäuschen. Diese Angst nimmt zu.

 

30. August. Wieder Gedichte von Anemone Latzina. Sie sind gut. Und ich lese ihre Sonette an G.C. als sie sich trennten, diese Trauer der Verlassenheit. Dieser Riß im "Weltwechsel" von Ost nach West, der mir einmal so naheging. Jetzt? Ich gehöre nicht einmal mehr in diese Trauer. Ganz trocken geworden im Nirgendwo. Hier ist das Nirgendwo. Das merke ich auch im Umgang mit den ganz andern Menschen hier, die ein ganz anders Leben haben, meines gehört nicht dazu, ihres gehört zu mir nicht. Wie vertraut und warm jene andere Atmosphäre, und wie gleichgültig diese. Nichts, nichts ist vergessen.

 

Ein eigenes Gedicht vom 9.8., das so weit, zu weit oben ist, kam aber aus jenem Impuls:

 

HOFFNUNGS-

LOS

 

Aus

meeriger Iris: Schwarz

auf Weiß. Stiftet sich

Selbst. Kein Kreis,

Nein: vier Ecken

der Welt, ein Ent-

Wurf gefangen mitten

im Entkommen.

 

1. September. Im Tagebuch 1992 (Januar) gelesen. Und dort die Szene auf der Solitude in Stuttgart mit der jungen Autorin Bianca Döring gefunden, ich erzählte ihr von meinen Schreckmomenten hier auf dem Berg, nachts; diese Öffnungen, Angst schafft einen freien Raum jener Fremde, wo Wahrheit aufblitzt: das Unheimliche nach Freud. Bei Heidegger ist es sogar Methode.

Meine Mittel: Totenstimmen auf Tonband nachts aufzunehmen. Es ist ein merkwürdiges Phänomen. Sie sind wirklich zu hören, diese Stimmen; die Deutungen gehen auseinander, manche meinen, es seien Stimmen unseres eigenen Unterbewußtseins. Vielleicht aber ist unser Unbewußtes einfach nur ein Tor, und es gibt keine Trennung der angeblich getrennten Sphären; daher die Angst, weil wir jene andere Welt vergessen, um überhaupt im Körper und im Alltag existieren und uns anpassen zu können an eine eigentlich nicht existierende "feste Welt"; die Physik weiß das heute. Dies Gruseln ist alt. "Das Schaudern", heißt es sogar im Faust, sei der "Menschheit bester Teil". Aufzurütteln, aus dem andauernden Selbstvergessen.

 

Im Halbschlaf noch vor dem Aufstehen, ich versuchte es um sieben, es gelingt selten, da ich ab fünf oft wach liege und die Gedanken für den nächsten Tag sammele, auch die Träume arbeiten nach - war mir klar, daß das Unheimliche auch aus dem Exaktesten schon hervorgeht, daß es auch gefühlsmäßig , im Zustand selbst bestätigt wird. In meinem Berliner Celan-Vortrag im Literaturhaus (März 93) hatte ich das auch gesagt, die Passage lautet:

"Paul Celan hatte etwas begriffen, erlebt und erfahren, was andere Menschen in ihrer Idylle nicht begreifen konnten. Es ist ein `Aus der Sprache fallen` der Dinge, doch dieses Fallen ist zugleich auch "ein Kernpunkt der Krankheit Schizophrenie", es ist das Erleben, daß die selbstverständlichen, für Gesunde sich nur wiederholenden Dinge des Alltages dem Nicht-Normalen furchtbar neu sind. Eigentlich eine unerträgliche Erkenntnis der unverhüllten Wirklichkeit, die kollektiv auch im Todeslager furchtbar erlebt wurde: wenn das Vertraute zerreißt, etwas sowohl völlig Neues, wie auch etwas in Gedanken nicht Faßbares da ist. Der Zeitfluß wird nackt, stockt, wie beim Sterben.

Alles scheint einfach, doch gerade diese Einfachheit macht verrückt und jagt Schrecken ein. Der Bruch ist viel umfassender, weil er heute den durch Historie veränderten Tod mit dem Weltbild der Physik, das genau in jene unheimliche Richtung weist, verbinden müßte. In Celans großem Gedichtzyklus "Engführung" klingt schon 1959 dieser neue Ton an. Celan stellt Sprachinstrumente zur Beobachtung des in der "Gewohnheit" der Wahrnehmung Noch-Nicht- Vorhandenen her: "Orkane./ Orkane, von je,/ Partikelgestöber, das andere,/du/ weißts ja, wir/ lasens im Buche, war/ Meinung.//...Wie faßten wir uns/ an mit/ diesen/Händen?" (GW I, 200.)

Vom Atom wissend, daß Außen, feste Welt nur Wahn ist, versuchte Celan eine "Spektralanalyse der Dinge". Durchaus richtig beschrieb Tuwia Rübner bei einem Celancolloquium in Haifa in seinem Diskussionsbeitrag "Lyrik nach Auschwitz" des Dichters unheimliche Lebensstimmung und Sprachkunst, kafkaähnliche "von Buch zu Buch atomarere Textualität" herstellend, beschrieb sie mit einem Zitat aus Eddingtons "Weltbild der Physik": "Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriffe, mein Zimmer zu betreten. Das ist ein kompliziertes Unternehmen... ich muß auf einem Brett zu landen versuchen, das mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur der Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt... auch hat das Brett keine feste Substanz. Drauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen?" (Tuwia Rübner, "Lyrik nach Auschwitz".)

Für den Romanautor Hermann Lenz schien Celan ein Mensch, der "bewegte sich wie einer, der dem Boden nicht traut." Und genau dieses ist heute wirklichkeitsgerechter als die Annahme einer gesicherten "festen Welt".

 

6. September. Immer noch verstärkt mir meine Mutter die alte Anwesenheit, und ich spüre, daß es jene unsichtbare Umgebung Siebenbürgens, die längst vergangen ist, durch uns noch gibt. Wie sehr mich die neue Umgebung aufgesogen hat, trotz Gegenwehr, spüre ich in ihrer Nähe. Ich habe diesen Zustand auch mehrfach festgehalten.

 

7. September. Es ist wieder Herbst, lange Zeit nach unserer Rückkehr aus dem ehemaligen Zuhause. Wir holten meine Mutter am Chiemsee ab; sie hatte sich dort in Rimstig mit ihren siebenbürgischen Jugendfreunden getroffen. Erstaunlich, welches reale Erinnerungsgewebe sie noch hat, die Sachsen haben ihre Vergangenheit komplett nach Deutschland geholt.

Über Meran, das sie immer schon sehen wollte, fahren wir dann mit vielen Bewunderungsausrufen für die Landschaft nach Agliano.

 

9. September. Ich staune immer wieder über diese schöne Naivität der so ungebrochenen Generation meiner Mutter, die den Krieg mitgemacht hat, den Nachkrieg. Aber die Wahrnehmungen dieser Generation sind intakt geblieben. Und sie können noch erzählen. Während meine Mutter von zu Hause erzählt, tauchen in mir andauernd Bilder aus dem Unbewußten auf. Was hat dich denn am meisten berührt, will sie wissen: Das alte Haus, hast Du es wiedergefunden. Nein, sie stellt diese Fragen nicht, hat sie nie gestellt.

Weshalb fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein. Die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen.

12. September. Das jetzige Weltbild Wissenschaft grenzt narratives Wissen, das früher unmittelbar erlebtes Wissen war (Mythen, Religionen, Lebensweisheit und Erfahrung) aus. Das Erzählenkönnen, alles Tradierte wird ausgeklammert. Und noch unsere Eltern konnten erzählen. Mit Lust. Ich höre das Durcheinander der Stimmen am Sonntagstisch. Die Stimme meiner Mutter bei ihrem Naturenthusiasmus. Heute aber ist das Erzählenkönnen nicht mehr "unmittelbar Bestandteil des lebensweltlichen Wissens". Nur noch Information und Abstraktes. Keine persönliche Erfahrung gilt. Es ist nicht mehr notwendig das sein zu können, was das Wissen sagt, daß man sei. Also mit dem Leben für seine Aussagen und Gedanken einzutreten. Auch "Mündlichkeit" als Erzählen wäre etwas anderes als die heutige Quatschmündlichkeit, verrottete Kommunikation über Pragmatisches.

Ich aber versuche jetzt etwas zu erzählen, nehme dazu einen berühmten Kollegen und verwandele mich auch in eine andere, aber eigene Person, denn ich bin aus Hunderten von Personen zusammengesetzt, und weiß es seit kurzem aus der Psychiatrie: wir alle sind multiple Persönlichkeiten, so nenne ich mich Niemand, aus Gründen des Abstandes:

 

K. DER BAU UND ICH.

K. hatte sich im gleichen Jahr, 1923, wie Dr. Bermann in Berlin angesiedelt, in Berlin-Steglitz, Grunewaldstr. 13 bei der Familie Seifert mit Dora Diamant, und war so geflohen, als wäre es eine bazillenfreie Zone, erleichtert weg von Prag, aus der Heimatstadt: fort; - was wehtut, sich vom Leibe halten. Ich könne das sehr gut verstehen, sagte ich zu Bermann, der damals noch keine Ahnung von Kafka hatte: die gleiche Stadt, nein! Auch war es ja nicht "mein" Autor, sagte Bermann, der hier in der Nachbarschaft in C. wohnt, K. wurde es erst später Bermanns Autor, da war K. aber schon längst tot, ein Jahr später, 1924, starb er, und Fritz Martini, auch er nun seit einigen Jahren schon tot, habe ihm, Niemand, oder einfach N., wie ich mich fortan nennen will, in Aalen bei einer Preisverleihung 89 gesagt, daß die "Dämonen" Kafka auch in Berlin gefunden hätten, "sie realisierten sich in seiner Todeskrankheit", und auch er, N., der Transsylvan, könne ihnen keinesfalls entgehen, oder sich nur im Graben von Löchern im Bau, im Loch also, das immer zwei Seiten habe, vom Standpunkt seines Großvaters oder der Mutter jedenfalls ein sehr windiger Aufenthalt, überhaupt noch retten. Und jetzt müsse er eine Story "überkreuz" dazu finden, für ein "Loch" sagte N. zu Bermann und lachte. Er spürte diese riesige Distanz zu jenem, der damals, wenn auch absent dabeigewesen sein hätte können, bei jenem der Schutz im Bau gegen das "Übermächtige" suchte, und wußte, daß er damit das Loch nur vertiefte.

Während er dies aufschrieb und die Bemerkung Bubers, die K. sehr gemocht hat, las: "Ja, das Weib steht im gefährlichen Rapport zur Endlichkeit, und ja, die Endlichkeit ist die Gefahr, denn nichts bedroht uns so sehr, wie an ihr haften zu bleiben; aber an eben diese Gefahr ist unsere Heilshoffnung geschmiedet, denn nur über erfüllte Endlichkeit führt unsere menschliche Bahn zum Unendlichen, " sah er zum Fenster hinaus, und sah unter den zwei Bäumen seine Mutter, die hier zu Gast war, sie saß unten am Tisch, aß ein gemischtes Nuß- und Himbeereis, er aber saß in seinem Bau oben, in seinem Arbeitszimmer, wie er es nannte, sie unten, las diese von ihm beschriebenen Blätter in der Sonne, ging dann, in kurzen Hosen, und einem Leinenhütchen auf dem Kopf, hinauf in den oberen Stock des Baus über ihm, rumorte dort, hatte Angst vor Mäusen, deren Dreck auf dem Fenstersims lag; und tatsächlich drangen die Mäuse vom Dach her ins Schlafzimmer, also kamen sie aus dem Himmel, und Jann warnte, es gab wieder Streit, weil N. meinte, es gäbe da überhaupt keine Gefahr und Jann spinne, die aber sagte knapp, die Putzfrau habe die Mäuse ja gesehen, ganz deutlich, nur er, N. sei halb blind, sähe die gefährlichen wirklichen Tiere gar nicht, und sehe immer nur Phantome, abwesend sei er, andauernd, er sehe auch sie, die eigene Frau nie; und als seine Mutter dann für einen Augenblick nicht ganz dabei war: schrie Jann plötzlich los: du erkennst sie gar nicht, siehst ihr wirkliches verrunzeltes zuckendes Gesicht, das immer unruhig, hektisch ist, nicht, bist verroht, kein Strahl berührt sie, und nichts als Körper, alter Körper, der eigensinnig eine Härte ausstrahle, die etwas Dämonisches und Ansteckendes habe, eben der Bazillus, der sie, die Eheleute gegeneinander hetze, und er, N., verdränge andauernd, daß da nichts, gar nichts sei, außer einer krankhaften Erinnerung seinerseits, und kaum Liebe, nur Angst, daß es seine Mutter, ohne die er gar nicht auf der Welt sein würde, nie gegeben haben könnte, und er, ja, eindeutig sei es ihr nun klar geworden: daß er daher auch liebesunfähig sei, in sich verschlossen, weil er nie hätte ausschwingen können, geborgen, weißt du auch K. meinte es, seine Mutter sei ein Irrwisch, ein ungezogenes unreifes Kind, keine Mutter, daher diese Ausbrüche dann, das sei doch völlig normal, daß er in diese zitternde Erregung käme, und seine Mutter sagte darauf, sie mache sich Sorgen, weil er so zerrissen sei, andauernd unglücklich, eigentlich kein Leben habe. Der aber sagte nur: Ich lebe eben in meinem Bau. Und Jann: N. sei gar nicht so unglücklich, sondern glücklich in seinem Bau, fortgehend. K. meinte damals von seiner Mutter: Die Mutter von einer rohen und penetranten Anwesenheit er habe die harten Falten um den Mund gesehen, die zuckenden eckigen Bewegungen in Prag, der alten Monarchie, das schreiende, scharfe und aufgeregte Reden, dabei immer an etwas unbeherrscht knabbernd, Schokolade oder Eis oder eine Frucht, wissend vom eigenen zu vordergründigen Ich, sich andauernd deswegen entschuldigend. K sah dann auch weg, wenn er seine Mutter mit schiefem Mund und am Brot zerrend essen sah, erinnerte sich an beide Eltern, noch "Zuhause" in Prag, wenn sie auf dem Diwan zusammenlagen, und alles wie ein Zoo war, so niedrig, so verkommen wie ein Stall, mit ungelüfteten Gerüchen.

 

Und jetzt, wo alles wie ein Aus war, ein Ende, auch die Erinnerungen nur starr, vom Zuhause, von den Kindheitserinnerungen nur wie von etwas Abgelegtem gesprochen wurde, wenn auch lachend, die Mutter sogar bewundernd: du hast eine fabelhafte Geruchserinnerung, zu N. sagte, als er von dem faden Maiglöckchen- und Kompostgeruch in der Ecke am Zaun zum "Senator Lang" und der Laube sprach oder den Balsterblättern, die in der "Schlucht" wie nach Schrot rochen, sich anfühlten wie die Ohren junger Hunde, aber beide davon redeten, nie mehr zurückzukehren, da es all das nicht mehr gebe, und die klaren Bilder etwa des "blauen Hauses" mit Glasveranda und Holzbrücke über den Hohlweg erinnert, noch deutlich auftauchen, wie alte Fotos scharf belichtet, aber in Wirklichkeit nicht mehr da seien, und man durch dieses, was da sei, der eigentliche Zustand jener Landschaft nicht zerstört werden dürfe, die durch die Ungunst der Zeitumstände völlig zerstört worden sei, und genau darüber las nun die Mutter in seinem Buch; doch war es ja ein vollständiges Aus, und vertanes Leben, klar war er in dieser mütterlichen Anwesenheit, ein Nichts zu den Müttern, kein Boden, aufgebrochen, auch das Intime Nichts mehr, und sprach wie von einem Mineral von seinem Kopf, dem "Ameisenhelm", den er jetzt schon hatte, Unlust zu leben, das Denken nicht behindert, aber bis zum Schwindelgefühl die Wahrnehmung blockiert, genau wie bei Bermann, nur, bei Bermann hatte dieses erst mit 83 begonnen, sich dann gesteigert, so daß ihn der Schwindel jetzt am Leben tödlich hinderte, und er an Euthanasie dachte.

 

Aber die Arme, die Mutter, woher dieser kritische Blick, ihr Gesicht, die feine griechische Nase, doch der Mund zusammengekniffen, und wenn sie gelöst ist, lacht, dann strahlt etwas durch, löst diese angespannte, alles beherrschenwollende Energie, die meint, alles planen und durchsetzen zu können: alles. Wenn dieser harte Zug aus ihrem Gesicht verschwindet, dann kann sie schön, ja edel aussehen.

Von seiner Mutter und vom fast hundertjährigen Bermann wollte N. noch erfahren, wie es gewesen sei, als es noch Leben gegeben hatte, etwas, das er noch in Fotos sah, in Büchern, Bildern, die herüberstrahlten: etwa Wossek. Und Unterdorf, vordergründig unter Bäumen Herbstblätterhaufen, dahinter Schuppen, Bauernhäuser, ein Teich, Hügel, die den Himmel berührten, Horizont, ein Gefühl, als wäre es ein siebenbürgisches Dorf aus der Kindheit, ebenso das Schloß Wossek im Schnee mit rauchendem Kamin, unberührt von unsäglicher Dauerrenovierung, dem Tineff und Chrom, die alle Dinge zerstören. Das Schloß auch der Vorfahren Kafkas mit Dorf, N.s Schloß geht im Mitleid des Verschwindens verloren, kein Oben mehr, nichtmal der Angst, oh, Pruden, wie nach einem Bombenangriff diese Herkunft: sein siebenbürgischers Dorf.

 

Nun gut, Befreiung ist im Verschwinden, dem Nichtmehrgesehenwerden und Inkognito, dachte N., ist ja die Fremde, für Franz K. wars Berlin, für mich ist es dieser Berg hier, ich mußte fort aus Deutschland, da war alles viel zu nah, tat weh, dieses Wissen von der fürchterlichsten Vergangenheit, an die ich vorher gar nicht gedacht hatte, mein Feind, mein Gegner war ja zu Hause ein anderer, der das Gegenteil zu sein schien vom eigentlichen Feind, totale Verwirrung der Gefühle: auch das Heimweh, fort auch aus dem, was "Heimat" hieß, vernichte sie, sie ist es ja schon, Abschied, das Problem, hinter sich zu haben.

 

K. schwankte, er schrieb sogar, und Niemand verstand es an sich zu messen und zu schätzen, als gäbe es überhaupt nur einen Menschen: schrieb, daß Verständnis im Ganzen, es im größten Zusammenhang zu haben, einen zu haben, der dieses Verständnis zeige, etwa eine Frau, hieße Halt auf allen Seiten, hieße Gott haben.... Nein , er schwankte ja nicht im Ja, das sich immer zeigen sollte, wehe, es verschwand, dann war das elendste Elend da.

Ein Jahr vor seinem Tod kam es für ihn, ein Jahr noch: Glück. Es sei im Sommer 1923 gewesen, so ein Freund, da war er mit seiner Schwester Ottla und ihren Kindern im Ostseebad Müritz gewesen, und zufällig habe auch eine Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes dort Ferien gemacht, und dort habe er Dora kennengelernt...

Für K. war Verbannung und Befreiung zur Einsamkeit etwas Schönes, verwirrend frei sein, zu Nichts gekommen, ein Loch als Besitz, nannte es Bau, selbstgemacht mit dem eigenen Leben getan, ein Versteck, er sei den Dämonen entwischt, diese Übersiedlung sei großartig gewesen, jetzt suchen sie mich, finden mich aber nirgends, wenigstens vorläufig finden sie mich nicht, schrieb er, doch freilich seien sie dann bald wieder da gewesen, die alten Leiden wenigstens, nun ja, sie hätten ihn aufgefunden, angefallen und ein wenig niedergeworfen, gegen das Übermächtige sei der BAU nur zeitweiliger Schutz, dieses Loch, das mit ihm, der Todeskrankheit rivalisiere, doch Schutz vor jener trostlosen Welt des Draußen gab der Bau schon, und es gebe zwei Feindarten, merkwürdig, sah sich als Waldtier, nicht im Wald, sondern wegen seiner "Gegenwart" in einer schmutzigen Grube, und zurück ins Dunkel, ein in die Irre gegangenes Tier, das mußt du sein, und das Loch, selbstgemacht, der Bau, doch auch ein Todesgehäuse, und entrinnst ihm nicht, weder in Berlin. noch in C., und egal wo begraben - endlich. Das Loch im Bewußtsein, zwei Seiten, ists nur solange da, wie du es aufrechterhälst, baust? Eine Zirkelbewegung im Labyrinth, dachte K. und Niemand gleichermaßen, einer an den andern, K. ist ja "tot". Wie das? Denn seine "Burg" könne auf keine Weise jemandem andern angehören, sie sei so sehr sein, daß er letzten Endes ruhig von seinem Feind auch jene tödliche Verwundung annehmen könne, denn sein Blut versickere ja hier in seinen Boden, man könnte also meinen: in diesen Satz, Teil des Baus, den ich von ihm jetzt aufgenommen habe, weiterführe, da hause er, beneidenswert, ganz im Eigenen, und wäre sein einziges stillschwingendes ungestörtes Anwesen, dachte N., schön, wers kann, versucht hat, auch ich in der Versuchung, der beste Solipsist - in. Und war wieder fast versucht, Etymologie von "Alleinsein" mit allen schönen Ableitungen bis hin zu All, ja: dem Hangtsa des Yoga durchzuspielen.

Aber mein Bau, welch ein Hausbau, ersehnt! Reine Zeit, mein Herr?! Angst und Flucht, wovor, Papier, Papier? Flucht, wunderbar, die ihn schützt, doch immer auswegsloser im Labyrinth des Baus, der immer ausführlicher wird, undurchschaubarer, größer, und arbeitet daran, denn jeder neue Gang muß gestützt, ausgearbeitet, verbunden werden, und der Gefangene im Loch kann nicht aufhören, muß in qualvoller Unruhe immer weiter graben und graben, als käme das Loch irgendwo an, als gäbe es einen Aus Weg. Ausgang. Ja, das Aus... Und die Unruhe und Verfolgung, ja, die kommt gar nicht von außen, es ist die eigene Unruhe und Verfolgung, oder: es ist dieses Rätsel, das Bewußtsein ... des Todes heißt es. Und stellt sich unaufhörlich in Frage, den Bau, der schwer zu halten ist so, und weil er selbst sich zusieht; das Komischste aber, nicht drinnen im Bau - ist Sicherheit, nein immer nur im Neuanfang, im gehetzten Weiterbauen, also am Ende eines Ganges, ach nein, besser vor dem Loch selbst, dem Eingang ist ein wenig Sicherheit, schützt sogar da am besten, sozusagen bevor etwas beginnt, weil im Nochnichthandeln das Unerreichbare noch möglich ist, nicht schon halb zugeschüttet durch das Loch, das Undenkbare also, Ungreifbare; faßbar ist nur die Erde, bevor sie weggeschafft wurde, um dem Loch Platz zu machen... Das Leben in der Beobachtung also des Eingangs zu verbringen, das wäre gut, fast greifbar die schwarze Melancholie, nein, die schwarze Scham, und ein schwarzes Dreieck wie ein Gottesauge, nun ja, dachte er... Mein Gott; mein Gott hätte er nicht gesagt, aber daß der Schlaf dazu gehört, den er zu beobachten meint, und hinter dem das selbstgebaute Labyrinth auftaucht, da ist er sich sicher, dieser Schlaf des Lebens, und sei er auch nur so zur Sicherheit nachgeahmt, als könnte man den vom Himmel herabholen und irdischwerden lassen in irgendwelchen Vorstellungen, hartgewordenen Gefügen, vielleicht aus dem einmal zu erwachen, das wäre doch schön, aber er weiß, daß er schläft, während der Verderber wacht, der ja auch, wenn er so zu wachen meint: IST.

Als hätte K. so die unerkennbare Geschichte seines eigenen Todes geschrieben, die einzige mögliche Sicherheit, daß daraus ein Bau entsteht, der weiter steht, obwohl alles weiter unverändert bleibt.

Es hing ja alles damit zusammen, daß er nicht eigentlich schrieb, sagte N., ich schreibe nicht, nein, es war nur ein Versuch, bewußt zu tun, was eine Fledermaus unangestrengt tut, sich durch Graben von Löchern retten, und in K.´ s Brief an den Vater geht es um die Wahlunmöglichkeit zwischen Taube auf dem Dach und Sperling in der Hand, die Kampfverhältnisse und die Lebensnot hätten entschieden - das Nichts zu wählen. Und doch sei ja Schreiben - eine Form des Gebets, beten aber unmögliche Aufmerksamkeit; der kalte Schweiß breche ihm aus, sagte N., wenn er seine Jann lesend auf dem Bett liegen sehe, und die Zeit verrinne, er, ja er suche eben nach diesem Buch, das es in Wirklichkeit gar nicht gebe. Unten im Eßzimmer aber schlägt eine Uhr, eine nur zu bekannte Stunde. Zum Verzweifeln sei die Unselbständigkeit des Schreibens, und N. dachte daran, beim Kirschenpflücken heute Morgen, wie wenig ihn, aber auch K. die Bauern achten, die Abhängigkeit vom Dienstmädchen, das anheizt, von der Katze, die sich am Ofen wärmt, selbst vom armen alten Menschen, der sich wärmt, oder unter dem Baum noppt, aber wirklich da ist, eigenständige Verrichtungen, nur das Schreiben, hilflos, ist nicht in sich selbst da. So kann es dafür keine Achtung geben. Und doch das verzweifelte Schwanken: so ein Leben, kein Zufall nämlich, daß die Bibel Schrift genannt wird, denn jene, die es tun, haben die Aufgabe, das isoliert Sterbliche in das unendliche Leben hinüberzuführen. Und zugleich dieser erlösende Trost des Schreibens, das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe, und je höher diese Beobachtung, entfernter unerreichbarer von der Reihe aus, umso freudiger, steigernder ihr Weg. Und wehe jetzt, meine Welt versinkt, so sagte er: ich bin ausgebrannt. Und meinte, es sei besser, wenn er nicht schreibe, denn es sei ihm in dieser Nacht bewußt geworden, auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenem Boden er lebe, über einem Dunkel, das sein Leben zerstört, das Schreiben erhalte ihn, aber richtiger sei zu sagen, daß es diese Art von Leben erhalte, und es müsse im Irrsinn enden. Das Schreiben sei ein süßer wunderbarer Lohn, doch wofür?

Er hat schreckliche Angst zu sterben, weil er nicht gelebt hat, und geht ständig damit um: Sterben zu fürchten und Sehn, wie man ihn beweint.

Und auch K. wußte es, daß einer, der solches tut unablässig von der Welt, die er fixiere, Stück für Stück hinauskatapultiert werde, wie er sie sich anmaße, entziehe sie sich ihm, und so räche sie sich am Beschriebenwerden, und so habe er von Zeit zu Zeit etwas von seinem Besten etwas zwischen die Finger genommen und bis zur vollständigen Vernichtung in tausend Stücke zerrissen oder einfach in den Papierkorb gestopft oder ins Kaminfeuer geworfen, und so gehofft, die beleidigte und durch Mißachtung auf ihn aufmerksam gewordene Normalität ein wenig zu beschwichtigen, das aber sei nie gelungen, man trage eben ein altes Zeichen auf der Stirn.

 

In K.s Nachlaß habe sich kein eigentliches Testament, nur ein zusammengefalteter Zettel vorgefunden, berichtet Brod, der Freund, unter vielen andern Papieren der mit Tinte beschriebene Zettel samt der Adresse des Freundes, und darin die letztwillige Verfügung, alles Geschriebene und Gezeichnete restlos und ungelesen zu verbrennen, und dazu auch noch ein mit Bleistift gekritzeltes, offenbar älteres, weil vergilbtes Blatt, worin stand, daß K. wahrscheinlich mit seinem Lungenfieber nicht mehr aufstehe, und dieses sei genug, da nicht einmal, wenn er es niederschreibe, es abwehre, auch wenn dies eine gewisse Macht habe, und daher sei außer seinen bisher erschienen fünf Büchern, und dem "Hungerkünstler" so K., alles ausnahmslos zu verbrennen.

Auch hatte er, um Dora, seine letzte Liebe, zu heiraten, an ihren Vater geschrieben und sich eröffnet, bekannt, daß er zwar kein Gläubiger sei, jedoch ein "Umkehrender", der Vater aber hatte den von ihm so hochverehrten Gerer Rebe um Rat gebeten, war zu ihm gereist und der Rabbi hatte den Brief gelesen , ihn aber gleich beseitgelegt, und nichts als kurz Nein gesagt, Nein, als wäre darin alles zusammengefaßt, was sich überhaupt noch sagen ließ, denn nicht nur der Tod, sondern auch das ganze Leben von K. hatte dieses voll und ganz bestätigt, und dazu kam noch jenes unerklärliche Etwas, das die Umgebung sichtbar werden lassen konnte; und Dora, die in dem Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg und Wien an K.s letztem Krankenlager wachte, nahm Brod bei einem seiner letzten Besuche beiseite und flüsterte ihm zu, es erscheine jede Nacht an K.s Fenster eine Eule, und jeder wisse, es sei der Totenvogel.

Es ist nicht so, daß K. sich an jenes Nein hielt, nein, er wollte leben, weil Dora da war, und befolgte pünktlichst alle ärztlichen Vorschriften, denn es war sein letztes Glück, Dora, sie scherzten wie Kinder miteinander, tauchten etwa ihre Hände gemeinsam in dasselbe Waschbecken und nannten es "unser Familienbad", so daß er vor Freude auch geweint habe, so erzählte Dora, als ihm Professor Tschiassny sagte, im Hals sehe es nun besser aus: Kafka befand sich im letzten Stadium einer Kehlkopftuberkulose, und jetzt hätte er zu leben gewußt und gerne gelebt. Als hätte er etwas von dem, was wirklich um ihn war, versäumt, genoß er in den letzten Tagen ...alles bis hin zu den Gerüchen...

Gegen vier Uhr morgens am 3. Juni 1924, da er, wie Dora bemerkte, "schlecht atmete", bekam er zuerst vom Arzt, den sein Freund Robert Klopstock weckte, eine Kampferinjektion, doch wollte er die Todesspritze Morphium, er wollte das Morphium, es gab längst diesen Wunsch, und er sagte, "töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder. Und schwindeln Sie nicht, Sie geben mir ein Gegenmittel." Als er das Pantopan bekam, atmete er auf: "So ists gut, aber mehr, mehr, es hilft ja nicht." Und schlief langsam ein. Vorher noch hatte er den Herzschlauch weggerissen, ihn ins Zimmer geworfen und gesagt: "Jetzt nicht mehr quälen, wozu verlängern." Einige Schritte entfernt nur der Freund, doch viel zu weit, Klopstock mit diesem Namen, der die Todesspritze eben noch reinigte, da sagte K., "gehen Sie bitte nicht fort." "Ich geh ja nicht fort," sagte Klopstock. "Aber ich gehe fort," sagte K., die Stimme sehr tief und nicht mehr flüsternd.

Das Begräbnis am 11., der schlichteste Ort, wie gereinigt, als wäre ein Nullpunkt überall endlich erreicht in dieser Gebetshalle des Jüdischen Friedhofs zu Prag. Viele Menschen waren da. Dora aber, stumm, leichenblaß dazu, war am stärksten da, und fiel plötzlich wie tot hin, in diesem trüben Wetter, das sich für Augenblicke, jetzt, erhellte. Aufgeflackert war vor einigen Tagen, ihretwegen, sein Lebenswille, glücklich, ja, er wollte plötzlich leben, das was jetzt geschah, ließ sich aber nie wieder ändern.- In der nackten Holztruhe aber sollte er liegen, Franz Kafka, den es damals eigentlich noch gar nicht gab, so dachte einer, der nicht dabei gewesen war, aber es wußte.

Als die Trauergäste ein Viertel nach sechs aus dem Haus der Familie K. am Altstädter Ring zurückkehrten, sahen sie, daß die große Rathausuhr genau um vier stehengeblieben war.

Und manchmal scheint es, als schriebe er nun einfach weiter, denn er brauchte dabei die ganze Abgeschiedenheit, nein, nicht wie ein Einsiedler, hatte er gesagt, sondern wie ein Toter, es sei ein tieferer Schlaf als jeder andere, und daher sei es auch unmöglich, jemanden neben sich zu haben, der so den Herbst und Winter verbringt, und im Frühjahr wie ein Halbtoter jemanden an der Tür empfängt, ein kindlicher Wunsch, im Nichtanfang, im märchenhaften Träumen vom umrandeten Loch, alles schon zu haben. Mein Gott, ach, mein Gott, das hätte er nicht gesagt, aber daß der Schlaf dazu gehört, den er zu beobachten meint, und hinter dem das selbstgebaute Labyrinth auftaucht, diesen Schlaf wohl des Lebens, und sei es auch nur so zur Sicherheit nachgeahmt, den gebe es; als könnte man den vom Himmel herabholen und irdischwerden lassen in irgendwelchen Vorstellungen hartgewodener Gefüge, vielleicht müssen wir einmal aus dem erwachen...

 

13. September. ERZÄHLEN der Erzählung? Während die Gesellschaft heute nur erfahrungsloses Sprachspiel ist. Zeitungsgelese. Fernsehabende. Die Fähigkeit zur Selbstlegitimation ist nicht mehr möglich. So entstehen die Kretins des Besserwissens. Aber es kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen - die Erzählung - zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen ist; andernfalls ist es gezwungen, sich selbst vorauszusetzen, und verfällt so in das, was es verwirft, die Petitio principii, das Vorurteil. Aber verfällt es ihm nicht auch, wenn es sich durch die Erzählung autorisieren läßt...? Sagt der Franzose Lyotard.

In sich ruhend - das gab es noch früher: die Erzählzeit, vielleicht noch als Zehnjähriger hatte N. das erlebt, der mir nähersteht als das Kind. Dann der Bruch. Erinnerung aber steht noch fest. Wie die Jahreszeiten. Nach dem Sommer kam der Herbst, dann der Winter, wir gingen auf den Eisplatz mit Schlittschuhen, auf dem breiten Holzsteg, der zum Eis, im Sommer aber direkt ins Wasser führte, polterte es, wenn wir mit viel Schwung runterliefen auf den Bohlen, runterliefen ins gefrorene Rund, rings mit Tannen umstanden, am Zaun zur "Schwimmschule", die nun ja leer war, ein trauriges wasserloses Bassin, drehten wir Schleifen, Acht, wie unendlich, Doppelacht unendliches Glück, als wärs ein Fraktal nun, du weißt: die Chaosforschung kennt sich besser aus: dazu ein Marsch aus dem Grammophon, gedreht, eine schwarze Platte, tutete an Rillen entlang der Ton. Eine Dame ganz in Weiß, ging Schlittschuhfahren auf das Eis. Und eine Uhr schlug. Der Herr Fänk, der kassierte und die Aufsicht führte, schrie. Und wurde an der Nase herumgeführt wie ein Tanzbär. Wir im Chor: Herr Fänk nor noch iist ämeränk. Herr Fänk, nor noch iist ämeränk.

Und wie die Zeit so ruhig damals floß unter dem Eis im Mühlengraben das Wasser zu den Turbinen des Elektrizitätswerkes, ruhig auch das Licht. Alles noch eine runde Sache wie der Tisch bäm Owendämmes, wenn aus dem erleuchteten Fensterchen der Marsch kam, das Schreien aus dem Reich kam. Wir wußten es nicht, aus jenem kleinen Fenster kam das unendliche Chaos. Alles den Bach runter. Cha, Cha, wonni wirst tea wedder kun? Wonn de schwarz Rowen weiß Fädderchen hun.

 

14. September. Meine Mutter bricht jedesmal die glatte Oberfläche meiner Außenwelt-Halluzination auf, die auch vom Gedanken beschützte Sicherheit. Mutter ist meine Gedächtnisverlängerung. Jedesmal, wenn ich von Deutschland zurückkehre, bin ich hier sowieso immer erregt, als wäre es eine Pause, Eindrücke, Erinnerungen, Träume strömen ein, und ich möchte Bilanz ziehen. Das schmerzt meist. Ist aber auch jedesmal, als wäre die Ankunft hier neu, als gäbe es noch Hoffnung, daß etwas beginnen könnte...

Es ist ein schwieriges Zusammenleben zu Dritt hier dann auf dem Berg, weil alles aufgebrochen ist, ich mich stellen muß. Das Leben im Kontrast: verfehlt.

Gräßlicher Traum: begleitet von meiner Mutter sollte ich "eingeäschert" werden, da meine Stunde gekommen war. Alles war vorbereitet. Wir mußten aber warten, zuerst sollte ein anderer eingeäschert werden. Der lag langausgestreckt auf einer Art Operationstisch; eine lange spitze Stange drang zuerst in die Nieren ein, dann eine andere von der andern Seite in den Körper, wohin sie eindrang, war nicht ersichtlich. Der Arme quälte sich lang. Ich sagte darauf, daß ich das nicht mitmachen, und lieber normal sterben wolle, das wäre abzuwarten. Meine Mutter war entrüstet. "Und die siebentausend Mark, die Du bezahlt hast?" sagte sie und begann mir alle schönen Sachen zu zeigen, den Eichensarg, Leintücher, vor allem aber den rötlichen Grabstein mit meinem Namen, ich las ihn genau, es war ein gräßlicher, geschmackloser Stein mit einem dicken Wulst als Querleiste. Darunter ein langes Zitat von irgendeinem Dr. X. Aber ein Doktor mußte es sein, anstatt vor meinem Namen. "Und das habe ich bezahlt", sagte sie, hat tausend Mark gekostet. Sagte es ermahnend, als würde ich nun eine Schuld auf mich laden, wenn ich diese ganz normale Prozedur verweigerte.

 

15. September. Nur ja nicht draußen sein, begreifen, was geschehen ist. Schon das schwache Echo, das hier ins Zimmer dringt, ist schmerzhaft. Alles tut weh, auch die Gegenstände im Raum tun weh. Das Alter. Und allein jeder Gegenstand, für sich nur vorhanden und unverbunden. Kalt. Als sähen sie mich mit ihren unsichtbaren Augen an. Vor allem der Eßtisch und das Schlafzimmerbett, oder Janns kleiner Computer haben diesen Blick. Und dann ist da ein großes Geflüster, allerlei Stimmen. Ich erkenne auch meine. Die jenes Andern... Gestern sprach ich Dinu, unseren Bauern, an, er ging an mir vorbei, als wäre ich Luft. Daß ich auch durch die Dinge hindurchsehen kann, macht mich unsicher, sie scheinen durchsichtig zu sein wie Glas. Wenn ich beim Frühstück vor dem Marmortisch sitze, ihn anstarre, beginnt die Maserung lebendig zu werden, schließlich bewege ich mich wie ein Lichtpunkt im Stein; "Projektionen" im Spiegel auf meinem Gesicht, sekundenschnell aufblitzende Bilder durch meine Vorstellung von mir selbst, ich sah mein Kindergesicht, aber auch voraus in die Zeit, erschreckend: mit achtzig, Runzeln, Falten, ausgetrocknet. Oder ich projizierte das Gesicht meines Vaters auf meines, ging weiter und weiter in die Vergangenheit zurück, Vorfahren, ja, jede Sekunde ein neues Bild, wie im Kino, bis ich beim Vater Halt machte. Wer aber ist... wer?

Es geht nie ohne Übelkeitsgefühle ab, wenn diese Traumfetzen hochsteigen, und ich habe es aufgegeben Kreislaufmittel zu nehmen, zu denen mein Arzt mir riet. Heute überlagerte dieses Gesicht des Andern, mein vergessenes Ich aus der eigenen Vergangenheit, wieder einmal, wortlos, mein Außenbild im Fensterrahmen, oder auch mein Zimmer im Blick, die Hand, die über die Buchstaben springt. Das Gesicht rund, angegrauter Bart, auf der Hand Pigmentstörungen, wie eine Landkarte, rosa im Braungebrannten; seine Hand spürte ich übrigens jetzt beim Schreiben auf meiner.

Der VERGANGENE, der in mir Vergangene, an dem ich vergangen bin und mich vergangen habe? Wann war er zum letztenmal wirklich noch er selbst naiv und gerührt - und hier gewesen?

 

16. September. Ich lese über diese Zustände und wollte sie schon aus dem Buch streichen, da wurde es mir klar, daß es doch eine unbewußte Beziehung geben mag mit dem Geburtsort und seiner Landschaft, die jetzt am Verschwinden ist. Die siebenbürgischen, nein, transsylvanischen Städte und Dörfern, "mein", nein: - das deutsche Siebenbürgen gibt es ja nicht mehr, und als ich die "Zustände" hatte, war sogar meine Mutter hier zu Gast gewesen, die nochmals für eine starke Verbindung sorgte. Freunde, Westdeutsche, die in jenes Land fahren, behaupten, es sei dort auffällig eine fast metaphysische Ruhe der Abgeschiedenheit, so lese ich jetzt auch im Brief einer Kollegin: Für einen westlichen Menschen, der Exotik und Kontrast liebt, sei es etwas, das es "bei uns nicht mehr gibt", es mag sogar wohltuend sein; mich aber bedrückt dieses sterbende Land. Und es wurde mir auch in Bukarest übel, als ich einen Pferdewagen und alte (einmal gewohnte, dann vergessene) uralte Zäune und Mauern sah, deren Geruch plötzlich Kindheitsbilder, ähnlich wie bei Proust hochkommen ließen. Eine andere Art von "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit", nämlich Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart.

 

VII

 

DER ANGRIFF DER ÜBRIGEN ZEIT AUF DIE GEGENWART. ODER SARAJEWO IST ÜBERALL.

 

17. September. Ich lese in Richard Wagners Buch über "Postsozialistische Zeiten" aus "Völker ohne Signale" in der Anthologie "Das Land am Nebentisch" (Reclam, 93). Gute Analysen. Es bestätigt vieles aus meinen Aufsätzen und aus dem Essayband "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", Rowohlt 1991. Die Akzelleration. Das Zwangsgleichgewicht der "guten alten" Zeit in der langweiligen Wartezeit. (Ende der Wartezeit). Die beruhigenden Lebenszwänge. Und daß die Kommunisten nicht an allem Schuld sind, sondern es auch noch die Vielfalt des Lebens gab. Daß wir alles dem "System" in die Schuhe schoben, das war einfach, ja, äußerst entlastend, sogar Krankheit, ja, den Tod abschieben zu können, als wären wir unsterblich, und nur diese unsäglichen Funktionäre und der verhasste Staat waren für alles "Irdische" und jede Miesere verantwortlich. Aber dann, einmal im Paradies, im Westen freilich, da wird alles wunderbar sein, dachte ich, wie vor dem Sündenfall. Wie bitter dann zu sehen, jetzt, daß alles so ist, wie es ist. "So ist das Leben" nun. Die Lüge der Kommunisten war ja leider nur eine transformierte Wahrheit, nicht die reine Lüge, eben. Und die Leute hatten das sture Beharren auf einer "negierten Lüge" zum Lebensprinzip erhoben, etwa, es sei z.B unmöglich, daß im Westen etwas schlecht sein könnte, eben nur, weil dies die Kommunisten behaupten. Unmöglich war es so zu Hause im armen alten Osten sich auf Komplexiät einzustellen. Die Realsozialisten haben auf die vielfältigste Weise Wirklichkeit und Zeit zerstört.

Gut die Analyse auch des "Postsozialismus": CHAOS. Und die Erklärung für das nur kurzlebige Prozessieren mit dem kommunistischen Verbrechen. Recht reichte dabei nicht aus. Aber auch politische Prozesse nicht; denn es geht um jene Art von Verbrechen, die auch die Nazi-Blutschuld so unfaßbar macht. Und dann: es geht nicht nur um die vielen Toten, sondern auch um Millionen lebende Tote, tote Lebenszeiten. Wichtig ab 1961: die Verquickung, die Profiteure, die Privilegienhierarchie. Verführungen und Erpressungen - so daß alle Täter und Opfer wurden. So natürlich auch der Autor selbst: der Richard Wagner heißt. Und der ebenfalls von der neuen Schuldlosigkeit infiziert ist. Bin ich selbst schuldig geworden, frage ich mich heute: mit Sicherheit: Ja! Schon weil ich bis 1969 in jenem tausendfach verquickten Schuldsystem Ost "geblieben" bin, und nicht versucht habe, "herauszukommen", wie etwa Peter Grosz, der durch die Donau schwamm, gefaßt wurde, die Flucht abbüßen mußte? Doch nein, so einfach ist es nicht, denn ich war überzeugt, daß ich dort für wichtige "Veränderungen" gebraucht wurde! auch wenn diese Überzeugung auf Illusionen beruhte, war sie damals legitim. Legal war es mir erst 68 möglich zum erstenmal die Grenze in Richtung Westen zu überschreiten. Ich blieb 6 Monate und kehrte mit Schuldgefühlen anderer Art zurück. Und hatte "Wahrnehmungsheimweh", Utopieheimweh, Lebens-Fortsetzungs-Heimweh, scheute mich das bisherige Leben einfach wie ein gebrauchtes altes Kleid liegenzulassen! Zuhause herrschte, wie W. richtig sagt, das Chaos: die "Negative Organisationsform," und nur "Offene Dissidenz" oder "Ausreise" gaben die Möglichkeit sich dem allgemeinen "Mitmachenmüssen" zu entziehen, und das war mir damals nur unbewußt klar, wurde mir dann erst durch den Weltwechsel 1968 klar, und auch die innere Vergiftung, die innere Zensur wurde mir erst bewußt, als ich im Westen nach sechs Monaten einigermaßen entgiftet worden war.

 

18. September. Meiner Mutter, die immer wieder "Geschriebenes" von mir verlangt und alles liest, was ich ihr gebe, zeigte ich diese kleine Orientierungs-Notiz zu Siebenbürgen: die sie auch gleich unter dem Olivenbaum in der Sonne las: - In allen diesen Ländern besteht ein tief eingewurzeltes traditionelles Mißtrauen, das auch noch ideologisch zementiert wurde, gegen Privatbesitz, Geld und Banken. Es wird als Wucher angesehen. "Der Westen" wurde, auch in Rumänien, das ich besser kenne, immer als fremd angesehen, als rational, kalt, egoistisch, die eigenen, vor allem religiösen Werte, gepflegt, jetzt kommen sie wieder. Nicht nur die Rumänen haben im Osten jahrhundertelang die Geschichte des angeblichen "Fortschritts" boykottiert, sie mit ihrem Gefühl für Natur und das Offene, Irrationale abgelehnt, jene okzidentale Wirklichkeit, die nach der Aufklärung auf Grund von Verdrängung des Transzendenten, Ausgrenzung des Menschen, Vernichtung der Natur entstanden ist. Der Westen hätte vom Osten viel lernen können, etwas, das im Untergrund weitergelebt hat, nicht umzubringen war, als hätten die Wachtürme und Stacheldrahtgrenzen, der Kalte Krieg, die Menschen vor der Zerstörung ihrer Substanz durch Konsumwelt, Konkurrenz- und Geldwirtschaft bewahrt. "Die Marktwirtschaft wäre für die Sowjetunion tödlich. Den Russen erginge es damit wie Fischen auf dem Trocknen...", dies die Meinung des russischen Autors Alexander Sinowjew in einem Gespräch mit der taz: "Nicht jedes Volk ist in der Lage, die westliche Zivilisation zu übernehmen oder sie selber zu entwickeln. Im Westen dauerte es viele Jahrhunderte bis in die Neuzeit; es geht nicht in fünfhundert Tagen. Aber diese Idioten ignorieren alle die Geschichte."

 

19. September. Der Riß geht viel tiefer als nur ins "Ökonomische", auch wenn Ökonomie wie ein Zeichen der Überwältigung erkennbar ist: "Schicksal" des Kontinents. Der Riß jedoch wird deutlicher denn je. Die Fremdheit.

Am deutlichsten im, ach, so "vereinten" Deutschland, wo die ehemalige heiße äußere Grenze als Mauer sich zu einer viel furchtbareren innern entwickelt; und dies ist von niemandem erzwungen, wie bisher, als die Trennung erst Vereinigungsillusionen entstehen ließ.

Durch die 45 Jahre im antiokzidentalen Block, der gleich nach Hitler, ohne sie Atem schöpfen zu lassen, die Ostdeutschen in die Zange nahm, ist dort ein besonderer deutscher Menschentyp entstanden, der größere Ähnlichkeiten mit den bisherigen Verwandten im Osten hat, als mit den fiktiven "Brüdern und Schwestern", den Westdeutschen. Nicht nur das Negative ist dabei zu sehen: die schizophrene, sogar listige Obrigkeitsmentalität, Staats-Hörigkeit im geschenkten Schutzraum der Unselbständigkeit, auch andere östliche Eigenschaften, jene vorhin erwähnten, haben abgefärbt, zum erstenmal in der deutschen Geschichte. Und zum erstenmal in der deutschen Geschichte gab es hier und nicht im Westen einen siegreichen Volks- Aufstand, der die Obrigkeit hinweggefegt hat!

Möglicherweise sind es diese neuen "östlichen" Eigenschaften, die Westdeutschland zur EX-DDR so passen lassen wie die Faust aufs Auge, Eigenschaften, die eigentlich gar nicht nach Deutschland gehörten. Oder doch? Denke man nur an Thomas Manns Analyse des zivilisationsfeindlichen Deutschen, der unpolitischen deutschen musikalischen Seele seit Luther, an Adrian Leverkühn! Das Adenauerland aber hat dies exorziert, alles Bundesrepublikanische verwestlicht und amerikanisiert, zum erstenmal in der deutschen Geschichte, samt, freilich recht oberflächlichem, wahl-demokratischem Lernprozeß, die Kontrolle durch eine mündige Öffentlichkeit, die im Osten fehlt. Es fehlt freilich auch das Maskendenken, das "Auftreten", um sich im Konkurrenzkampf, wo alles Schein, nichts Sein ist, zu behaupten. Das alte Deutschland, da hat Günter Gaus Recht, der deutsche schwerfällige Michel hat sich, wenn überhaupt noch irgendwo, im Osten bewahrt. Und diese Animosität früher gegen den weltläufigeren Franzosen oder Engländer gilt jetzt vielleicht gegenüber dem geschniegelten, selbstbewußten Weltmann und "BesserWessi", der kaum Deutschland mit der Seele sucht, sondern knallhart seine einstudierte Rolle berechnend einsetzt. Dahinter steckt oft nur ein armes Würstchen im Auftrag. Also zwei gleichermaßen negativen wie positive Eigenschaften überkreuz - ergeben ein lähmendes Gemisch, bei der keine klare Entscheidung für eines oder das andere mehr möglich ist; da kann man nur sagen: ... das Beste behaltet, das andere "überkreuz" bekämpft in euch selbst, in mir, in dir, in uns. Das Kapital hat die Kriegsfolgen, endlich, könnte man sagen, ausgelöscht?! Nein, - war dies nicht die größte Ungeheuerlichkeit? Die große Chance der Veränderung 1945 wurde nicht realisiert! Genau wie sie auch jetzt (nach 1989) wieder nicht realisiert wird!

"Die ökonomisch über- und kulturell unterentwickelte Zivilisation der ehemaligen Bundesrepublik versucht, die in der ehemaligen DDR im Widerstand gegen die stalinistische Kolonisierung gewachsene Kultur durch Diffamierung und administrativ auszulöschen. Die Geschichte soll auch diesmal von den Siegern umgeschrieben werden. Der Verdrängung der Nazivergangenheit entspricht und dient die Dämonisierung der DDR-Geschichte. Vierzig Jahre Bautzen machen zehn Jahre Auschwitz vergessen... Die eigentliche Frage/ Kritik gilt der Illusion/ dem Traum der linken Intelligenz nicht nur in der DDR, nicht nur in Europa, von der möglichen Hochzeit von Kunst und Politik im Namen der Utopie einer sozial gerechten Gesellschaft. Die Illusion ist verflogen, der Traum ist nicht ausgeträumt." (Heiner Müller, Sinn und Form, 1991). Eben.

 

20. September. Die schlimmste Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West ist das grauenhafte Gefühl, eine lebende Leiche zu sein. Es ist das Danaergeschenk dieses "Paradieses", der seelische Reflex dessen, was mit der Natur geschieht, es geschieht auch mit uns.

Der Neuzuwanderer muß seine Substanz exorzieren. Die Literatur, auch die westdeutsche, ist davon mitgeprägt, es ist das wichtigste, was sie zu sagen hat, vor allem in der Lyrik. Im "Spiegel" gab es vor Jahren einen sehr interessanten Artikel dazu. Und vor allem Günter Kunert hat über diese "neuen Leiden", die "tatsächlich neu sind", geschrieben: "Wir werden ständig ... auf eine Weise ums Leben gebracht, welche eine Novität darstellt. Jeder wird zum Phantom seiner selbst... den Verlust dieser unserer Ursprünglichkeit haben wir als `kleines Sterben` empfunden, vergleichbar dem innern Absterben der Kindheit in uns..." (Nachwort zum "Jahrbuch für Lyrik" Athenäum, 1981).

Aber das sind angesichts der Katastrophen unseres Jahrhunderts kleine, wenn auch tägliche Katastrophen. Die andern liegen im Keller, und wir wissen davon, nicht mehr. Und täglich passieren in nächster europäischer Nähe deren Konsequenzen.

 

21. September. Unser zurückgebliebenes sattes Lebensbild kommt heute nicht nach, als wäre es nun vom wirklichen Geschehen erledigt, daß wir verblüfft zuschauen, oft, wie gelähmt: Geschehen, Zeit, Nachricht, überstürzen sich. Seit fünf Jahren leben wir auf einem völlig veränderten Planeten.

Leichenhaufen, Frauen und Kinder, gestern Nacht: das Bombardement Sarajewos. Und ein ganzer Konvoi mit hungernden Frauen und Kindern als Geiseln eingesperrt.

Unberechenbarere Unverständlichkeit: Das Unmögliche auf allen Ebenen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn es stimmte, daß eine erst gestern in Bosnien getötet Frau, sich erinnert.

Als die Soldaten kamen, sind alle Dorfbewohner davongelaufen. Die Soldaten haben ein paar kleine Kinder eingefangen und uns zugerufen, daß wir sofort stehenbleiben sollen, daß sie sonst die Kinder erschießen. Wir haben das nicht ernstgenommen, denn wer erschießt schon kleine Kinder. Aber sie haben sie erschossen, sie haben sie wirklich erschossen. Die Kinder meiner Schwägerin, zehn, acht, und drei Jahre alt. Dann sind wir, zu spät, stehengeblieben. Und sie haben uns ins Lager gebracht. Dann wurde ich von der Lagerbaracke im Lager Trnopolje weggeschleppt, vergewaltigt und geschlagen, danach waren meine Beine ganz schwarz von den Schlägen. Die Soldaten waren Bestien. Am selben Tag haben sie viele Leute getötet, sie haben uns den Hals aufgeschlitzt, und alle Menschen sind tot aufeinandergefallen, einer auf den andern. Ich sah noch, wie die Tschetniks meine Jaminka genommen haben, meine 14-jährige Jaminka. Ich hatte mit Jaminka dagestanden, und ein Tschetnik kam, vollgehängt mit Waffen. Er hat meine Jaminka genommen. Er hat mich weggestoßen, und ich bin auf den Boden gefallen. Er hat das Messer gezogen, mir den Hals aufgeschlitzt.

Und eine andere, eine ältere Frau, der sie gleich danach ebenfalls mit dem Messer den Hals aufgeschlitzt haben, sagt unsicher: Ich weiß nicht, ich verstehe es nicht, vor meinen Augen sind neun Angehörige niedergemetzelt worden, bevor die Reihe an mich kam. Aber wissen Sie, welcher Gedanke mich am nächsten Tag am meisten verfolgte? Ständig mußte ich daran denken, welche Angst ich um meinen jüngsten Enkelsohn hatte, als er den Führerschein machte und zum erstenmal Auto fuhr, er könnte einen Autounfall haben. Und nun ist er in einem Massaker gestorben, und ich mußte zusehen, wie sie alle schrien, bevor der Blutstrahl aus ihrem Hals dem Leben ein Ende machte.

 

Es ist der Verlust des Bodens, auf dem alle Menschen stehen: die Annahme, daß man bei aller Unsicherheit auf ein Mindestmaß von Berechenbarkeit des Alltags zählen kann, daß Mitmenschen sich einigermaßen vorhersehbar benehmen. Das ist nun vorbei. Das ist das Stigma eurer Gegenwart jetzt. Alles ist heute Kriegsführung. Heute sind die Leute dem Animalischen verwandter als zu Eichmanns Zeiten, der ständig betonte, daß er an Gott glaube, was auch stimmt; heute ist es anders, als damals, damals blieb alles noch auf Lager und Kriegsschauplätze beschränkt, heute ist das KZ überall, heute lassen, wie damals in den Lagern, die meisten nur Tatsache und Materie gelten, jener Würgegriff des Außen, der keine Möglichkeit mehr offen läßt; das Unmögliche also, die feste Welt, das Gewesene ist die furchtbare totale Diktatur: Äußerliches sinnfälliges Leben, in dem sich höherentwickelte Tiere mit geliehenen Bedürfnissen bewegen.

 

"Daß Staunen darüber, daß die Dinge die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert `noch` möglich sind, ist kein philosophisches, heißt es bei Walter Benjamin:" Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt, nicht zu halten ist."

Jenes Staunen beruht auf verdrängter Wahrheit, Vergessen, Nichtsehenwollen, auf der die Hure Geschichte beruht, deren Katastrophen zu groß sind für die Trägheit auf der das Alltagsleben sich mit der Illusion einer Normalzeit gemein macht, und zugleich jene Katastrophen langsam vorbereitet.

 

"Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der `Ausnahmezustand`, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht," schreibt Benjamin im gleichen vorhin zitierten Fragment: "Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen..."

 

 

VIII

OSTWESTLICHE TRAUMEN UND DIE CHANCEN: SCHMERZ ALS ERFAHRUNGSGEWINN

 

21. September. Janns wichtigster Traum, der sich oft wiederholte, gehört dazu, sagte ich ihr, Jann muß im Traum oft irgendwohin hin kommen, es ist spät, sie sieht schwitzend auf die Uhr, läuft und läuft, kommt aber nicht von der Stelle. Daß wir immer nur im Nachbild dabei sein sollen, ist unerträglich, denn dieses macht schon von Anfang an jeden zum Greis, der Erinnerung nachhängend.

Gleich danach aber, als ich den Computer einschaltete, stand da auf

dem Bildschirm auch schon wie selbsttätig der Satz:

Euer Bewußtsein ist wie ein Glühwürmchen, aufleuchtend, einen Augenblick bewußt also bei euch, dann aber bei euch absent und so für einen Augenblick eben hier, ihr sterbt in jeder Sekunde und werdet dann wieder geboren, ohne daß ihr es wirklich merkt. Kurzes Blackout, Nichts, ein schmaler Spalt, ein momentaner "Tod". Und kein Zeitfluß. Du scheinst jenen momentanen Blitz und Spalt manchmal zu bemerken, manchmal... Nimms an N., nimms an, konzentriere dich auf jene Rückseite des Bewußtseins, sei ohne Angst abwesend, so kommst du hierher, trainierst den Todesprozeß, der dir dann einmal den Übergang erleichtert. -

Ich bin dabei, ich weiß es, doch ich lebe es kaum: uns sind heute die alten Sinne besonders geschärft, daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen; ich sehe die Reben hier in meinem Garten, das Meer, und bin erschrocken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist "übriggeblieben". Ich aber bin es nicht. Und am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf. Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub. Und dann schreibe ich als Antwort diesen Satz auf, die Finger springen auf der Tastatur, unter der Haut schon die späteren Knochenfinger meines Skeletts:

Der Grieche Parmenides dachte sich diese Spaltung der Sekunden in ihrem unaufhörlichen Vergehen als Mann und Frau, die hintereinander herlaufen, sich nie finden können, Entzweiung zwischen Tod und Leben, solange ihr auf der Erde nicht glauben wollt, daß es die Trennung gar nicht gibt, die euch so quält, so sah ich diese wie aus dem Nichts oder dem Jenseits gekommenen Worte bernsteinfarben flimmernd vor mir: daß es nur das Nach-Bild, das Gewordene und Schongewesene gibt, schrieb einer, der behauptete, er sei längst tot - und doch am Leben: und führte meine Hand: ihr also allem "nachhängt", schrieb er: wie du richtig sagst,und ich meinte Vaters Stimme zu hören: immer schon im Vergangenen lebt, die Zukunft aber sind wir, unsere Welt und Lichtebene. Dauert die Absenz länger, könnt ihr sie nicht mehr als "Zeitfluß" überbrücken, und das erlebt ihr dann als Tod, wenn euer Bewußtsein völlig abgekehrt ist von der materiellen Welt und nicht mehr Träger eines Erscheinungsbildes sein kann.

Das erinnerte mich an Spanien, antwortete ich gleich auf dieser hier entstehenden Zeile, die noch nicht weiß, was im nächsten Wort geschehen wird: als wäre jetzt mir und andern alles spanisch. Das Leben ein unbeschreiblicher Traum? Vor Jahren mit Jann auf einer Spanienreise in Sevilla. Da gab es an jenem Tag ein katholisches Fest, überall Kitsch, Tribünen, heilige Bilder, Fahnen. Wirklich blieb nur die gotische Kathedrale mit dem neunzig Meter hohen Turm, der Giralda. Eine hohe Palme, ein Augenbild vor mir, doch irgend etwas hatte mein Bewußtsein aufgebrochen und dieses fächerte schmerzhaft weißes Licht auf die Plaza de la Falanga Espanola. Es war "stehengeblieben", ich absent hier, und wenn ich "aufwachte" war das Außenbild schon "weitergerückt" , ich kam nicht nach. Ich dachte durchzudrehen und rannte davon, in einer Osteria stürzte ich mehrere Glas Rotwein hinunter, um mich zu betäuben. Solch einen Anfall habe ich aber schon oft gehabt: Ich "stehe" in solchen Augenblicken an jener Grenze, wo der Zeitfluß aufhört zu fließen, und ich habe dann immer große Angst, da es in mir stehengeblieben ist, und habe Schwierigkeiten, den äußern Bildern nachzukommen. Ich wundere mich dann, wenn sie doch noch da sind, diese Bilder, und sie kommen wie in Traumfetzen und fibrigen Intervallen als Augenbild an, und bin mir plötzlich sehr erstaunt bewußt, immer noch da zu sein, vielleicht vor dem hohen Turm der Giralda. Das Bild ist fixiert in seiner statischen Vorstellung, doch die "Zeit", der den Schrecken überdeckende Außenfilm, ist ein Stück weitergerückt, jene Giralda: und blinzele, strenge mich an nachzukommen, denke an möglichen Irrsinn, falls das Bewußtsein zu langsam sein sollte oder vielleicht ganz aussetzt...

Es gibt eine leere Stelle, kein Ich mehr, und mir so intim nah, daher ganz fremd und namenlos: N.

22. September. Können wir auf eine in der Erfahrung noch unentdeckte Paradoxie hoffen, daß es eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart ist, da die Vergangenheit vor uns liegt und die Zukunft, die in der Gegenwart eingeschlossen war, hinter uns, wie Heiner Müller behauptet? Daß dies jetzt die Formulierung einer kollektiven Erfahrung eines fast gesetzmäßigen und beileibe nicht neuen Scheiterns sei?

 

Fahrt nach Rom. Ich lese im Zug S. Cramers Aufsatz über Johnson, Kunert, Haufs. Und überdenke eine Shelley- Sendung: eine Art "Seestück", den Schiffbruch und Tod Shelleys vor unserer Küste bei Viareggio. Plane einen Text über Thukydides.

Wie entziehen wir uns dem offenen Geschichtsverlauf, also der Zukunft, - durch Stoppen der realen Zeit? Durch Geschichten (erzählen)? Doch so lange wir leben ist das unmöglich, Zeit, unsere, vergeht trotzdem! Das Dilemma kann nur als Dilemma gezeigt werden. Die Geschichte wird mit dem Augenblick, also dem Wahrnehmungsmoment, der war, abgeschlossen, das Erzählte, als Mauer vor der Zukunft, eine erstarrte Sequenz, eliminiert, Geschichte also durch Geschichten aufgehoben. Sie tritt in die beruhigende Form der Vergangenheit aber erst nach dem Tode dessen, der sie erlebt, ein. Schreiben simuliert diesen Zustand des Todes, es kann aber nie ganz gelingen, denn "außen" geht die Zeit gelassen weiter.

 

"Offenheit", ein "Zeitfenster", das geöffnet und geschlossen wird im Augen-Blick. Derridas "Difference", wo eben etwas war, und sofort ins Jetzt übergeht, davon schon getrennt, unüberbrückbar und doch schon im Überspringen, also rätselhaft ist: Vergehen, Bote des Todes, immer Heranrücken des Unbekannten, des Zukünftigen. Da und zugleich Nicht-da. Das Bewußtsein dabei, so wurde es genannt, scheint ein Gespenst, sitzt einem Vor-Schein auf, einer Täuschung. Denn Gegenwart ist nie. Heimat ein Niemals, wie der Zeitfluß Illusion.

Beim Schreiben geschieht dann das Zusammensetzen der BILDER in einem umgekehrten Prozeß; nicht der Zeitverlauf, sondern die Sequenzen sind zuerst da. Und in einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandtschaft und Sinn-Nähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein Wahrheitsbeweis. Und schafft einen andern Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende Unvereinbarkeit. Aber fiktiv ist, wie Einfälle und Intuitionen, die aus einem Bereich an der Grenze unserer Vorstellung kommen. Eine Übung, um etwas zu erreichen, was es nicht gegeben hätte, aber sein könnte, eine Menschenmöglichkeit, die verloren gegangen wäre, hätte sich hier nicht Einfall als Weg in unsere Verständniswelt gebahnt; es ist also wie eine Stimme aus einer andern Welt, womöglich aus einer zukünftigen, wo es diese Trennungen nicht mehr gibt.

 

23. September. Die Ostwesterfahrung verhilft wie die Kunst dazu, aus dem Schlaf der "Normalität" zu erwachen, Widerstand zu leisten, Zorn zu zeigen, auch gegen sich selbst, wir, die Einzelnen als buchstäblich Letzte in der Kette der Vergiftungserscheiungen dieser Mordzivilisation. Wir, die wir in die Sprache verbannt sind, können im Raum ihres Gefängnisses, nichts anders tun, als sie zu entlarven.

 

24. September. Die Zeit kommt zurück zum eigentlichen Sinn: Re-Volution. Das bringt dieses Alter der Welt mit sich nach dem neuen historischen Fall 1989. Und wohl geht es darum den Reichtum dessen, was schon da ist, zu sehen. Wie die alten Kulturen, Kulturen der Exegese sind, so besteht nun die Neuheit der europäischen darin, den großen Bruch mit der Rückschau zu verbinden, die versäumt worden ist. Die "Beginnlosigkeit" ist enorm; wenn z.B. die zweiwertige Logik des Aristoteles am Ende ist, schon seit Anfang des Jahrhunderts, dann müßten wir Aristoteles wieder hervorholen, mit dem alle Benennung, alles Namengeben, die damit verbundene Langeweile der Kataloge und Kategorien und Begriffe begann. Doch begann mit ihm nicht auch das, was immer noch fühlbar ist, nachvollziehbar: das Wissen von der Entelechie, dem allem eingepflanzte mögliche Form, geprägte eigene Form, die jedes den Drang hat, werden zu wollen, was sie ist.

Der Handelnde ähnelt noch dem Tier, ist ein Biest. Diese Vertierung ist heute in vollem Gange zum Ruin. Urgrund des Strebens aber ist das Unbewegte, der Stillstand, Er, der Nichts, als sich selbst erkennt. Und darin sind wir selbst in uns mit Vernunft und Einsicht, unvollkommen, was Er vollkommen ist. Und in der Ethik heißt es bei Aristoteles sogar: " Man darf nicht auf die Mahnung jener hören, der Mensch solle nur an Menschliches, der Sterbliche nur an Sterbliches denken; wir sollen vielmehr uns bemühen, soweit dies möglich ist, unsterblich zu sein." Form ist unsterblich, jedem eingegeben, als wäre es tatsächlich Seine Einwohnung in der Welt. Aristoteles ist gegen die Genialität und ihre Besäufnisse, gegen die "faustische" Ungeduld und den "furor culturalis".

 

25. September. Es sei nichts mehr so einfach heute, wenn man zum Kern kommen wolle, - ich hatte ihm Buch eines florentinischen Freundes, des Therapeuten F. über diese absolute Uneinlösbarkeit gelesen, und dabei äußerst Vermessenes über Celan, Lichtenberg und Aristoteles gedacht. Mehrere Personen, in verschiedenen Zeiten verschieden, lassen sich trotzdem vergleichen, und ergeben ein Drama, das Erkenntnis sammelt. Celans Selbstmord am 20. April 1970 in der Seine, ein anderer aber, Lichtenberg, der in Stade 1773 dem Vermessungsauftrag des königlichen Ministeriums aus Hannover nachging, hart am Ufer der Schwinge wohnte, ihren Gezeitenverlauf aus dem Fenster beobachtet, und darüber nachdenkt, wie er, der dies beschreibt, sich nicht ersäufe, was aber Aristoteles auf der Flucht vor dem gleichen Gifttod, den Sokrates in Athen sich selbst geben mußte, in der engsten Stelle des Golfes, Euripos, dem Strudel und Strömung in ihrer komplizierten Periodik, sechzehnmal die Wechselströmung am Tage beobachtete, aus Verzweiflung tat, sich also in der Nichtlösbarkeit der Aufgabe ertränkte, flüssig wurde, sich auflöste für immer, wie ein anderer im Ätna und Feuer - viel später, weil er nicht erkennen konnte, was da und weshalb es so vorging, Lichtenberg, der Landvermesser und Aufklärer in Stade, aber nicht tat, sich nicht ertränkte, was er in einem Brief an Joel Paul Kaltenhofer am 14. Juni 1773 begründete: Hätte nämlich der Aristoteles da gewohnt, "wo ich jetzt sitze und schreibe, so hätte er seine Absicht, das Ersäufen meine ich, grade aus dem Fenster erreichen können", alles zu einfach, schrecklich gelöst. Und sogar staatlich gesichert, wie Lichtenberg, anders als der Landvermesser K., der im feindseligen Dorf nachts ankommen mußte, nie ankam. Und ich gebe zu: daher kann auch ich dies jetzt schreiben, gesammelt. Im Lykeion, Theophrast, Aristoteles Nachfolger, sagte schon Peter Huchel, vermaß sich nicht, war traurig, wie ein Gedicht, und vermaß auch nicht, einer, der nachts in einem Dorf angekommen, nirgends ankommen konnte, doch nicht so eindeutig wie Aristoteles im Exil, der des Unglaubens angeklagt war, sondern tatsächlich im Unglauben gefangen war, an den er nicht glaubte.

 

Am 20. April aber, Paul Celan, der andere, dessen Mutter in einem Kz ermordet worden war, von der Zeit nach dem Krieg aus dem Erinnern zerstört, und Erfahrung an der Grenze unserer Vorstellung, scheint genau so zu beweisen, daß Erkennen und Verstummen In-eins fallen, er mit seinem Erkennen versinkt, die Trennung aufhebt, die ihn umtreibt, sich auflösend mit dem eigenen gequälten Kopf, in dem, was ihm entgegensteht. Heute aber, ja, heute wäre es ein Strudel außen, ein Sund, der erst heute überbrückt, die Trennung genau so außen aufhebt, wie sie außen ist, verbindend, elastische Konstruktion die 35 Meter zum Ufer der Stade, das nicht mehr ist, sondern wie die bisher einsame Insel nun zugehörig, kein Rätsel mehr, Druckausgleich eben in der Komplexion der Gezeiten, berechenbar: Lichtenberg eben, wie Hans Blumenberg berichtet, wie der Aufklärer bekannte, daß seinem Fürsten eben genüge, wenn er bequem vermesse, und die Welträtsel eben klein gemacht werden müßten, um sich dem Ganzen, das nie erkannt werden kann, als solches, zu nähern, es sei denn man gebe sich selbst, riskantes Vielleicht, dem Fürsten eben ein Ingenieur, zu wissen, wo man steht und liegt: auf der Karte, und wie spät es ist, gar nicht im Sund oder der Seine - sondern auf der Uhr, Rechnung, die aufgeht, regierbar die Welt, und wie vermessen, daß wir es ausbaden wollen.

 

Das sagen die einen, die "Verständigen"; die andern aber: Schreiben sei ein Versuch durch Kristallisationen daraus ein therapeutisches Spiel zu machen, orientierend eine Katharsis auszulösen, einen Boden der Deutung und der Vernunft im Chaos. Wichtig zur Heilung in erlösender Fiktion ist ja das erlösende und aufblitzend gültige Wort, und dieses kann nur eines des Enigmas sein. Der Augenschein aber ist das Gewesene, Vergangene. Der Schreibende bringt die Illusion der "festen Welt" mit Hilfe der Sprache, der Fiktion, des geöffneten Gedächtnisses zum Verwesen, hebt die Illusion der Zeit auf. Es geht also um einen ontologischen, den einzigen effektiv möglichen Widerstand, den der Einzelne angesichts der mörderischen Masse des "Objektiven" und seiner Tyrannei einsetzen kann; im politischen Bereich wäre er lächerlich schwach, und den Hut ziehen sie doch alle nur vor dem Tod, der auch sie betrifft! Teilhard de Chardin definiert das Kreuz als Schnittpunkt zwischen Vertikale und Horizontale: Der Kopf, dichtester Ort des Alls, ist die Mitte. Der Geist die Vertikale, oder sagen wir: kosmische Information in jedem Samen, in jedem Atom, in jeder Idee, sie bestimmt die Masse des Horizontalen.

Es ist dieser ER in mir: Er sieht alles mit dem andern Blick, denn es wird Niemand, was er schreibt "diktiert", die Grenze ist offen; ich darf mich mit meinem Ich nicht einmischen, sonst zerstöre ich den Wahrheitsbeweis: Stil; doch der Niemand ist ganz nah innen: verwandelt, nach außen aber wie ein Wiedergänger; keiner sieht ihn, jene furchtbare Erfahrung aus der Kindheit taucht wieder auf, die Angst nicht mehr gesehen zu werden. Natürlich ist Er nicht sichtbar, nur Ich bin es. Möglicherweise halluziniert er alles im Traum, und muß wie im Leben in der Schwebe bleiben. Niemand kann entscheiden, was "wirklich" ist. Jene Erfahrung, von der Thanatologie als gesichert angenommen, daß eine Panoramaschau, eine Art Gericht über das eigne Leben am Ende des Lebens im Todesprozeß einsetzt, wird auch beim Schreiben sehr oft akut: Mit dem Tod erkauft sich das lyrische Ich und auch jeder Erzähler erst seine Existenz. Dabei ist ja schon das Lebensopfer beim Schreiben so ein kleiner Tod. Träger der Absenz des Lebens ist das Zeichen. Der Ernst der Situation, daß wir alle zum Tode Verurteilte sind, macht es glaubwürdig.

 

Es heißt der Eigensinn, überlebt auch den Tod.

"Die wesentliche Wahrheit/ ist der Unbekannte, der mich bewohnt/ und mir bei jedem Erwachen einen Faustschlag versetzt." (Andrade).

 

4. Oktober. München. DER SOHN. Daß er nicht mehr leben wolle, sagt er. Nur euch zu Liebe bleibe ich noch, das sagte er an der Straßenbahnhaltestelle. Wenn ich nur könnte, sagte er, würde ich den Schalter abdrehen. Eigentlich habt ihr mich nicht gewollt, niemand hat mich gewollt. Sagte es zu seinem Vater, der verzweifelt versuchte, ihm das Schöne dieser Welt, die geistigen Freuden, die Berührungen mit der andern Sphäre nahe zu bringen, und: daß Freitod keiner sei, sondern daß Selbstmörder nachher orientierungslos herumirren, gequält werden, weil sie der Natur zuwiderhandeln und ihre künftigen Möglichkeiten abschneiden, töten auch jenen, der noch hätte sein können. Du aber hast es ja selbst in allen deinen Büchern beschrieben, daß die Welt sowieso untergeht, sagte er: wozu soll ich mich da noch mit diesem Leben abquälen.

Ich bin gerne mit dem Jungen zusammen, er ist jetzt zwanzig geworden, bin gern mit ihm zusammen, er ist einer der wenigen, der mir glaubt. - Immer wieder an diesen Ort zurückzukehren, das war des DS Leben, sah erstaunt auf seinen Sohn. Jetzt habe ich einen Eisbeutel auf dem Fleisch, es brennt wie Feuer, meine Brüste sind geschwollen, Milchfurie. So hatte ihm Maria vor 20 Jahren aus Bukarest nach Frankfurt geschrieben. Ein Junge, der dir ähnlich sieht, nur dir. Unglückseliger. Da kannst du deine Finger und Zehen sehen. Es sind deine. Die Haare genau wie bei deiner Geburt: ein wüster schwarzer Haarschopf. So, als hätte nicht ich ihn geboren, sondern eine andere Frau. Daß es ihn gibt, ein Zufall, ein Wunder. Nichts. O Mann, wie Leben und Tod zusammengenommen, wäre ich dir keine große, sondern eine kleine und erträgliche Last gewesen. Jetzt fallen mir vor Erschöpfung die Augen zu. Was gedenkst du jetzt mit deinem Sohn zu tun?

Tempi passati.

So einfach ist es nicht. Er ist 20 und ich kann jetzt mit ihm über alles sprechen. Ohne Boden nach der Herkunft fragen? Er fragt nicht. Er sagt nur: wenn ich könnte, würde ich den Schalter abdrehen, alles auf Null stellen. Ich stelle mir sein Ich vor. Könnte er nicht so reden: Ich bin im Zimmer meiner Mutter, wohne da, daß ich hierher gekommen bin, ist klar, doch wer weiß, wie. Im Krankenwagen, ja. Von dem, was übrigbleibt, ist zu sprechen, und endlich Abschied nehmen. Doch habe ich keine Willenskraft. Als hätte ich den Platz meiner Mutter eingenommen, schlafe in ihrem Bett.

Es sind 20 Jahre vergangen seit meiner Flucht. 20. Lang zum Leben, zu kurz zum Sterben. Was bleibt. Sie hat ihr Leben für ihn geopfert, ihre Investition. Jetzt stehen sie zwischen Tür und Angel, im Streit. Sie schreit ihn an, steht da in ihrer selbstgeschneiderten Jacke, mit Tand behängt, wie ein schöner Clown, das Gesicht ist wie Bronze geworden, ich denke, eine edle Indiofrau. Er aber, sein schmales Gesicht mit der beherrschenden Nase, gerötet, schreit zurück in den Spalt, wo sie steht im Schutz der zu kleinen Öffnung, draußen, und als dränge er sie noch weiter aus dem Raum, geht er drohend auf sie zu, schneidend seine Stimme.

Sie ist gegangen. Wir sind allein. Immer muß sie Recht behalten! sagt er. Und die andern Unrecht, auch wenn es umgekehrt wahr ist. Ja, sage ich, deshalb habe ich mich ja von ihr scheiden lassen. Diese Frauen, sagt er, sie wollen einen immer nur einsperren, für sich behalten.

Im italienischen Lokal auf der Landwehrstraße hatte der Streit begonnen. Warum habt ihr mich überhaupt gezeugt, sagte er mitten in eine Stille hinein. Ich leb nur euretwegen weiter, euch zu Liebe.

Eine unheimliche Energie kommt da zum Vorschein seit er verliebt ist. Sein reines junges Gesicht mit den blaugrünen Augen strahlt vor Wut, als nun Maria anfängt auf ihn verbal einzuschlagen in ihrer ennervierenden Art mit ewigen Refrains.

Es geht um das Verlassen des Elternhauses. Der Sohn hat eine Freundin, er will ausziehen, er will sein Leben beginnen. Du kannst ja gehn, sagt sie mit vor Eifersucht zitternden und angstvoller Stimme. Hat sie mich deshalb, hat sie in dieser Panik nach mir gerufen. Sie will, ich soll ihr helfen, oder sie möchte wenigstens einen Zeugen haben. Er war mein Ersatz. Er nabelt sich endlich von ihr ab. Aber für sie ist es eine Katastrophe. Sie redet vom Altenheim. Vom Grab. Wohin soll ich gehn? Sie lehnt sich zurück, nippt vom Wein, ist wie erstarrt. Ihr Gesicht bekommt einen hektischen Anflug von verhaltener Nervosität, die jederzeit ausbrechen kann. Er ist stärker als sie. Er hört jetzt weg. Ist abwesend. Sie hat Angst vor dieser zweiten Scheidung. "Ihr flüstert hinter der Tür. Ihr werft mich aus dem Zimmer. Ihr macht alles hinter meinem Rücken. Ich seh euren haßerfüllten Blick."

Mir macht er keine Vorwürfe; er sagt nur: Bin ich denn schuld an ihrer Scheidung, an ihrem Umzug von Ost nach West. Daß sie hier fremd ist, und die Sprache nicht beherrscht? Daß ich zu den Behörden gehen muß, mich so verstecken kann. Daß ich ihr die Akten übersetzen muß und ihre Gedichte? Bin ich an ihrem mühseligen und nervenaufreibenden Beruf schuld? Und diese Scheißwohnung, so wie in ihr, so ist auch außen keine Ordnung. So wie in ihr diese Angst, einen freien Platz zu lassen, horror vacui, wie bei Patienten, sagt er. Woher weiß er das alles? Plötzlich ist er auch an der Drogentherapie interessiert und fragt mich aus. Der kleinste Platz, sagt er: in der Wohnung ist vollgestellt mit Schund. Mit Dingen, Nippes, Tassen, Andenken, Zeichnungen. Ich kann in diesem Durcheinander, wo das Atmen schwer fällt, nicht mehr leben. Stühle aus dem Längstvergangenen stehen herum, Tassen, alte Kleider, Kinderbücher. Sie kann nichts wegwerfen, sie kann nicht vergessen. Jetzt will sie zurück, eine Villa in den Karpaten kaufen, hat aber keine müde Mark übrig. Sie läßt sich immer nur betrügen, sie ist wie ein Kind.

Ich bedauere sie, sage ich. Hast du kein Mitleid.

Nein.

Wir gehen jetzt dem Ausgang zu, an der Garderobe ein Spiegel. Er sieht hinein. Übrigens, sagt er, wenn ich in einen Spiegel sehe, erschrecke ich, weil ich noch nicht realisiert habe, 20 Jahre alt zu sein, ich meine immer noch den kleinen Jungen von damals zu sehen!

Nach dem Streit begleitet er mich spontan zum Bahnhof, zum, Nachtzug nach Italien. In der U4 an der Theresienwiese sagte er, du hast es auch nicht leicht mit deinen beiden Frauen, Maria ruft dich, wenn Not am Mann ist in ihrer Panik hierher nach München, und jetzt mußt du zu Johanna fahren, weil in Italien diese sintflutartigen Regengüsse alles überschwemmen, sie Angst hat. Oder einsam ist. Nun bin auch ich in einer Falle, ich weiß es!

Würde er über mich sagen, seiner Freundin sagen: Mein Vater, der ist OK? Einer, der ihn verlassen hat? Wer führt mir die Feder, er, oder der andere, der Vergangene, jener mit dem Hirnlicht, dem einzigen festen Punkt? Ich muß dauernd den Anfang korrigieren, verschieben, ändern, oder ganz streichen. Wollte ich auch den Sohn nicht, mich nicht? Jener im Finstren, der ist nicht zu streichen!

Und in einem Buch von Samuel Beckett, das vom Sohn und vom Nicht-mehr-anfan-gen-können handelt, und das ich ihm zeige, damit er begreift, daß wir alle wiederkommen müssen, heißt es:

" Alles verschwimmt. Noch ein wenig mehr, und man ist blind. Es sitzt im Kopf. Er tut nicht mehr mit, er sagt: ich tue nicht mehr mit. Taub wird man auch, und die Geräusche werden schwächer. Kaum das man die Schwelle überschritten hat, ist es so. Es muß der Kopf sein, der genug davon hat. So daß man sich sagt, diesmal wird es noch gehn, dann vielleicht noch einmal, und dann ist es aus... Schuld? Das ist das Wort, das man gebraucht hat. Aber was für eine Schuld? Dies ist nicht der letzte Abschied, und welcher Zauber geht von den dunkeln Dingen aus, von denen du noch bei der nächsten Wiederkehr Abschied nehmen kannst. Man bedauert es nicht, wenn man an die Umrisse, das Licht früherer Tage denkt."

Und dieser Hirnpunkt, vielleicht einer, der vor mir war, begleitet mich, beobachtet mich, ich lebe ihn, sage ich zu meinem Sohn, so bin ich auch nach dem Tode meines Vaters, deines Großvaters, ein Sohn geblieben, der fortfährt. Um nicht wahnsinnig zu erscheinen, verschwieg ich ihm meinen Jenseitsdialog, der jener Schwebende Hirnpunkt ist. Jenseits jeder Mauer. Ich fragte ihn, ob er sich noch an unsere Reise nach Berlin erinnere.

Freilich erinnere ich mich, sagte er mit seiner immer noch leicht mutierenden Stimme. Da war ich acht.

Und wir standen an der Mauer, ich wollte dir das zeigen, kurz nach eurer Ausreise aus Bukarest. Und da gab es einen ähnlichen Vorgang des Umwegs, der sich in einer Sekunde vollzog.

Daran erinnere ich mich nicht.

Aber du erinnerst dich an die Quadriga.

Daran schon, auch an die Posten. Und an den Hasen, der über die Grenze hoppelte, da schoß keiner, weil der und auch die Vögel frei seien, so sagtest du.

Frei, mein Junge, ist nur unser Satz, der seltsame Vogel. Und müßte viel mehr bis in die kleinsten Dinge hinein, um das Erlebte und Gesehene zu verstärken, ja, aufzulösen. Verstehst du?

Mir schon klar! Dabei sah er mich mit den grünen, etwas verschleierten Augen an, als müsse er um Entschuldigung bitten, es nicht ganz begriffen zu haben.

Aufzulösen! eingeweicht, eingetaucht in unser ganz normales taghelles Bewußtsein, das abnimmt, an den Rändern schon aufbricht. Weißt du, was ich meine? - So wie du früher die Märchen als wirklich erlebt hast. Nichtwahr?

Ja, ich verstehe. Wie das Gefühl beim Klavierspiel.

Weißt du, was ein Traum ist?

Nein, aber ich träume.

Die Grenze verschwindet, sagte ich behutsam. Seit ich jenes Erlebnis hatte, ich hab dir doch davon schon erzählt, ein Gedächtnis war in mir aufgebrochen. Dies Fallout des Paranormalen, nicht wahr. Und die "Wirklichkeit" wird immer fahler und gespenstischer, und den Rest besorgen die Strahlungen. Und oben auf unserem Berg, wo ich mein Haus habe, da wird auch das Grün davon erreicht, das Gras, die Trauben nehmen die innern Zerfallszeiten mit auf. Verstehst du?

Ja, es steht ja auch in den Zeitungen.

Als hätte die Welt ihre Grundlage verändert. Oder die ewige Grundlage beiläufig die Welt, sagte ich. Und sind sogar in unseren Schläfrigkeiten die Sekundenpausen, ein Tor. Und die Toten können sich jeden Augenblick bei uns melden, sie sind ja nicht tot, das ist nur eine Legende unserer Vernunft. Solch ein wichtiger Moment war für mich auch damals in Berlin...

 

5. Oktober. Es stimmt: Mit meiner Mutter redete ich darüber, mit dem Sohn lieber nicht; sie saß vor mir, fragte mich, warum ich denn gegen die Familie sei. Und ich versuchte es ihr zu erklären, sagte, daß es zwei Menschenarten gebe, jene, die sich anpassen, nur dem Körper leben, die Tiermenschen, die sich verleugnen, ihr geistiges, menschliches Dasein, diese Bürde "zu wissen", vom Andern, vom Tode, und die wenigen, die unter Opfern und Leiden nur dieser Herkunft leben. Familie aber, die kleinste Zelle des Staates, ist das beste Erpressungsmittel, ja sie zwingt zur Vorsicht, zum Kompromiß, zwingt viele, ein Tiermensch zu werden. Diese Welt der Tiermenschen aber hat die Erde ruiniert, mit dem Erfolg, daß ihre Körperwelt zugrundegeht, nur das, was sie verleugnen, bleibt, das Unsichtbare, alles wird sich in Licht, in Geist auflösen, in Geist und Gravitation, schneller als das Licht, das keinen Körper mehr zuläßt, die gröberen Formen werden vernichtet.

Nur weil die Tiermenschen den Geist für ihre Zwecke ausgenützt, die furchbarsten Instrumente in ihren niederen Dienst gestellt wurden.

 

16. Oktober. Supermarkt. Mittagessen. Nachmittagskaffee. Pelztiere. Gackernde Damen, die über Autos, Kleider und Putzhilfen reden. Moden, neueste Modelle. Speiübel. Ich sitze dann da, trinke Wein und starre angestrengt auf einen Punkt, sehe heimlich auf die Uhr. Fernsehen, Punkt acht. Im Schalenweg zu Stuttgart, oder auch hier, wenn Besuch ist, ertappe ich mich dabei, daß ich diese Zensur akzeptiere, um nicht zu "stören", klammere dauernd alles aus, was mich wirklich schmerzt. Schweige. Protestiere nicht, wenn die einen furchtbaren Scheiß zusammenquatschen. Fahl und fad rinnen die Sekunden. Nachts aber schlaflos. Grollte früher mit Jann, wenn sie lustvoll mitgemacht hatte.

Sie hatte ja nun auch zu den "Siegern" gehört und ich zu den Verlierern. Alles ist also nun so, wie es ist. Unser alter Streit ist für sie entschieden. Lese ennerviert die Ausfälle des alten vertrottelten Sir Popper in der "Zeit" gegen alle, die den "Liberalismus", er meint das Kapital, bekämpfen, es schlecht machen. Der größte Verbrecher - Marx. Die furchtbaren Lebensbedingungen der Arbeiter, wie sie etwa Dickens während der Manchesterzeit schildert, nichts als miese Propaganda. Überall lese ich, die "Wirklichkeit" habe endlich über "die Idee" gesiegt. Welche Wirklichkeit? Der ewige Nudeltopf, der ewige, nun reiche und fette und gewitzte, ja sogar informierte Spießer in seinem dicken Auto hat gesiegt, "das Leben", das Gekruschtel über jede Hoffnung, und rückwirkend werden nun alle niedergemacht, diese Intelligentsia, die mehr wollte als nur den Suppentopf, sogar das Christentum müßte ja nun daran glauben, oder jener Philosoph aus Milet, schon den lachte ja die Magd aus, als er sterneguckend in einen Graben fiel, und natürlich jene, die wissen, daß diese sogenannte "Wirklichkeit" nichts als festgefrorene Halluzination, Täuschung und Projektion ist; und nun eine Welt der Junkies mit den Diplomatenköfferchen als Non Plus Ultra und beste aller Welten, die wir je gehabt haben. In der FAZ lese ich heute Erhellendes dazu: "Es gibt kein falsches Leben mehr, das nicht ins `richtige` eingeholt würde. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus..." Anstatt der Namen, nun die "Markennamen", "die Welt ist nur noch durch Markennamen zu erkennen." "Banken vertreiben Ethik-Founds genauso wie Kunst- Fonds..." Und das geht mit einem unvorstellbaren Zynismus so weiter: die Wirtschaft integriere "immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens," der "öffentliche Diskurs aber (folge) immer mehr den Spielregeln der Markenkommunikation." "Nur eine Kritik ist noch möglich: der Warentest." Es ist eben Alles-Eins: Wirtschaft, "Umweltschutz, Literatur, Gastronomie, Philosophie, Wissenschaft, Ethik, Kriegskunst (kürzlich im Golf) und Stadtplanung die engste Kommunikationsgemeinschaft." Und das Fazit: "Bei aller Vielfalt gibt es keine Zerrissenheit mehr. Wer da noch unzufrieden ist, dem kann niemand helfen."

Und plötzlich weiß ich ganz genau, wen ich in meinem Leben hasse, immer gehaßt habe, schon als Vierzehnjähriger, jene, die es sich hier auf Kosten der andern "gemütlich" einrichten wollen, sonst nichts. Sonst nichts? Was denn, was stänkerst du wieder, immer dieses Kritteln, dieses Negative, Zersetzende. Volksschädling. Dekadenter Querkopf, Nestbeschmutzer. Aha. Das habe ich doch schon irgendwo mal gehört. Oder? Neidischnegative Einstellung gegen alle, die es sich gut gehn lassen, die etwas haben, die es sich gut gehen lassen!

Aber die Kunst. Ach, die Kunst. Recht geschieht ihr, das Leben erledigt sie, die Lebensfeindin. Im Westen ganz einfach so, indem die nahen Sinne abgeschafft werden, die Natur und so, die zum Träumen verführt. Wenn schon nichts mehr live erlebt wird! Vertanes Leben erhältst du ohnehin geschenkt, als Ganzes und... Und draußen hagelt es. Nichts. Und man sieht die Erschöpfung der Welt hier aus den Bewegungen des Hagels löst sich Transparenz, zeigt auf eine bestimmte Art von "fisica perfetta", wie Mario Luzi, der Florentiner Poet sagt: so liege der tote Eichmann in seinem Glassarg. Und eine Meise im Kopf, Winter auf einer erfrorenen Olive. Eine neue Welt ist das alles, ja. Und zitiere mir, anstatt der Zukunft hier die eigenen Zeilen, die den Nachmittag heute geordnet hatten: Was witterst du, sein Jetzt ist selbst das Tun, hinabgetaucht/ zurück. Und Muhen vor dem Steuer, sonst nichts.

Oder: Nach den Feiertagen (haha, das ist wohl jetzt der 3. Oktober. Ich warte auf Allerseelen 1. November. Oder auf den Buß- und Bettag!) da wächst die Bitterkeit, Entropie nimmt zu. Merkst der Zeit an, was sie vergangen ist. Umgekehrter Schmerzensmann: Ich, ein Held der Winzigkeit.

17. Oktober. Ich blättere im Sommertagebuch, ich finde: die Zikaden im Eukalyptusbaum, Oberfläche des Gehörs, Licht, das ich sehe, die Corona; Unsinn als Freiheit, so. Sogar Willkür, jetzt aufzustehen, den Regen zu betrachten, ein Tropfen rinnt mir naß über die Stirn. Starker Wind aus Nord. Licht also, das Auge in mir verblasst, der Mann nach fünfzig, abwärts. Wir suchen die Rettung, Ihn, zwischen den Zeilen. Doch so abseits? Quanten zur Musik des Innern, und frei von der Sicherheit. Nobody can translate. Gibt es ein Nadelöhr zwischen dem Blick und dem großen Erinnern. Atom-Schale aus der wir Früchte essen? Mein Gott, es ist ja nur der Rahmen für Ereignisse. Oh, das Schöne. Na und? Wie sich davon reinigen. Was Poesie könnte, all dies ist für die meisten, wie die Poesie völlig unnötig und Gewäsch.

 

24. Oktober. Jahrelang schützte mich ein Doppelleben, ein Gedächtnis als letzte Reserve hinter der fremden, lauen Alltagsfront, hier vor der Taubheit, dem Versinken in bürgerliche angepaßte Winzigkeit der idiotischen Privatheit mit Auto und Haus. Es schützte mich das Heimweh, das tägliche Zuhausesein in Gedanken. Dies Nirgendwo. Daher war Schreiben überlebenswichtig. Die Erfahrungen von früher, die Schmerzen, jener Innenraum, den die Leute hier nicht kannten, nicht hatten, den ich mit niemandem (oder Niemandem in mir) teilen konnte. Er aber schützte mich, wie mich die letzte Instanz, jenes kleine Eck im Siebenbürgen meiner Kindheit schützte. Und dann nahm es mit den Jahren ab, wie die Utopie generell abnahm. Alles so zu sein drohte, wie es ist: eine Feststellung, die ich voller Grauen bei meiner Ankunft hier schon gemacht hatte. Die englische Dichterin Sylvia Plath hat diese Aussichtslosigkeit in den Selbstmord getrieben: wenn der Baum nichts als ein Baum, das Haus nichts als ein Haus, die Wolke nichts als eine Wolke, und alles so ist wie es ist, kein Zeichen mehr für das Andere, das wir in der Sehnsucht noch sind, erkennbar wird, dann leben wir in einem endgültigen Gefängnis der totalen Alltagsmühle, dem eigentlichen Inferno der Täuschung, dann sind wir wirklich krank und völlig irre, wie zur Zeit viele Menschen, und nicht nur im westlichen Teil der Welt.

20. Oktober. Alltagsgewäsch, auch das Fernsehen mit DALLAS so fremd um mich wie ein großes Vergessen, das jedes Gefühl lähmt, so daß für mich alles wie ein blasser Traum hinter Milchglas schien, hervorschien: wie dieser kleine Garten hinter dem Fenster, im Auge gefangen dieser Apfelbaum, von dem von Zeit zu Zeit dumpf ein Apfel ins Gras fällt, Eichhörnchen flink daneben, als wärs der Kinderblick - nur eben leicht daneben, verzerrt wie im Hohlspiegel, sanfte Fratzen. Und hörte Mutters quecksilbrige Stimme rauh: Ir Fratzen, eessen, kutt eessen, sifuurt! - Ja, sie sind alle kleine Überlebensgenies, auch Mutter, dachte dieser DS, ich bin ganz sicher nicht anwesend, bin mir nur gedacht, auch wenns verrückt klingt. Bin ichs auch. Daher glaubte Jann mir diese Gewohnheit nie, daß ich wirklich da sein könnte. Behandelt mich wie ein Phantom. Schwebender Hirnpunkt ist. Jenseits jeder Mauer.

 

29. Oktober. Hat Mutter es nicht besser, fremd hier, weit fortgezogen aus dem Untergang, ach, Scheszbrich, Gott erhalt dech Scheszbrich, eine alte Träne, und sie hat ihr Erinnerungsgeflecht hierher mitgebracht wie eine große Nachbarschaft. Die überlebt. Nicht nur geschrieben, lautlos geschrien, ein Satz! Nein, wirklich: So geht ihr Gedächtnis nicht in die Irre, wie bei dir D., sagte Jann.

Ja, wenn Mutter anfängt zu erzählen von ihren "Clamydatenfesten" 1920-1947 oder vom "Kränzchentreffen", bricht der Spiegel etwas auf, fünfzig Jahre, da lebt einer, redet, und erzählt von Begegnungen: Joi, stell dir vor, da kam ein kleines Männlein am Stock, wie aus dem Wald, das Gesicht total vernarbt, und man stellte ihn mir vor: Fritz H. Er war doch so ein schöner Junge gewesen, damals, mein Tanzpartner. Oder der Blickling, ein Banater Schwabe und Hans H., die wohnten in der Hintergasse, eine Witwe mit vier Kindern, die besten Freunde meines Bruders Karl Wilhelm, wir nannten ihn Ali. Er ist bei Weimar, du weißt, gefallen, damals. Weißt du? Ich weiß. Buchenwald. Bitte, D., wahre sein Andenken.

Ja, sagte jener Jugendfreund: Frau S., wir haben so oft an die Stadt gedacht, den Apfelbaum im Garten, dumpf fielen sie. Und Nüsse. Pardem, weiß der Himmel, Blitze, ihr Vater schoß die Eichhörnchen, die Schädlinge, tot. Nüsse mußten vor ihnen gerettet werden. Herbstrascheln, Nüsse ernten. Und mürbe die Erde, Düfte bei Regen. Goldparmäng und Batull, Leitern und Apfelbrecher. Oh, wie ist es kalt geworden und so traurig öd und leer. Und im Stadthaus spielten sie Karten, in der Hüllgasse beim Reinhard Pretz, da haben wir gewohnt, unter der Burg. Jetzt ist der Fritz H. Professor in Amerika, ich hab ihn nicht erkannt, er hat dicke Augengläser und wispert, Professor oder so, und extra zum Clamydatentreffen hier angereist. Und der fragt dann, Frau S. kennen Sie mich denn nicht mehr?

Wie, ihr habt euch gesiezt?

Freilich, mit unseren Tanzstundenherren.

Die waren siebzehn, ihr sechzehn, lacht D.

Ja, so war das damals.

Sag, stimmt das, was ein anderer Tanzstundenherr erzählt, der hat ja eine geschlossene Sachsensiedlung in Frankreich aufgebaut, die Leute dort angesiedelt...

Ja, wir waren immer "geschlossen", werden immer zusammenhalten, immer.

Da beneide ich euch. Wirklich. Ihr seid noch da, habt gemeinsam einen festen Boden, auch wenn es ihn nicht mehr gibt, Einbildung, die so ausgeträumt zwischen euch sich gibt und lebt.

Und du, du bist immer allein, immer auf deinem einsamen Berg, dort unten in Italien, das schlägt dir schlecht an, da mach ich mir Sorgen.

 

Jenes Land, dachte ich, wenn es jenes Land noch gäbe, es wäre wichtiger als dieses hier, ähnlich wie das andere Deutschland, aus dem die Leute noch vor zwei Jahren täglich als Feriengäste getarnt vom Schwarzen Meer zurückkehrten, am Neusiedlersee zelteten, warteten, hektisch und voller Hoffnungen, daß es das Paradies samt Apfelbaum und Kindergras jenseits der Grenze gebe, und dann über Wien nach Stuttgart, München oder Gießen kamen, meinten im "eigentlichen" Deutschland zu sein, als gäbe es so etwas noch oder habe es so etwas je gegeben, außer in der erhitzten Phantasie. Furchtbare Vermischung, fast schlimmer noch als die neue Blasiertheit!

 

30. Oktober. Gisela überraschte mich mit der Bemerkung, daß doch auch die Hiesigen Opfer seien. Die Zerstörung der innern Bindungen, hörte ich, D., sie sagen, und hob den Kopf, sah sie an, als wäre es plötzlich eine andere, die sich bisher unter einem angestrengt nichtssagenden Hausfrauen-Gesicht versteckt gehalten hatte: die Zerstörung der innern Bindungen, in der Ehe zum Beispiel, durch den von den Amerikanern importierten Lebensstil, das Geld zersetzt, die neuen Rücksichten... Die Arbeitskrankheit, ja, die ihr und Gregors Leben zerstört hatte. Das Schwinden der schönen Naivität, das sich dauernd kontrollieren müssen, Gesicht zu wahren, ständig, keine spontane Regung mehr, eins mit dem, was man neu lernen mußte: die Fassade auch in der Familie. Nur nicht daran rühren, nur ja nicht, auch an das, was früher war, im Krieg und vorher...

Geschütztes Alleinsein, das wäre die einzige Methode, um dem Gift hier zu entgehen. Jetzt kommen sie zu Tausenden aus dem Osten, ach, nein: jetzt ist der Westen gen Osten zu ihnen gewandert, überschwemmt sie, und die meisten meinen, zu ersticken zu Hause in der Fremde. Daß die anfangs jubelten, keine Angst hatten vor den Gewohnheiten in diesem Land, daß sie meinten, wählen zu müssen diese Gewohnheiten, die betäubten, weil sie gar nicht zu uns gehören, jetzt erst sehen sie ihren Fehler ein und beginnen sich zu wehren. Das verlorene Leben, mit der täglichen fremden, nun wie ein altes Kleid schon angepaßten Gewohnheit, die längst auch in mir funktioniert, wie bei Jann und Gisela und Gregor. Oder bei meiner Mutter und bei meinen Geschwistern freilich auch.

 

1. November. Endlich Allerseelen. Schreiben, hatte ein Freund und Kollege einmal gesagt, Schreiben sei die falsche Heimkehr, ein Auszug aus dem Haus, anstatt es zu bewohnen. Dabei war er doch genau bei jener Selbstbeschreibung angelangt, der Arme: und jetzt gilt ja nicht wie bei alten Gesellschaften etwa gesicherte Zugehörigkeit zu einem Stand und so, sondern wir sind das künstliche Produkt einer Art monomanen Seelenarbeit - auch im Buch. Aber der wußte, wovon er sprach, nämlich von der Einsamkeit; einer, der nachts manchmal im Traum schrie, der verstummte, wenn die Rede auf seine Heimat kam, wo es so etwas noch gab; ich höre seine warme Baritonstimme mit dem fremden Akzent, ein merkwürdiger Kontrast dazu dies Schrille und Laute; kein Sprachfehler, ein Geburtsfehler, wie er sagte, in Deutschland habe er dieses Breitmäulige immer als Makel empfunden, mit einem Zungenschlag gegen die Regel, mit dem zweiten hast du dich schon verraten, und gehörst nicht dazu.

 

Agliano, 24. November. Endlich wieder "zu Hause" im Niemandsland. Ich versuche mich zu sammeln, hier zu sein in meiner gewöhnlichen, so humanen Umgebung: jetzt beim Schreiben meinen inneren Gedankenstrom fließen zu lassen. Und weiß, das beste Mittel dazu, ist Kleinschreibung und keine hemmenden Satzzeichen, die den Strom aufhalten. Und erinnere, was gestern geschehen ist, hier im Tagebuch: laura oben im haus der fiore (als blühe jetzt andauernd etwas) mit der ich über ihre töchter spreche sie ist stolz eine ist friseuse und resolut in viareggio beim friseur habe ich sie kennengelernt da beherrschte sie die szene scharf und weich zugleich stand sie im raum hatte dort im friseursalon gearbeitet. ich saß auf dem friseurssessel haare geschnitten dieses wohlige gefühl und ausgeliefert streicheleinheiten des friseurs am kopf mit schere und kamm laura ließ meine hand nicht los beeindruckt davon daß sie die köchin genau so begrüßt worden war von uns wie die gäste und fiore neben mir machte mir ungewohnte komplimente wie schön ich sei und sie wolle mich in ton abbilden büste und so völlig ungewohnt für mich aber ich weiß komplexe sind lebensfeindlich schneiden leben ab nur die haare müßten länger sein sagt sie ja der idiot von friseur hat sie mir so spießig geschnitten kurz und junkiehaft wie heute üblich haarfaschismus stromlinienförmig sagte ich aalglatt windschlüpfig sagte ich durchrasen auch in der erscheinung durch den blick sagte ich das ist modern die distanz zu 1968 wird daran modemäßig am besten sichtbar. und gegen diese neue regsamkeit habe ich überlegt ist nichts besser als schöpferische faulheit. als wäre ich einer der die mentalität der dauernd besiegten der armen des südens annehme als wäre ich in afrika oder auch des ostens wohin ich gehöre zu jenen "die ja nicht arbeiten können und wollen" verachtungsvoll hört man es in westdeutschland und solch ein parasit der nicht spuren will oben im apennin da hatte ich auf einen punkt blatt erde stein oder war es ein holz der weg auch zur stoppia einmal hier mit dir bruder blatt stein erde und mich nicht wegreißen lassen in euren scheiß ins gift in dieses nagen im herzen diese sonde ins eigene innere von außen dem phantom lange leine mit der ihr mich gefangen haltet und dachte wieder an den armen brinkmann der sich damals schon siebziger jahre gegen den verlust der utopie 68 der auf seine art vor gegangen war sich zu entziehen und hab ihm zu verdanken nicht selbstvernichtend mitzumachen. und warum kein sozialfall sein wollen in diesem beruf anzunehmen es annehmen daß dieser beruf einer sein muß oder ein verbrechen scheitern zum gegenstand des schreibens machen aber heiter gelöst und (nicht verzweifeltes) erschreiben der existenz aber wissen daß aussetzen des schreibflusses wie in 1001 nacht des erzählens den tod bedeutet.

und um mich lauter romanpersonen wie ich selbst eine bin zeit immer jetztzeit unendlicher raum der phantasie ist der erlöst auflöst festgelegtes befreit das erdrückt so dies erlogene fiktive und faktische der realität zerschlagen das eigene leben und das jener personen mit denen ich zusammentreffe schreibend. nicht nur momentaufnahmen häppchen das eben und gerade selbsterlebte schreiben sondern es verbinden mit dem was es als form ist und es bedenken. die grenze verwischt, naiv, ist aber nichts und mal d'afrique ein anderes kaum weite schönheit die geschlagenen sterben in antenne 2 die aidskranken die grenze verschwindet das bild dort sind auch wir der wirkliche raum löst sich auf. neuronenverbände feuern konzentrierter als dieser fern seher vor mir oder der computer auf dem ichs schreibe vierzig mal in der sekunde sehimpulse wahrnehmung um das ding überhaupt herzustellen. illusion synchrone schwingungspakete verknüpfung also schon textur wie naiv also natur zu wollen natives status nascendi und doch auch strauß mit seiner beginnlosigkeit da sträubt sich in mir etwas gegen dieses "wissen" dröge und fahl abstrakt viel hirnsyntax gut aber unerlebt sich selbst nichterlebt auch wenns vernetzt ist nur wissen ist fad auch über sich selbst besser schon zu akzeptieren daß denken, wie die sekunden, gedankenflucht ist chaotisch verflechtend alles metastase netzwerk. es ist bekannt daß große chaotiker, einstein etwa, alles leichter finden beim suchen in ihrem unaufgeräumten schreibtisch und zimmer als ordentliche manager wie beitz etwa in aktenordnern alfabetisch die seelenbürokratie funktioniert nie einstein eben der violonist zunge zeigend fand auch das weltgesetz. grenze verwischt.

sie sind da auf dem bildschrm die kinder unter den betten ihrer aidskranken mütter in burundi fünfzehn millionen schöne braune gesichter große augen sehn mich da an aidswaisenkinder eine frau hat fünfzig aufgenommen ihr gesicht ganz nah einen säugling auf dem arm schimpft auf das durcheinanderficken und das die strafe links und rechts herumvögeln sagt sie die strafe aids das ist der teufel der sie packt und jugendliche im kreis verlegen grinsend. ein sozialarbeiter zeigt auf einem riesigen holzphallus wie man das präservativ aufzieht und sagt dann bleibt der virus da drin und steckst dich nicht an. die meisten mütter, vierzig prozent der schwangeren sind aidskrank, müssen sich prostituieren um ihre kinder durchzubringen die männer aber ficken mit wahnsinnig vielen frauen sagt ein pfarrer und wenn die es verlangen ohne schutz die votze zu verkaufen tue ichs eben sagt eine mutter und eine andere wenn ich krank wäre würde ichs nicht sagen also jeder freier eine leiche und die kinder der kranken schlafen unter den krankenhausbetten der eltern bis diese tot sind. bis zum jahr zweitausend stirbt die hälfte der bevölkerung afrikas das gehirn aber ist ein muster auf sich selbstbezogen und hat keinen zugang zur welt was also sehen wir da auf dem schirm vor uns was wir da empfinden ist nichts als die fokuseinstellung des hirns stimuliert interne prozesse? und begreiflich nur das selbstgemachte was aber ist dieses selbstgemachte in gemeinsamer anstrengung autopoiesis welch zellverband nach außen jann sagt: und wir treiben ego und nabelschau genau dasselbe also anders unmöglich gehören dazu in den zellverband ja und französische kinder schicken jedes kind ein reispaket die bahn befördert es gratis da lebt ein kind davon eine woche und viele kinder viele wochen tagelang müssen sie hungern auf den straßen ausgestreckt auf dem asphalt liegen sie die aidswaisenkinder. gabriela s. in der zeit schägt vor mehr faulheit mehr schlendrian kein verzicht wider den geist des kapitalismus wie ihn max weber schon beschrieb. ethos ist geld und immer mehr geld sinnlos selbstzweck faulheit aber sein ärgster widersacher kein neuer mensch nein nur den ganz ganz alten hervorholen - die eigene schwäche bester schutz warenkonsum überflüssig machen: zeit zum leben hin zum reichtum gelebter beziehungen nicht nur im kopf oder in der arbeit zu leben.

und der schwächste ist ein blinder und der ist ganz entzogen sieht mehr... in capraia beobachtete ich am strand eine blinde sie wurde geführt von ihrer schwester die schöne junge frau die sich im spiegel nie mehr sehen kann diese täuschung nie mehr hochgestecktes haar zarte schmiegsame glieder fast schüchtern bewegt sie sich tastend immer mit der vorstellung und einfühlung vorgreifend der nächsten sekunde um nicht zu fallen auf dem steinigen strand dunkle brille. stelle mir vor daß sie keinen mann findet. sozial ist sie nicht einsetzbar nur sexuell. kannst häßlich und alt sein sie sieht dich nicht und sieht etwas ganz andres. scheint erst ganz kurz eine blinde zu sein nimmt die sonnenmilch aus der tasche hält sie vor die augen um zu lesen ob es die richtige milch ist siehts aber nicht reicht sie ihrer schwester mit deren augen zu lesen es scheint die falsche sonnenmilch zu sein und sie sucht eine andere flasche das gleiche manöver wie vorher. die schwester sagt etwas und die blinde reibt sich nun mit dieser zweiten sonnenmilch ein dabei betrachtet sie jedesmal ihre handfläche auf der die weiße substanz liegt bevor sie die aufträgt als könnte sie etwas sehen. und ist selbstgemacht. ist allein mit ihrer vorstellung.

ich schließe die augen um mir vorzustellen wie es ist ein blinder zu sein höre ganz laut kinderschreien und das plätschern des meeres viel stärker als vorhin ein außenborder und ein gummiboot. jetzt liegt sie ruhig in der sonne ihr zärtlicher junger körper wie hingegossen. wird sie einen mann finden denke ich die rundliche schwester ist jetzt ihr einziger halt denke an oskar baums romane die welt der blinden ist der tastsinn der geräusche der gerüche die nächste welt ist nebenan.

 

 

 

 

 

IX

ERFAHRUNGEN MIT DER TOTALITÄREN SEELE ZWEIER DIKTATUREN

 

Wer ist an all dem schuld? Vielleicht nichts anderes als die allgemeine Krankheit des Kopfes, die autoritäre oder gar die totalitäre Seele. Ein Syndrom, darstellbar als das ALS, das so harmlos tut, war bisher daran Schuld. Bisher:

 

Als ich den Dr. C., den Apotheker von Schäßburg in seiner Wohnung besuchte, es war in einer schwäbischen Kleinstadt, den Apotheker, der das Zyklon B verwahrt hatte, und ihn fragte, wie das denn möglich gewesen sei, er sei doch der Tanzstundenfreund meiner Mutter gewesen, er habe mir Pfefferminzbonbons in S. geschenkt, sagte er in mühsam wirrem Satz und mit schwerfälliger Stimme: mich geweigert, sagte er; Nie auf der Rampe. War dort als Offizier und als Apotheker eingesetzt. Als Familienvater Weihnachten gefeiert im trauten Kreis mit dem Kommandanten Höss: Als Väter, Mütter, Kinder, Onkel und Tanten, und STILLE NACHT gesungen. Alles großartig organisiert, auch die Feste, ging reibungslos vonstatten.

ALS an allem Schuld.

 

1956: Als Mitglied des Jugendverbandes und als Anhänger jener Weltanschauung des Großen Väterchen Iossif Wissarionowitsch, die mir als Jugendlichem große Sicherheit gab, für den Ausschluß eines Studienkollegen gestimmt. Er wurde nicht ausgeschlossen, ein alter jüdischer Assistent verteidigte ihn als Mensch.

Bei meinem ersten Verhör im kahlen Zimmer der Sicherheitspolizei brachte ich als wichtigstes Argument für meine Glaubwürdigkeit und Treue vor: Daß ich doch zu "ihnen" gehöre als "Marxist". So ein schallendes, nein, dröhnend-hämisches Lachen wie damals in jenem kahlen Raum mit den drei Verhörern habe ich nie wieder gehört, Lachen: weil dieses ja ein falsches ALS gewesen war.

 

Ich stieß auf den französischen Philosophen Louis Althusser. Auch er war "vaterlos" gewesen und mußte sich selbst erschaffen, was mißlang. Wie sollte man sich auch (mit Philosophie, ja, gar mit Parteihilfe, Marxhilfe) erschaffen können, da doch sonst Jahrtausende nötig waren für die Erschaffung solch eines Rasters für "wilhelmmeisterliche" Lebensläufe traditioneller Gesellschaften, die endgültig passé sind. Wir haben es eben mit dem Zerbrochenen der "Moderne" oder gar der "Postmoderne" zu tun!! Über mein wirkliches Leben weiß ich immer weniger Bescheid, je älter ich werde, - nur, eine Ahnung überfällt mich, daß es dieses Leben womöglich gar nicht gegeben hat. Marx deckte wie beim französischen Ideologen jahrelang auch bei mir alles, vor allem diese Wunde des Lebens- und Liebesmangels zu. War Althussers Frau Hélène, die Jüdin und Kommunistin an seiner von Ekel und Schuld begleiteten Selbstaufgabe Schuld? Ja, er brachte dann Hélène um; erwürgte sie wie in Trance; doch erst, als sich das ganze Geschreibsel als Makulatur erwies, die Decke, um zu leben und zu überleben nicht mehr reichte, er vollkommen nackt und wahnsinnig vor sich selbst dastand. Der Mann, der dreifach gescheitert ist, am Schreiben, an seinem Glauben an Marx und an seiner Ehe, schließlich an sich selbst: er ermordete seine Frau Hélène, und wurde so als Wahnsinniger und Mörder radikal ein anderer, frei zu einer entsetzlichen Leere! Oder wer war er nun, nachdem dies alles geschehen war? Die langandauernde Zukunft wars, als wollte das Leben, das quälende nicht mehr vergehen. Und kommt sie nicht etwa aus diesem Zustand der AMNESIE, diese leere Zukunft, die früher "gefüllt" war. Womit? Nun ist es ja heute nach 89 sogar im Allgemeinen so, als hätte sich dieses Schicksal im Osten genau so wiederholt!. Und der Westen entdeckt nun spiegelbildlich auch an sich das Gleiche! Nämlich, daß die eigene Ideologie nur eine furchtbare Leere überdeckt hat! Doch die AMNESIE in Punkto Vergangenheit ist nicht besser, eher noch furchtbarer, wenn wir an die abendländische Männer-Geschichte denken!!.

Althusser weiß nichts über seine Leben, weiß nicht was geschehen ist, nicht einmal den Mord erinnert er. Aufmerksamkeit, das Gebet der Seele, fehlt, ist vom Intellekt einer festgefahrenen Idee überdeckt worden. Ohne sie und ohne Gott - sie war Gottersatz: nur noch eine langandauernde Zukunft, als wollte das Leben, das quälende nicht vergehen. Kommt aus diesem Zustand die AMNESIE? A. sucht so Dokumente über sein Leben für sein Buch über die "Langandauernde Zukunft", um sich einiges erklären zu können, was er nicht weiß und was ihn überfallen hat, weil er glaubte zu wissen..

Auch hier keine Autobiographie sondern die Geschichte seiner Gefühle und seiner Halluzinationen. Also Illusionen (Montaigne). Was ist schädlich daran. Doch Althusser ist wirklich wahnsinnig und wird zum Mörder.

Es ist der UNORT, der ihn umbringt! Das Nichtreale des eigenen Lebens, das er nicht weiß, aber lebt.

Dieser UNORT ist wie bei Walser die Klinik. ICH dieser Ort, um nicht leben zu müssen. Bei ihm ists der UNORT, sich dem Prozeß nicht stellen zu müssen. Er stellt sich aber antwortend mit einem Buch, sagt er selbst.

 

Und hängt auch mit den verlorenen Bindungen, und hängt mit dem Liebesverlust zusammen. Und mit der Ichschwäche auch. Bei mangelnder Schwingungsfähigkeit, so hieß es einmal früher: ist das Ankommende, jeder Augenblick der Dinge, unerträglich, weil der Sinnverlust, der in solch einem sich völlig dem Banalen und Einzelnen Überlassen, nicht durch die sinnliche Fülle und eine Art Glück der Empfindung des Moments wieder gut gemacht wird. Wie etwa bei Marcel Proust, wo die Zeit immer verloren, ihr Sinn auch kaum im Wahrnehmen etwa einer Landschaft, von Bäumen, Blumen, sogar Menschen schon mit im Blick liegt, sondern von der zufälligen Verfassung des "moi actuel" abhängt, das immer wieder entlassen wird, und eben tut, was geschieht im fluktuierenden Strom des wechselnden Bewußtseins. Ich-Parzellen, und die sind kaum vorhersehbar, wie die folgenden Ereignisse nicht, nur Schreiben führt die Parzellen, auch die andern "Iche", die alle in andern Zeiten und Räumen leben, zusammen. Jede Hoffnung auf Gewißheit war schon zu Prousts Zeiten heller Wahn. Das Voranrücken der Augenblicke - Schein. Man ist dabei, Zukunftswissen ist getilgt, gefangen im Moment, als Rätsel, und sogar in die Erinnerung ist es eingeführt. Daß Zukunft verschlossen, nichts vorhersehbar sein kann. Daher macht auch heute noch Absicht, die wie Willkür wirkt, jedes Unterfangen häßlich, das Berechenbare zerstört jede Wahrheit, auch die der Poesie. Die neue Bescheidenheit ist also alt. Und der Schmerz des angeblich Sinnlosen im Moment heilend. Zufall erscheint dann, ohne unser Zutun als das, was er ist, als Rätsel, und hebt den Schleier vom Unerkannten nicht.

 

Wir erkennen den fluktuierenden Wechsel der Person schon am Briefeschreiben, der Zustand ist ausschlaggebend, und beim Schreiben von Literatur wird der Schreiber ständig verunsichert, weil er das, was er gestern schrieb, wegen einer ganz andern Stimmung, heute in den Papierkorb werfen möchte, um es übermorgen wieder sehr gut zu finden; erst der "gemischte Zustand" ergibt, wie im Leben, den goldnen Schnitt seiner Erkennbarkeit für andere, sein "Ich".

Ich kann es gut nachvollziehen, wie es ist, weil es mir selbst geschehen ist, wenn ein Selbstbewußtsein, das seinesgleichen sucht, durch eine Idee, verlorengeht; und die Katastrophe tritt ein, wenn solch ein Gläubiger das alles mit einem Schlag verliert, wobei klar wird, daß dies immer schon eine Illusion gewesen war, dieses Absolute des Denkens. Und Denker, die nur in einer totalen Einsamkeit dazu gekommen sind, sonst ist es gar nicht möglich in einer permanenten Störung durch das, was wirklich geschieht und völlig anders ist, das Absolute für sich zu erhalten, zerstört werden.

Und so war auch Louis Althusser langsam aber sicher verrückt geworden. Einer seiner besten Schüler, Etienne Balibar, schreibt über ihn:

 

"Ich erinnere mich jetzt: es war an jenem Tag im August 1980, als Althusser, völlig ausgelaugt von Schlafmangel, vollgestopft all die Wochen mit Psychopharmaka, unter höllischen Halluzinationen litt, ruhig und verständig zu mir sagte: Ich werde mich nicht umbringen, ich werde Schlimmeres tun. Ich werde alles vernichten, was ich geschaffen habe, alles was ich bin - für mich und für andere ... " So beschreibt Etienne Balibar, der Meister- Schüler, in seinem Buch "Ecrits pour Althusser" (Paris, 1992) den Zustand Althussers kurz vor der Katastrophe. Der Professor wurde in der Klinik am Parc-Montsouris (rue Daviel) untergebracht. Seine Frau Hélène, die Jahrzehnte seine sich steigernden Angstzustände ertragen mußte, war von Juni bis September bei ihm; Althusser hatte das Medikament IMAO eingenommen, das den sogenannten cheese effect auslöst, der Patient dämmert ins summende Nichts hinein, mentale Konfusion, Selbstmord- und Verfolgungswahn werden ausgelöst: " ... ich war gefangen. Und redete davon auch zu den Besuchern, daß ich mich umbringen müsse, daß mir zwei oder drei Männer nach dem Leben trachteten ... und daß ein Tribunal, mit Sitzungen im Nebenraum, mich eben gerade zum Tode verurteilen wolle... So daß ich nicht nur mich selbst auslöschen wollte, sondern auch jede Spur meiner irdischen Existenz, bis auf den letzten Zettel alles, was ich hervorgebracht hatte, zu vernichten, meine Bücher, Manuskripte, Aufzeichnungen, ja, die Ecole niederzubrennen, und schließlich mein anderes Ich ... nämlich Hélène auszulöschen." Schreibt Althusser selbst in seinem Bekenntnisbuch "Lávenir dure longtemps" (Paris 1992).

Althusser erhielt kein IMAO mehr ... sein Zustand besserte sich zusehends; und sie konnten ihn in kürzester Zeit aus der Klinik entlassen. Er traf Hélène wieder, und sie fuhren in den Süden; doch schon am nächsten Tag kam Hélènes Ausbruch, es war im Hotelzimmer nach einem Bad, sie sah in seinem Gesicht die ersten neuen Anzeichen eines Schubs; die Jalousien waren halbgeschlossen, dunkel also, draußen Hitze und ein Sommertag mit Zikaden: Sie könne nicht mehr mit ihm leben, schrie sie, er sei ein Monster, schrie sie; er aber lag wie tot auf dem Hotelbett, und schrie auch. Als sie nach Paris zurückkamen, schrie sie weiter; und suchte dann eine andere Wohnung, fand aber so schnell keine; und so blieben sie in Höllengemeinschaft in der alten Wohnung zusammen, wie Steinhälften nebeneinander lebend, essend, schlafend, und sie verließ ihn trotz seiner Anwesenheit, so gab es dieses Reißen; ja, dann stand sie oft in der Früh vor ihm auf und verschwand für den ganzen Tag; wenn er sie anredete, verweigerte sie jede Antwort... Mit mir nicht zu sprechen und da zu sein, hätte er sagen können: das war schlimm; und sie zu sehen, ohne daß sie da war, so ein Abgrund, hätte er sagen können: ich sah in allen schwarzen Farben vor mir ein aufgerissenes Maul, die Zähne bissen manchmal auch zu, faßten mich aber nicht, weil es mich ja gar nicht mehr gab, Gottseidank, dachte ich; nur, warum tut dann alles so weh, wenn es mich überhaupt nicht mehr gibt? Sie lief in die Küche oder ins Zimmer, weigerte sich, mir zu begegnen, würdigte mich keines Blickes. Und essen, essen schon gar nicht, das kannst du vergessen, vergaß es nicht, in meiner Anwesenheit zu essen, als wärs obszön, und eine organisierte Gefangenschaft der Einsamkeit, begann da als Inferno, freilich wars Hoffnungslosigkeit am Abgrund der Zukunft, da es Hélène nicht mehr gibt. Ich war vor Angst zerrissen, schrieb er: ... Ich hatte immer Angst gehabt, verlassen, vor allem von Hélène verlassen zu werden, und nun verließ sie mich in meiner Anwesenheit täglich ... Ich wußte, daß sie mich nie verlassen konnte ... und so hatte sie jetzt eine neue Sache ausgedacht, einen einzigen möglichen Weg, nämlich sich umzubringen, so mir, dem Monstrum, zu entgehen, und begann Medikamente dafür zu horten, sprach aber auch noch von andern, unkontrollierbaren Mitteln: hatte unser Freund Nikos Poulantzas sich nicht kürzlich umgebracht, der sich in einem Anfall von Verfolgungswahn vom Wolkenkratzer auf dem Montparnasse aus dem 21. Stockwerk gestürzt hatte, sie zitierte mir diese Todesarten, so als ob sie mir die Wahl ließe... Insgeheim wußte ich auch, daß sie unfähig sein würde, sich zu töten ... der Gipfel war eines Tages erreicht, als sie mich ganz einfach bat, sie zu töten, und dieses Wort in seinem undenkbaren und unerträglichen Schrecken, ließ mich noch lange aus ganzer Seele erzittern... Althusser erinnert sich in diesem Schrecken, daß der Selbstmord des Freundes Poulantzas ihr zum verfänglichsten Vorbild geriet, das allerdings geendet hatte, also nicht mehr war; der zerfetzte Körper unten, Nichtmehrsein; stärker als alles, was faßbar war und greifbar... Und immer wieder kam dieser Horror: eines Tages, mit maximaler Ruhe und Natürlichkeit, keine Miene verzog sie, hatte sie ihn ja gebeten, er selbst solle sie töten, und sie zeigte auf seine Hände, auf den Küchentisch mit den Messern, dies ließ ihn erzittern, der Horror war total, der Körper nur kalter Schweiß, und alles in ihm wie verdunkelt. Dies in der höllischen Zweisamkeit, schrieb er: aneinandergefesselt, wir beide lebten eingeschlossen in der Einfriedung unserer Hölle. Wir hoben das Telefon nicht mehr ab, reagierten nicht mehr auf die Türklingel. Ich glaube sogar, daß ich an die Außenwand meines Büros eine Art gut sichtbaren Zettel angeheftet hatte, mit meiner Handschrift: "Augenblicklich verreist; Klopfen sinnlos." Freunde, die versucht hatten, uns anzurufen, und den Zettel an meiner Wand hatten lesen können, sagten mir lange nachher, daß sie sich den Vorwurf gemacht hätten, "meine Tür nicht gewaltsam ge öffnet zu haben

Das war in Paris, rue d`Ulm, Sonntag den 16. November 1980 neun Uhr morgens in einem kleinen Appartement der Eliteschule der Nation, der Ecole Normale: Es kommt von oben, das Licht kommt durch sehr hohe Fenster, eingerahmt von kaiserroten Rouleaus, gebleicht von der Sonne; beleuchtet den Hintergrund dieses Lebens, das Bett; und liegend darauf Hélène, auf dem Rücken, auch sie, wie er, im Nachthemd, langes Gewand also, weiß, und gewissermaßen wie eine Schaukel oder Wiegholz der Körper, das Becken auf dem Bettrand, und die Füße auf dem Teppichboden, unsicher herabhängend, die Beine schlaff; er aber kniete vor ihr, nahe, ganz nahe, gebeugt über ihren Körper, und massierte ihren Hals, fast mechanisch massierte er, massierte ihren Hals, der wie ein Gegenstand an seiner Haut lag . " ... ich hatte ihr oft den Nacken, den Rücken, das Kreuz massiert, und hatte die Massagetechnik erlernt von einem Genossen im Gefängnis, vom kleinen Cler, einem Berufsfußballspieler, Tausendsassa, der alles konnte; das Gesicht von Hélène war sehr friedlich, war unbewegt, und die weit geöffneten Augen fixierten die Decke, ruhig, wortlos, still, zu still dieses Gesicht; ich sah es, war erschrocken, ich, da, sah ihre Lippen, sah die Augen, die waren plötzlich so starr, plötzlich, sah ich ihre Lippen und zwischen den Zähnen, die Lippen ein wenig geöffnet, zwischen den Zähnen ein Stückchen Zunge, wie auf die Zunge gebissen, und sprang auf, auch der Hals kalt, er war kalt, der Hals, und ich sprang auf und schrie: Ich habe Hélène erwürgt, ich habe sie umgebracht, Hélène...."

Louis Althusser, einer der berühmtesten Professoren Frankreichs, Marxist und Philosoph der Eliteschule der Nation, der Ecole Normale. Althusser erhielt vom herbeieilenden Arzt eine Beruhigungsspritze, er war wie umnachtet, erwachte, kam erst in der Heilanstalt Saint-Anne wieder zu Bewußtsein.

Drei Polizeipsychiater, in Schwarz gekleidet, verhörten ihn aber erst Tage später. Der Untersuchungsrichter brachte kein Wort aus ihm heraus. Und er wurde wieder mit dem Psychopharmaka IMAO und 12 Elektroschocks behandelt. Mit dem "kleinen Tod", wie er schreibt. Und einmal pro Woche kam auch sein Psychoanalytiker. Im Juni 1981 wurde er dann in die Heilanstalt Soisy überführt und blieb dort bis Juli 83. Er hatte oft Besuch von Freunden. Er schien wieder völlig normal und wurde 1983 aus der Heilanstalt entlassen.

Er lebte noch zehn Jahre - ohne Öffentlichkeit, in einer erschreckenden Normalität als Privatmann und schrieb 1985 seine Lebensbeichte, die aber erst 1992, also nach seinem Tode erschien. Er starb 1990 an Herzversagen.

 

Ich habe mir seine Lebensbeichte "L`avenir dure longtemps" (Die Zukunft dauert lang) gekauft. Sie ist nun auch auf Deutsch erschienen. Nach dieser furchtbaren Tat war er ein anderer, aber wer?

"... ich habe langsam wieder die Kontrolle über meine Angelegenheiten, meine Freundschaften, meine emotionalen Bindungen. Seither, so meine ich, habe ich gelernt, was Liebe bedeutet ... achtsam mit dem andern sein, seine Wünsche und seinen Rhythmus zu achten, nichts zu verlangen, sondern lernen zu geben und jedes dieser Geschenke wie eine Überraschung des Lebens zu empfangen ... ohne die geringste Gewalt anzuwenden ...So kann das Leben noch schön sein, trotz seiner Dramen. Ich bin 66 Jahre alt, doch ich, der ich keine Jugend gehabt habe, weil ich nie um meiner selbst geliebt worden bin, fühle mich nun jung wie noch nie, auch wenn ich es nicht mehr lange sein werde. So hat Zukunft Zeit, dauert noch lang an.. "

Das Jahr 1989 hat den Kommunisten und Denker Althusser als FALL der Selbstauslöschung wieder äußerst interessant gemacht.

Der Philosoph Louis Althusser weiß bis zu seiner Lebenskrise wenig über die Abgründe seines Lebens, er schiebt sie weg, diese Abgründe, daß er nicht einmal den Mord erinnert, - dieser tiefe Schlaf des Bewußtseins ist ein Symptom...

Alles ist von einer festgefahrenen fixen Idee überdeckt worden, die ihn vor den eigenen Abgründen und Krankheiten schützte. Als diese Verdrängungsmaschine zerbirst, kommt der Wahnsinn aggressiv zum Vorschein. Erst als er sich davon befreit, sich als Scheinwesen, als Selbstkonstruktion auslöscht, erst nach dieser gräßlichen Selbstbefreiung durch Mord, beginnt er zu leben und zu lieben. Er sieht sein letztes Buch, das wichtigste, das er geschrieben hat, als Ersatz für seinen Prozeß als Mörder, er klagt darin sogar, daß er als Patient - wegen Schuldunfähigkeit - keinen Prozeß erhalten habe. Ja, daß er über Hélène, natürlich nur von "ihrem Standpunkt aus" schreiben wird: Höhepunkt der Heuchelei. Denn er war froh, dem Prozeß durch die Internierung in die Heilanstalt entkommen zu sein.

Jürg Altwegg schreibt in der FAZ vom Ärger Alain Peyrefittes, des Justizministers, der hätte dem Mörder-Philosophen gerne den Prozeß gemacht, ihn lebenslänglich hinter Schloß und Riegel gebracht.

Die Presse hielt sich schadlos. Rufmord war dabei. Aggressive Artikel gegen Althusser erschienen nach seiner Tat in "Time", da war die Rede von "Marx & Murder"; vom Marximus als "Mörderphilosophie" sprach "L´Express". Und Jürg Altwegg behauptet:

"Wild wucherten die Spekulationen in einem intellektuellen und politischen Klima, das von der aufgeregten Überwindung des Marxismus geprägt war. Der epochale Dogmenwechsel in Paris verlieh der Tragödie Althussers, der als Philosoph Vaterfigur und ideologischer Schriftgelehrter des französischen Marxismus kultisch verehrt worden war, eine Dimension, die über das Einzelschicksal weit hinauswill - die aber mit der Tat offensichtlich nichts zu tun hatte..."

Was sicher falsch ist. Denn es stimmt nicht, daß an "Louis Althusser die geistige Entwicklung seiner Zeit spurlos vorbeigegangen" und "sein intellektuelles Selbstbewußtsein intakt geblieben war". Ganz im Gegenteil: Die "Krise des Marxismus" bestimmte sein Denken und ruinierte seine Gesundheit.

 

Frühjahr 82 in der Heilanstalt Soisy, wohin Althusser im Juni 81 mit dem geschlossenen Krankenwagen unter Bewachung überführt worden war; auffallend der große grüne Fleck, Park genannt, das Gras wie geschoren: Null, überall die weißen Gestalten der Patienten, und die blütenweißen Pavillons zwischen hohen Bäumen, im Pavillon Nr. 7 jener Mann, den sie für einen Mörder halten.

Wahnsinn wäre es gewesen mit dem Kranken nun über das Ende der totalitären Seelen und gar über das späte Ende, das angebliche Ende von Karl Marx oder Lenins Hirn reden zu wollen, von dem es heißt, es sei so verkalkt gewesen, daß es bei der Autopsie wie ein Stein auf dem Seziertisch geklappert habe. Die Zeitungen natürlich hatten die Roten und das Verbrechen nahtlos nun mit Hilfe dieses Falles Althusser, des Gattenmörders, zusammengebracht; Althusser aber, Althusser hatte nun alles hinter sich und nichts mehr im Sinn, angestrengt zerfurchtes Gesicht, über dem eine tiefe Dunkelheit lag, Nacht, schwer, die versuchte, ihn zu verschlucken, Wachheit eine Leistung, umschattet die Augen, die müde waren, alles müde, und angestrengt da, nur der Mund bewegt und da, die Rede, Worte zwischen dem Zigarettenstummel, der immer brannte, die Hände mit einer abgenommenen Brille über dem Tisch, die Hände sehr alt, auch der Anzug dunkel, fast schwarz über der abgemagerten Gestalt, fast eng der Brustkorb, asthmatisch, Schultern kaum, das Hemd weiß mit offenem Kragen, sieben tiefe Falten auf der Stirn, hochgezogen darunter die umschattenen Augen, Brauen hoch, als wäre er ein zum Tode Verurteilter, der überlebt hatte, so kam er sich vor, die Hände um den eigenen Hals, zugedrückt, dachte er; und Althusser redete und redete nur vom Selbstmord, ein Vortrag. Und auf die Frage, ob er sich unglücklich fühle, frappierende Antworten. Merkwürdige Erinnerungen an das relative Glück während der Internierung im deutschen Lager nach dem Krieg, weils ein geschlossener Raum war, also auch geordnet und perfekt: "Einheit, wie ich sie zum Glück auch in der Heilanstalt, oft wegen Geschütztseins erfahre, schönes Ausgelöschtsein, endlich Nichts sein ... im leer summenden Raum der Krankenstation..."

War dies hier ein lebender Toter, atmend, der verzweifelt versuchte, endlich sterben zu dürfen, zu entkommen, das zu sein, was er wirklich war. Ich stelle mir vor: Gottseidank ist Etienne Balibar, Althussers Schüler und Freund dabei, zusammen mit Althusser hatte er "Marx lesen" geschrieben:

"Althusser hat schon 1977 auf einem Kongreß in Venedig zum Thema "Krise des Marxismus" mit beißender Ironie alles von ihm Gedachte lächerlich gemacht; Lenins Lüge vom Primat der Politik, des Staates, der Diktatur z.B., oder von der Partei müsse den Arbeitern, in deren Wut und Elend, Schmerz und Misere, Bewußtsein, ha, Geschichte, Theorie aufgezwungen werden. Das Revolutionäre an Herrn Marx sei gewesen, daß er "Proletarier geworden" sei, welch falsches Bewußtsein: mein Herr. Von den Kommunisten aber sei doch immer nur das schlechte Gewissen der Intellektuellen ausgenützt worden, die Gewissensbisse, besser zu leben, denkend: luxuriös, über alles hinwegfliegend - am Blindenstock der Feder, Luxus, im Verhältnis zum Elend der Proletarier, auch Marx sei kein Proletarier gewesen, klar. Und nie hätten die KP-Eliten auf die Leute gehört, sie nur verachtet, sie und die Denker nur für ihre Macht ausgenützt." ( Ecrits pour Althusser, 1992).

Tabula rasa, dies ist tatsächlich Althussers Leistung gewesen ... Doch niemand hat damals schon (1972) diese vorausgeworfenen Zeichen gesehen. Es war eine Befreiung in die Anonymität; der berühmte Marx-Theoretiker und Professor hatte sich selbst ausgelöscht, sich die Maske vom Gesicht gerissen.

Eine Rache am Ideologen ist der Aufstand des Körpers.

Die Selbstauslöschung äußerte sich schon früh als Verworrenheit. Althusser tat, dachte und schrieb peu à peu das Gegenteil von dem, was er bisher getan, gedacht, geschrieben hatte; eine Art langsamer Selbstverrat; Etienne Balibar gibt in seinem Buch "Ecrits pour Althusser" ein krasses Beispiel, Althusser habe für einen Kongreß in Tiflis schon 1979 einen Vortrag geschrieben: "Die Entdeckung des Dr. Freud", der fast mit den gleichen Sätzen wie im Aufsatz "Freud und Lacan" das Gegenteil von dem behauptete, was in "Freud und Lacan " stand! Die Freunde waren entsetzt über diesen Selbstverrat, die Freunde warnten ihn. Und: Er hat sich dann selbst in seinem letzten , dem Bekenntnis-Buch über den Mord an seiner Frau, als Denker-Scharlatan eingestuft. Die Krise begann zwischen 1976 und 1980. Zweifel und Schwäche. Zweifel an der Theorie, an der Revolution, am Marxismus hatten diese Symptome ausgelöst. - Der Marxist Althusser geht soweit, auch den Marxismus zu den "ideologischen Staatsapparaten" zu zählen.

Althusser hatte mit der Partei gebrochen, und erklärt: "Mit der Partei ist der Punkt Null des Marxismus erreicht."

Keiner könne ihm zum Vorwurf machen, er sei etwa moskauhörig gewesen, schrieb er, und 1974 habe er anläßlich eines Philosophenkongresses entsetzt selbst erkannt, welch geistige Wüste die Sowjetunion sei. Krach mit der Partei in Paris sei die Folge gewesen.

Doch der Verrat am Marxismus durch das, was sich als seine "Realität" ausgab, wirkte natürlich zurück, das eine ließ sich vom andern kaum trennen. Paradoxerweise wäre er als Marxist erst jetzt frei, jetzt nach dem Tode seiner "Realität", des Ostblocks. Manche aber meinen, tot sei tot. Etienne Balibar spricht in seinem Buch von drei möglichen Gründen für die Tragik Althussers, für die Selbstauslöschung des Marxisten Althusser.

Erster Grund: Die eigene Psychose. Daß er nicht jener war, der er zu sein schien, sondern immer nur ein Scheinwesen. Die Ursache dafür ist tief, sie liegt in der Kindheit 2. Unmöglichkeit, die Krise des Marxismus zu lösen. 3. Viel wichtiger und weit über die Marxismus-Krise hinaus: die allgemeine Krise des Denkens und der Sprache heute.

"Es handelt sich also darum, das in die Praxis umzusetzen, was Heidegger und Derrida theoretisch beschrieben hatten, schrieb Etienne Balibar: "die widersprüchliche Einheit, in der Zeit, im Wort und seiner Auslöschung, einer Löschung jedoch, die die Worte intakt ließ, die wahrnehmbar blieben, um ihre Un- Wahrheit zu sagen ...."

Im vulgären Marxismus ging es um eine gepanzerte Unwahrheit, die ja Staatswirklichkeit war und Ideologie, es ging um Anmaßung und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Und doch blieb diese Krise des Marxismus Spitze des Eisberges eines verlorenen Vertrauens in den Begriff, das Wort, die Erkennbarkeit, Planbarkeit und Veränderbarkeit der Welt. Es ging in dieser Ideologie um den Versuch, das Wirkliche, den Einzelnen, alles, was außerhalb des Wortes und Begriffes existierte, auszuklammern, zu vergessen; dieser Verrat war besonders furchtbar im realen Sozialismus. Vielleicht ist es diese Erfahrung eines "theoretischen Antihumanismus" als Staatspraxis, also die Verhöhnung des Menschen, des Einzelnen, der nicht zählt, was wider die Natur ist, und sich dann rächte. 1989 haben Millionen Einzelne dieses "System" hinweggefegt.

Althusser: "Die Theorie von Marx geht nicht vom Menschen aus, sondern von der geschichtlichen Struktur der sozialen Beziehungen."

Erstaunt stellte Althusser fest, daß ihm seine eigenen Theorien im eigenen Leben, in der eigenen Krise zu nichts nütze waren!

Im Politischen wurde diese Theorie negativ und antihumanistisch, z.B. der "Klassenkampf", wo ja das Individuum nichts zählte, es war nur der Schauspieler seiner Herkunft; wohin das führte, wissen wir: die unzähligen Morde an Unschuldigen, die zu "Klassenfeinden" deklariert wurden!

 

Doch scheint Althusser auch seine eigenen Bücher unbewußt als Betrug angesehen zu haben. Merkwürdig, daß ihn nach der Veröffentlichung seiner Hauptwerke "Für Marx" und "Das Kapital lesen", Bücher, die ihn bekannt und berühmt gemacht hatten, heftige Depressionen befielen.

Hatte er sich nackt ausgezogen? Hatte er sich verraten, hatte er hochgestapelt, gelogen und etwas vorgespielt? Wer weiß. Er theoretisierte, weil er, wie er selbst schreibt: "Zur Liebe unfähig" war, diese Unfähigkeit steht jedenfalls im Zentrum seiner kranken Persönlichkeit, daher die "totalitäre Seele", das Überspringen von Gefühl und Realität. Wir wissen, wohl aus diesem Gefühlsmangel, aber auch, weil er ein "Anderer" sein wollte, als jener, der er eigentlich war, hatte er eine linke Karriere gewählt, und hatte anfangs Erfolg als marxistischer Philosoph, in den Jahren um und nach achtundsechzig, als das Abstrakte, Nicht-Reale Hochkonjunktur hatte.

Und damit wären wir beim wichtigsten Grund der Selbstauslöschung: Sich selbst, den eigenen Namen, die falsche Person zu löschen.

Es ist so, als wäre das, was die bisherige Person - Louis Althusser ausmachte, Sartres fleischgewordene mauvaise foi, die Lebenslüge: Und dazu notgedrungen freilich die ewige Furcht, "entlarvt" zu werden. Als hätte es da ein SCHEINWESEN Althusser gegeben, eine Maske, hinter der er sich versteckte. Er selbst nennt es "Kunstgriffe der Verführung und des Schwindels". Er will sich beliebt machen, mogelt, schreibt schon in der Schule ab. Und besonders hochstaplerisch erscheint, daß er, als sein Hauptwerk "Das Kapital lesen" 1965 erscheint, wo er empfiehlt alles und Wort für Wort von Marx zu lesen, nur die Frühwerke kennt und nur den ersten Band des Kapitals; Resultat: eine Angstpsychose und schwere Depressionen überfallen ihn, so daß er schon 1965 in die Heilanstalt muß.

"Unglaubliches Entsetzen bei der Vorstellung, daß diese Texte mich vor einem denkbar größten Publikum ganz nackt zeigen würden:" schreibt der Meister: "ganz nackt, das heißt, so wie ich war, ein Wesen, das nur aus Kunstgriffen und Schwindeleien bestand, und nichts anderem, ein Philosoph, der beinahe nichts von der Geschichte der Philosophie wußte und beinahe nichts von Marx... Als im Oktober (65) meine Bücher erschienen, wurde ich von derart starker Panik ergriffen, daß ich von nichts anderem mehr sprach, als sie zu vernichten (aber wie?), und als letzte, aber radikale Lösung, mich selbst zu vernichten."

Er war ein Meister, auch rhetorisch, der Inszenierung und der Show. Des Scheins und Scheinens also! Doch der Betrüger ist nicht gewissenlos genug. Der "Wille zur Übertreibung", erscheint ihm als nichts anderes als der "Wille zur Selbsttötung". Aber auch diese ist wohl pathetisch gemeint, und kaum etwas von dem, was er sagt und schreibt ist wirklich zuverlässig den Tatsachen entsprechend, auch seine autobiographische Beichte nicht, in der er nicht Fakten, sondern Gefühle und Reaktionen auf Fakten vorführen will. Und er hat eine sehr intelligente Ausrede parat: alles, was wirklich zu sein scheine, sei ja nur Projektion, "Phantasma", Halluzination.

In einem geplanten Vorwort zu seiner Autobiographie hat Althusser sogar verkündet, daß er seine eigene Kindheit nicht so beschreiben wollte, wie sie war, auch die Familienmitglieder nicht so, wie sie gewesen waren: "Ich habe mich darauf beschränkt, über sie so zu reden, wie ich sie empfunden und gefühlt habe , eben wissend, daß sie genau so wie jede körperliche Wahrnehmung eine Projektion hätten sein können... "

Gebannt im ideologischen Traum hatte er sich und sein Leben verloren, doch mit diesen "Ausreden" kommen wir zum ersten, zum tiefsten Punkt, zu Althussers Wunde, dem ersten Grund seiner Selbstauslöschung, einem familiären, ja, fast privaten Grund: Partei, Philosophie, Marxismus all dies ein Nichts im Verhältnis zur Hölle der Kindheitswirklichkeit und dann zur Hölle der Ehewirklichkeit im zerstörerischen Bindungs-Clinch in der rue d´Ulm/Paris: "Als greifbarsten Beweis meiner Nichtexistenz hatte ich verzweifelt alle Beweise meiner Existenz zerstören wollen, nicht nur Hélène, den sichersten Beweis..."

 

Hélène war seine Wunde, er die ihre; Hölle und Abgrund, diese Ehe. Zwei Persönlichkeiten, durch die Last ihrer Vergangenheit zu Seelenkrüppeln geworden, beide am Rande des Wahnsinns.

Hélène Rytman, in Paris geboren, acht Jahre älter als Althusser, stammte aus einer jüdischen Familie, die aus Galizien kam, von der Mutter gehaßt und als Kind zurückgestoßen, ohne Liebe aufgewachsen, als "kleines schwarzes Tierchen", wild, eine kleine Rebellin, in der Selbsthaß wuchs; Hélène, die sich als grauenhaftes Weib, als Megäre ansah, die von keinem Mann geliebt werden konnte, und mit zwölf Jahren vom Hausarzt gezwungen wurde, zuerst den krebskranken Vater, ein Jahr später die krebskranke Mutter mit Morphium zu töten, wurde auch noch von demselben Arzt sexuell mißbraucht. Althusser lernte Hélène 1946 im Ambiente einer Partisanenfamilie kennen ; er wurde angerührt von der Hilflosigkeit der kleinen Jüdin und von ihrer Leidenschaftlichkeit und Tapferkeit: er war beeindruckt von ihren Erzählungen aus der Résistance, in der sie militärische Verantwortung getragen hatte, Taten, zu denen er, wie er sich sagte, zu feige und sicher nie fähig gewesen wäre; diese gewalttätige Kriegswelt, die ihm als Steigerung der fordernden und banalen Wirklichkeit erschien , in der er sich immer hilflos ausgeliefert vorkam, war vor dieser zähflüssigen Realität in den Begriff, in die Philosophie geflüchtet. Im Kreis der Résistance-Genossen Hélènes fand er: "Das wunderbare Geschenk einer Welt, die ich bisher nicht gekannt, und mir in der Isolierung der Kriegsgefangenschaft erträumt hatte, Solidarität und Kampf, eine Welt der Aktion, aufgebaut nach den großen Prinzipien der Brüderlichkeit, eine Welt der Tapferkeit. Und jetzt wurde ich durch Hélène mit einem Schlag nicht nur all diesen Widerstandskämpfern gleichgestellt, ... sondern war auch noch und für lange Zeit unendlich viel höhergestellt als die armen Normalmenschen, die mich niedergehalten hatten mit ihrer Jugend ... in deren Nähe ich mich furchtbar alt fühlte ... und jetzt fühlte ich mich jung, eine Jugend, die ich ewig meiner angehimmelten Hélène verdanke."

Doch genau diese so fiktiv angeeignete Jugend, mußten beide schwer büßen. Es war eine Neuauflage des Mutterkomplexes Althussers, denn Hélène wurde nun für ihn "die gute Mutter", ja sogar der gute Vater, acht Jahre älter als er, liebte sie ihn wie ihren "eigenen", "wunderbaren" Sohn.

Er war von Kindheit an immer der ANDERE, nie er selbst gewesen, Und jetzt ein falscher Mann-Sohn. Seine Mutter liebte in ihm den im Ersten Weltkrieg gefallenen Geliebten, der Louis hieß, und dessen Namen Althussser von ihr bekam. Wenn er Louis gerufen wurde, hörte er LUI: ER! Die Mutter heiratete den ungeliebten Bruder des Gefallenen.

Solange Hélène lebte - blieb Althusser dieser Andere, auch als Theoretiker lebte er in seiner Lebenslüge, war er krank und unfrei. Totalitäre Seele, die in einer ideenreichen Selbstkonstruktion lebte.

In seinem Stil und in seinen Reden geschah Althusser dieses typische Phänomen der Paranoiker, ein anderer zu werden.

So schreibt die Florentiner Analytikerin Giuliana Kantza, ehemalige KPI-Intellektuelle, in einer Arbeit über Althusser:

"Eine Art Sosias, ein Sich-selbst-ersetzen, Selbstersatz, nur nicht der zu sein, der man ist, den eigenen Namen zu löschen: (Louis). Ein fast exemplarischer Fall, ein Anderer zu werden. Immer der Andere IST, immer etwas, was nicht ist, IST. Alles von Entfremdung, Befremdung, ja Abneigung geprägt. "

Althusser: "... lui (er), jenes Pronomen der dritten Person, das, wie ein Aufruf eines anonymen Dritten klang, mich jeder eigenen Persönlichkeit beraubte und auf jenen Mann hinter meinem Rücken anspielte: Lui - das war Louis , mein Onkel, den meine Mutter liebte, nicht ich. Dieser Name war der Wunsch meines Vaters, im Angedenken seines Bruders Louis, gefallen vor Verdun, doch es war der Wunsch vor allem meiner Mutter, in Erinnerung an jenen Louis, den sie geliebt hatte und den sie auch ihr ganzes weiteres Leben nicht aufgehört hat zu lieben. "

Louis Althusser: für seine Mutter Platzhalter, von ihr nicht geliebt, geliebt nur als Stellvertreter. Schon als Kind tot, im Schatten eines Toten, war er "vaterlos" auf die Welt gekommen, und mußte sich selbst erschaffen, was mißlang. Wie sollte man sich auch (mit Philosophie, gar mit Parteihilfe, Marxhilfe) selbst erschaffen können:

"Da sogar die größten Philosophen ohne Vater geboren wurden ... und da ich keinen Vater hatte, wurde ich "Vater des Vaters", Selbstvater, Eigenvater ... und gab mir so die wichtigste Funktion des Vaters: die Herrschaft und die Beherrschung jeder möglichen Situation ... vor allem, die Beherrschung der Totalität. aber in erster Reihe die Beherrschung von allem, was mich selbst betrifft... und die Beherrschung mit Hilfe der Sprache und des Begriffes ... als wäre unsereiner ein allmächtiger Vater und auch verantwortlich für alles ..."

Theorie als Kompensation der Lebenskomplexe. Trotziger Größenwahn: Das typische "Alleswissen", die infantile "Beherrschung des Ganzen", jene "totalitäre Seele", das Fatalste, was die untergegangene Weltbeherrschungs-Ideologie zu bieten hatte. Althusser sagte sogar, daß er die Weltbeherrschung in der Theorie zumindest mit angestrebt habe: "Die Führungsrolle in der Geschichte der wirklichen Welt." Doch oft spricht der Größenwahn eines autoritären Autors aus Althusser, oder ist es schon der Größenwahn des Paranoikers, wenn er von der Einsamkeit des Denkers spricht, Cartesius, Kant, Kierkegaard, Wittgenstein als Kollegen der Einsamkeit anspricht, und sich um die große Verantwortung sorgt, was die Wirkung seines Denkens betrifft. Denn, er ist einzigartig, er hat keine Vorläufer und Meister gehabt, seine Ideen wirken direkt über die Partei in die Realität, glaubt er: " ... jeder Philosoph wollte effektiv die Welt verändern` , ein Ding, das er nicht allein tun kann, ohne eine kommunistische Organisation, die wirklich frei ist, demokratisch, in enger Verbindung mit ihrer Basis... ich tat nichts anderes, als einzugreifen, allein gegen alle ... Ja, ich wußte, daß ich allein war, und in großer Gefahr schwebte... "

Gefährlich war das eigene Unbewußte, und eine eigensinnige Ichbezogenheit, 1968 hatte er den gefühligen Humanismus abgelehnt, und war stolz: endlich allein Recht gegen alle gehabt zu haben. Er vollbringt das Kunststück, sich an die, den Menschen ausklammernden Marx-Fundamente halten zu wollen, so sein eigenes leidvolles Ich auszuklammern: "Die Gesellschaft setzt sich nicht aus Individuen zusammen, sondern aus Beziehungen..." Andererseits in seinem Denken fast autistisch zu sein: "Allein verantwortlich, hatte ich endlich den Bereich meiner eigenen Initiative gefunden, wo ich meine eigenen Wünsche verwirklichen konnte, zumindest den Wunsch, endlich einen eigenen Wunsch zu haben (... es war erst die leere Form eines Wunsches, und diese leere Form des Wunsches für einen realen Wunsch zu halten, war genau mein Drama, aus dem ich als Sieger hervorging, aber nur im Denken, im reinen Denken), wie in einem Schicksal ...Erfüllung des reinen Wunsches meiner Mutter ..."

Zugleich aber strebt er nach der Entlastung im Inkognito und im "Anonymen": " ... es berührte einen prinzipiellen Punkt der Angst in mir, der mir zutiefst zu Herzen ging: die Frage des Anonymates. Da ich für mich selbst nicht existierte ...tendierte (ich) mein Nichtsein über mein Anonymat zu verwirklichen... Mir gefiel wie Foucault den Begriff "Autor" kritisierte und dann, so wie ich in den Blättern meiner obskuren Zelle, er in der militanten Aktion bei den Gefangenen der Gefängnisse verschwand. Und ich weiß, daß Etienne Balibar mich schätzte, weil ich mich jeder Werbung mit meinem Namen widersetze. "

Und er wolle anonym und namenlos sein., sich auslöschen.

Denken habe er schon lange nicht mehr gekonnt, schreibt er nach dem unfreiwilligen Mord an seiner Frau: Denken - Diese Anmaßung sei erledigt gewesen: "In seinem Denken drückt der Philosoph, so hat es Marx gesehen, die theoretische Beziehung zu sich selbst aus. "

Und nun gab es keine Beziehung mehr. Der Selbstvater war tot. Denn sein eigener Vater sei ja er, Louis Althusser gewesen, von Kindheit an.

Das war jetzt aus. Als sei nach dem Tode Hélènes nicht nur "die gute Mutter" gestorben, sondern auch dieser Selbstvater, an den er und alle eine Zeitlang in ihm geglaubt hatten.

Hèlène war seine neue und "gute" Mutter gewesen, eine Art Inzest, denn zugleich liebte sie ihn "als Mann", der er ja gar nicht war; seine leibliche Mutter, so meinte Althusser, habe ihn zum Un-Mann gemacht, Hélène aber machte ihn zum Mann; und sie "schliefen zusammen wie Mann und Frau". Als wäre er nun wieder "komplett". Er habe nicht lieben können, und die Liebesunfähigkeit führte er wieder auf Kindliches zurück. Und auf Peinliches, auf Allzuintimes: im Dunklen (im Bad) habe sein Vater versucht, ihn sexuell fit zu machen, anscheinend hat aber auch die Mutter "Hand an ihn gelegt" ..., ihm "den Sex enteignet".

Es ist schon peinlich und erstaunlich, was für Ausreden er für seine Unfähigkeit zu lieben vorbringt.

Hélène aber, die sich als die häßliche Megäre und nicht für liebenswert hielt, wollte geliebt sein, und war zu Recht voller Ängste, von ihm nicht geliebt zu werden.

"... wenn sie mir im Bett oder auch anderswo beschwörend wiederholte: Sag was! was in Wahrheit hieß, gib, gib mir alles, was ihr helfen könnte, rauszukommen aus der furchtbaren Angst, allein zu sein, eine schreckliche und ewige Megäre, ohne mögliche Liebe ... Gib mir alles , also: hilf mir endlich leben! Gib mir etwas, um diese Angst zu beruhigen, nicht wirklich zu existieren in deinem Blick, in deinem Leben, nichts anderes zu sein, als eine flüchtige Affäre."

Er aber fürchtete, von ihr verlassen zu werden. Schuf sich eine "Reserve von Frauen", die sie - als Mutter? - begutachten mußte. Ein sadomasochistischer Zauberzirkel ohne Ausweg, Verletzungen, Kränkungen, Streit ohne Ende. Sie bat ihn, ihr seine Affären zu verschweigen. Er tat es nicht.

Aufstand gegen seine Mutter, die verboten hatte, den Körper oder den Besitz anderer Leute zu berühren?

Stolz zeigte er im Sommer, es war in der Bretagne, Hélène seine Stranderoberungen, und das war genau zu jener Zeit gewesen, als er sich mit dem Gedanken an einen großen Bankeinbruch trug. Später dann in Saint-Tropez hatte ihn ein Freund mit einer jungen Schönen besucht, dem hatte er ein Manuskript zum Lesen gegeben, und sich auf das Mädchen gestürzt, sie in Gegenwart von Hélène geküßt und ihr Bauch, Brüste und Scham gestreichelt, halb erschrocken, halb geschmeichelt hatte sie es sich gefallen lassen; dann habe er sie an den Strand eingeladen, in eine kleine Bucht, erzählt er, und die sei an dem Tag völlig leer gewesen, da an jenem Tage ein kräftiger Westwind die Leute vertrieben und das Meer aufgewühlt hatte; er habe sie aufgefordert sich nackt auszuziehen; und er selbst nackt, sei, vor Hélènes Augen ins stürmische Meer hinausgeschwommen, dort mitten in den Wellen habe er die Neue, die sehr entgegenkommend und noch geiler war als er, geliebt, und sie seien dann weiter hinausgeschwommen, bis sie dann plötzlich erkennen mußten, daß eine Strömung sie weiter hinauszog; Hélène aber sei am Strand schreiend und sich die Haare raufend auf und abgelaufen. Zwei Stunden kämpften sie mit den Wellen, und nur dem jüngeren und kräftigeren Mädchen, die eine gute Schwimmerin war, hatte er sein Leben zu verdanken; nun, er war schließlich über sechzig Jahre alt.

Dazu aber kommt noch eine Art politische Sentimentalität und ein Intellektuellen-Schuldbewußtsein, das er auf unerträgliche Weise mit den persönlichen Komplexen vermischt. Vielleicht gehört diese Rührseligkeit, mangels starker Gefühle, mit zu den Motiven, weshalb er an Hélène, der Jüdin, Partisanin und Roten so hing, ja, warum er ein "fortschrittlicher" Mensch geworden war.

Er fand Hélène dann in Tränen aufgelöst und wie eine Alte dahocken, zitternd und sichtlich in einer hysterieähnlichen Krise. Rühr mich nicht an, oder ich schrei um Hilfe, hau ab mit deiner Hure, ab, fort. Und heulte wieder und schrie los. Er habe das Mädchen fortgeschickt, sie auch nie mehr wiedergesehen. Erst nach zwei Stunden sei sie, Hélène, wieder zu sich gekommen und endlich mit nach Hause gekommen. Nun sei da aber noch etwas anderes in jenem versteinerten, bis zum Wahnsinn schönen, vor Schmerz transparenten Gesicht gewesen, ja, alle Toten, die im Krieg von den Nazis umgebracht worden waren, schienen da mit aufzuscheinen.... dieses sei in dieses Gesicht der Jüdin Hélène eingeschrieben gewesen ...

Der Mann war ahnungslos, unreif in Sachen der Gefühle. Liebesunfähigkeit ist ein Komplex der Moderne. Bei Althusser zeigt sich aber diese Lieblosigkeit ganz unmittelbar in einem menschenverachtenden Stil. Gräßliches unlesbares Zeug hat Althusser auch geschrieben.

Wieder erscheint dieser Marxist und Kommunist als der subjektivste Mensch, fast als Autist. Ja, sogar seinen Marxismus leitet er aus seiner Intimität ab, in seiner papierenen Sprache klingt das so: "Und was meine Beziehung zum Marxismus betrifft, ich meine, da sehe ich klar erst jetzt. Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um Objektivität, die ich beschreiben könnte, als vielmehr um mein Verhältnis zu einem oder zu mehreren objektiven Objekten, um meine Beziehung zu einem "objektuellen" Objekt, d.h. einem unbewußten , inneren... "

Dieses seltsame "objektuelle" Objekt ist letztlich die verquere platonisch-inzestuöse Mutterbeziehung.

Ein autistischer Fremder in der Welt, wie im Traum, ein "Augenkind ohne Körper", sagt Althusser selbst, sei er immer gewesen: keine Berührung, alles nur aus der Distanz des Sehens wahrzunehmen, wollte ihm seine Mutter wie einen Klosterzwang antun, wahrzunehmen nicht mit den Händen, die Dinge nicht direkt zu berühren, war der Wunsch der sexfeindlichen, körperfeindlichen Mutter, der Reinheitsfanatikerin; so blieb Althusser ein lebenslanger Voyeur. So kam er zum Abstrakten, zu dessen Extremsten, zu Marx und zur KP. Und vielleicht sind alle diese Familien-Gifte, dies abgründig Negative als Lebensschicksal die Grundlage seiner ganzen Theorie, die Sublimation dieser Familien-Gifte. "Einige gewalttätige Formen, die ich einmal ideologische Staatsapparate genannt hatte, haben mir in meinem Leben viel zu schaffen gemacht; zu meiner großen Überraschung, ersparte mir die Tatsache, daß ich einiges von ihnen begriffen hatte, nicht, daß sie mich ebenfalls zutiefst bestimmten. "

Es ist erstaunlich, daß sein Fall am besten mit der von ihm entworfenen Theorie des Unbewußten erklärt werden kann. Er hat versucht, die wirklichen Tiefenkräfte der Geschichte, die nicht die ökonomischen, wie bei Marx sind, sondern die Verdrängungen, das mehr oder weniger kranke ("verdinglichte") Unbewußte, das die Menschen zu handeln zwingt, wie es ihnen eingebleut wird, und ihnen das Leben stiehlt, dieses zu einem falschen macht, sodaß sie immer nur als DER ANDERE leben, nie als sie selbst zu analysieren und er nennt diese Gifte "Ideologie". Althusser: "Die Ideologie stellt das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren wirklichen Lebensbedingungen dar. "

Mord, Heilanstalt, Schuld. Eine Selbstreinigung. Befreiung vom Gift der Ideologie im sozialen Ich? Er wußte ja: Die Ideologie sei kein Wahn, wie noch Marx annahm, sondern eine enorme unbewußte Kraft in uns allen, der eigentliche "Kitt" der Systeme, aller Systeme seit es arbeitsteilige Gesellschaften, Herrschaft und Unterdrückung gibt: "Die Ideologie ist ewig, ebenso wie das Unbewußte ... ich halte es daher für legitim, eine Theorie der Ideologie im allgemeinen zu formulieren, wie Freud eine Theorie des Unbewußten im allgemeinen formuliert hat."

Das aber steht im Gegensatz zu Marx, stünde auch im Gegensatz zu jener Formulierung, daß Geschichte nichts mit dem Einzelnen zu tun habe. Alles im Gesellschaftlichen oder Persönlichen sei also vom "Imaginären", vom Unbewußten und von der Emotion bedingt, von Wünschen und Träumen, Gefühlen und Ressentiments... Das hat mit Marx nichts mehr zu tun, sondern mit Spinoza und Freud.

Althusser hat z.B. unter dem Zwang der mütterlichen Autorität, die er verinnerlichte - ein Leben lang geheuchelt wie ein Pfaffe, wollte ein ANDERER, irgend etwas wider die Natur sein: Etwas, das er jedenfalls nicht war. Er war ein äußerst sinnlicher, manchmal ordinärer Mann, und nicht die reine Figur, der Keusche, der er der Mutter zu Liebe sein wollte.

 

Ich lese mit Verwunderung in Georg Lukács "Geschichte und Klassenbewußtsein", es wird mir klar, daß Althussers Marx, die moderne Psychiatrie und die neue Physik zu ähnlichen Resultaten kommen. Übrigens auch Sartres "Marxismus und Existentialismus". Die Korrektur des Wissens durch das Nichtwissen von Morgen. Und hier setzt auch die wichtigste Erkenntnis Althussers ein, die eigentlich eine Umkehrung des traditionellen Marxismus ist: Nämlich daß Welt, wie sie sich uns darstellt, das ist, was Erkennen aus ihr macht. Das Ich ist immer eine Filmkamera und kein Spiegel. Man ahnt, wie nahe am Unausdrückbaren diese Auffassung ist; Althusser verehrte Spinoza, ging von einem innern Kraftzentrum aus, das diese "Filme" abrollen läßt, dem er sich selbst überläßt, bringt dafür als Beispiel - die Wachheit der Katze: Diese totale Weigerung, Störungen eines innern Schwingungszustandes auch nur wahrzunehmen, dann aber plötzlich wie ein Blitz aus tiefster Bewußtlosigkeit aufzuspringen, mit einen Biß oder mit einem Pfotenschlag, ihre Ruhe zu verteidigen, und dann wieder dem stillen Grund des Nichts zutreiben zu können im fragilen Schwingungszustand des möglichen Glücks, - dieses alles kommt aus tiefster Irritation, im Eigenen gestört zu werden durch Menschen, durch äußere Geschehnisse andauernder Vergewaltigungen.

In der modernen Informationstheorie ist Wissen eine meßbare Menge von Wissensmöglichkeit im Rahmen der Wahrscheinlichkeit, das heißt etwas völlig Ungesichertes, Vorläufiges.

Bewußter Träger dieses Wissens ist der einzelne Mensch, das Subjekt. Es scheint als wäre dieses Subjekt nun wieder aufgetaucht. Weder westlicher Pragmatismus, noch der östliche Staats-Materialismus konnten es vernichten. Dadurch, daß der Einzelne, der total Vergessene, aber Träger der Rätsel unserer Existenz, wieder aufgetaucht und wider Apparate und Staaten, ja, wider die Abstraktheit der Gesellschaft aufgestanden ist, wurde etwas in sozialen Prozessen sichtbar, was auf andere Weise schon die Beschleunigung der Zeit und die Immaterialisierung im Westen fertiggebracht hatte, was also an der Zeit war: die Einsicht, daß die Welt Wissen, Information - oder besser: Geist ist, der nicht als Geist erscheint. Und nicht etwa irgendwelche gleichgültige Materie, "Rohstoff", von dem man sich unbegrenzt bedienen kann. Von den metaphysischen Konsequenzen einmal abgesehen, die sicher nicht die unwichtigsten sind, und zum harten Kern unseres Wissens, der Unschärferelation Heisenbergs, nämlich der Notwendigkeit, Subjekt und Kosmos als Unbekannte wieder in die Erkenntnis einzugliedern, führen, ist das Auftauchen des einzelnen Menschen, seines Gewissens und seiner Rechte im Geschichtsprozeß auch praktisch von enormer Bedeutung, ja, setzt diesen, der eingefroren war, erst neu in Bewegung!

Im Gesellschaftsprozeß, wo vor allem erstarrtes Außen gilt, im Osten war das besonders auffällig, bis zum Ekel apprathaft, wurde und wird Zufall, Subjekt und Substanz ausgeklammert. Die moderne Wissenschaft hat dies längst korrigiert, gezeigt, wie wichtig es ist, den unverstandenen Zusammenhang zwischen Mensch und Natur genau zu erkennen, die Ausklammerung des Nichtkausalen, des Subjektiven und der Qualitäten (im Umgang mit Mensch und Natur) rückgängig zu machen, da nicht nur die Exaktheit im Experiment etwa darunter leidet, sondern auch der Tat in verheerender Weise das Bewußtsein entzogen worden ist. Weder diese Trennungen, noch das geruhsame Einrichten in blinder Kausallogik und Empirie oder "gegebener "Anschaulichkeit", in der das Humane meinte, bequem und sich grenzenlos bedienend, eingerichtet zu haben, entspricht den tieferen Gesetzen der Wirklichkeit. Das Subjekt rückt ins Zentrum: denn der dichteste Ort des Alls ist der menschliche Kopf, was "Objektivität" überhaupt erst möglich gemacht hat, nämlich Messung, ist menschliches Wissen, Kenntnis, außerhalb deren für uns überhaupt nichts existieren kann. Das Subjekt, der Grund dieser Kenntnis selbst aber, der kann begrifflich niemals erfaßt werden...

Althusser selbst nennt dieses "metonymische Kausalität" (abwesender Grund). Es scheint so, als wäre nun Louis Althussers Fall nicht nur eine Selbstkorrektur durch den Wahnsinn, der zu beweisen schien, daß das Leben des Einzelnen niemals begrifflich von einer Theorie erfaßbar ist, - eine Korrektur der Maßlosigkeit eines überheblichen Wissens, einer rechthaberischen Theorie, die schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard im vorigen Jahrhundert am maßlosen und rücksichtslosen, den einzelnen Menschen überschreitenden und sogar tötenden Absolutheits-Denken Hegels vorgenommen hatte; Jean Paul Sartres Ansicht in seinem Buch " Marxismus und Existentialismus" trifft ganz besonders auf Althusser zu:

" ... der Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal sind nackte, durch Erkenntnis weder überschreitbare noch abwandelbare Realitäten ...unentwegt neues Sichbemühen, überwundene Verzweiflung, vorläufiges Scheitern und fragwürdiges Siegen - , insofern diese Arbeit in direktem Gegensatz zu aller begrifflichen Erkenntnis steht. Denn die Ideen ändern die Menschen nicht, und es genügt nicht, die Beweggründe einer Leidenschaft zu erkennen, um sie aufzuheben. Man muß sie durchleben ... sie hartnäckig bekämpfen, kurz sich abarbeiten. "

So Jean Paul Sartre. Im Zeitgeist betrügen wir uns selbst.

"So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine .... Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen." So sagte es schon Karl Marx.

Althusser wollte keine leeren Begriffe, schon gar nicht die Parteiideologie, er wollte nur das akzeptieren, was die nackte und krude Realität wiedergab. Sich nichts vormachen, keinen Sand in die Augen streuen ... Gleichzeitig wollte er auch im Ideellen hoch hinaus. Dieses Dilemma zerreißt ihn. Und die eigentliche Wunde ist unbewußt. Überall mischt sie sich ein, überall bestimmt ihn das, was er selbst unter Ideologie versteht, nämlich unter anderen sozialen Giften, die Familien-Gifte: "Die schmutzigen Hände, der Schmutz waren die Phobie meiner Mutter, und daher bekam der Schmutz eine Art Faszination für mich... Das Auge ist ...seit Platon, Aristoteles, dem Thomas von Aquino und bis heute das spekulative Organ par excellence."!

Die Mutter des Philosophen - Und die Mutter der Philosophie - die reine Idee: Haar und Schmutz schied Platon aus der Idee aus.

Althusser: "Ja, ich habe erfüllt, was sich meine Mutter seit unvordenklichen Zeiten (das Unbewußte ist zeitlos) von der Person jenes anderen Louis wünschte und erwartete - und ich habe es getan, um sie zu verführen: die Verständigkeit, die Reinheit, der reine Intellekt, die Entkörperlichung, der Erfolg in der Schule und zu guter Letzt eine `literarische´ Karriere.... Aber war es mir gelungen, meine Mutter zu verführen? Ja und nein. Ja, weil sie in mir die Verwirklichung ihres Wunsches erkannte, glücklich und äußerst stolz auf mich war. Nein, weil ich bei dieser Verführung immer den Eindruck hatte, nicht ich selbst zu sein, sondern nur durch Kunstgriffe und in Kunstgriffen zu existieren, meine Mutter also nie wirklich erobert zu haben."

Reinheit schafft er nicht. Er weiß bis zu seinem 27 Lebensjahr nichts vom Sex, als er das erstemal onaniert, wird er ohnmächtig. Nach dem ersten Beischlaf, mit dreißig! verfällt er einer schweren Depression und kommt zum erstenmal in die Heilanstalt. Es war natürlich Hélène, mit der er zum erstenmal schlief: Er sei dabei überfallen worden von Gier und Geilheit, und da hätten sie sich dann geliebt, eine ganz neue Sache sei das gewesen, überraschend und gewaltsam. Doch als sie gegangen war, da habe sich ein Abgrund von Angst geöffnet, der sich nie mehr schloß. Am nächsten Tag, da habe er Hélène angerufen, um ihr in aggressivem Ton zu erklären, daß er nie mehr mit ihr schlafen werde. Doch es sei zu spät gewesen. Ein Gefühl des Ekels, taub und stumm, doch gewalttätig habe in ihm gearbeitet ...

Die Tage vergingen, und die Depressionen nahmen zu. So kam es zu einer längeren Zwangseinweisung mit Elektroschocks, die der berühmte Analytiker Pierre Male verordnet hatte. Und da sei alle zwei Tage der schnurrbärtige "Stalin", der kleine Psychiater mit seiner Elektrisiermaschine gekommen, und habe ihm diese Spasmen appliziert, eine epileptische Trance, furchtbare Zuckungen und Aufbäumen des Körpers mit Schaum vor dem Mund. Ein kleiner Tod auf Raten. - Die Angst und Aggression gegen Frauen habe zugenommen .

Hélène treibt (ohne sein Wissen) ab. Und er sieht dies sogar als Opfer für ihn an. Das bezahlt er bitter. Es entstand zuerst ein schönes, aber kompliziertes Verhältnis. Sie kümmerte sich mütterlich um ihn in den Phasen seiner Depression. Wenn er gesund war, betrog er sie. Sie rächte sich dafür, nützte seine Trennungsängste aus, verschwand tagelang ohne Adresse.

Er ist lebensuntüchtig, so ist ihm der Gedanke an winzige Banalitäten des Alltags ein alptraumhafter Horror: Einkäufe, Putzfrau usw. Und auch die Klinik, wahrscheinlich die Philosophie sowieso, sind ein Fluchtort vor den Widrigkeiten des Alltags. Und noch nach dem Tode Hélènes, als er 1980 in der Heilanstalt dahindämmert, kommt diese Angst hoch: Die Anstrengung, sich etwas Essen machen zu müssen, einzukaufen, gar einen Umzug mit all den Büchern zu bewältigen, ja, mit der Putzfrau zu verhandeln... die Angst allein zu bleiben bestimme alles...Und anfangs in der Heilanstalt habe er, der Patient, alles "verloren", das Nachthemd, die Schuhe, die Brille, den Schlüssel vom Schrank, das Unterhemd, kunterbunt und durcheinander, und sei eine Art Konversion einer völlig andern Abwesenheit gewesen, der von Hélène, die schließlich die Abwesenheit seiner Mutter gewesen sei, und verlor alles, weil er alles verloren habe, nicht nur das eigene Leben, nein, alles, und es auch radikal darauf angelegt, es zu verlieren, so daß Nichts geblieben sei, eine immense Trauer, ja, nach der totalen Selbstauslöschung, und ein Punkt Zero, und so schien die Heilanstalt der beste Ort, die Person und der Mord noch mehr, auch das Werk, alles, was jener mit dem Namen Althusser geschaffen, radikal zu zerstören, er hatte doch alles getan, um nach Saint-Anne und Soisy zu kommen, und auch Marx richtig gewählt, den Mitzerstörer, denn immer schon hatte er gesagt: mit Marx beginne etwas, das niemals ein Ende finden könne, die Krise, die jetzt begonnen habe, sei erst der Beginn, und wer denn, wenn nicht er, habe das ausgelöst, und auch der Imagination, der besitznehmenden Idee habe er nicht mehr nur Paroli zu bieten, sondern etwas TUN müssen zu wollen.

Und in der Heilanstalt, da war er geborgen, als käme er nach Hause, und begeistert nahm er eine Deutung an, die ihm sein Analytiker gegeben hatte, die Depression, ja, auch sie, sei Omnipotenz, man ziehe sich zurück, man flüchte sich in die Krankheit, entfernt von jeder Sorge, der Alltagssorge vor allem, man sei in Sicherheit, man sei geschützt in einem weißen reinlichen Zimmer, wo Pflegerin und Arzt mütterlich um einen besorgt sind, als wäre man ein kleines Kind, besorgt, und die Gewißheit nicht verlassen zu werden, sei alles, der Patient unterwerfe sich gerne, müsse gar nichts mehr tun, und müsse nichts mehr von der bösen Welt fürchten, werde endlich von guten Müttern und Vätern geliebt. Ein wahrlich infantil-totalitärer Traum:

" ... wie mich diese Deutung befriedigt, mich, der sich im Leben ohnmächtig und ausgesetzt vorkam, ohne jede reale Existenz (es sei denn durch das Spiel meiner geistigen Feuerwerke und meiner Verstellungen)... drei Dinge lösten meine Depressionen aus: Angst, von Hélène...von diesem oder jenem Freund verlassen zu werden... Angst, einer Liebesanforderung nicht gerecht zu werden,... wenn jemand "Hand an mich legte", ..schließlich, Angst, bei meinen Betrügereien entlarvt zu werden, nackt vor dem Publikum zu stehen. "

Er sei in die Welt der reinsten Bedürfnisse seiner Mutter geflohen, vor der handgreiflichen Brutalität und wortlosen Direktheit seines Vaters und seiner Welt des schwitzenden Körpers, so habe er also sein eigener Vater werden müssen und so sei er eben Philosoph und Marxist geworden, und dies überhaupt nicht etwa unter dem Druck oder dem zarten Einreden der Kommunistin und Partisanin Hélène. Nein, der Anfang sei freilich Husserl, Sartre und Merleau-Ponty gewesen, immer in Ansehung des Vorbegrifflichen, dessen, was wirklich ist, das noch Ungedachte ist, nämlich die Praxis und nicht die nur gedachten Hirngespinste. Sehen, ohne den Körper, ohne die Hände gar einzumischen, wie auch die schmutzigen Hände, die Trauerränder unter den Fingernägeln, gar Scheiße an den Handflächen sei für seine Mutter ein Horror gewesen, und so sei für ihn auch nie daran zu denken gewesen, daß er Hand angelegt hätte, daß er mit den Händen ein Mädchen, ihr Hinterteil etwa berührt, dagegen mit den Augen schon und vor allem mit den Augen, immer sei er eine Art Voyeur gewesen, es lange geblieben, und von der Mutter her sei er immer das Augenkind gewesen, fast ohne Leib sozusagen... Andererseits aber habe er ja gerade ein Glücksgefühl empfunden, wenn sein Körper sich frei bewegen konnte, und er habe da auch ein großes Talent entwickelt, alle Muskeln in Bewegung zu setzen, im Spiel, vor allem auf dem Land, radfahrend, das Rad als Wundermaschine, wie das surrt, wie das rast, und die Muskeln heiß wurden, aber auch die Muskeln des Mundes, der Lippen, Fremdsprachen leicht gelernt, auch gern Fußball gespielt, er, wie ein Abbild von allem in der Bewegung, unterschiedslos, bewegt, hin zum Glücksgefühl. Und so habe er, Althusser, begonnen mit seinem jungen Körper zu denken, ja, nicht dieses distante mit den Augen die Welt Abtasten bis an den Horizont, wo sie sich anschlugen, nicht weiterkonnten, wo das Denken begann, beginnen mußte, um weiter zu kommen, sondern Begreifen ganz nah mit der Hand, und es sei eine äußerste, bis zum Zerreißen verschiedene Veranlagung in ihm. Dies Augenkind der Ferne, das habe er auch am Großvater im Alter dann erlebt, wenn der schon in die Schläfrigkeit des Todes verfallen sei, und es sei ihm da immer aufgefallen, welche Ähnlichkeit mit der Lust ihrer Bewußtlosigkeit bei der Katze zu beobachten sei, die sich aus ihrem Körper ihr eigenes Bett schuf, sich völlig zurückzog in den Schlaf, völlige Weltabgekehrtheit...

Das aber habe er dann überwunden, vergessen sogar das Reinheitsgebot der Mutter, er sei ein Mensch der Praxis, des Körpervergnügens geworden, das Gegenteil also von Thomas von Aquino etwa, dem alles Auge war. Die Berührung mit den Händen, sogar dies habe ihm dann nicht mehr ausgereicht, um an die Wirklichkeit zu glauben, da zu sein, zu existieren, dazu gehörte mehr, nämlich etwas umzuformen, zu bearbeiten, beginnend mit kleinen Basteltätigkeiten als Junge, bis zu ernsthafter Arbeit, sogar die Gefangenschaft und den Aufenthalt in einem deutschen Lager habe er nicht als starken Zwang empfunden, da oft sogar Freude beim Arbeiten aufgekommen sei, vor allem deshalb, weil er in einer Werkstatt mit den entsprechenden Gerüchen und Geräuschen gearbeitet hatte. Nun, genau dieses praktische Dasein im Arbeiten, die Welt in der Tätigkeit zu fassen und zu glauben, da zu sein, sei Lust gewesen, ihm habe geistige Arbeit nicht ausgereicht, sondern jene Berührung der nackten, der kruden Realität habe er angestrebt wider jede spekulative Illusion, gewissermaßen auch Hand anlegen, die Welt fühlen, diese Lust habe ihn zu Marx gebracht, und er könne diesen Horror seiner intellektuellen Freunde nicht begreifen, die körperliches Tun als Zwang, Verblödung und als Zeitverlust ansähen.

"Ich hatte wenig oder gar nichts im Sinn mit dem Heiligen Thomas der Theologie, der noch von der Denkfigur des spekulativen Auges beherrscht wurde; viel mehr hatte ich gemein mit dem Thomas aus den Evangelien, der berühren wollte, um zu glauben. Als ich dem Marxismus "begegnete" war es der Körper, der sich ihm anschloß. Nicht nur, weil der Körper die radikale Kritik jeder "spekulativen" Illusion ist, sondern weil er mir die Möglichkeit gab .. Arbeit an der sozialen Materie oder einer anderen im Denken selbst erleben zu können."

Es war ein "Kompromiß" zwischen seiner Sehnsucht nach realem Leben und den Reinheitsbedürfnissen seiner Mutter, doch letztlich war es ein Aufstand gegen sie. Und so habe er dann den Begriff der praktischen Theorie oder theoretischen Praxis gefunden.

Es war die schöne alte Utopie einer Selbstveränderung durch Tat in reflektierter Praxis: Erstaunlich, wie nah dieses von Hegel übernommene Zentrum der geschmähten marxistischen "Dialektik" dem Grund gegenwärtigen Wissens ist. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker definiert den Kern heutiger Erkenntnismöglichkeit so: "Das umfassendste mathematische Schema eines Naturgesetzes ist das einer Differenzialgleichung nach der Zeit. Eine derartige Gleichung gibt an, wie bei gegebenen Umweltbedingungen der Zustand eines Objekts seine eigne Änderung determiniert."

Dies der Kern auch von Althussers Denken. Gesicherter Besitz auch "ewiger Wahrheiten" wird durch diese neue Logik zeitlicher Aussagen widerlegt. Eine uralte Weisheit, Goethe nennt es sogar "Selige Sehnsucht", "Stirb und Werde": da Gott die Zeit - und der Tod ist.

Althusser hatte den Begriff "metonymische Kausalität" (oder abwesender Grund) übernommen und in "Kausalität der Struktur" umgetauft. Dieses Noch-Nicht-Wissen bringt das jetzt noch undeutbare Hier und Jetzt in den Blick, es zielt auf einen Abgrund, das der vorhin genannten Korrektur des angemaßten "Wissens" durch das methodische Nicht-Wissen entspricht: "... Prozeß ohne Subjekt ... und ohne Endzweck ... Ein Idealist ist ein Mensch, der vorher schon weiß, von welchem Bahnhof der Zug abgeht, wo er ankommt... ein (Materialist) Realist ist ein Mensch der den fahrenden Zug besteigt, ohne zu wissen, woher er kommt und wohin er fährt...."

Doch auch dieses reicht nicht aus, theoretisch zu aßen, was "wirklich" ist. Keine Theorie half Althusser, auch nicht die "Theorie der Praxis", als es geschah, was ihm wirklich geschah, da war alles, was er wußte, unnütz; da half kein Marx, kein Sartre, keine Physik, der Durchbruch zum Wahnsinn und zur Mordtat an seiner Frau Hélène geschah, als das Denkgerüst, seine Maske, die ihn eine Zeitlang geschützt hatte, zerbrach.

Selbstentlarvung bis zum Wahnsinn, zum Tod: Opfer des auf Selbstbewahrung bedachten Ichs, das sich im Selbstopfer erst als Projektion falscher Zeit erkennt - und womöglich dabei durchdreht! Althusser hat die "Krise" des Marxismus aus diesem selbsterlittenen Zwiespalt zwischen Ideologie als Krankheit des Kopfes und Ideologie als Krankheit der Seele vorausgesehen, und erkannt - daß Gifte des Unbewußten Geschichte und auch seine Geschichte gemacht hatten. Denn sie tun es und wissen es nicht: Dies hatte er selbst an sich erfahren, Leere und Amnesie als Ort der Geschichte: er konnte sich an den Mord, den er begangen hatte, nachher nicht mehr erinnern. Es folgte der Sturz, die Katastrophe, die Auslöschung .

 

VORAUSSETZUNGEN DES MORDES

Daß er sein Denken langsam aber sicher selbst ersetzte, seinen "Marxismus", das war die persönliche Katastrophe, sein Wahnsinn; letztlich, daß er eigentlich nie so recht an seine theoretische Auffassung, den Begriff von ihr, geglaubt hatte. Diese "Illusion einer Autonomie" des Theoretischen, dieser Gipfel der Objektivitätsfrechheit des Marxismus, das "Delirium der Allmächtigen Idee," wie Althusser sagte, und der formalen Logik, das mußte schief gehen, der Fall war klar vorauszusehen.

Und meinte auch, daß Denken , wers beschreibt, ein nach Außen stoßen von jenem Wissen sein muß, das sich sucht, durch ihn auch, und natürlich ein Insichgehn sei, wenn ich mein tägliches Dasein, das blind und taub macht, verlasse, gesteigert, es einer Gestalt meiner Erinnerung übergibt.

 

Althusser ist nur ein besonders krasses Beispiel der ideellen, dann moralischen bis zur gesellschaftlichen Selbstzerstörung bis zur Selbstauslöschung. Wobei Zynismus nur eine schwache Form davon ist. Iris Radish schrieb in der ZEIT über Sascha Anderson: Ein "hochmoderner Mensch", ohne Skrupel. Ohne Moral. Er sei der "erste sozialistische Geschäftsmann" und hocheffizient. Effizienter noch als ein westlicher Geschäftsmann. Adolf Endler sagte in einem Gespräch im Hamburger Literaturhaus: Durch diese Stasi-Aufarbeitung werde der ehemalige DDR-Mensch " für die Geschäftswelt präpariert."

 

Doch von da und bis zum eingebrochenen Nihilismus und Zynismus, ist es nur ein Schritt, der neue Zynismus ("zynische Vernunft") der im Tabula-rasa-Verfahren nun meint, daß das Unglaubwürdig-Werden der alten abendländischen Begriffsgeschichte seit Platon und Aristoteles durch deren Verhunzung, ein "Werk" ihres roten Bastards und deren Machtzentralen, nun jedes Noumen und auch die "Apriorität des Individuellen", damit jeden geistigen Wert erledigt hätte, ist äußerst gefährlich und führt ins blutige Tierreich des Bürgerkrieges und des Verbrechens.

Das alte Totalitäre ist an der neuen totalitären Telekratie und ihrer furchtbaren künstlichen Ou Topia einer sekundären Welt, die wirklich ist und nicht nur gedacht, dem neuen UNORT gescheitert, der aber scharf umrissen werden muß, um ins Bewußtsein gehoben zu werden; die neuen Zyniker sind selbst Opfer der alten abendländischen Begriffsgeschichte, die sie zu bekämpfen meinen, sie bedienen sich ihrer Mittel, und landen als deren Wurmfortsatz im Schlammgraben der abgehalfterten Idee. Sie haben wenig gehört von dem, was uns am meisten bestimmt - die manipulierte Nachricht, hergestellte Wirklichkeit im Bild als Ware und Ideologie.

 

Ha, könnte man da lachen über den alten totalitären Geheimdienst, der ja immer Iche bewachte - die von einem Ich beobachtet wurden; sein "Ich"? wie schön, dieses Ich so felsenfest gesichert zu bekommen durch die - sogar angstbesetzte, äußerst ernstzunehmenden, weil gefährliche Geheimpolizei, "Berichte-" Schreiben ist doch etwas Wirklicheres als Lyrik; ähnlich wie im Westen etwa einen Scheck? Welch wichtige Klammern, um ein Ich überhaupt noch möglich zu machen?!

 

Und nun der "Postsozialismus"; auch er ist ja CHAOS und Zerfall. Und dieser ist mit Rechtsmitteln nicht faßbar. Wer könnte da noch nach Schuldigen fahnden?

 

Ohne Datum, Aber heute. Nachtgedanken: Das alte und das neue Totalitäre haben Gemeinsamkeiten. Es begann so, und es schien fast harmlos: durch "wissenschaftliche" Beweise und falsche Theorien sollen wir davon überzeugt werden, daß es weder Engel noch ein Leben nach dem Tode gibt, daß es überhaupt keine unsichtbaren Kräfte gibt, daß nichts gilt als das Sichtbare, das im eingebildeten Augenraum Unsichtbare - Seele, Gott und auch Traumbilder Unsinn seien. Und es kam so weit, daß alles erlaubt zu sein schien.

Vor kurzem hat ein Junge bei Mailand seine beiden Eltern ermordet, weil er ihr Geld brauchte. Kinder töten andere Kinder, nur um zu sehen, wie sie "innen" aussehen, als wären sie Puppen.

Und auch das ALS sucht ganz neue Namen: ich als Aus-Länder, ich als Einheimischer, ich als Ich, Ich als Kroate, ich Serbe. Deutscher raus.

Vorerst verweigern sich viele noch dieser Einsicht, und die Engel arbeiten nur im Schlafzustand, in dem auch der letzte Besserwisser die ORTE der Kraft besuchen muß, dieses aber nach dem Erwachen zu vergessen, gehört zu den Geheimnissen des Unterganges. Ein vages Gefühl des Schmerzes, der Nostalgie, der Unzufriedenheit bringen sie noch mit, Sehnsucht, die dann mit Surrogaten gestillt wird, Surrogate, im Schlaf den Erfindern von den Engeln zu völlig andern Zwecken eingegeben. Und das Gefühl des Mangels, der unerhörten Trennung allein, dieser scharfe Schnitt, führt heute bei Einzelnen weiter, nämlich solange Liebe ist, gehört auch ihr Weiterführen dazu, und dies erhält uns, sagte jemand milde. Dabei ist jeder im Traum in jenem Zustand, der notwendig wäre, um die Erde zu retten.

 

Kleist hat dies in seiner Kurznovelle "Das Bettelweib von Locarno" präzise vorgeführt: wo ein hereinbrechendes, völlig überraschendes und unglaubliches Ereignis, eine "Erscheinung" oder auch ein großer Schrecken, sprachlich glaubhaft gemacht wird. Und zwar so, indem der Autor alles Faßbare, Konkrete, die Details und "Einzelheiten" ins Nebensächliche, in den Nebensatz abschiebt, den Hauptsatz aber gleichzeitig auch bloß zur Folge des Nebensatzes, Folge einer Voraussetzung macht, die rational nicht auflösbar ist. Wir sehen es an uns selbst, in unserem Gesicht täglich im Spiegel: die ZEIT. Das Altern. Alles löst sich in einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Wir haben große Worte dafür wie "Tod" oder "Gott": Das Bild, die Außenwelt verschwinden, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen; alles eilt der Zukunft zu, die der eigentliche Hauptakteur ist, und wo ein großes Versprechen eingelöst wird, das man ahnt, noch nicht weiß, dem aber in einem rasanten Tempo die Sätze zustürzen. Eigentlich ist alles ein einziger offener großer und bodenloser Satz. Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns ein BILD machen oder ein Gleichnis und Sinn suchen. Denn an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf etwas anders, noch Unbekanntes bezogen; und das ist im kleistschen dramatischen Stil durchweg so, jede Handlung hat in sich schon das Zukünftige, ließe sich nur von da aus begreifen. Dieses aber ist fast immer die Katastrophe die Pest, ein Brand, ein Untergang, das Zeichen dafür steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft gewissermaßen ein, wiederholt, das, was tödlich in ihm steckt, am Ende als unausweichliche Katastrophe und Tod oder als furchtbares erschreckendes Geschehen, das so tut, als breche es ein, war aber schon längst da und zeigte sich schon vorher als Warnung. Im weitgespannten Rahmen des Geschehens wird das für unser beschränktes Sehen völlig Unvereinbare Detail für Detail aufgedeckt, wobei die Einzelheit wieder vom nicht-begreiflichen angesteckt ist, genau wie wir es heute so evident in der Wirklichkeit ziemlich offen nun erkennen können.

Vor allem heute nach dem Umsturz im Osten, der langsameren Wende im Westen, nachdem das Chaos ausgebrochen ist und das, was die Geschichte wieder in Schwung gebracht hat, möglicherweise das Ende unserer Welt bedeutet.

Ich erinnere mich an eine treffende Selbstdiagnose, die ein Kollege zu Hause, eine sehr sensible, aber glücklichere Künstlernatur mal gegeben hatte, und zugleich den Bogen dieser Krankheit gleich viel weiter spannte, als nur in unserem eingeengten, sogar leichter verständlichen Raum einer ideologischen Ersatz- und Kopfkrankheit: er zeigte auf einen kleinen Vogel der vor uns elastisch und "selbstbewußt" hüpfte und Körner aufpickte. Sieh, der hat eine Sicherheit und Eleganz, stell dir vor, der wüßte das, was er tut, er könnte nicht mehr hüpfen, vor allem nicht mehr fliegen! Da kam freilich sofort Kleist und seine Erhellungen aus seinem Aufsatz "Über das Marionettentheater" zur Sprache. Ja, Bewußtsein stört das Leben, die Bewegung. Es macht sogar häßlich.

 

Du denkst zu viel, hatte ich schon von meinen Leuten gehört. Geh mehr in die Sonne, ich hänge dich in die Luft hinaus, sagte meine Mutter. Ich lachte nur, selbstbewußt damals. Heute weiß ich, jene, die sich im Kopf einsperren, im Papier sind am Schluß die Betrogenen.

Es ist freilich ein altes Problem, und ist nur durch den Exzess der Ideologien, auch durch das, was im Osten geschehen ist, geschichtlich nun so evident geworden. Durch ein neues Zusammenkrachen einer andern diktatorischen Weltdeutung, diesmal der roten.

Freilich auch durch eine andere Verunsicherung und Entwurzelung im Okzident, wo es ebenfalls kein natürliches Weltvertrauen mehr gibt, wird Welterfindung und Herstellung, wird ein anderer, ein weniger sichtbarer, aber dafür ein alles durchdringender totaler Ersatz zu einer enormen, tödlichen Zeitkrankheit. Man merkt es vor allem an der Hetze, der Zeitnot, der Unruhe und Neurose. Hier ists nicht mehr der Autor nur, der sein Leben verliert, sondern der Zeitgenosse, der andauernd "wirkliche" Schöpfungen bis zur Erschöpfung herstellen muß, um nicht unterzugehen, das heißt sein Leben sinnvoll zu verlieren.

Hier auf dem italienischen Berg in einem kleinen Weiler fiel mir bei den Bauern, den alten vor allem auf, aber auch bei Bauernhochzeiten, daß die Leute noch leben, keiner zweifelt, fragt. Alles ist noch festgefügt und fraglos da, als gäbe es gar nichts anderes - und ist schön eingefahren seit langem. Bei den Jungen ist das nicht mehr so einfach, vor allem bei jenen nicht, die aus ihrer Klasse gefallen sind. Aber bei den Älteren ist das noch anderes, sie sind wie gute Relikte einer endgültig vergangenen Zeit - da muß nicht jeder an seinem Leben basteln, das kriegt er fertig geliefert, samt der Armut und dem Unglück, eine enges Korsett, da schlüpft er hinein; mit wenigen Bruchstellen von der Wiege bis zur Bahre. Das kostet nicht diese Anstrengung wie bei Leuten, die sich das alles selbst herstellen müssen, traditionslos, dauernd im Gegentakt, daher immer in Zeitnot und mit aufreibenden Schuldgefühlen behaftet. Das ist eben das "Neue". Nur wie sollen neue Lebensformen, deren Wachstum sonst Jahrhunderte dauerte, nun in einigen Jahren fix und fertig hergestellt sein. Ähnliches träumten ja die Genossen zu Hause. Und jetzt soll das Altbewährte samt Privatwirtschaft, das es auch nicht mehr ist, sondern das Neubewährte der Monopole, das auch schon überholt ist, von etwas, das es noch gar nicht gibt, gerettet werden? Auf jeden Fall das Gegenteil scheint nun richtig sein, alles muß wieder umgekrempelt werden. Nach Faschismus, Stalinismus und Kapitalismus. Ob das dem Charakter gut tut, ist zu bezweifeln. "Demokratie" heißt das Schlagwort. Und ist auch schon längst überholt durch die Tele-Diktatur der Masse und ihres Geschmacks. Aber das Alte freilich, das sitzt noch tief, das scheint nun besser zu gelingen, auch nach 45 oder 70 Jahren. Die Mischung ist explosiv. Triumphieren wird auf jeden Fall die hergestellte wider die natürliche Welt, und das immer lückenloser.

Es scheint eine Entwicklung auch im Realen zu geben, die bisher nur Einzelne, freilich auf bedeutend höherem Niveau und im einsamen Alleingang, aber meist mit ebenso katastrophalen Folgen durchlitten hatten. Etwa Nietzsche oder Kleist. Kleist mit seinem Selbsthaß, der über sein unmittelbar faßbares und sichtbares Leben triumphieren wollte, und sich selbst den Tod gab, sich überhob im Freitod. Frei. Oder Nietzsche, der, wie es in einem sehr treffenden Buch zum Thema heißt, "von seinen Produktionen mitgeschleift" wird, "und stürzt am Ende mit Leib und Leben in jene Bilder, in die er sich hineingedacht, hineinphantasiert hat, Incipit tragoedia: Nietzsche verwechselt sich mit sich selbst."(Rüdiger Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, München/ Wien 1990.) Nietzsche endet in Turin im Wahnsinn.

Die Warnung der Bibel: "Du sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen , gilt auch für die Welt. Und heute in dieser Bilderwut umso mehr, das Medium, das die Botschaft ist, das Wirklichkeit nun nicht im Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt, die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle, überschwemmt mit Bildern die Welt. Alle sind bald in der gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden. Aber - verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in der eignen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität? Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Natur, Wälder, Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! "Du sollst dir kein Bild machen!" Wie wahr so spät. Dabei ists doch auch hier nur kreative oder eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen. Hatte der aber nicht auch vom Menschen "nach seinem Bilde" gesprochen, Eben-Bild.

 

Autoren heute scheinen also doppelt geschlagen. Sie quälen sich nicht nur, wie früher auch, höchstselbst, entziehn sich das Leben, sondern sind in der elenden Lage, daß sie, falls sie endlich zur Einsicht gekommen sind und nach einer Revolution gar, es satt haben, die Sprach-Masochisten und Selbstideologen zu spielen, ihre Kunstwelten aufgeben, nun höchstens noch schreckliche Entzugserscheinungen spüren. Denn sie sind auch in der Wirklichkeit wie in den eignen Kreationen getrennt vom "Leben", das es nicht mehr gibt, besser und erfolgreicher, weil es wirklicher abgeschafft wurde, als in ihren Werken. So gibt es also das, was der Künstler meint, verloren zu haben, gar nicht mehr. Es ist nicht so leicht, wie zu Rimbauds Zeiten, den Hirngespinsten valet zu sagen, um irgendwo in Afrika ein "wirkliches" prallvolles Leben zu beginnen. Auch wenn einer aus dem Text fliehen könnte, das vom Persönlichen her schaffen würde, die Sucht überwunden hätte und den Wahnsinns nach Sinn, überall empfängt ihn die eigne Fratze, die Leere der Mondlandschaften und der kaputten gehetzten Menschen, nun bald auch in der einstigen UrHeimat Ost.

Wo aber bleibt dann das Positive, Genosse, von dem du nicht nur nicht geheilt bist, sondern das ziemlich tief in dir sitzt, wartet und hofft? Nun, genau in diesem Untergang, der Abschaffung von Wirklichkeit, die ich mit schriftstellerischen Mitteln nur für mich, sonst nie geschafft hätte! Und die nun mein ehemaliger Gegner selbst, schier furios und mit unheimlicher Effizienz betreibt! Denn imitiert sie nicht mit ihren Apparaten lichtgeschwind immer mehr das Hirn, in den Verstehensprozessen der Computer, dem Bild als Bildschirm usw. realisiert Phantasie hebt Raum- Zeit auf. Distanzen ebenfalls. Sichtbarkeit auch, und entlarvt diese als Täuschung.

Und die "Revolution" (ich setze sie wirklich nur noch in Anführungszeichen, denn es war kein Überwinden der Realität, sondern im Gegenteil, ihre Einrichtung!) - hatte sie sich nicht literarische Prozesse geliehen, ein Drama aufgebaut, Tragödien, und das ganze mit Wort-Transparenten ausgelöst, mit Sprüchen, die wie Dynamit einer inneren, bisher verbotenen Wahrheit zum Ausbruch verhalfen, bis die Dämme brachen!? Und dahinter stand die "eigentliche" Wirklichkeit!

Diese Intuitionen freilich des Jahres 1989 hatten nur wie ein Blitz ganz kurz die Hunderttausende von Leuten in der "romantischen Phase" der "Revolutionen" gestreift, und sie fanden auch keine andern als nur völlig unzureichende Mittel, ihnen zu begegnen: mit Kerzen, Blumen, Gebeten. Ja, sogar mit Gedichtzeilen von Paul Celan. Und mit einigen Poeten an ihrer Spitze.

 

Gibt es das Neue, das jeden Augenblick mit uns geschieht? Was sind Revolutionen - oder auch nur Revolten? Kann man von Zeitbrüchen sprechen? War Lenin zum Beispiel ein Dadaist? Erleben wir eine unausdenkbare Zeitwende, die alles in Frage stellt, was bisher war, oder ist nur die Nähe der Ereignisse daran Schuld, daß wir, auch in der anerfahrenen Skepsis einer der nüchternsten Epochen, die es je gab, einen großen existentiellen Bruch und nicht nur einen politischen zu sehen und zu erleben meinen?! Und doch alles in einem unglaublichen understatement, nur noch mit Tatsachen rechnend? Tun, was geschieht?

Ist dieses so, weil die großen Utopien, die bisher nur Gedachten keinesfalls tot sind, sondern weil sie die Realität erreicht haben? Und diese Realität "aufheben"? Es scheint so. Und zwar auf dem Umweg der durch die Technik fertiggemachten Ideen, über die Vernetzung der Erde und über eine enorme Beschleunigung der Zeit, ausgerechnet durch den Teufel oder das Mephistophel Kapital, - aber die Immaterialisierung und das langsame Verschwinden der sinnlichen Natur hat in seinen Zentren und Metropolen eine vernichtende Chronokratie errichtet, und erst jetzt wird die Katastrophe voluntaristischer Machbarkeit und Freiheit in einer neuen Teilung der Erde in hochexplosive Ballungsgebiete und Leere, arm und reich, zweite, dritte, vierte Welt deutlich. Und vor der endgültigen Explosion wird uns noch kurz und wie zum Hohn ein Hoffnungsschimmer beschert: die "Revolution?" Sollen wir nochmals an die verpaßten Chancen drastisch erinnert werden? Und wer sollte das auch schon tun? Der Weltgeist, der sich zur Zeit auf Geschäftsreisen befindet?

Aber was kann das heute überhaupt sein - die Revolution? Fast sieht es aus, als wäre sie nur ein gar nicht so heimliches Produkt jenes Geschäftsreisenden, der letztendlich gesiegt zu haben scheint! Doch dieser Sieger? Wer ist das. Und welch Pyrrhussieg wars!? Es fällt mir schwer der Paradoxie gerecht zu werden, daß es einerseits eine enorme Masse von anscheinend blinden und blindwütigen Kräften sind, die die Erde bestimmen, ausrauben und der Vernichtung zutreiben, und andererseits es der Einzelne, ja, die "fertiggemachten Ideen" von genialen Erfinderköpfen sind, die diese Entwicklung möglich gemacht haben? Daß ursprünglich auch die Revolution etwas mit dieser Kraft der Einzelnen, mit einer andern Macht, die jenseits unserer Erfahrung und Sprache steht, etwas zu tun hat!

Schon beim alten Marx, der sich am genausten mit diesem Auflöser und Vernichter der Erde auseinandergesetzt hat, (aber darf man das heute überhaupt, es ist nicht zeitgemäß, ihn zu kritisieren, nein er muß in den Himmel gehoben werden, verlangen die neuen Zensoren!) vom neuen Tabu-Namen Marx gibt es eine schöne Analyse, die auch jetzt zu unserer "Freiheit" und Grenzen-Losigkeit paßt, auch erklärt, warum es eigentlich kaum jemandem gut gehen kann, wir alle von diesem Komplex einer ungeheuer beschleunigten Realität aufgefressen werden, die jeden normalen Biorhythmus überfordern muß, krank macht, ja, bei jungen Leuten zu einer Flucht nach vorn führt, mit diesen verheerenden Todeswünschen von Zwanzigjährigen, in einer sich übersteigernden Unfallust. Hat das Unterbewußtsein der jungen todesmutigen "Revolutionäre" gar auch damit etwas zu tun? Oder arbeitet der andere "Zeitgeist" in ihnen? " Während das Kapital... einerseits danach streben muß, jede örtliche Schranke des Verkehrs i.e. Austauschs niederzureißen, die ganze Erde als seinen Markt zu erobern, strebt es andererseits danach, den Raum zu vernichten, durch die Zeit; d.h. die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum andern kostet, auf ein Minimum zu reduzieren." (Marx). Beschleunigung, Kommunikationsvernetzung also, nichts als ein enormer Prozeß von Verdichtung der Geldenergien, des Weltmarktinteresses, der elastischste Anpasser, den es je gab, das Kapital in Aktion, das alles verwerten kann, auch den Feind integriert, daraus Profit schlägt. Bis das Ziel der Geschichte erreicht ist, die Apokalypse? Wir können bei Hegel nachschlagen, aber auch in der Bibel, vom Tod, der ein menschliches Leben führen wird, ist überall die Rede. Jetzt fühlen wir ihn.

Fast physisch fühle ich seine ungeheure Masse und Macht täglich. Ich habe dieses einmal so ausgedrückt: Ein Gedicht schreiben können/ das/ so tief eingeht auf unsere wirkliche Lage/ als ließe sich das Kapital/ in Gefühle verwandeln -/ führt es uns doch behutsam entlang/ mit seiner ungezähmten unfaßbaren Masse/ und Energie am Abgrund.// Manchmal empfinde ich/ unser Überleben/ zurzeit wie ein Wunder/ das täglich durchbricht/ zwar nicht die Ordnung der Natur/ aber die Gesetze des Weltmarktes.

 

DIE ABSOLUTMACHUNG DES MENSCHEN

Die abendländische Philosophie, deren Bastard der vulgäre Marxismus, alle Entgleisungen der "linken" Ideologie waren, leugnet den Zufall, also das Leben, macht Kontingenz schlecht. Wenn wir annehmen, daß das gescheiterte östliche Experiment eher ein westlicher Bastard (Marx), ein Versuch am falschen Ort ist, Resultat der Aufklärung: die Technik, die Staaten und Mächte, Geschichte zum Gott machen zu wollen wider die Natur und menschliche Natur, totale Wissbarkeit und Veränderbarkeit zu proklamieren und mit Gewalt durchzusetzen, ist im Osten vor allem der alte Westen gescheitert, nachträglich und endgültig die westliche Philosophie, vor allem aber die große deutsche Philosophie, Hegel und Kant mit ihrem Moralismus und Utopismus, dem Fortschrittsglauben seit 1789, der von der Eschatologie der Religion übernommen worden war, und in der Praxis auch die Idee jener kapitalistischen Gesellschaft, die auf unendliches Wachstum und unendlichen "Fortchritt" aufgebaut war, und in der wir heute noch leben, obwohl ihre technischen Grundlagen sie in Frage stellen; so ist die Neuzeit mit dem Scheitern dieses Bastards und dem, was in Marx Praxis und Verwirklichungs-Irrglaube der alten Erlösungsidee zu den blutigen Expermenten Lenins und Stalins und schließlich der kleineren Sateliten im Osten geführt hat, nun wieder an ihre Anfänge zurückgenommen und vor Gericht gestellt worden.

 

DIE LEBENSVERHINDERUNG DES TOTALITÄREN. Okzidentale Philosophie hat die Weichen gestellt zur "Absolutmachung des Menschen". Von Aristoteles über Descartes bis Apel und Habermas. Was wirklich ist, wurde ausgeklammert; doch ist nicht gerade: daß uns etwas widerfährt, "was wir nicht gewollt und nicht gewählt haben", der Rohstoff für unsere Handlungen? Alles andere ist angemaßt, schöner und edler Humbug. Der Zufall, das Unerklärliche als Bote aus dem Nichtgewußten, ist die eigentliche Realitätsgrundlage. Und zugleich das schöpferische Element im Leben. Im absoluten Raum des Gesetzes aber wirkt die Lebensverhinderung, das Totalitäre: Nichts mehr darf unbeabsichtigt, nichts ungewollt sein, also uns auch nichts mehr widerfahren und zustoßen. Keine "Störung", sagt nicht nur der Funktionär und der Generaldirektor! Im Deutschen ist diese Abkapselung durch Imperative und Ideale besonders schlimm, weil der Liberalitätsmangel im Realen (Plessner) in der Idee kompensiert wurde. Oder Kant die Französische Revolution im Kopf des Philosophen war (Marx). Diese Lebensvernichtung durch das Denken hat zugenommen, weil "Gott als mäßigende Größe zunehmend ausfällt." (Odo Marquardt, Apologie des Zufälligen, 1957). Dabei sind Zufälle wahrscheinlich Seine letzten Zeichen.

 

Das tödliche Absolute. Das Leben ist kurz. Kaum sehn wir uns um, und es ist vorbei. Lauter Zufälligkeiten und Üblichkeiten. Wir können den Lauf mit dem Tod nicht aufnehmen, um das "Absolute" zu erreichen. Im Osten ist dies auf furchtbare Weise, in einer Massentragödie versucht worden, indem das Leben von Millionen aufs Spiel gesetzt wurde.

Abendländisch-philosophisch war der Versuch dieser "Absolutsetzungshysterie," so Marquardt, eine Abschaffung der Wirklichkeit: griechisch-traditionell, sie zu "veruneigentlichen", christlich-traditionell, sie eschatologisch zu "vervorläufigen" oder modern zugespitzt, sie ein- und auszuklammern. (Epoché bei Husserl). Der "reale Sozialismus" mit Stasi und Securitate, war die letzte mörderische Pointe, nämlich die Praxis, es zu tun; nicht, was geschieht, sondern, was vorgeschrieben war, mußte getan werden. Um so das, was wirklich ist, abzuschaffen. Das, was geschieht, zu verdächtigen und zwar bis zum paranoischen Exzess zu verfolgen, zu negieren, mit der Staatsforderung, Leben zu unterlassen, auf ein Ziel hin, bis dieses erreicht, und ein absolut richtiges Leben hergestellt ist, an keine Wonne der Gewöhnlichkeit, an keine "Üblichkeit" zu denken, die im Feindesland West blühten. Jeder Gedanke daran war Desertion über die gesetzte und bewachte Grenze!

Mit dem Zusammenbruch ihres östlichen Bastards hat nun diese alte Tradition des Geistes total abgewirtschaftet. Wider die Dauerkritik am Vorhandenen und seine Abschaffung, haben Körper, Natur, Alltag, das "Ordinäre" des Lebens vorerst gesiegt, und allem anderen eine Abfuhr erteilt, bis hin zur Endzeithoffnung und der Hoffnung, daß das Wirkliche nur eine Illusion sei?

Jetzt ist jedenfalls der Bruch da, jetzt ist dieses alte überhebliche Denken durch die Realität selbst kaputtgeschlagen worden, die ja auch meine Realität ist, mein Problem: Der Tod, die begrenzte Lebenszeit. Aber mit dieser begrenzten Lebenszeit von Millionen ist im "realen Sozialismus" Schindluder getrieben worden, das "Absolute", nein dessen Bastard, das Totalitäre war der Henker! Wo sind die alten Weltveränderer und ihr Verbot, mit dem nichtswürdigen Leben anzufangen?

Jetzt freilich ist das nichtswürdige "Leben" wirklich und schlimmer als gedacht, durchgebrochen!

Der Sog einer neuen Zeit war 1989 da, zeigte sich in überraschenden, unerwarteten Ereignissen, die uns schockten, unser Bewußtsein überfordern. Es war nicht nur das Ende des ideologischen Zeitalters, sondern das Ende der jahrtausendealten Zeit der Abstraktion.

Das absurde Theater einer Gesellschaft wider alle Vernunft, wider die Wahrheit, gegen die Zeit lag in einer Verwirklichung des Abstrakten, der "Idee", des "Plans". Kontrolliert wurde alles, was sich "anmaßte" auch sonst noch und ohne Kontrolle in den Köpfen, im Herzen in der Wirklichkeit zu geschehen. Übergreifendes Kontrollorgan war die pervertierte Sprache.

 

PAROLENSPRACHE als Spiegel einer verfehlten engen Logik. Die Wurzel liegt tief im abendländischen Denken: Die Schrift war einmal das Faßbarmachen des Unfaßbaren. Mit der Zeit schrumpften Unendlichkeiten auf dem Papier zu Paragraphen. Jenseits davon aber sind die realen Rätsel, die nicht unter Kontrolle zu bringen sind, weder verwaltet, noch eingesperrt werden können.

Haar und Schmutz schied Platon aus der Idee aus. Durch die gefrorene Idee im Gerät aber drang der Okzident tiefer ins Gewebe der Natur, und überholte sich selbst und seinen abstrakten Bastard; entdeckte Kontingenz, Zufall, das Unkontrollierbare und Nichtperiodische als die eigentliche Wirklichkeit: Arbeit mit Unordnung erst bringt Ordnung zustande, ein Computer arbeitet sprachanalytisch mit dem Einzellaut, um zu rechnen stellt er aus der Entropie, dem Chaos auf Umwegen Sprache her.

Und je ungeordneter, unbekannter, umso weniger gleichförmig, also informationslos ist ein Lebensstil, eine Nachricht, ein Mensch, das Nichtperiodische ist "interessant", während periodische Sinus- oder Cosinusfunktionen der Zeit t, sogar im gereimten Gedicht zu "gefangenen" Signalen werden, die vorherbestimmt sind, und die haben wenig oder gar nichts mitzuteilen.

Am schlimmsten ist diese Ekelfrequenz in den Losungen und Parolen. Das Totalitäre ist das Gegenteil der Nachricht. Denn Nachricht bieten jene Formen, die Nichtperiodisches in Periodisches umwandeln, Chaos, Zufall, weißes Rauschen. Die östlichen, "klassischen" Versuche, diese geahnten gefährlichen und "feindlichen" Zwischenbereiche zu unterdrücken, wo das "Programm der Absolutmachung des Menschen" dem Chaos ausgesetzt ist, dem Zufall, der Wirklichkeit eben, sind armselig, steinzeitlich, wenn auch grauenhaft effizient gewesen. Und nun schlägt eine neu Kontrolle durch.

Am genausten läßt sich dieses Andere im Bereich von Radar und Rakete ausdrücken, die ja auf besonders vertrackte Weise "wirklich" sind: in ihrer Mathematik lassen sich "Zeitstellen" wie im Märchen finden und Unmöglichkeiten berechnen. Die Staatsdinosaurier im Osten gingen zwar auch damit um, ebenso wie mit dem Fernsehen, versuchten es in ihre Dienste zu stellen, diese Geräte waren jedoch andere fertig gemachte Ideen, als die versteinerten Ideen der Systemverhältnisse, sie verkörperten schon längst deren Ende, ja, das Ende jeder idealistischen Utopie, die nur aus dem Abstrakten, nicht aus dem Experiment mit dem Realen kam. Der Grund des Wissens, aus dem diese Sonden ins Unsichtbare geschaffen wurden, war das Todesurteil dieser vorsintflutlichen Regime der groben Sichtbarkeit und nur in Schallgeschwindigkeiten denkenden Hörbarkeit. Abgründe trennte dieses Wissen als Vorgabe einer wartenden neuen Realität von der künstlich aufgesetzten Struktur einer Idioten- Philosophie.

Und bei diesem räumlichen Denken der Genossen, die aber andauernd in zeitlichen Kategorien zu kalkulieren angaben ("Fünfjahresplan," "Planerfüllung, "Zukunft der Menschheit" usw.) war dieser Unfug besonders drastisch in ihrer territorialen Gefangenschaft sichtbar geworden: Mauern, Stacheldraht, Grenzen. Dabei drängte die neue planetare Kommunikations- und Medienzeit zur Aufhebung dieser Trennung der beiden Zufallsarten, eine Aufhebung, die nur bei Lichtgeschwindigkeit oder in Gedankenschnelle möglich ist.

Interessant bleibt, daß auch im Osten nicht eigentlich Ideologie das Grundübel war, sondern daß diese offensichtlichen Klischees und die ekelhafte Zeitungspapiersprache, an die niemand glaubte, nur als Kontrollwand dienten, um Abweichung meßbar zu machen, sozusagen zur negativen Orientierung; ein Zwischenraum also mußte getestet werden: denn täglich verschob sich ja der Grenzstreifen des Erlaubten, wo geschossen wurde, und es gehörte eine feine Intuition dazu, die ein ganzes Volk, nicht nur die Intellektuellen und Autoren, schulte, um mit feinem Spürsinn in seinem Bereich zu überleben, denn es gab Zeiten, wo es in diesem Grenzstreifen um Leben, Freiheit, Gesundheit ging. Aus der Vergangenheit wurde scharf geschossen, und die Traumen wurden nicht vergessen, Narben rissen plötzlich auf, Angst ging um. Ein Allgemeines drohte, war übermächtig, die furchtbare "Idee", die die Zwischenräume im Sozialen und Persönlichen, ja, im kosmischen Bereich, in der Natur nicht zulassen durfte, um zu überleben.

 

Tun, was geschieht, jenes "Banale" ist das Alltägliche, das chaotisch erscheint, schmerzlich sinnlos, und doch, weil wir uns stellen, heraustreten aus den Schutzwänden des Einordnens, gar der belehrend-utopischen Räume, öffnet es dort, wo der Zufall überrascht, eine Vorform unbegriffenen Sinnes aus einer höheren Ordnung. Unsere Leistung aber hat nichts mit Anpassung zu tun, im Gegenteil, diese Leistung ist vielleicht nichts anderes, als sich des Abwesenden, der Zwischenräume, der Negative unseres sich entwickelnden Zeit-Films bewußt zu werden, um den Staub von der Oberfläche des Moments abzustreifen, um das Totalitäre, das in den alten Instrumenten der Sprache und der Logik bereitliegende System einer sterilen Gefangenschaft zu überwinden.

 

Am zentralen Ort der alten Zeit, der Sowjetunion, ist der Geschichtswirbel ein Kataklysmus, da könnte die Nachholübung, gestoppte Geschichte aufholen zu müssen, uns allen das Leben kosten. Wie bequem war der Stillstand, Kalter Krieg, wo jeder wußte, wo es langgeht. Daß Rätsel, die Unfaßbarkeiten aber sind jetzt aufgebrochen, unser Bewußtsein ist als antiquiertes bezeugt, die Begriffe, das Abstrakte als Maschine entlarvt. Fast trotzig meine ich, tut jeder so, als könne das "kulturkritisch" wie ein Unglück abgetan werden, KP-Ideologie und so, Technik und so! Kapital und so! die das Abstrakte in Frage gestellt haben: dabei ist es eine Chance, die die Antiquierten allerdings fürchten, man solle nicht darüber reden, es sei hinreichend bekannt, sagen sie.

 

Die grobe Diktatur der Ideologie war nur die hilflose Kopie einer allgemeinen Epochenerscheinung. Nicht zufällig gibt es zwei Romane über das Totalitäre und seine sekundäre Welt: Orwells "1984" (über den Osten) und Huxleys "Schöne neue Welt" (über den Westen).

Das Totalitäre ist nur ein Auswuchs der allgemeinen okzidentalen Tendenz, sich des Todes und der Wirklichkeit zu erwehren. Jene Kritik hat es mit der "normalen" Entwicklung zu tun, die im Okzident weitergegangen ist, im Osten jedoch hatte der westliche Bastard, die Diktatur, nur alles viel deutlicher werden lassen.

Es reicht nicht, den Staat zu ändern, "das Leben" unter diesen Weltbedingungen geht weiter. Wer dem roten Totalitarismus entgeht, kommt unweigerlich nun in den weltbeherrschenden des sekundären Lebens, der nach dem Fall des roten Totalitarismus nun überall mit auswegloser Banalität durchdringt.

 

NACHTRAG: Max und Spinoza. Ich lese im außerordentlichen Buch eines Philosophen der Hebräischen Universität aus Jerusalem: Yirmiyahu Yovel, SPINOZA (Göttingen 1994), der die Analysen von Marx, Theorie als Werkzeug der Praxis, seinen ökonomischen Realismus und Wissenschaftlichkeit im "Kapital" rühmt, vor allem sozusagen die exakte Beschreibung des "Sündenfalls", also die Selbstentfremdung des Menschen, der durch das, was er ökonomisch, technisch und praktisch als Umwelt geschaffen hat, eine Veräußerung seiner Kräfte, die ihm nun als fremde Macht entgegentritt, geschaffen hat, die ihn behindert, ja, vielleicht - so das Fazit heute - zu seinem Untergang führt, Zauberlehrlings-Haft mit der Schaffung seines Mephistophels. Die Natur so in "verzerrter Form humanisiert wird". Und Marx so eine neue prima philosophia zur Erforschung geschaffen habe. Dies alles in seiner Treue zu den immanenten Gesetzen der Wirklichkeit sehr spinozistisch, im Primat der Praxis gegenüber allen Spekulationen; der berühmte Satz: Die Philosophen haben bisher die Welt nur interpretiert, es gilt sie zu verändern; was gleichzeitig äußerst zwiespältig ist, wie wir sehen werden. (Wir erinnern uns, auch Althusser ist von Spinozas Naturalismus sehr beeindruckt und beeinflußt gewesen!) Eben - diese Anmaßung des "Veränderns", dem Glauben, daß die Realität mit menschlichen Sehnsüchten und Wünschen korrespondiert! hat ja gerade praktisch in eine Sackgasse geführt, in Selbstgefangenschaft und Selbstenfremdung. Die großartige Analyse von Marx, daß im "sozioökonomischen System der Produktion verkörperte Menschenbild (das) auf uns zurückgeworfen als eine Macht, die unsere Menschlichkeit zerstört," der Angelpunkt liegt, um zu verstehen, was ist, was wir sind, das wir freudähnlich, die verborgenen Triebkräfte, in falscher Moral, die "Überbau" ist, Lüge und Ideologie, die wir bis ins Unterbewußtsein hinein als Lebensweisheit meinen erkennen zu können (alles ist so wie es ist!), und dabei in die Falle gehen: Lebenslüge so als unser Leben ansehen, daß wir dies mit Hilfe von Marx (und Freud) verfolgen und aufdecken können, diese Analyse, die immer noch gilt, und wahrscheinlich heute nach dem Fall des Ballastes falscher Verwirklichung dieser Ideen im Osten, immer wichtiger als Ausgangspunkt des Verständnisses unserer Welt werden wird, ist mit jener "Absolutmachung des Menschen" tödlich gekoppelt gewesen, und hat zu schlimmsten Verbrechen geführt, wie bei allen Fundamentalismen auf dieser Erde.

Die eklatante Fehleinschätzung, ja, der so naive oder auch nur "theoretische" Irrglaube: die Idealisierung der Menge und Masse, des "Proletariats" als Hebel zur Erlösung der Menschheit, die Marx mit der wissenschaftlichen Analyse utopisch und ohne jeden Beweis oder auch nur zwingend logischen Brücke verbindet, hat dann zum Wahnsinn des "Klassenkampfes" als Erlösungsinstrument und der Vergottung einer PARTEI und "Avantgarde", der KP, geführt, die als "Instrument der Geschichte" die größten Bluttaten so rechtfertigen, und trotz dieser Taten viele Intellektuelle und aufrechte Menschen in ihren Bann schlagen konnte! Eine völlige Umkehrung der Tatsachen und der Erfahrung, nämlich jener schon von Spinoza klar und realistisch erkannten Wahrheit, daß die Menge und die moderne Masse immer außerhalb der Reichweite wahrhafter Erlösung bleiben muß, ja, daß gerade die Masse, wie heute deutlich in der Massendemokratie ersichtlich, Motor einer Gegenhistorie ist, die eher das Inferno, als das Himmelreich und zwar, wenn sie in aller "Freiheit" losgelassen, dieses Inferno in aller Niedrigkeit herstellt. Daß ihre Vergottung, wie schon im Christentum geschehen, falsch ist und zu tödlichen Resultaten führen muß. Daß freilich Toleranz im geschützten und kontrollierten Raum einer Verfassungsdemokratie, den Staat und die Exekutive davor behütet, rechthaberisch und besserwisserisch sich ins Leben des Einzelnen einzumischen nach irgendwelchen hohen Prinzipien und Ideen, die der Realität widersprechen, die Menge zwingen, sich auf Ebenen zu begeben, der sie nicht gewachsen ist, daß solche Karikaturen, samt ihren absurden Kontrollorganen, wie in der ehemaligen DDR und im Osten entstehen. Was freilich nicht ausschließt, daß sich das Gemeinwesen selbst Werte und Ziele immanenter Art setzt, und versucht, zwanglos Einfluß zu nehmen, ohne zur Erziehungsdiktatur zu werden. Mit dem Hebel Geld läßt sich viel erreichen, das das Gemeine des Geldes und der von ihm bestimmten Massenöffentlichkeit neutralisieren kann. Mit einem Restglauben, der nicht auszurotten ist, auch bei mir nicht, daß irgend ein vernünftiger und Sinn-Funke in jedem menschlichen Wesen enthalten sein könnte, am wenigsten vielleicht im "Proletariat" - oder besser: im Proletariat ist er am stärksten "verschüttet" und bestehen wegen der harten Lebensbedingungen am wenigsten Chancen, daß er zum Zuge kommt! Die Arbeiter in der DDR waren auch die ersten, die ihre "Befreiung" durch die Bosse der alten Bundesrepublik und durch ihr Kapital erhofften! Weiter ist Spinozas Auffassung, daß eben die Mehrheit ein nicht auszurottendes Autoritätsgefühl innewohnt und Unselbständigkeit, und keineswegs "Emanzipation", die eine Minderheit charakterisiert, die als Einzelne wohl eine Art "Erlösung" in der Selbstverwirklichung erreichen können. Der Masse aber müssen Bedingungen ihrer Freiheit, auch für ihr Niveau geschaffen werden, eine aufgeklärte soziale und gesicherte Umwelt in Freiheit, Toleranz und institutioneller Solidarität, wo quasi jeder gewaltfrei und in eigener Entscheidung nach "seiner Facon selig werden kann". Dies auch in der Einsicht von Millionen nebeneinander herlaufenden Entwicklungen, die wie durch Jahrtausende getrennt sind, sich nie berühren können. Und Respekt dafür und jeden Einzelnen. Also genau das Gegenteil für den eben vergangenen Glückseligkeitsterror und die Tyrannei einer von oben diktierten Lebensführung, die bis in den Beischlaf und die Kinderzahl alles kontrollieren will. Abklatsch eigentlich der Religionen, die es heute weiter so treiben, der Vatikan macht da keine Ausnahme, von den islamischen Fundamentalismen ganz zu schweigen!

 

Ideologie im Osten und Konsum im Westen künstlich aufrechterhaltene Unmündigkeit und Infantilität ist sehr groß.

Aufklärung also müßte auf andere Weise weitergehen, aber mit dem gleichen Ziel, nämlich das "Bewußtsein vieler Menschen von den Denkformen der Unmündigkeit zu befreien" (C.F. von Weizsäcker). Schon Hölderlin sprach davon, daß "vaterländische Umkehr", "die Umkehr aller Vorstellungen und Formen" sei. Was wäre das? Grob gesagt, hieße es, die Befreiung vom Materialismus und dessen Projektion: dem Ego. Und der herrschenden Auffassung von den Prioritäten: Ego, Geld und Wirtschaft. Ich erinnere mich an ein Bonmot, das bei uns im Osten umlief: Bei uns wird der Materialismus gepredigt, im Westen wird er gelebt. Es sind veraltete Denkformen von der gefrorenen "Materialität der Welt", die heute herrschen. sich mit ihrer fortschreitenden Immaterialisierung schlagen. Niemand kann diese Verfestigung einfach abschaffen. Doch in den Revolutionen 1989 ist ein Durchbruch geschehen, ein materialistisches Denk- und Lebenssystem (nicht nur) des "Plans" und Eingriffs in Mensch und Natur vernichtet worden. Ein Durchbruch durch verfestigte und zensierte Zeit, eingesperrten Raum und falsche Logik des Sozialen und Geistigen, eingesperrt im falschen Wort der Parolen. Im Westen ist dieses Eingemauertsein und der anmaßenden Eingriffe nur subtiler, undurchschaubarer.

 

Hier in Agliano täglich der Ruin nur winzig, aber bemerkbar. Gefangen in der Idiotie der Mikrogedanken. Wegen des kaputten Bad-Abflusses lag wieder unten im Eßzimmer ein See, Wasser durch die Decke runtergetropft. Badewasser auf dem Eßtisch. Neue Löcher, neuer Ruin. Da rast die Abnützung, schrie ich. Und hatte gestern unten in der kleinen Bank zu viele Leute gesehen, alle einen Kopf wie ich, Schädel, und die Innereien, es stank, einer, ein alter Bauer, ließ einen Furz. Wurde rot. Schlechte Luft. Da kamen mir plötzlich diese armen Wesen, die Bankangestellten, genau wie wir alle vor, wie die klare Rotz Gottes: sie alle, die im offenen, gegen Terroranschläge völlig ungesicherten Schalterraum stehen, sitzen, sich bewegen, geisterhaft reden, mechanische Gesten machen: Geldzählen am Schalter 1, Handbewegung - Prego: zur Unterschrift, Lächeln. Abgenützt. Wir, diese bibbernden, gallertartigen Wesen, leicht zerstörbar. Wer den Zukunftsröntgenblick hätte, die Illusion Zeit zu durchschauen, wäre mit lauter Skeletten zusammen - hinter Schreibmaschinen Mädchen, Frauen: diese fahlen, ernsten, wichtigtuenden Gesichter - lauter Totenköpfe. Deckung "Gold", Abdeckereien der Welt, die Banken.

 

ABENDS. Ich nehme rumänische und französische Bücher von Benjamin Fondane, E.M. Cioran, George Bacovia aus dem Regal. Und lese bei Fondane folgenden Gedanken: Gottes Abwesenheit führt über Ersatzhandlungen zum unausweichlichen und selbstverschuldeten Ende. Es ist jene verborgene Fatalität, die von weither kommt, jeder einzelne trägt sie als Erbe in sich, ja inzwischen ist jeder Stein, jede Blume, jedes Tier, die Erde davon infiziert. ("Man muß sich fragen, von Geschwindigkeit geweckt,/ was rast da übermächtig aus der Energie,/ was sonst im Stillstand dieses Tags versteckt,/ sich schattengroß nun losreißt aus dem Nie." Benjamin Fondane.) Unser Jahrhundert geht mit der Unvorstellbarkeit des Grauens um , wie schon 1916, 1943 oder 1945 Hiroshima, Koreakrieg, Vietnam, Budapest 1956 oder Bukarest 1989. Dann das Grauen in Jugoslawien. Der Golfkrieg. Die Erde im Rauch und Blitz von Bomben und Menschenasche.

 

Epoché. Der Feind ist der "Fortschritt", der die Toten auf dem Gewissen hat, seine Systeme, seine Ideologien, ja, seine Sprache gehören dazu. Ein Mitmachen darin ist ein Überlaufen zum Feind. Auch die Sprache, die Kunst sind längst eine Mitmache: "Das Kunstwerk trat in die Welt, als der Glaube schwand", schrieb Benjamin Fondane, jener jüdisch-französisch-rumänischer Poet, der an der Endstation dieser Zivilisation sein Ende fand. - Der Augen Zeuge sah, bevor es begann. Und ich schrieb über ihn, den letzten, den allerletzten Dichter, im Hof vor der Baracke sei es gewesen im Oktober, am 12. Oktober 1944. Hochgeschlagen sein Mantelkragen, da es im Lagerhof von Auschwitz regnete, als wäre der Mond noch da zu sehn, Schlafdreck, Traumdreck im Auge, da kamen die Lastwägen, die Welt, fahl das Morgenlicht: noch gestern, jetzt Regen, er aber, der letzte Dichter aufrecht und fast ungerührt da; ging, stieg hinauf, Arme streckten sich ihm von oben entgegen, helfend, wozu, auf den Lastwagen, da oben, fahrend, abfahrend, abgefahren ist, was noch bisher zu sein schien, er hatte ja vorher schon alles zu Ende geschrieben, dachte es, im Bewußtsein war alles getan, als ginge er dort im Hof auf der letzten Zeile, der wußte, dachte, er wisse das Nichtgeschehen, und kann nicht mehr sagen, was ich nicht weiß und er, was blieb: ist es. Umkreist, er spricht nicht, er hat es erlebt zum Ende gebracht, zu allem, für jeden, für Nichts. Und hat jedes letzte JETZT, auch unseres, erlebt. Voller Verachtung und Todesverachtung kam Fondane an ihrem infernalen Grenzort an, wo alles, was diese Geschichte hervorgebracht hatte, ad absurdum geführt wurde. Auch die Sprache, und gerade sie! Mit seinem Tod erlebte Fondane ihren Tod. In jenem grauenhaften Augenblick, über den er nicht mehr Zeugnis ablegen kann, war alles, was er gedacht und geschrieben hatte, bestätigt worden. Angesichts der Gaskammer gilt kein Glaubens- oder Trostspruch mehr, geschweige denn Literatur. Es war etwas offenbar geworden, was nicht seinesgleichen hatte. Fondane hat das, worüber wir nur nachdenken können, erfahren, und dann ganz konsequent mit dem Leben bezahlt.

 

Da war doch damals eine gewöhnliche Scheune, zuerst, das ging primitiv zu, anfangs, weiß gestrichen wie ein Lazarett, darin zuerst, wenige Menschen, hineingeführt wie Kinder. Später vier große Blöcke. Menschen fließen dahin wie Wasser, unter blutarmen Bäumchen, angesichts eines verqualmten Waldes, schwere Lastwagen bringen die Menschen, niemand lehnt sich auf, alle ziehen sich brav aus, legen ordentlich ihre Kleider auf einen Haufen, merken sich die Nummer, gehn zur Tür. Kinder spielen, ein Mädchen nimmt die Stoffpuppe mit. Hier, dieses ist ein Nachbild, ja, eine Seite Papier, nicht angesengt, keine Asche wie bei Zigarettenpapier, der Wulst Asche, Lippe grau, dünnstes Papier, manche schrieben darauf ihre Botschaften, anstatt weißen Rauch...

Es gab auch einen Block, mit einem Puff. Und einen, wo früher getötet wurde, jetzt ein Gong, während die Nackten im "Waschraum" sind, fertig für den Himmel. Sogar ein Dichter ist mit dabei, Fondane ist mit dabei, er wundert sich, daß er nicht friert, keine Scham empfindet, bei sovielen Frauen, die ihn sehn. Im Waschraum boxen sie. Richtige Boxkämpfe. Und Konzerte, nebenan. Und wenn sie einen normal töten, ihn aufhängen, das ist ein Luxus, da spielt die kleine Kapelle auf.

Neben dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift: darauf "Bad" in Lettern, ganz gewöhnlich, man kann es lesen, es beruhigt. LESEN, wie sonst: Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhallen. Auch die Kleiderhaken, lange Bänke, wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper. Er sah die Nackten, weiß schimmerte das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an der eigenen Hand, der Schreibhand, das hatte er immer angesehen, bei einer Denkpause, Schreibpause, zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in Gedanken, schreibend. Und Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf den Lippen, man marschiert eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer ein wenig schwächlich. Er hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben alles, hoben auf. Er wußte jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte, daß er einmal berichten müßte, Zeile für Zeile, alles, was am Ende geschehen wird, wenn es einmal gewesen sein wird, in der nächsten Minute gewesen, nachher: er ein Zeuge, daß es nicht vergessen werden wird, was geschehen und gewesen war ...Auch wenn er es gewollt haben würde, SEHEND SCHREIBEN ZU EINER BESCHÄFTIGUNG gemacht zu haben, während es geschah, von dem alle wußten, daß es einmal kommen mußte, nicht so für alle, schon öffnete sich die Türe, er ging, es erleben zu müssen, was hier, wenn der Satz weiter geht, unmöglich ist...

Nur einer vom Kommando hat es im Kopf, ein Prager, als wäre es ihm bekannt, er sah es täglich, blieb aber freilich , mußte vor der Tür bleiben, eine Eisentür, innen voller Kratzer und Blutspuren, ohne Klinke. Und jetzt sind sie alle im Bad, die Türen werden verschlossen, dachte er nur im Bild, ganz ohne jeden Satz. Sie fürchteten hier etwas auszusprechen, was wirklich war, nur Trösten und Tätscheln und die Notlügen gingen in die Sätze ein, hinein ins Weinen und Wimmern, ein Schrei, wenn das Bewußtsein von einem plötzlich alles davon durchbrach, schrecklich hell wurde, dann sagten sie, man solle sich die Kleidernummern merken, um die Kleider wieder zu finden.

Das kleine Mädchen durfte ein Märchenbuch und seine Puppe mitnehmen ins Bad, eine Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen, seine Oma von Tränen erstickt, tapfer im Lesen die Stimme überwunden, erstickt lesend.

Einer sah von oben durch die Luke; "unser" Apotheker, sein Auge im Glas, die Brille, hatte Baruch den Brillenschleifer, früher schon, im Auge, keine geschliffene Träne, nein, ein Splitter im Auge, der da sah, als wäre es, als geschähe es; und nicht schon einer der Posthumen, der nicht ist, es beschreibt; der Kragenspiegel, da war jener, wir wissen es, mehr nicht, er wußte nichts, er sah durch die Luke Nackte, Erde aus Haut, jetzt schon, Gesichter aus dem Gewesenen; der Schrei bleibt, er bleibt, zu hören ist nichts, ein großer Berg, Leiber; wo ist er, den ich kannte, er blieb unten, und wußte wie immer, daß es vergeht, die Augen, und schloß, daß es sein muß, was geschieht, naja, Gott, was es soll, die Pyramide wuchs, oben die Stärksten, auch im Himmel, er, mit den Frauen und Kindern, die Kleinsten trugen die Pyramide; Tränen, lehmige kotige Körper, anfangs noch Worte, die sangen, und es könnten SCHRIFT Zeilen gewesen sein, am Mund, die zogen hinauf; er staunte zuerst, daß er zitterte, Zittern? - immer gewußt, und jetzt nichts mehr, anders, ist es, anders, die Kreatur ist anders, als ER, was dort geschah; aus Filmen, wir hier auf der Zeile, wir lesen, Scham, nein, wie jener an der Luke, auch wir haben Kragenspiegel, er wäre entsetzt, daß wir da sind, nicht dort, nachher noch soviel Zeit, vergeht, und weiter; sah durch die Luke noch immer, wir aber hier, er aber und ER, nicht mehr und doch wir hier, auf der Zeile, keine geschliffene Träne, nein Splitter, wer setzt die Augen wieder zusammen, dort lehmig den Arm, darunter ein Bein, der Kopf, die Achsel heraus, eine Brust, der Schrei bleibt, da stehts, eine Kammer, rissig Beton, grau, Blut an der Mauer, gebaut, nur Haut, sie bricht, nicht, das Auge, dann ein Summen, Hirn alle Sterne, erstickt, das steht im Kreis, dreht sich hinein in den Tunnel und steht, Stille. Das Liegen hinab. Ein Glas oben, das Auge.

Was war, das geschah, jetzt nicht, obwohl im Bild. Nie. Die Zeit. Fließt. Nicht. Nur abwesend war etwas möglich geworden: zu sehn. Ich bin nicht. Der Augen Zeuge sah, bevor es begann. Und schrieb über ihn, den letzten, den allerletzten Dichter, im Hof vor der Baracke sei es gewesen im Oktober, am 12. Oktober 1944. Hochgeschlagen sei sein Mantelkragen gewesen, da es regnete im Hof, als wäre der Mond noch da zu sehn, denn da war sie noch verschlafen, Schlafdreck, Traumdreck im Auge, die Welt, fahl das Morgenlicht: noch gestern, jetzt Regen, er aber, der letzte Dichter aufrecht und fast ungerührt da; ging, stieg hinauf, Arme streckten sich ihm von oben entgegen, helfend, wozu, auf den Lastwagen, da oben, fahrend, abfahrend, abgefahren ist, was noch bisher zu sein schien, er hatte ja vorher schon alles zu Ende geschrieben, dachte es, im Bewußtsein alles getan, als ginge er dort im Hof auf der letzten Zeile, der wußte, dachte, er wisse das Nichtgeschehen, und kann nicht mehr sagen, was ich nicht weiß und er, was blieb: ist es. Umkreist, er spricht nicht, er hat es erlebt zum Ende, zu allem, für jeden, für Nichts. Was ihn traf, ist noch immer, er wüßte, gäbe es das, was wir ahnen, geprüft durch jenen Augenblick, er vergeht nicht; mehr; also die Zeit , sie liest auch jetzt, hier, wen, doch nicht dich, die so aufhört zu sein, das Auge gebrochen, schreibt es: ihres genau so, und summt in uns außerhalb weiter.

Kreisrund war ja bisher die Mündung, Mund fast noch, kalt unter dem Mond nur, und das Sterben noch achtsam. Kreisrund aber winzig die Löcher seither, Siebe, geweitet, Loch, größer und Größer, auch die Erde so rund, drehte sich langsam hinein, nur die Kammer eckig, spitz, Risse, sie bleibt, sie steht. Oben die Luke, Glas, immer noch der Voyeur, wir am Wort, als sähe der Blick, Siebe, das fällt ja durch, die Luft, das atmet nicht mehr, schöne Luft, wie Reden, und Rhythmus damit, wer atmet, der lebt ja, und es heißt, daß da einer noch lebt, liest hier, geht auf die Zeile, der Posthume, geschrieben, geschrien als der aber schrieb, war die Zeile noch ganz, und nicht mehr, viel später darüber, hat nichts mehr; der Fall.

 

"Als ich Natur dir vorsang Vater, hab ich gefehlt..." Schrieb er 1917. In ihm wirkte schon damals weltweites Unheil, wurde ihm bewußt; Fondane, von jung an ein alter Prophet. Zwei Erlebnisse haben ihn besonders schmerzhaft berührt: 1917 der Krieg als "Stahlgewitter" zivilisatorischer Selbstvernichtung in der Moldau. Und die Emigration. In Paris hat Léon Schestow, der vor dem andern Bastard jener Begriffsgeschichte, dem Bolschewismus, nach Paris geflohene russische Philosoph Fondanes Weltbild geprägt: Gottes Abwesenheit führt über Ersatzhandlungen, Ersatzreligionen (rot, braun und die goldbraune Marktideologie) zum unausweichlichen und doch selbstverschuldeten Ende. Es ist jene verborgene Fatalität, die von weither kommt, jeder einzelne trägt sie als Erbe in sich, ja, jeder Stein, jede Blume, jedes Tier hat Anteil an dieser fortschreitenden Zerstörung. Diese Fatalität, die das Absurde in sich trägt, hat schon lange dies "nachgeschichtliche" Entlarvungsdenken einer späten Reife in sich; nach soviel Katastrophen, die wir jetzt erleben, ist diese rumänische Mentalität eines Boykotts der Geschichte und der abendländischen Begriffsgeschichte erst plausibel geworden. Kein Wunder, daß dort der radikalste Ort der Wende im Revolutionsjahr 1989 war.

Emile Cioran spricht vom "walachischen Nichts eines beispiellosen Fluches". Es ist nur die besonders schmerzhafte Schizophrenie zwischen Natur und Zivilisation, Ost und West. Fondane ging früh schon mit dieser Erkenntnis um: "Man muß sich fragen, von Geschwindigkeit geweckt,/ was rast da übermächtig aus der Energie,/ was sonst im Stillstand dieses Tags versteckt,/ sich schattengroß nun losreißt aus dem Nie." Entropie reimt sich dazu, und so würde man anstatt Fatalität heute sagen. Heute geht sogar die Wissenschaftstheorie damit um, daß der Ausdruck, die Formel, das Wort jenen Ort nicht erreichen kann, wo wir irreversibel hingerichtet werden. Die wache Vorstellung ist davon getrennt, Worte sinds, die uns Logik vorspiegeln. Oder "Natur" - im Auge, Städte, Berge. Der letzte Kontakt, die Verbindung ist gerissen, wir registrieren, nehmen nicht mehr wahr. Auch in uns tickt jene abgründige Macht der Vernichtung. Und Fondane zitiert seinen Landsmann Tudor Arghezi: "Meine Seele kann sich nicht erinnern./ jetzt und immer, was vergangen ist./ Vergangenes aber bleibt mir unbekannt,/ ist mein Gehirn, das du doch selber bist,/ in mir ist`s, ohne daß ichs weiß./ Die Erde unter mir, weiß nichts auf mein Geheiß." Wie soll das "Auswendiggelernte", die Kopfgeburt daran reichen? "Ein Plan ist umso besser, je weniger er dem Verstand zugänglich ist." Zitiert Fondane Goethe. Seine Jugendgedichte wirken sehr sinnlich, nah, berühren, weil Fondane eine von seinem rumänischen Vorbild Bacovia erlernte Technik anwendete: er mied den vorgewußten begrifflichen "Klebstoff", und er klammerte sogar das Sehen aus, arbeitete unmittelbar mit dem Elementaren, der Chemie der Sinne, Tastsinn, Geschmack, Gehör.- Außerdem erscheint alles, auch die Gegenwart, wie noch da - und doch längst vergangen, alles ist erinnert, nah, intim, wenn er's erfindet, wobei er Unstimmigkeiten, Brüche, Abstrakta einbaut, um Entropie d.h., die uns entzogenen Mächte in der Spannung, in der Unschärfe unserer Beobachtung erkennbar zu machen. Hinabtauchen ins Diesseits des verlogenen Augenscheins; dieser Haß auf das Vorgewußte, auf das Vorurteil und die Masken des Wirklichen, eine typisch rumänische Eigenart, die er angenommen hatte, obwohl er Jude war, ja, sie mit dem Fatalistischen des jüdischen Exil- Denkens der Verfolgung noch steigerte, wirkte vor allem in der Emigration und angesichts des Infernos. Ausnahmelage für die Ausnahme Mensch. Der Künstler, ein Komplice spannungsgeladener Grenzgängerei, der Tod sein einziger Freund in der Banalität nichtswürdiger Kreatürlichkeit. Ein Mitmachen darin - Überlaufen zum Feind. Auch die Sprache, die Kunst - längst ein Mitmachen: "Das Kunstwerk trat in die Welt, als der Glaube schwand". Vor jenem unglücklichen Ereignis gehörte die Kunst zum Ritus, ging in ihm auf. So heißt es in Fondanes "Pseudo-Traktat der Ästhetik": Die Künstler waren nicht Einzelne, sondern Gemeinschaftssprecher, Vermittler zwischen jenem, was hinter der Metapher "Gott" steht und den Lebenden, die Sinneswelt Halluzinierenden. Die Psalmen, das Ägyptische Totenbuch, die Mythen, all diese Werke sind - so Fondane - keine "Kunstwerke", sondern wirkliche Ereignisse, Teil der Welt; schöne Worte, losgelöst davon sind Falschmünzerei der Poeten, Ideologen, Priester. Der Dichter müsse sich von dieser Vorspiegelung falscher Tatsachen entfernen, dann stehe er in der Tür des offenen und gefährlichen Augenblickes, ungeschützt im Zu-Fall, diesseits des Vor-Scheins der Gegenwart und des Rollengebarens, im Ereignis der Fülle, wo die Sprache anknüpft an einen unendlichen Worthof des JETZT, das heute übrigens auch die Quantentheorie so kennt. So entrinne die Sprache dem Unglück der abendländischen Begriffsgeschichte, ihrer Sklaverei. Poesie sei Erbe des Mythos, Grenzgängerin am Rande "verdrängter Substanz" der Religionen. Dieses Vergessene aber werde ihr Erfahrungsmaterial, ein sonst vom Realen Abgeschnürtes und im modernen Alltag Tabuisiertes: "Dichtung ist da, wo dieses Reale als Leben empfunden wird, und das Lebende wie ein Reservoir des Übernatürlichen." Ähnliches hat auch George Steiner oder früher schon Walter Benjamin erkannt: Dichtung schöpfe immer noch aus der offenen Bedeutungsfülle der Mythen mutterrechtlicher Vorgeschichte. In neuzeitlicher Seelenblindheit aber - so Fondane - werde sie entweder als Ventil für den heimlichen Hunger nach Transzendenz, ausgelöst durch den Tod Gottes, mißbraucht, oder sie werde zur Komplizin der Diktaturen und der massenbetriebsamen Öffentlichkeit.

 

Zusätzlich dazu gab es in diesem Land schon seit langem eine antigeschichtliche, ja, antiokzidentale Grundhaltung, eine Nähe zur Natur und zu "Nachbar Gott", eine konkrete Mystik der Unmittelbarkeit. Vor allem auch in der Literatur. Fondane hat diese Begriffsgeschichte auseinandergenommen, attackiert, es war wie eine Fatalität; er mußte, als habe er dies vorausgeahnt, an der Endstation dieser Geschichte sein Denken mit dem Leben bezahlen: er kam zuerst in ihr Babel Paris ins Exil und dann an einer andern Endstation ihrer industriellen "Entwicklung", in die Gaskammer.

Die Öffnung und das Risiko, der Zufall und der Krieg. Sie bestimmen. Das Unberechenbare hat, nachdem die Zeit nun "ausgebrochen" ist, das Wort.

 

 

NACHTGESPRÄCH DER NACHGEBORENEN

MIT DEM RAKETENPROFESSOR HERMANN OBERTH

( An seinem Hundertsten Geburtstag im Jahre des Herrn 1994 )

 

I

Ganz einfach wäre ich wie früher in S.

von Herzen gern ein Kind naiv in unserer Stadt,

daß du mich liest und ich dich sprechen kann.

Doch was uns trennt, sitzt wie der erste Schrecken tief.

Nicht einer nur, die vielen Toten trennen.

II

Du führst mich immer noch durch dein Museum in Feucht,

erklärst die "Kegeldüse" und erzählst vom orientierungslosen

Tauchen: wars ein Traum dies Leben, plötzliches Erwachen,

weißt nicht mehr, wo du bist: wie schwerelos, wie aus der Zeit

gefallen, am kleinsten Ort so tief zu graben, bis die Natur

dich anspricht: das war die "Schwimmschule" in S. Erzähltest dann

von jener "Frau im Mond", dem Film. Das Kino annulliert den Tod, die Zeit. Das kleine S. Der Stundturm, das Museum, der Markt mit deinem Namen, bist wie heimgekehrt auch nach dem Ende, als Geist, mit dem du aus zu naher Enge flohst, der Traum ist wirklich, silbrig Anzüge der Astronauten. Und schon ist Zukunft museal.

 

Die innere Umgehung unserer Stadt ist winzig, doch sie bleibt. Verzweigt: im Mundvoll Laut, im Bild vor mir, das explodiert im Hirn: das Tor bei Haydels groß und heiter, im Heu die Burgen, dimpiger Geruch und Samen, die Knabenschwänze, winzig die Raketen, so feuerst du, ein-lienig Nichts, liniert im Schreibheft blau, im Notenheft, so Fächer auf die Hausaufgabe Jetzt. Das Fach es riecht nach Rosenöl. Kommoden voll. Die Oma mit dem Hörgerät, verrückt das Bild: so ists erhöhte Temperatur am Fenster, der Blick fliegt unter die Burg, vereister Fahrweg: ein brauner Polizist vertreibt die Kinder die dort Schlittenfahren. Die eine Flocke fällt aufs Außenthermometer, ist unter Null. Der Kachelofen summt. Nicht weit euer Haus, der Garten, und dein Vater der Chirurg. Die Maiennacht, der Grünfink sinkt ins Ohr zurück, zurück zur Breite. Das Leben, doch hier ist schmal der Grenzfall Tod.

 

III

DU schriebst mir einen Brief, du sprachst sogar von drüben meine Sehnsucht an: "Das Palindrom, der Ton tät not:" Tunneleffekt. Den kennst du doch, denn der besagt, die Seelen seien göttliche Teilchen, und haben jenseits der Barriere, die uns trennt, gewisse Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. So gehn wir über vom Gedicht, dem Versfuß, der nun leichter hinkt, zum Flug. Der Mensch ist größer als er denkt. Und in der Allmacht doch geborgen: unbeschränkt/ im TodesFlug."

Der war mißbraucht; sag ich: ihr nanntet es Gefechtskopf: Tunneleffekt verdoppelt, die zwei Tunnels, "Mittelbau" im Harz, du warst für Hitler dort dabei, den falschen Hoffnungen, so sag, warum?

"MEIN Gestus, ja, du sollst nicht alles

wissen wollen, verstellst dich, ehrlich, wirst

so kalt und oberflächlich tief..."

 

IV

DU warst dabei. In Peenemünde, und dann im Harz, die beiden Tunnel, doppeltes Integral, seit Leibniz heißts SS. V2, der Wunderwaffe Endmontage mit fünfundzwanzigtausend Häftlingen; sie kamen aus dem schönen Buchenwald, von Goethes Ettersberg und seiner Eiche, wo trockne Ästchen wie die Knöchlein knackten; Transport des Todes an der Spitze des Raketen-Kopfes, seither ein Kopf der Welt: das Delta t, die Hölderlinie zwischen Null und Eins, unendlich dichter Punkt, und denke an die Stundturmspitze, an alle Kirchturmspitzen von zu Haus, und an En-sof der Juden, dieser Brennpunkt Ihres Gottes in einer viel zu schnellen Ewigkeit, der dort zu ihnen beten mußte, solange jener deutsche Kriegskopf weiter flog; der Flug nach London über den Kanal, du weißt es gut, half doppelt jenes Integral, und auch in S. man hoffte so, als wärs normal, ganz hin zum Brennschluß, Stillstand Delta t der Zeit, die Herbstzeitlosen auf der Breite Holzfleisch, hoch in der Luft Zeitlosigkeit ganz innerhalb der Zeit, stand still im Augenblick, das Triebwerk starb, und die Rakete fiel auf ihre Stadt, der Kopf, der Schwerpunkt nun, nicht mehr dem Himmel, Nein, so nun der armen Erde und den Menschen tödlich zugewandt.

 

ZWEIFACH die Integration SS, sie wandelt Zeit in Ewigkeit und Leben um in Tod. Der Massenmittelpunkt, er stand damals auch ganz in uns, und dachten doch, es sei der Herzpunkt, sei das Heiligste, ein Schaudern ganz entzogen jedem Zugriff: ein verborgnes Todeszentrum unbekannter alter Inertien, im Zwielicht Monolithe: als wäre sie in uns, so braun und schwer wie Erde, die uns dann unter sich begrub. Warum hast du auch später noch, und so als wär es 25 Uhr, für braun optiert, als wären unsere

tausendjährigen Eichen nicht/ auf jenem Ettersberg mit dem En-sof verbrannt?

"DEN Harz sah ich von Ferne,

dort sind die Relikte, Lauschgeräte,

dort war die Hörkunst hoch entwickelt,

Geheimnis staatserhaltend, rot, die Mikrofon-

Seelen in Ost und West/ sie waren ausgerichtet;

zum Brocken fahr ich nicht mehr gerne."

 

V

AUS Herzen aus stellten, zitier ich dir den Hermannstädter: raketenhalber Taugenichtse, Thales, lassen wir Milet den Türken. Wir aber haben ja

Tunneleffekte, Gewissen Los. Und nannten es an Äpfeln abgezählt, an Kerngehäusen aus dem Paradies mit Apfelbrechern und den Leitern, und ganz geheim Klees Engeln, keiner weiß, nun ja: Gewissen. Warum nur sag: ist die Verengung unserer Gegenwart hin bis zur Krankheit Amnesie auch heute Sachsenschicksal? Als wäre Nichts gewesen, und dieser Abgrund trennt uns von uns selbst und allem, was einmal Siebenbürgen war! Als wären wir Gespenster, schuldig, und gequält von Andern, die uns quälten, weil wir es selber taten, ohne es zu wissen: das Leid Vergangenheit

ist Nichts gewußt und gewesen? Die neuen selbstgemachten Mauern wachsen um uns zu, die alten aber sind so arg verlassen, wie wir so selber von uns längst verlassen sind, den guten und den bösen Geistern unserer Väter. Und brennend da ein Punkt, kindlich gehütet, doch keiner rührt daran, die Schuld, die Scham, die uns nur andere angetan?

 

VI

UND warst doch später auch im Land des Marktes und der Mikrophone, und einst der Feind: Huntsville/ die USA mit deinem Schüler, hieß von Braun, noch weiter fern von Transsylvanien mit jenem Kriegskopf und dem Brennschluß stark beschäftigt an jenem Integral mit Delta t, wo letztlich dann das reine Licht der Null uns immer näher rückt? Hat dies die Vorsehung gewollt, daß wir so einmal längst gewesen sind... so sprich es ruhig aus: daß wir gewesen sein werden, ist gewiß, muß deshalb schneller der Planet verschwinden, daß Er erscheinen kann?

 

VII

JETZT bist du ganz entzogen; Jetzt ist die Bandbreite der Zeit, dein Delta t, in der Präsenz sehr groß, und sagtest du nicht auch: je mehr du in der Zeitenschau des Chronovisors zur Vergangenheit und in der Zukunft, nicht mehr in S. zu Hause bist, umso größer sei die Bandbreite der Zeit, dann seien wir ganz nah an jenem dichten Punkt, je schmäler aber, umso größer sei die Seelenschwäche, und örtlich dann von dieser Null betäubt.

 

VIII

IN jenem Fischerdorf auf Usedom, doppelter Tunnel Integration SS im Harz/der Brocken, Spitzen malerisch in Berchtesgaden, die Siebenbürgen-Türme und Raketen: ein Abgrund und ein tiefer Fall gar zwischen dem, was dort erlebbar war, und dem, was es dir sagte und du - im großen Himmelz-Jetzt gar besser bist? Im Dröhnen der Waggons auf harter Erde damals. Soll das Latenz des Himmels, Grenzflächen zwischen zwei verschiedenen Ordnungen des Dinges sein, darüber Gottes alter Regenbogen, und seine Hand aus jener großen Wolke im schwarzen Rauch geformt und schon in jenem bleichen Nu davongeflogen. Als könnten wir noch Holzfleisch essen, und jagen in den Bergen der Beskiden; du warst doch auf der Jagd in S. mit Großvater, du schriebst ES mir, gerührt und so vertraut, was du doch liebst?!

 

IX

UND war es nötig, sag, ich steh zu Hause auf dem Stundenturm und frag: die Welt in einer Null zu waschen, das ich nun sie und auch das einst so schöne S. sehr liebe, doch jetzt in dem Verfall nicht mag? - Entschuldig, daß ich reim, kehr so ein bißchen heim, im Fahr Zeug Nichts als wär es nur ein -Wort. Wer lacht ( im Glied) - ein Mann ein Wort?

 

X

Punkt immer noch an äußerster Raketenspitze, ganz singulär, und trägt das große Sterben vor, dort, wo der Zünder sitzt, dort sitzt der Blitz Unendlichkeit, der Übergang, ein punktbreit weiter wird an dieser Bahn, der Kurve schon das minus unendlich sein, der dichte Punkt am Stundenturm, die Spitze aller Kirchen, Kreuz und Baum; es sei nicht schlimm, die andere Welt sei weder kongruent, auch nicht identisch, so schriebst du mir: sie sei wie eine andere Seite eines Spiegels, darübergestülpt, im Äußerlichen völlig gleich, doch sei das Jenseits zeitloses Reich des unvermessenen Potentials. Der Tod ein Wort, die letzte Schreckensform: nur Unwissenheit. Den Tod, den gibt es nicht!

 

EPILOG

WAS bleibt, das geht hier stiften,

wer will es noch bedichten,

es reimt nur, weil es fällt.

Und was mich hält ist da,

der Tod kommt sicher, reinigt,

Sysiph wird oben gesteinigt,

die Stirn gelähmt, die Sternbahn

Welt, die alte Sprache klimpert,

ihr Kleingeld ist der helle Wahn.

Den Chefarzt, dort, den großen Herrn

besuch ich nicht mehr

gern.

 

Ich denke dabei an einen Violinspieler aus dem Ghetto von Los Alamos, an Albert Einsteins Weltformel. Wahnsinnsenergien entfesselt. Und erinnere mich an ein Gespräch mit unserem Stadtapotheker Dr. Capesius in Göppingen. Er hat mir als Kind Medizin verkauft, ich holte auch Pefferminzplätzchen aus der Apotheke " Zur Krone" bei ihm, ja in meiner Heimatstadt S. auf dem Markt, und einmal für fünf Bani "Haumichblau", in den April geschickt, das schmecke gut, hatte jemand gesagt, und mich dann ausgelacht; Haumichblau, und gelacht.

Der Zeuge Josef Glück habe beim Prozeß gelogen, sagte Dr. Capesius, unser Stadtapotheker, der dafür nichts kann. Die Juden wollten gerne einmal nach Deutschland kommen, gratis, nach Frankfurt zum großen Prozeß in den sechziger Jahren. Ja, er sei dem Glück und seiner Familie nicht nur in Frankfurt, nein vorher schon: "dort" begegnet, "dort", wo der Himmel immer blutigrot war vom Feuer und dem Qualm des Rauches aus dem Rauchfang des Krematoriums, und ein schrecklicher Gestank in der Luft war, nach verbranntem Fleisch.

Der Zeuge Josef Glück also, jetzt Kaufmann in Haifa, früher Textilfabrikant in Klausenburg aus Siebenbürgen, ist am 10. Mai 1944 verhaftet worden, weil er Jude war, mit 2800 andern Juden aus Klausenburg, von denen vierhundert zur Arbeit selektiert wurden, die andern aber gingen ins Gas. Es war der letzte Transport, der verließ am 11. Juni den Bahnhof von Klausenburg in Richtung Nordosten, in Richtung Lemberg und Kattowitz, mit ihm waren im Viehwaggon Josef Glücks Frau, seine zwei Kinder, seine Mutter, seine Schwester und deren zwei Kinder, sein Bruder, seine Schwiegermutter, seine Schwägerin.

Sie sind der einzige von all denen, die Sie genannt haben, der übriggeblieben ist, hatte damals der Richter Josef Glück gefragt.

Ja.

Der Zeuge hat den Apotheker Victor Capesius auf der Rampe von Birkenau bei Selektionen gesehen, handelnd. Der Apotheker habe nur gefragt, ob man arbeiten wolle, ja oder nein. Jene, die nein gesagt hatten, habe er nach links geschickt ins Gas, die andern nach rechts, und diese durften leben.

Anfang Oktober 1944 habe er den Dr. Capesius mit Dr. Mengele gesehen. Mengele sei mit drei Offizieren, darunter auch der Apotheker, zur Baracke Nr. 11. gekommen. Jüdische Kinder im Alter zwischen sechzehn und achtzehn Jahren seien dort untergebracht gewesen.

Sie hatten alle geahnt, was ihnen bevorstand. Und sind geflohen. Da hat sie der Lagerführer mit Hunden wieder zusammengetrieben. Das war an einem jüdischen Feiertag. Zwei Tage später wurden diese Buben auf Lastwagen verladen und ins Gas geschickt. Dabei hat man gelacht, sagt Josef Glück aus Haifa: Man hielt es wohl für sehr komisch, daß diese Kinder nach ihren Müttern schrien.

Den Zeugen übermannt die Erinnerung. Dann greift er in sein Jackett, entnimmt der Brieftasche ein kleines Foto, reckt es mit starrem Arm den Richter entgegen und ruft weinend: Kinder haben sich die Arme aufgeritzt und mit Blut an die Barackenwände geschrieben; mein Neffe hier, dieses Kind, schrieb: Andreas Rappaport - lebte sechzehn Jahr.

Das Kind habe ihm zugerufen: Onkel, ich weiß, daß ich sterben muß, sag meiner Mutter, daß ich bis zum letzten Moment an sie gedacht habe.

Dieser kleine Bub, sagt der Zeuge Glück aus Klausenburg in Siebenbürgen, heute Haifa in Israel, dieser kleine Bub wußte, daß er sterben muß, er wußte aber nicht, daß seine Mutter schon vergast war. -

Der Zeuge namens Glück ist erschöpft im Gerichtssaal zusammengesunken. Weinend sitzt er an seinem Tisch, in der Hand das Bild seines Neffen Andreas Rappaport - lebte sechzehn Jahr.

 

Diese unerhörten Stimmen, es ist ein feines Glasklingen im Ohr, sie sagen, sie sehen uns. Und was sie sähen, ergebe ein schreckliches Bild: Materie, der Körper löse sich auf, die Krankheit liege tief, die können wir nicht sehen, hören oder fühlen. Eine Art Dimensionsgrenze sei erreicht...

 

Das Unberechenbarste, ja, der Zugang zu jener Zone, die wir immer nur verdrängen, ist der Tod, und manchmal scheint es mir, als wäre die ganze Zivilisation nichts als so ein Versuch "rational" Halt zu finden, wider den größten Feind, den Tod, damit gegen die Natur, die ihn hervorbringt, uns überlegen ist, anzukämpfen. Sich an ihr zu rächen. Beim Begräbnis unserer Nachbarin, die noch in einem andern Bereich gelebt hatte, Lisa, die Schäferin, schien es mir als lebte ich mit meinen Apparaten, dem Computer, dem Faxgerät, dem Farbfernseher Tausende von Jahren von ihr und ihren Schafen entfernt. Ich erinnerte mich an Glücksmomente hier im Maultierpfad mit ihr, ich war aufgeräumt, ausgelassen, scherzte mit ihr, Alfredo, der Alten, ihrer Schwester, die jetzt nur noch mit wackelndem Kopf, im Weingarten, im Obstgarten Gras für die Hasen schneidet. Hallen der Steine beim Beten, und das Abendmahl, Transsubstantion, ich dachte beim Schlucken der Oblate, tatsächlich daran, daß Fleisch und Brot gleiche Atome habe.

Ich mähte die Wiese im Garten. Trank dann einen Schluck Wasser am Hahnen. Fließend kühl im Mund. Und dort an der Tür tatsächlich nichts Festes mehr. Zeit. Die Gästestimmen hörte ich nur sehr fern; Nachteil der rein physischen Arbeit, die nie bei mir ist, ich nie bei ihr. Dachte ich. Wischte mir den Schweiß von der Stirn. Wenn man nämlich annehmen darf, daß jeder wirkliche Gegenstand eine abzählbar unendliche Mannigfaltigkeit möglicher Antworten auf feste experimentelle Fragen ist, bleibt nichts mehr übrig. Die schönste Mädchenblüte und 1oo1 Nacht. Wer erzählt gegen den Sichelmann an. Was mit diesen Stimmen ist, die ich nachts höre. Womöglich sinds Geisterstimmen. Das kann niemand wissen, jedenfalls nicht ich. Diese unerhörten Stimmen, es ist ein feines Glasklingen im Ohr, sie sagen, sie sehen uns. Und was sie sähen, ergebe ein schreckliches Bild: die Materie, der Körper löse sich langsam auf, als fehle der Kitt. Die Krankheit liege tief, die können wir nicht sehen, hören oder fühlen. Eine Art Dimensionsgrenze sei erreicht. Daher auch der Übergang und Hinübergang, fließend. Man kann es manchmal auch im Fernsehen verfolgen, mit den Augen: bunte Bilder, diese sich als Foto zersetzende Wand, das verwüstete Jamaika zum Beispiel, ein in den Baumwipfeln hängendes Flugzeug, Wirbelsturm wegen übermäßig erwärmter Meere: jene Krankheit kommt manchmal an die Oberfläche, daran siehst du, welch Gespenster wir sind. Oder der Blick aus dem Helikopter hinab auf die Ukraine, wo früher das Leichentuch lag, fast gewohnt, zerschossene Ortschaften, an den aufgeworfenen Gruben Kniende mit Kindern, nackte Frauen, Stille am Himmel; Schluchzen, die Familien, deutsche Schüsse bellen, mein Satz wird durchlöchert, jetzt ab Silbe, Zelle, der zerstörte Reaktor von Tschernobyl: rotglühend der Kern, Häuser, Mauern zerfetzt, hinweggefegt, Umgebung der Null, und das langsame Bewußtwerden, daß es auch das Substantiv ist, was vorhin da stand, auch verschalt, was einmal ein Wald war, auch Papier, nun rosagelborange, Schemen transparent um die ehemaligen Baumkronen. Über allen Wipfeln ist Ruh. Ein Röntgenbild nur noch, Negative der Erde. Aber jene, die es sehen können, sind vielleicht schon lange, seit 44 Jahren tot, die das Leben noch träumen, das längst vergangen ist. Und ein Totenkopf an der Stirn der letzten Sekunde.

Eine Grenze in andere Dimensionen, als die gedachten, erhofften, erträumten, ist in der innern Zeit nun offen. Für frühere, gewissermaßen naivere Poeten, etwa Baudelaire, stehen die Toten noch ruhig und ausgeglichen dafür, da sie ja schon jene Dimension überschritten haben, stehen sie noch als harmonisches Bild für das Unvorstellbare in den Synästhesien als "Literatur" unbeweint, aber fühlbar da im Zwischenraum der Zeilen, doch schon Baudelaire maß an diesem kultischen Element, das ihm das Zeitvergehen erträglicher machte, den Grad des Zeit-Zusammenbruches und seinen eigenen, so daß er fast Lust daraus schöpfen konnte - damals noch. Im Augenblick des Sturzes leuchtete es hell auf, wo ein Schrei sein sollte, war seltsames Glück. Das war einmal, war früher. Denn was früher in der Poesie vorgewußt als Schein erschien, sind heute Qualitäten der Realität selbst, heute, wo jeder bisherige Halt, auch der bisherige Tod aufgelöst und verändert wurde, kein Name mehr, kein Begriff, es sei denn "Nichts", das nur noch negativ, in nicht-begrifflichen, zwischenzeiligen Versuchen, mit Rest-Formen des alten Gottesglaubens umkreist werden kann .

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ZWEITER TEIL

 

I

SIEBENBÜRGISCHE ELEGIEN

 

 

 

BALL

Schluck mein Kind,

Und fang den Ball auf,

Halme Heu, was raschelt im Haus,

WERDA ruft,

da wir nicht da sind,

ist kein Herrgott,

ist nur Aus.

 

Nein, die Geister sind geblieben,

schaun aus Augen Höhlen raus,

Hinter Wäldern, hinter Bäldern,

freue dich, dein Glück

steht aus.

 

 

GELOBT seist du, Eislauf, Sinne tauchen auf, darunter

tiefes Wasser, und JETZT zeilenweise die Arche.

 

Ich könnte sie brennen machen, Stuhl auf dem ich sitze,

Wort, in dem ich schwimme, geschärfte Maske, Noah

mit den Ertrunkenen, hör die Stimmen von unten. Parolen

sind aus. Losungen gereinigt, abgewischt im Eisbereich den

Anus Mundi, Drucker Schwärze und Monitor.

 

Nichts Mündliches mehr, diese Marktzeile. Nur noch das Gewicht

der Schrift schneidert den Tisch. Und wird gegessen.

 

Die Sinne untergetaucht, und tauchen ab. Die singen nie.

Kindheit gefangen im Gedächtnisgeflecht: Herr Fänk

nor iist noch ämeränk. Weiß stäubt das Wort im Schnee, kalt

in den Nacken: Spur, Vogelschlitten, kaum

zu Glauben und schön weit herzig. Sieh Entfants.

Paulinchen im Feuer. Pantöffelchen heuer. Gezeichnet.

 

Und grünt heut auf dem Bildschirm. Zwitschern,

Anstrengender Zwischenraum, vernetzt, und die Toten

kommen rasch auf Tonband, lichtschnell die Kapseln,

daß sich Zeit verschiebt, versteckt -

Orange und Blau, die Dimensionen zwischen Geist

und Wasser hell durchtaucht.

 

Die Toten wissen, und wir leben sie.

Sie leben uns, wir

sehn sie nie, sie biegen um

die Ecke.

 

 

SO WEISS ein Blitz, der Kindertag, Tikkun,

mein Blut und Baum, in mich getaucht;

wo wär die Ader, die vielleicht noch

aufersteht, in mir gedacht.

Wer ists, Erinnerung:

die Taube blieb

zu Hause auf dem Dach.

 

 

WEIHNACHTSKOMPLEX

 

STERNENLIEDER KLANG IKONEN

HIMMELHOCH DA KOMM ICH HER.

SCHNEEDUFT KÄLTE UNTER LAMPEN

WAR EINMAL. ERZÄHLT

NIE MEHR.

 

HINTER BERGEN HEULTEN WÖLFE

STROHFEUER IN DIE SÄCHSISCHE NACHT

AUF DIE BANK MIT VOGELSPUREN

LEISE RIESELT DER SCHNEE.

 

SCHNEEWEISSCHEN STAND IM MÄRCHENBUCH.

IN POLEN STAND EIN MÄDCHEN

BLAUGEFROREN IM SCHNEE.

 

UND OBEN AN DEN TANNENSPITZEN

SAHEN WIR KLEINE LICHTLEIN BLITZEN.

 

SOGAR DIE STEINE SCHLAFEN

DIE AUGEN UNERWACHT

SIE LIEBEN SICH MEHR ALS DIE MENSCHEN

IN DIESER HEILIGEN NACHT.

 

UND NUR DER UNGEBORENE SPRICHT

DRAUSSEN VOR DER WELT BIN ICH.

 

UND DIE KINDER SIND VERBRANNT

DIE ASCHE IST EIN ENGEL

O DU FRÖHLICHE O DU SELIGE

SCHNEEWITTCHEN OHNE LAND.

 

DANN TAUT ES TROPFT VON ALLEN DÄCHERN

WINTER ADE

DIR TUT

NOCH IM VERSCHWINDEN

DIE ALTE ASCHE WEH.

 

*

 

LÜG MIR WAS VOR

bebildert/ Vers

schaff es

Kind Zeile

lach mir ins Ohr

 

lang lang ists her

lange davor.

 

 

 

REVOLUTIONSZEIT, MUSEUM II

 

1

Winterpalast Schnittmuster Eis

aufs Fenster geschrieben

Flocken unter dem Teller der Lampe

und ein Kreuzer schoß.

Krähen im Schnee. Die Augen

gingen aus.

 

Festgefrorene Kälte rot

die Nase der Kinder.

Ein Mädchen schrieb ihrem Vater

nach Rußland, viertausend Deutsche

seien in ihrer Schule im Quartier,

vor der Tafel nichts mehr Aber

Scharlach und Diphterie,

der Blümchen Kaffee ist bitter,

die Merglertante hat kein Holz mehr,

teuer der Zucker kein Brot im Schrank,

aber Bübchen dankt für den Anzug.

Und schreib mir wie kannst du

so viele Feinde erschießen?

 

Das Mädchen ist im Frieden gestorben

der Vater in Deutschland,

der Junge aber an Hirnschlag

beim Kaffee, friedlich der Tag.

 

2

Und was sie damals sahen

ist heute nirgends mehr; hier auf der Zeile

ist aber Ja und Abend:

die ersten Sterne, im Eßzimmer

alle zusammen, der Petroleumlampe

ein Zylinder aufgesetzt. Hut ab

ein Flackern.

 

Die Gesichter sind schöner geworden.

Kerzen vielleicht hoch im Baum.

Im Schnee draußen die rumänischen Kinder,

die blauen Lippen tun weh.

 

Wir trinken heiß den Lindenblütentee.

Wir trinken. Nur weiß der Hauch

und ein Geist ohne Ruhe,

die Nacht ist am Ende

noch gar nicht vergangen.

 

3

Was aber macht schlaflos

jede Nacht/ weil der Tag

das Ziel nie erreicht?

 

In uns Gottes Talentlosigkeit.

 

"Nie" sagte einer

und traf damit/ alles.

 

 

 

PROTESTANTISCHE ETHIK

 

Auf den Feldern Summen

August. Wieder einmal

war der Zigeuner nicht pünktlich erschienen

mit der Tinne und dem Eselchen in einem

gekrümmten Weg

die Zeitdehnung im Kindheitssommer

nimmt erst nach dem Tode wieder zu:

 

Alles war wie zum erstenmal

Geschehen auf dieser Erde

außer ordentliche Neuigkeiten

wie Haselnüsse

Tomaten vor allem der Schleifen Graben

mit dem großblättrigen Kraut weich

wie die Ohren junger Hunde

und dem Duft nach Schrot

alles über dem grünen Klee

 

Zeitverschwendung sagte in diese Stille Großvater

der Kurator: ein Falott Nichtstuer

der lebt in den Tag Herrgott

Zigeuner können nichts nur

musizieren der Himmel hängt

voller Geigen, doch stehlen sie

dem Herrgott den lieben Tag.

 

Dann aber kam er klappernd der

Wasserkarren mit der Zeit

 

 

Zeit verschwenden Sünde

die Leben erst leben läßt

sagte der Zigeuner Puscas

der uns das Wasser brachte

lachend

da er sächsisch sprach.

 

Beide streiten in mir

die Hetze der Bruch ist geblieben

aber kein Leben.

 

 

 

 

(ALTE WAISEN)

Präludium und Umkehr

des Urteils

 

Und heute leb

ich, morgen

sterb ich,

übermorgen holt

mich das

Gestern ein.

 

Ach wie gut, daß

Niemand

weiß,

"was mich kalt

läßt,

macht euch"

heißt

 

mich reden,

schweigt euch tot. Wer lebt nun

weiter den Namen?

Üb immer Treu und Redlichkeit,

bin lange tot und heute rot

vor Scham. Das was euch leben

läßt bis an euer kühles Grab:

 

An einer offenen

Grube sag mir ein

einziges Wort,

ein Liebes

Wort

 

bedeckt

mit beiden Händen

Brust und Scham.

 

Glücklich ist,

wer vergißt,

was nicht mehr zu

ändern ist.

 

Die Männer vor dem

Hängen tragen gesichtslos

an den Trauerweiden

schwarze Kapuzen, und

Warten in der Reihe, bis daß

der Tod euch scheide,

 

Grab, gräbt die Worte ab,

den Blindenstab.

 

 

 

WASSER UND RAUCH

Am Fluß in meinem Vaterhaus

da ging ich einst leicht

ein und aus.

Im Feuer die Türen sind verbrannt,

und auf den trockenen Schwellen stand:

Spieglein, Spieglein an der Wand,

was nun, wem soll ich glauben?

 

Schwester, ich geh.

Bruder, wenn ich dich wiederseh,

fällt Blut und Schnee.

 

 

SIEBENBÜRGEN, ACH, MEINE, DU LIEBE ZEIT

 

1

LANG LANG ISTS HERR lang her.

Seit Alexandria nur TötungsGesten.

Und viele Tote unter uns, Nichts ringsumher.

Ein Stimm Bruch, nicht Gefühle zählen. Die alten Trottel

weinen noch.

 

2

Es war vor Jahren, es hing ein Faden

am Himmel, Drachen stiegen hoch, und

vor der Grube kaum Bedauern, dort

vor der Grube schossen sie

in unser Herz ein Loch.

 

Die Blasmusik. Man fror Towarischtsch.

Der Faden Und da zog ich dran. Und

über Morgen mannsgroß ein Porträt

Applaus und Heile Welt, Genosse, du Papier

der Leere. Stoß mich hinab.

Ich zog daran. Die Schnur,

die Schlinge um den Hals.

Und zog. Nur oben die Figuren frei

Scharen Stare noch im Auge,

die Schwalben weiter,

Tauben auf dem Grab. Die Väter

starben nun zum zweiten

 

Male .

 

Wir trugen graue Mäntel

über sie, die Ohren blau als klirrte Es.

Das Mundstück schmeckte

nach Posaune, nach Grünspan und nach Vieh.

 

II

Und schön gebrochen

 

1

Im Mai blühten sich Mädchen heiß,

Schenkel und Bäume kühl und weiß.

 

Brot aß und brach

sich anders mit den Jahren/

sind wir denn, sag es: gut gefahren?

 

Die heftige Frische und die

Speichelhand/ sie rochen

 

nach Sperma, und das blüht

auch heute noch in uns

Kaststanienweiße durch die Wand.

 

Tauben und Düfte

der Erde. Krud

jedes Reis der Luft ist

grün. Die Wangen heiß.

Komm, lieber Mai

und mache,

laß alles wieder

blühen.

 

2

Hast du die Note

Mozart

gesehen,

wie Spatzen auf dem Draht?

Hast du zu Ostern Regen getrunken/

auf einen grünen Zweig

und grünen Klee

gekommen,

 

Und wirst,

wenn Gott will,

Morgen Früh

wieder erwachen.

 

Vor jeder Türe du.

Im Ohr die Tasten. Klaviere

Tanzen. Rasten. In den 7. Himmel

hinein.

 

Ja, morgen Kinder,

wirds was geben.

Den Bau Kasten

mit neuen Genen!

 

Mußt jetzt nur

kurz ertragen

mit einigen tausend Jahren,

daß Nasen, Lippen, Ohren -

zerschnitten wurden,

 

die Sinne waren zu taub,

 

sie waren einmal

zu kurz und gingen verloren.

 

3

Des Vaters Haus

der Mutter Sprache,

wer sie noch hat:

ein Traum zu sein.

O german Keyboard compatible:

Anders rauscht

verkehrt jetzt über

 

sieben mal

sieben holländische

Rosen.

 

Über sieben Berge

gegangen, und mit

sieben Wäldern vergangen,

 

auch das Papier, die Hirnsyntax

ist MS-Dos. Und Wordstar 4.

 

Krank und gespalten, anders

rinnt ertastet

die Zeit. Und

ist kein Ort,

 

Wort: der Väter Gebein,

 

lichtschnell

im Prozessor Gott: Ein Foto

auf der Platte.

 

Das Auge

mit dem Blinkpunkt geht

durch keinen alten Grab

Stein mehr.

 

Ist seine Melancholie/

im Fernsein hier,

und wird Nie lernen.

 

4

Aus wars schon immer.

Wie die Gestirne die Jahre. Ach,

schon ist es September.

Langsam neigt sich ihr Lauf.

Als wir erwachten,

war immer noch Null,

die wir dachten.

 

Zweifel, der Zweiffel, der Teiwel.

 

Der Diet.

 

Was geht da vor und stottert nachts,

kommt ohne Haut und Mund

zur Tür herein -

ein Und, ein Hund bellt noch wie früher.

 

Was dreht sich im Kreis, wenn meine Hand

sich bewegt, hier im Licht,

von dem ich nichts weiß.

 

Was ist`s, was fehlt, und doch die Stimmung macht?

Der Tod ists, der lebt, solange

wir leben, und nichts/ als gedacht.

 

 

FELDER UND GABELN. ALLERHERRGOTTSFRÜH

Was riecht noch, gabelt

mit Mist. An einer Kreuzung

kein Hof. Oder ein Frühstück

auf Holztellern wie eine Sehnsucht.

 

Büffelmilch um vier Uhr Früh, einmal

nur fühlst du den Morgen. Dann ist er

für immer vorbei. Gabelt sich. Die Nase

zum Zinken. Blutet der Finger.

Die Todeskarte ist

von jetzt ab gezinkt.

 

Der Kinderzug, die Wusch pfeift nie mehr um Vier.

Die Frische vergangen. Fährt

unter den Großen Wagen. Achsen und Felder

im Hirn vermessen der Erde ein Loch.

 

 

BERGKIRCHE IM DUNKELN

Kein Mensch mehr hier, die Steine sind allein.

Kein Sturm läßt jetzt das Fieber ein,

die Pest die Schwarze Pest das Herz,

hier knarrt die Trauer.

Wenn unter Heiligen im Dunkeln,

das Uhrgefäß der Engel, unser Denken schlägt,

dem Nichts entgegengeht.

Die Toten schlafen lang im Raum,

die Gruft war älter schon, der Totenkopf

im Fenster sinnt jahrhundertkalt,

als wär ein wenig Nie

vergangen.

 

Die Silben Tränen waschen noch,

es rührt sich hier im Satz,

was nicht mehr ist,

Zum Sterben traurig ist

Verlassenheit.

Nur diese Turmuhr läßt sich gehn.

 

1975. 1991

 

 

 

ES GEHT ZU ENDE WAS BISHER WAR,

und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,

wir werden uns nie mehr wiedersehen,

wir werden vergessen.

 

Man siehts an der Luft, an den Augen der Leute,

überall rollen sie die Erinnerungen ein,

heut sah ich Fotos der siebziger Jahre, da waren

wir jung und alles schien offen,

du stiegst in den fahrenden Zug,

der kam nie an,

und fuhr ab nur zum Schein.

 

Alt sind unsere Gefühle geworden.

Und oft ist es kalt und du spürst nur Gewohnheit,

als wäre über den Augen ein Schleier,

und wir gehen mit Abwesendem um.

 

In allem spür ich schon das Vergessen,

und die Leute sehn mich gar nicht mehr an;

so denk ich: vielleicht bin ich plötzlich gestorben

und hab`s nicht bemerkt, bin unsichtbar geworden.

 

Es ist nicht nur die Liebe die jetzt vergeht,

es ist nicht nur Eiszeit der Sinne, es liegt

ein Stillstand um uns in der Luft, der uns Angst macht

und uns den Atem verschlägt.

 

Denn es geht zu Ende was bisher war,

und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,

wir werden uns nie mehr wiedersehen,

und wir werden vergessen am Leben zu sein.

 

 

 

UTOPIE. EINE SCHWARZE KIRCHE

 

Die goldne Zinne beschützt noch immer

die Stadt, spinnt

Glasbläue von Berg zu Berg und

Steintränen ins Gemäuer.

Taubenweiße von Fenster zu Fenster.

Da öffnet der steinblasse Turm seine Augen,

der Augenblick schwingt:

Herz der Schwarzen Kirche - die Uhr,

zerschlagen von Stunden, holt

aus ihrem Gedächtnis wieder

die Zeit.

 

 

SCHWACH nur

ein Echo

 

Der Auszug

 

Geschwärzte Chroniken leuchten

In Museen

 

Von Westen her täuschend

Ein Licht, gekonnte

Sonnenuntergänge

Rot/ Freizeit Ferienfreude Und

Zweihundertfünfzig Sorten Brot

 

Ein Blitz, eine Wolke

Als wäre Natur

Verführt und das Licht

Du mein halbes Auge

 

Schön dieses Mutter

Land

 

Woher wir kamen

Vor fast tausend Jahren

Dort kommen wir wieder an.

Mit Grabsteinen im Gepäck.

 

 

 

LANGE NACHHER

(angekommen, aber nicht da)

träumst

du dich fort, so

wird der Tod

wahr.

 

Es war einmal

ein Land, sogar zwei

irgendwo weit

wie ein Leben

 

Jetzt sitzt es

 

Kein

Märchen mehr

 

nah und kalt

im Kopf.

 

 

 

GRENZLID

Und dann

Nach einem Jahr nach zweien

Vernarbt der Flüchtling in uns

Nachts zwischen zwölf und eins

Geht er manchmal noch um

 

Tastend die Hände verletzt

am Grenzpfahl

 

Irr ich kann es nicht fassen das Land

Hinter der Tissa der Theiß.

 

Und dann

nach einem Jahr nach zweien

Bricht das Herz

von der Stange

Über sich selber den Stab

 

 

 

 

GLÖCKNERS MOOR IM VORFRÜHLING

Die Erde wächst.

In der Schilfflöte zittert der Wind.

Hier glüht noch immer

die Frühlingslampe, mein Herz,

es zerbricht im Zink der Kokel das Eis,

unter der Weide springt in die Stille

der Weißfisch.

Auf der Sandbank knirscht schon

sommerdurstig die Vogelspur.

Im Kuckuck ruft vergangen die Zeit.

 

II

SCHREIBEN ALS POSTHUMES LEBEN

Rumäniendeutsche Lyrik der neunziger Jahre

 

Literarischen Enklaven, Prag zum Beispiel, haben wir neue Erfahrungen, große Namen wie Kafka oder Rilke zu verdanken. Vom Rand kamen auch Canetti und Celan, sie verschoben Sprachfähigkeit ins Unbekannte, hinaus bis an die Grenzen des Schweigens. Und in die rumäniendeutsche Enklave mit ihren extremen Erfahrungen, gehört nicht nur der Bukowiner Paul Celan; inzwischen hat der Literaturbetrieb es zur Kenntnis genommen . Ihre Autoren haben freilich nur den Erfahrungshintergrund gemeinsam: die problematische Geschichte ihrer Herkunftsgruppe in Siebenbürgen, im Banat, in der Bukowina, Nazizeit, rote Diktatur, schließlich den Welt-Wechsel; dieser Hintergrund tritt nach der Ausreise zurück, mit ihm die Basis des Zusammenhalts, damit auch der gemeinsame Name. Und die "Wiedervereinigung" von rumäniendeutschen Ost- und Westautoren seit 1989, der Austausch hat außer Tagungen wenig gebracht. Im Gegenteil: Die Auswanderung der Leser und Schreiber ist beschleunigt worden, das Ende näher gerückt. Heute empfindet mancher schon den Namen "rumäniendeutsch" als Stigma.

Warum dieser Stil der Enklaven (und der Emigration) gegen das Zentrum vor allem nach 45 so wichtig wurde, hängt mit den deutschen Brüchen und Höllen zusammen, die dieser Stil in einem neuen Sprachbewußtsein spiegelt: der Bruch mit dem Pathos und der Feierlichkeit, der Sprachlüge des Gefühls im historischen Vakuum des Zentrums. Klaus Manns "Mephisto" wäre dazu zu lesen; Gründgens und Hitler gehören zusammen.

Zu diesem Aufstand wider das kaputte Höllen-Zentrum gehören freilich auch die "Enklaven" Wien und das Helvetische (beginnend mit Frisch und Dürrenmatt) in ihrem reflektierten Sprach- Bewußtsein; wobei nicht zu vergessen ist, daß Österreich seit Hofmannsthals "Chandos-Brief", Nestroys Wortspielen, seit Fritz Mauthner, Karl Kraus, Wittgensteins "Tractatus" lange schon Mittelpunkt der Sprachskepsis und Kritik war. Da auch hier, ähnlich wie in den Minderheitsliteraturen, in einer "geborgten" Hochsprache, deutsch, gedacht werden mußte, wuchsen Kritik und Verletzlichkeit, besonders bei jüdischen Denkern wuchsen sie aus der abgründigen Differenz und Haßliebe, die eine enorme Sprachintensität und Hellhörigkeit hervorbrachte; Paul Celans Gedichte sind geschrieben in der Sprache der Mörder seiner Mutter. Das Intimste, die Kindheitserinnerungen werden bei ihm davon angegriffen, sogar korrigiert. Dieses aber geschieht auch bei jenen, deren Eltern, wie bei den Rumäniendeutschen, mit den Mördern mitmarschiert waren, im Einzelfall selbst Mörder gewesen waren.

Dazu kommt die verdorbene eigene Provinz- und Familiensprache, die im Gefühligen, Begriffslosen darniederlag, und in ihrer Wehrlosigkeit mitschuld am Desaster war, derer man sich aber schon in der eigenen Intimität schämt, und die ebenfalls die Erinnerung ins Unartikulierte niederdrücken, zum Haß auf diese Herkunft Anlaß geben; spät nun ist dieses auch artikuliert worden, etwa bei Richard Wagner, Herta Müller oder Johann Lippet. Ernest Wichner weiß von einem "Menschenhinterhalt" der "seltsamen worte des dorfes in der seltsamen grammatik des dorfes zu seltsamen sätzen des dorfes" und daß "den bauern die sprache im halse festfror und sie würgte" in einem bisher nur durch Lesungen bekanntgewordenen Prosafragment über sein Banater Dorf.

Schon bei den Pragern Kafka oder Rilke werden Kindheitserinnerungen und Herkunft verworfen aus dem Wissen von der Misere "verdorbener Sprachabfälle" (Rilke) einer Niederung geistloser Mündlichkeit: "Kein Wort im Gedicht, ich meine hier jedes 'und` oder `der', `die, ``das`) ist identisch mit den gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worten", schreibt Rilke am 17. März 1922, einen Monat nach Vollendung der "Duineser Elegien". In Karl Kraus` oder Wittgensteins Sprachtheorie ist ebenfalls ein Abgrund zwischen mündlicher Alltagssprache und SCHRIFT wider die Erfahrung sprachlich-sozialer Deprivation; und aus dieser bewußt gewordenen Sprachnot gelingt der Sprung über den Abgrund in ein vom Alltag verdecktes geistiges Niemandsland. (Vgl.. dazu J.P. Stern, Worte sind Taten, Bemerkungen zum österreichischen Sprachbewußtsein, Merkur, 8,1989). Fremdsprache Deutsch, ein Paradox als "Herzwerk" und Sein; aus dieser Dissoziation wird ein atemberaubender Grenzgang ins Nochniegewesene möglich.

 

Bei den Rumäniendeutschen war dies ähnlich, ja noch extremer. Freilich geschieht Schreiben jetzt schon post festum: Die "Aktionsgruppe Banat", Basis des Erfolges, gibt es nicht mehr, es gab sie im Westen nie. Als wäre sie ein Werbetrick gewesen, ein kleiner Teil, der sich fürs Ganze ausgab. Eine literarische Rückschau und Bilanz in Form einer Anthologie hat Ernest Wichner 1991 bei Suhrkamp herausgebracht ("Ein Pronomen ist verhaftet worden"). Im Ausnahmezustand ist das Einfachste paradox, wie schon dieser Titel; auch nach der Übersiedlung nach Deutschland nimmt das Absurde nicht ab. Man negiert, wovon man literarisch lebt, legt den Namen ab, der den ersten großen Erfolg der rumäniendeutschen Literatur im "Mutterland" gebracht hat; dieses Syndrom spiegelt nur den heillosen Zwischenzustand im Niemandsland von Vaterland und Muttersprache, in dem diese Autoren leben und schreiben mußten, und noch leben müssen; abgründige Intensitäten im Stil, der diesen Bruch spiegelt, Aufsehen erregt hat, und jene Autoren, denen dieser Spiegel nicht gelang, in der Vergessenheit zurückließ. Freilich geht diese legitime Ungerechtigkeit oft zu weit, vor allem ältere Autoren wurden von den Erfolgreichen verdrängt.

Ähnlich wie Paul Celan, der Auschwitz, Hiroshima und den Gulag, anders als seine älteren Bukowiner Kollegen, auch stilistisch übersetzte, und so weltbekannt wurde, gelang dieses zwei Generationen moderner siebenbürgischer und banater Lyrikern seit ca. 1965 von Oskar Pastior bis zu den Jüngsten K. F. Schneider oder Hellmut Seiler. Es ist ein feinstilisiertes, weil posthumes Wortleben unter Druck, das im Destillat überlebt, "einen Verlust zu orten, der jenseits des geographischen einen geistigen Ort betrifft: die Verflüchtigung der Realität zur Abstraktion," schrieb Edith Konradt in "Halbasien" (2/91), und diese Verflüchtigung, die Todesgefühle mit sich bringt, ist die im Wort aufgehobene Krankheit eines verlorenen Lebens.

In einem Vortrag (Januar 1987) an der Universität Triest hatte ich die These aufgestellt, daß diese moderne rumäniendeutsche Literatur eine Literatur nach dem Ende ist; Claudio Magris, der Fachmann für Untergangsliteratur nahm im "Corriere della Sera" diesen Gedanken auf: "In seinem Vortrag in Triest sagte Schlesak, daß erst nach Stalingrad für seine Landsleute die Möglichkeit einer wahrhaften Literatur begann, aus dem Bewußtsein und der Erfahrung einer Zerstörung des perversen Herrschaftstraumes." (Corriere dela Sera, 8. Februar 1987. Vgl. dazu auch Gerhardt Csejka, "Der Weg zu den Rändern", Neue Literatur 7/8, 1990/91, S. 99).

Paradox ist weiter, daß es nun nach 1989 ostrumäniendeutsche und westrumäniendeutsche Autoren gibt, daß "zu Hause", wo nur noch wenige Schreibende leben, - Schreibfreiheit, Austausch, sogar die "materielle Basis" heute gesichert schien: es gibt eine von Bonn finanzierte Druckerei, Papier, Geld, eine "Stiftung", die Zeitschrift "Neue Literatur". Ein ost-westlicher Brückenbau sollte stattfinden, der das alte Ost- und Ostmitteleuropa, nicht nur Rumänien, einbezieht. Eine rumäniendeutsche Reihe "Obulus" (in Koedition mit dem österreichischen Wieser Verlag) war geplant. Alles Illusionen. Die "Marktwirtschaft" hat in Rumänien die Kultur erledigt. Autoren und Leser folgen dem Sog des Ost-West-Gefälles; von den einst ca. 750 000 Deutschen (1939) leben nur noch etwa siebzigtausend in Rumänien. Das Aus ist absehbar. Eine alte, über achthundertjährige Kultur stirbt.

Die rumäniendeutsche Literatur geht damit um; ihr Erfolg beruht auf ihrem Abschiedspathos, "Schwanengesang" nach dem geschichtlichen Ende. Sprache notiert, was auch sie befällt, ("der hohe himmel als nabel des nichts,/ die schreibmaschine ist tot und vollkommen/ der friede." ( Franz Hodjak,"Siebenbürgische Sprechübung", Suhrkamp 1990). Verse des lyrischen Abschiedsexperten Franz Hodjak, dem "Sprachgrenzgänger", der am längsten im Raum zwischen den Ländern in einer aufreibenen "Zwischenschaft" gelebt hat; heute lebt er in Deutschland. Die "tote schreibmaschine" oder der verbotene Mund nicht nur, sondern auch die "zu Hause" ganz konkret verlorene deutsche Sprache, dann der ganz konkret verlorene Heimatort durch Auswanderung der Nachbarn, Verfall, Auslöschung der Gemeinschaft, hat auch ihn zur Aus-Reise gezwungen.

Das Aus der bisherigen Kulturlandschaft in Siebenbürgen und im Banat macht das Leben zu Hause unmöglich; die meisten haben ihr Land verloren, das Leben ist zu einem Posthumen geworden, in einem Hodjak-Gedicht (sächsisches dorf im unterwald) heißt es: "den kirchberg herunter kommen grabsteine, heuschober/ und verlaufne hunde.../ an sauber geweißten häuserfronten deuten jahreszahlen/ in die goldne vergangenheit der zukunft.../die stille abends ist so tief/ wie kurz vor dem weltuntergang./ niemand wird hier, falls er eines tags/ doch noch kommt, etwas/ merken davon."

Radikaler bis zur Aufhebung sogar dessen, was dafür steht, der Sprache, geht Ernest Wichner in seinen neusten, nur durch Lesungen bekanntgewordenen Texten über den " Untergang seines Dorfes; vor dieses Dorf wird, in der Kafka- und Bernhard-Nachfolge, gnadenlos als ein "gemeiner menschenhinterhalt, der unablässig auf vergeltung für einen selbstverschuldeten zustand sann", und erst "aufzuheben war nach vollständiger entvölkerung" in vernichtende Sätze gebracht. Es is eine Verfolgung durch die KunstNatur der Enge und das Klischee selbst, aus dem in seriellem Verfahren, Text im Text im Text, ja durch Spiegelung ritueller Erstarrung in Montage und Kombinatorik ein Entkommen erst möglich gemacht wird, ein Entkommen durch Auflösung des Inhaltes, wie die "Erlösung" des wirklichen Dorfes selbst erst im Untergang möglich wird. Diese urbane, ja postmoderne Antiidylle ins Dörfliche bei Wichner, das an Kafkas "Dorf" erinnert, bezeugt, daß hier tatsächlich einer, der die "Banater Randzone frühzeitig verließ, über die literarische Sozialisation im "Zentralgebiet" zur intensiven Sprache des Randes" zurück-fand, wie es der Kritiker Gerhardt Csejka beschreibt.. Was uns alle unvergessen verletzt hat, immer noch verfolgt, ist als Sprache im Untergang erst versöhnbar.

Eigene Texte und Erfahrungen bei jüngsten Reisen ins "Zu-Hause", die in die Zukunft des Unversöhnten weisen, zeigen mir - über meinen Kopf hinweg - daß die neue chaotische Normalität nach 89, die in Städten und Dörfern anzutreffen ist, nur einen innern Zustand der gefährlichen Öffnung von alten Wunden widerspiegeln, und daß das Vergessene vehement hervorbricht. Daß sich die Realität schizoid wie in einem Déja-vu mit vergessenen Szenen und hochkommenden übelkeits- und schwindelerregenden Traumfetzen mischen kann; Rache des vergessenen "Zuhause"? Die Grenze zwischen real und halluzinativ wird gefährlich aufgehoben." Nach einer dieser Heimreisen notierte ich: "... Träume, die ich jetzt da vor mir sah, kamen hoch, wie verletzt die Hornhaut, die sah, floß aus, dachtest du, wer war denn ich, der hineinschaut ins Bild, das ich lebte: weit noch bis zum Zentrum, wenn ich durchdreh, sagte ich zu den Insassen im Bus, da es der Koberwagen schien zu sein, im Bild, wenn ich durchdreh bringt mich nicht hierher in die Psychiatrie, ich weiß, was sie war, schafft mich wieder ins Aus Land nach Haus." (1992, unveröffentlicht). - Flucht ins Aseptische? Als räche sich nun dies aus dem Ausnahmezustand entlassene, wenn auch altgewordene "Zu-Hause", "die Verflüchtigung der Realität zur Abstraktion," wie Edith Konradt zu einem Vers aus meinem Band "Aufbäumen" ( Rowohlt, 1990) bemerkte: "Riechst du die weiße Blüte Kopf,/ die Transparente, ein Spruch:/ wär ungereimt der Spott dein Vater/ Land?" - Es ist nur eine altgewordene Grabwand, denn der hinter ihr dort Verscharrte erweist sich jetzt als nur scheintot.

Extreme Lagen bringen im Schock Erkenntnisgewinn, und wir, einmal davon geprägt, können uns lebenslang nicht mehr entziehen; es ist nicht nur ein Schatzhaus der Sprache und der Erfahrung, es ist ein Mehr an Unentrinnbarkeit: "das Land, das Leben", wie Werner Söllner schreibt. Unter Druck wird erkennbar, was in der Gegenwart verdeckt, Geschichte macht, die neue Bodenlosigkeit, die mit einem, wenn auch Verlorenen umgehen muß, einmal doch "Boden" war, der noch so gehaßt, nicht aufgibt, beispielhaft zu sich auflösenden Menschengestalten Dörfern und Städten, Häusern und Gassen zu werden, glänzend klein beigibt im Gedächtnis, als nichtendenwollender Abschied erkennbar wird: wie Sterbende meist, vom Verschwinden erhöht werden und gereinigt.

Schon durch die Diktatur war das "Wohnen kein Ort" mehr, wie Herta Müller in ihrem Buch "Barfüßiger Februar" schrieb. Christa Wolf nannte es für die DDR: "Kein Ort. Nirgends". Verhindertes, vergeudetes Leben. Securitate, Stasi erzeugten einen permanenten Ausnahmezustand; etwas Irres; wo öffentliche Formen zerstört waren, entstand wider staatliche Unterwelten die Solidarität der Angst. Bei Herta Müller löst Aus-Wanderung die bisher "stehende Zeit". Die Revolution 89 hat sie noch radikaler aufgelöst. "Stehende Zeit", Täuschungen des Raumes. Als wäre Realität - das Stück eines irren Poeten, Plagiat, Fälschung gewesen.

In Herta Müllers Buch "Barfüßiger Februar" gibt es zwei konkrete Metaphern dafür, "die tiefe Stelle" im Boden "am Kriegerdenkmal," die aufrüttelt, so das Ende anzeigt und die "stehende Zeit", die in jedem Ostbewohner quälend da war, Resultat der bewachten und eingefrorenen Geschichte. In Richard Wagners Roman "Ausreiseantrag" wird diese Lüge, diese vorgetäuschte Realität einer stillgelegten Zeit so beschrieben:" Er sah Nelken, die Nelken täuschend ähnlich sahen...Er sah in Cafés, die Cafés täuschend ähnlich sahen. Kaffee haben wir heute nicht. Er blätterte in Zeitungen, die Zeitungen täuschend ähnlich sahen". Sportnachrichten, nur ihnen ist zu trauen, alles andere täuscht, lügt.

Nur im Negativ, als Paradox war zu sagen, was ist. Abschiedsgedichte im schon Posthumen ("gibt es einen tod, der dem tod/ sinn verleiht?// die nachwelt winkt aus dem zug." ( Hodjak, kleine elegie). Sie zeigten und zeigen nun aufs Neue wieder, daß es sich um eine gestundete, künstlich aufgehaltene Zeit gehandelt hat. Wahr sind dagegen Hypostasen des Fremden, wo auch die Sprache sich von Satz zu Satz wundert, daß sie noch da ist, und es sagt. Das sind Röntgenblicke in die Gegenwart aus einer noch sinnlich erlebbaren Abschiedssituation, Modell auch für die übrige Welt, wo dieses freilich so scharf nicht mehr wahrnehmbar ist, es sei denn in der Naturkatastrophe oder der Pychiatrie.

Aus Bruch-Erfahrung verdichten sich in dieser kleinen Literatur epochale Wahrheiten: Illusionen des Raumes, der Zeit, Illusionen der Sprachlogik werden entlarvt. Dieser Bewußtseinszustand ist für westliche Leser schwer nachvollziehbar, doch er betrifft den Endzustand Westen genau so; und bedingt eine neue Ästhetik paradoxer Logik. Diese Erfahrung ist seit 1989 nicht mehr exotisch, abschiebbar, sie gehört in das vereinigte Deutschland; unsere Erfahrung ist radikaler als die ostdeutsche, doch mit ihr verwandt. Heute, wo der sichtbare Gegner verschwunden ist, wird alles unübersichtlich tödlich: "du bist stark bloß als gegner./ die stille, sie zimmert kreuze,/ und langsam wächst dir das gras in den mund." (Franz Hodjak). Wenn jeder ein Schattenriß seiner selbst ist, muß die Form des Abschieds, die Elegie, aber auch alle andern Formen verändert werden, da seit 45 Geschichte die Erfahrung überholt.

Bei Klaus Hensel zeigt sich in jeder Form dieses Paradox: je klarer und genauer die Beschreibung ist, umso absurder wird etwa der Niemandsland-Status des nie Ankommenden: "Ist man nicht, dort wo man ist, /Ist man in Deutschland, wo/ Man nicht lange ist, / was man nicht sein darf." ("Stradivaris Geigenstein," Frankfurter Verlagsanstalt, 1990) Parodien, Grotesken, streng geformte hirnsyntaktische Kurzgedichte entstehen. Auch das Alltagserlebnis wird im Sozialchock eingeformt ins Transzendente zwischen Volkslied und Celan: "Hebst du dann /im Durst das Sandglas/ Halt kurz ein/ Gieß dich dazu."

Zurücknahme der Welt in ein feines Sprachgespinst bei Hensel, bei Ernest Wichner, bei Werner Söllner, vor allem bei Oskar Pastior, zeigt, daß das Extreme zusammengehört, sich als Paradox aushält. Bei Pastior mit Lautvariationen einer Zwischenschaft, dem unheimlich Vielfachen eines Assoziationsgeflechts: "Aber das Vokabular wäre kein Vokabular...keine wiedererkennbaren Wörter...Einmal Angeordnetes so hinzukriegen, daß der Bug am Don nicht wiederzuerkennen wäre." "Kunde und Kündigung in einem". ("Feiggehege," Literarisches Colloquium Berlin, 1991) Was die Sprache befreit, inspiriert und der Leser wird mit Lust "wortrunderneuert," auch wenn Pastior der Sprache schier mathematische Formen, so das Palindrom, verschreibt, wie in "Kopfnuß, Januskopf" (Hanser, 1990); und neuestes juxvolles Pastiorisieren finden wir in einem neuen Band: "sprach der truchseß zum ramses: sanfte!/ (sollst umgehen mit dem senf du- das/adverb verlangts) - full bock auf sam/lands widerspruch an rupfen." ("Vokalisen & Gimpelstifte". Edition Akzente, 1992).

In eine hintergründige Harmonie führt Werner Söllner in seinem jüngsten Band ("Der Schlaf des Trommlers", Ammann, 1992) das Zersplitterte zurück, zögernd Tradition setzend mit Celan, Huchel oder Hölderlin. Doch der innere Aufruhr ("Aufruhr, vom Sinn, der sich staut in der Leere",) weicht der Gewöhnung, dem Wahrnehmungsverlust. Neu wird vieles nach 1989, wenn (ironisch) "die Barbaren", die "letzten Blumen aus Stacheldraht" zertrampeln und vom Westen den "Lohn der Geschichtslosigkeit" fordern, den "gerechten Anteil an Coca-Cola", "am kleineren Übel und an der Freiheit, sich... / gegen sich selbst/ entscheiden zu können..." Söllner gedenkt "einiger Freunde" , "die im großen Gerede/ un- kenntlich werden..." "Ein dichtes/ weißes Pulver.../ ein gemahlener Eisberg..." hüllt in der Fremde des Zerstreutseins im Westen alle ein; dünn die Eisdecke. Streng im Vierzeiler ein Reim darauf: "Kein Leck im Boot,/ in der Haut kein Loch. / Die Freunde sind tot/ oder sterben noch." (Am Bodensee). Bodensee: der alte Reiter. Einige sterben lebend an dieser westlichen Kälte. Drei Autoren sind in den Selbstmord getrieben worden, zu Hause noch Georg Hoprich , Roland Kirsch, Rolf Bossert ging kurz nach der Ausreise in Frankfurt in den Freitod. Joachim Wittstock hat in seinen Aufsätzen in den für ihn typischen Umgehungen taktvoll entscheidendes dazu gesagt. ("Die neue Schuldlosigkeit", Vortrag bei einem Autorentreffen Dezember 1990; "Die Emigration nach innen und andere Ortsveränderungen", Neue Literatur, 7/8, 1990/1991).

Es sind mehrere (lebensgefährliche) Intensitäts-Faktoren, die diese Lyrik prägen, und das Leben der Autoren schließlich auch gefährden: existenziell am bedrohlichsten war für viele das Leben in der Diktatur, dann der Systemwechsel, am wenigsten wohl das Leben als Enklavendeutscher. Doch kommt noch etwas entscheidendes hinzu, Wittstock spricht es behutsam an: diese Zeitkrankheit: zu meinen, nur Opfer und schuldlos zu sein, Umkehr und verkehrtes Spiegelbild der Ideologie bei den Jüngeren, die extreme, bis zur Unduldsamkeit gehende Ratiogläubigkeit und transzendentale Heimatlosigkeit, die sie in existentiellen Grenzlagen, wo Ratio versagen muß, hilflos und schutzlos macht.

Die Sozialisationsbedingungen haben sich auf das Sprachverhalten prägend ausgewirkt, die betroffenen Autoren sind mit einer besonders verletzlichen Subjektivität begabt und zugleich geschlagen; bei Menschen "vom Rand" gibt die Sprache "ihr repräsentatives Dasein auf, um sich bis an ihre Extreme, ihre äußersten Grenzen zu spannen," können wir bei Deleuze und Guattari in ihrem Kafka-Buch "Für eine kleine Literatur" (edition suhrkamp 807, S. 33) nachlesen. "Schon fielen Sträucher über mich her,/ mit Handvoll Steinen/ Stach ich im Schreien auf," schreibt der noch in Hermannstadt lebende Joachim Wittstock in seinem Gedicht "Sprache": "Der deutschen Sprache aber ausgeliefert,/ die fürs Ungeschaffene Benennungen bereithält, / der Unersättlichen ausgeliefert, / was kann ich durch sie?" ( In: "Der europäische Knopf", DIPA, Frankfurt am Main, 1991).

Die Diktatur hat die Verletzlichkeit und die Sprach- Hellhörigkeit in ihren Gefahrenzonen, die ja sprachliche waren, noch verschärft, sie hat die Autoren überwacht, zensiert, verfolgt, offen waren die Abgründe des Absurden, die Sinne der Autoren für das Absurde geschärft. Auffallend etwa beim Banater Helmut Britz, einem der wenigen, die noch zu Hause leben ( wie Ursula Bedners, Anemone Latzina, Balthasar Waitz, Hella Bara, Juliana Modoi, Marius Koity u.a.). Britz hat schon vor 89 im Gedicht eine Zurücknahme von Welt, Zurücknahme in der prognostischen Wahrheit betrieben: daß alles schon gewesen ist, daß alles schon vergangen und doch noch da ist, bis in die kleinste Einzelheit: "Auf den Wiesen blüht Hühnerfutter, in den Büschen das/ Brennholz." (Schorfeis. Gedichte. Dacia Verlag, Bukarest 1989) Das Auseinanderfallen ist hier noch sinnlich wahrnehmbar, daher umso schmerzlicher. Verschwinden "zu Hause", das sich unter unseren Augen auflöst, Metapher für den Zustand dieser Zivilisation, wo das letzte Fünkchen Gegenwart verschwindet.

Dazu kommt der Zerfall von Sprache und Logik, die zum Absurden führt. Sprache in einer Diktatur war andauernd überwacht, Sprachgefahr wurde kraß und körpernah erfahren. Den Ekel vor dem Eindeutigen und Parolenhaften empfinden Leute, die unter dem Diktat von Losungen und Phrasen täglich leben mußten, als physischen Ekel, er steigert sich bei Autoren bis zur Ablehnung des roh Realistischen. So bei Oskar Pastior, Pastior ist der Meister kleinster Einheiten, aus Wort-Atomen neuen Sinn, Übergänge, Zwischensinn im Zerfall zu splitten. Darin liegt auch Spaß, Befreiung, ja, Freiheitsgefühl, nicht nur einem Land, der Biografie, sondern nach innen gehend, sogar dem rationalen Wortzwang zu entkommen: "Man erzähle mir keine Story. Fasten und Listen hingegen, etwa im Flugzeug, wären Aufgaben des Ohres an den sukzessiven Großen und Kleinen Belt." Sinngeflecht, fliegend: Fasten the Belt.

Alte und neue Existenzschwierigkeiten und Brüche verändern auch bei den Jüngsten die Sprache: Horst Samson, dann Klaus F. Schneider und Hellmut Seiler sind zu nennen, alle drei haben, gemessen am Talent, zu wenig Beachtung gefunden. Bei Schneider ist sie witzig und detailbesessen diese Sprache, die sich "auf die Socken macht": "häufen sich die vorwürfe - wasche ich meine socken/ um zu beweisen: daß ich kein loch in die welt lese..." Resignative Hoffnung scheint nur im Einsturz auf, im Negativ des Wirklichkeits-Films: "auf den wellenlängen der hirnwindungen/ stürzt satzweise die decke/ der wirklichkeit ein./ eine müde alte welt wird aufgeteilt/ computer bestätigen es/ das jüngste gericht wird boykottiert; /kaufen wir uns also einen pudel/ und folgen den rednern ans kalte büffet." ( "Ein Morgen im Eisberg," DIPA- Verlag, 1990). Immerhin, des Pudels Kern bleibt als ironischer Zersetzer; der Kopf, der dichteste Ort des Alls als letzte Realität.

Der Zerfall im Vers spiegelt einen realen Zerfall: daß es nirgends mehr einen stimmigen, einheitlichen Lebenshintergrund gibt, der (wie früher einmal, allerdings erzwungene) Einheit verbürgt, dies wird von jenen, die sich wie Posthume empfinden, schärfer und schmerzlicher erlebt, als von den Einheimischen, so etwa die Spaltung Realität bei Schneider: "- meine wirklichkeit ist die wirklichkeit meiner sprache./ - die wirklichkeit meiner sprache/ ist nicht die wirklichkeit in der ich lebe."

Bei Hellmut Seiler heißt es, wie in einer erstarrten Marionetten-Sprache: so "verspüre ich eine/ schadenfrohe genugtuung sobald/ ich eine zeile darüber hinkriege/ worauf ich mir keinen reim machen kann/ die etwa der gleicht die ein geldfälscher/ haben muß wenn er `die fälschung dieser banknoten wird gesetzlich bestraft' fälscht..." (falschmünzer).

Die Querverbindungen zu andern, vor allem siebenbürgischen Autorenkollegen sind vielfach, weil es die gleiche Erfahrung ist. In der Diktatur herrschte noch übersichtliche Klarheit in der Not, nacher verwischte sich alles wieder im neuen Nebel. Die Umkehrungen aber bleiben im bodenlosen Raum, Sprache stellt sich auf Paradoxes, ja, Unsagbares ein, sogar der Nexus Kausalität ist unterbrochen, Zeitfolge sowieso, ein ganz "moderner" Zustand verkürzt und dicht erlebt und im Vers besetzt, so etwa bei Seiler: "diebsgut ohne... diebstahl", "grenzgänger ohne grenzen", "verfolgte ohne verfolger", Vakuum der Abwesenheiten, "kopflose kissen auf küssen ohne mund" - und eine komplette Systemanalyse aus schockartiger Neuerfahrung im verkürzenden Schlaglicht des Verses, womöglich im Kaufhaus: "geständige, verbrauchte verbraucher,/ aber keine geständnisse. hartgesottene/ zeichen im düsteren licht ihr unterwegs-gewesen-sein-wollen nach..." Ja, wohin, wohl, nach Godot? Was im Osten erzwungen war, wurde hier von den Leuten ganz freiwillig ihrem System entgegengebracht, als wären z.B. alle Einkäufe handfeste "Geständnisse". "Es ist nicht alles in Ordnung, aber ok", wie Werner Söllner einen sterbenstraurig-heftigen Prosa-"Monolog" nennt, der so anfängt: "ich glaube, ich bin gestorben." "ist wer angekommen?"Sei ruhig, der rote-rote fuchs ist tot." Na und? Was interessiert das noch einen, daß er der Diktatur entkommen ist, wenn er selber "tot" ist. Seiler: "Ich bin mir gänzlich/ abhanden gekommen." (Seiler, ankunft II). Lang her? Einge Jährchen dauert der Zustand. Und jetzt ist ja sowieso die Grenze offen, also gibts jenes Land, aus dem man ausgereist ist, das als Vergleichs- Spiegel für den neuen Zustand diente, gar nicht mehr. Doppelte Bodenlosigkeit, der sogar die Kontur nun fehlt! da "geistert ein phantom:/ Siebenbürgen, ein vexierbild/ unauffindbar." Ein "von gott verlassener acker". Seiler hat inzwischen eine feste Anstellung, unkündbar als Gymnasiallehrer in Backnang. Also dann? Die Wunde wird verheilen. Inzwischen sind daraus Gedichte geworden: "trete ich beiseite/ um nicht überrannt zu werden/ machen sie einen außenseiter/ aus mir.// mich immer wieder unter schlägen aufzurichten/ was ist das doch auf die Dauer/ für ein mühseliger/ aufrechtgang." Die Diktatur erhitzte die Freiheits-Phantasie, als gäbe es tatsächlich ein Leben anderswo, ein völlig normales Leben; und jetzt? "was ich - diesen vorstellungen /verhaftet - meinen lebenslauf nenne/ ist bloß, gestellt/ eine gewaltige abweichung/ vom vorgestellten leben." "vielleicht aber ist unser da-sein/ nur die allegorie eines möglichen/ und weiter nichts". Was aber bleibt, ist doch nichts - als die "siebenbürgische endzeitlose" - oder die Endzeitlose überhaupt.

Zurücknahme von Welt im feinen Gespinst unsichtbarer Verbindungen einer Hirnsyntax: So auch beim Banater Horst Samson, der erinnert das Unvergessene wie einen gespannten Bogen: "... Sein können. Der Karpatenbogen bleibt/ Gespannt. Unsere Zeilen sind// Frei. Im Kopf/ Da verbrennen wir// Die Berge." ("Wer springt schon von der Schiene", Nosmas-Verlag 1991). Die Collage wird angewendet, da Unstimmigkeit Stilvielfalt je nach Lebensaugenblick Welt-Übersetzung nötig macht, das Lebensstückwerk einzusammeln. Am ruhigsten bei Werner Söllner: wohl wissend: "Was uns am Ende erreicht,/ ist ein geschriebenes Glück." Niemands-Land des Wortes, einziges Land, Destillat, Geist, und fast schon negative Theologie: "In der Dunkelkammer des Kopfes fällt/ manchmal ein Wort, der Trobünt/ nimmt Gestalt an und lügt/ in Gottes Namen und ruft/ im Niemandsland Nacht, das mich/ aussetzt und hält."( Niemandsland). Doch gerade diese "Dunkelkammer" erlaubt Substanz: "Wovor dir graut: was vergessen ist./ Ist die gerettete Haut/ auch eine List?" Komplexes Zusammenspiel von erfahrener Absenz mit dem erweiterten Wortsinn zu einem dichten und verschränkten Gebilde. "Schreib in offnem Gelände/ uns beiden ein Stück/ vom verstümmelten Ende/ zum passenden Anfang zurück." (Kleines Emigrantenlied). Was bleibt, ist Sprache, Macht in der Ohnmacht, ihr Wirklichkeit verliehen zu haben, ist das Verdienst dieser Literatur, "Glück" im Unglück - Annäherung an den unvorstellbaren Anfang: "Das Haus der Welt ist schlecht gebaut, / ich sitze krumm und schief darin./ Ach Sprache, meine stumme Braut,/ sag mir, wo ich zuhause bin."

 

III

 

IDENTITÄT UND EMIGRATION

 

1

Von Marina Zwetajewa, der russischen Lyrikerin stammt ein erhellendes Wort: Bce poety jidy - alle Dichter sind Juden, d.h., sie bleiben immer Fremde und sie gehen einem Handwerk nach, das, laut Paul Celan, keinen Goldenen Boden, sondern überhaupt keinen Boden hat. Identität gibt es also für diese "Fremden" nur punktuell, nämlich im Augenblick der inspirierten Selbstherstellung via Schreiben, nach diesem Augenblick ist jeder dieser Ausgesetzten und Gefährdeten wieder entlassen und neu dem Vakuum ausgesetzt. Emigrierte Autoren spüren diese beiden Zustände: Punktuelle Identität der Inspiration und Entlassensein oder Verlassensein besonders intensiv. Und jene, die eine Diktatur hinter sich haben, dann beim Systemwechsel einen Kulturschock erleiden, dürfen als besonders Auserwählte der Identitätskrise angesehen werden.

Im Herbst 1968 hatte ich diesen Weltwechsel vollzogen und ihn in meinem ersten, im Westen erschienen Buch, "Visa. Ost West Lektionen" beschrieben:

"Brüssel oder die Irrealität. Die Aufregung steigerte sich, als das Flugzeug in Richtung Brüssel vom Bukarester Flughafen abhob. Ich glaubte zerspringen zu müssen. Bis zum letzten Augenblick dachte ich an ein Versehen, an Irrtum: Ich werde mit Sicherheit noch zurückgeholt. Der Flugkapitän wird Order erhalten Der Major an der Paßkontrolle. Doch der sah mein schwitzendes, hektisches Gesicht nur prüfend an und gab mir lächelnd die Papiere zurück. Wußte der, was in den Leuten hier vorgeht, die durch seine Sperre gehen müssen? Ein guter Job, so den ganzen Tag gewissermaßen auf der Grenze zu sitzen. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich bequem in der nach Westen fliegenden ,Iljuschin` saß. Meine beiden Kollegen, die mit von der Partie waren, schienen ähnliches zu empfinden: eine quecksilbrige nervöse Bukarester Autorin, die schon ein paarmal im Westen gewesen war, und ein rumänischer Poet, der nach achtjähriger politischer Haft zum erstenmal einen Paß erhalten hatte. Er reagierte auf alles wie ein großes Kind."

"Brüssel war die erste Station. Darauf ein Freiheitsnachmittag. Und eine blitzende, glitzernde Umwelt, Halle des Airport. Die eleganten Leute. Fremd, kühl, aber zugleich dynamisch - und wie Traumrealität; alles aus einem merkwürdigen Stoff, für den meine Sinne taub, die Wahrnehmung anscheinend unzureichend war, jedenfalls empfand ich nichts, nahm nichts wahr, sondern registrierte nur. Nun war es also so weit, wir konnten hinter den Streifen gehen, der in uns jahrelang nur von Illusionen bewohnt worden war (...) Große Unsicherheit überkam mich auf diesem fremden Planeten, einem Glasplaneten, dachte ich. Er roch nach nichts, es schmeckte nach nichts. Und vor den Augen schienen Fliegen zu schwirren; wie auf einer Mattscheibe, oder wie im Kino war alles. Das ergab eine Welt, wo ich erfahrungslos ankam; ich hatte noch keine Gewohnheiten und Erinnerungen (...)

Alles hastete, schien keine Zeit zu haben, etwas Eiliges tun zu müssen. Als könnten auch diese gutgekleideten Leute ihr Schicksal nicht annehmen, anders als die Leute bei uns zu Hause, die einfach dasitzen können, Kaffee trinken, reden, reden, Zeit "verlieren". Als hätten die hier eine Droge, ein Gift in sich, die sie so zappeln ließ. Manche hatten tote Fischgesichter. Zappelten an einer unsichtbaren Angel. (...) Ich wiederholte in Gedanken dauernd meinen Spruch : Nun aber, sieh, bist du wirklich hier ! Doch es klaffte ein Abgrund zwischen meiner Vorstellung und dem, was hier auf mich zukam; ich wartete verzweifelt, daß nun endlich das Objekt meines Erstaunens einträfe, aber nichts traf ein. Alles blieb ruhig, alltäglich, auch diese Straße mit den gelben Taxen und gelben Polizisten, es gab Nebel nämlich an diesem Tag in Brüssel. Pissman. Die reichen Geschäfte. Rembrandt van Rijn."

Schon in "Visa Ost West Lektionen" hatte ich den ersten Schock so beschrieben:

"Was würde geschehen? Eine große Unsicherheit bemächtigte sich meiner, ähnlich jener, die man in fremden, großen Städten empfindet, hier noch um eine Dimension, die des Geisterhaften, gesteigert. Wir hatten einen andren Planeten betreten. Es bringt schlaflose Nächte, wenn man noch nichts selbst setzen kann. Und eine Welt hatte sich nun aufgetan, wo es noch keine Erinnerungen für mich gab. Stark meinen Emotionen ausgeliefert, bewegte ich mich wie auf Eiern und hatte Angst, etwas zu zertreten, etwas zu zerbrechen, vielleicht meine eignen Vorstellungen von dieser Welt, die sich nun als Realität anbot, zu der es aber für mich unmöglich war hinzukommen; mein eignes Bild von ihr stand wie eine Isolierschicht dazwischen. Die Imagination von dieser Stadt und ihre Wirklichkeit klafften weit auseinander.

 

Dieser Zustand prägte mich viele Jahre lang. Doch dazu noch einige ketzerische Gedanken, vor allem aus der Literatur, die vielleicht, wie schon aus diesem Text zu ersehen ist, die ganze Identitätsdebatte fragwürdig macht, die Frage nämlich, ob nicht eher von Non-Identität und nicht von Identität als menschlichem Normalzustand ausgegangen werden müßte, soziale Identität aber fragwürdige, wenn auch überlebensnotwendige Anpassung an Rollenverhalten ist. Jeder, der sich selbst erfährt, weiß von den täglich aufoktroyierten Voreingenommenheiten, und empfindet eine Kluft zwischen der "Maske", der gelebten Person, dem kritischen Bewußtsein und dem Gewissen. Ein altes Problem der Literatur. Leben im Urteilsstreit, da die innere Stimme und das "Überich" weitgehend verloren gegangen sind, verschüttet, betäubt vom schnellen Rhythmus dieser Großstadtzivilisation.

Doch genau dieses Phänomen der Auflösung bringt nicht nur die erwähnte Non-Identität mit sich, sondern entmythifiziert das gesamte Identitätsproblem, wirft die Frage auf, ob es nicht vielleicht überhaupt in eine vergangene Zeit gehört. Botho Strauß hat in seinem Essay-Band "Beginnlosigkeit" zu diesem Zustand eines Überich und Gewissensdefizits, zu bedenken gegeben, daß es nur "geringer biochemischer Reize" bedürfe, und daß die "körpereigenen Stimulanzien" aus uns einen "anders erinnernden, anders gestimmten, anders sich fassenden Menschen!" machen. "Angst und Glück, Ruhe und Zorn, schließlich auch das Empfinden für Gut und Böse: körpereigen selbsterzeugt sind." Dieses sei " in der Geschichte seiner Abgründe ein neuer Sturz des Ich."

So einfach ist es freilich nicht. Man kann die Tradition dieses Begriffes nicht außer Acht lassen. So fand ich bei einem Theologen, bei Wolfhart Pannenberg, Meditationen zur Antizipation und Entelechie, sowie daran gebundene Überlegungen über das Unendliche; Pannenberg versucht an eben diese Vorläufigkeit des Identitätskonzepts, um diese Krise gelinde auszudrücken, anzuknüpfen. Dabei ging er, um den heutigen Traditionsbruch besser zu begreifen, eben von der Tradition aus: vom empirischen und transzendentalen Ich der Subjektlehren Hegels und vor allem von Kants Synthese des Mannigfaltigen und Einheit der Vorstellung aus, um das Ich in der Perspektive eines Gesamt-Lebenshorizontes und seiner Perspektiven zu sehen, so der Zersplitterung heute besser beizukommen. Anknüpfend an William James und Kant sieht Pannenberg das Ich als momentanen Querschnitt des Bewußtseinsstromes: "Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich" - Person. Das Ich also als "Instanz", wie es auch C. F. von Weizsäcker sieht, seine unendliche Transzendenz.

2

Ich komme nun zu Punkt 2, dem Kernpunkt dieser Arbeit: zur Frage nämlich, wie sich interdisziplinär die erfahrungsbeschreibenden Texte der LITERATUR mit der identitätserforschenden SOZIOLOGIE ins Gespräch bringen ließe. Es wird dabei letztlich doch so sein, daß ich den von den Soziologen erarbeiteten Rahmen übernehme; und ich möchte der Einfachheit halber, aber auch weil mich die Texte von Georg Weber und Armin Nassehi sehr angesprochen haben, diese Texte zum Ausgangspunkt nehmen. Ich setze mit ihrer Hilfe meine Erfahrungen und mein Material einer Alchemie aus, stelle sie in diesen Rahmen, wobei ich hoffe, daß eine Durchdringung stattfinden wird, die auf die Dauer nicht einseitig bleibt, sondern beiden Teilen "interdisziplinär" eine Ausweitung des Horizontes ermöglicht. Ich habe diese Arbeiten mit Faszination wiedergelesen, als gäbe es hier nun ein neues Begriffsarsenal, Definitionen für Zustände und Abgründe, die die Literatur unmittelbar beschreibt, als wäre sie das konzentrierte Leben selbst. Dieses ausformulierte Begriffsarsenal, das von Niklas Luhmann u.a. übernommen und auf die Emigrationsthematik, auf ein ausgeweitetes Identitätskonzept etc. übertragen und analytisch angewandt wurde, kommt so meiner eigenen Erfahrung, nun von der theoretischen Seite, entgegen, vor allem in zwei Punkten:

1.) Die wichtige Rolle des "selbstreferenziellen" Subjekts in der modernen Gesellschaft.

2.) Das angeschärfte Bewußtsein eben dieses Subjekts durch Emigration.

Ich versuche einige Anknüpfungspunkte zu beschreiben:

Zuerst zu Punkt 1: Die "selbstreferenziellen Subjekte" in einem Umgebungsvakuum des westlichen Systems. Oder die INKLUSION.

a) Im Westen geht es um die sogenannte "universelle Inklusion" (idealisiert als Freiheit und Gleichheit) ; sie ist Inklusion in "alles", aber ohne "vorreguliert" zu sein, und eigentlich eine Exklusion, eine Art Wahnsinn, zu allem und nichts zugehörig zu sein. Das läßt sich mit aufgeschriebener und verarbeiteter eigener Erfahrungen, also mit literarischen Textstellen und mit Beispielen erzählend "dokumentieren" .

Hier einige Proben dazu; zuerst, verdichtet, eine lyrische Aussage zu dieser entfremdenden "Inklusion" einer völlig abstrakt gewordenen Zivilisation, die paradoxerweise einem luxuriösen Gefängnis der Freiheit ähnelt, wo die Türe andauern offen steht, doch wo es aus inneren Zwängen und äußerer Chronokratie unmöglich ist, die Schwelle dieses geschlossenen Raumes zu überschreiten:

 

"Was öffnet sich, ich schrei vor Leere, bin lebend

längst wie jener Baum / von innen kränker noch als ein Gedanke,

der überlebt und stimmt sich ein.

Und redet unter dieser Silbe, war Jetzt

mit ihnen, ein Gewisper, wenn lang

schon nichts mehr ist. Die Sonne aber scheint.

 

Ein wenig Kälteschock. Treibhauseffekte. Und alles

schon, als wärs ein Sonntagsfilm auf einem Bild-

schirm , sieh, der GILBBRT in Jamaika

 

will schneller sein als Luft und Schall.

Die Eigenzeit ist iiberspielt. Kein Ding mehr

darf es selber sein. Ein Flugzeug hängt dort

 

hoch in einem Baum, denn die Erkenntnis

hat's ihm beigebracht. Wir sind schon bei den Toten.

Der letzte Rauch vergeht. Fertig gemachte Ideen

entweichen/ als Treibgas durch ein Loch

zu Niemandem mehr als / Gott."

 

"Wer zwingt mich, den Zufall auszuklammern, von dem allein es sich leben läßt? Meine Reise sollte ich am besten: Reise durch den verlorenen Zufall nennen, weil in mir kaum noch ein Ort der Freiheit verblieben ist, obwohl anscheinend ungeheuer viel davon auf der Straße liegt.

Eine Reise sollte man eigentlich wie ein Gedicht behandeln, wo es noch Zwischenräume gibt! Doch das ist unmöglich. Die Verwaltung der Welt wird immer mehr davon verdrängen. Lächerlich dagegen einen `lyrischen` Augenblick setzen zu wollen, der intensiv ist, weil er Zeit braucht. Weshalb habe ich hier kein einziges Gedicht geschrieben? Ist die `innere` Zeit erstickt? Diktatur der Sachen! Wo bleibt das Individuelle in dieser auf persönliche Freiheit bedachten Welt? Der Zufall kann nicht rationalisiert werden, er entgeht der Abstraktion. Alles wirkt wie ein Alptraum, doch wie ein gemachter.

Zeit ist Geld. Ich habe keine Zeit. Immer wieder hört man diese verräterische Floskel. Und es ist so: hier hat niemand Zeit. Merkwürdig, daß das alle so einfach hinnehmen als sei es in Ordnung. Bei uns im Osten ist Zeit genügend da, man kann sich auf Kosten der Gesellschaft mit Zeit bereichern, sich drücken. Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast. Und nach Plotin ist Zeit das Leben der Seele.

Die Zeit verliert ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter, sie erstarrt zu einem umgrenzten quantitativ meßbaren, von "Dingen" (den von der Person abgegrenzten "Leistungen") erfüllten Kontinuum: zu einem Produktionsraum. (Lukács).

Naturerlebnis, persönliche Entwicklung, individuelles Lebensrecht? Nichts mehr fließt, alles erstarrt. Mumien, Masken, von der äußeren Kontaktfreudigkeit eines Barmanns, einer Sekretärin; Höflichkeit, Routine: auch das Benehmen wird Geschäft, berechenbar.

Alle Leute scheinen gestorben. Nichts ist lebendig. Sie sitzen in ihren Glaskabinen. Glas, Glas, Glasscheiben.

Wieso diese große Sehnsucht nach Bukarest? Jahrelange Sehnsucht: aus dem Lande fortzukommen, und nun ist es mir ganz egal, ob sie mich wieder herauslassen oder nicht.

Impuls: sich sofort in den Zug setzen und zurück.

Der Staat rechnet damit!

Superkünstliche Gebrauchswelt bis in die Landschaft. Weshalb diese Sucht hier nach Sichtbarkeit (man nennt`s Konkretheit? Abstrakte Sichtbarkeit: Fernsehen. Flugzeug; Rasen. Das Bild, eine Verfallserscheinung. Bildliche Kultur bis zum Kitsch. Erstarrung, Maskerade, Glitzern. Weil nichts mehr durch schöpferische Arbeit hergestellt wurde, sondern am Fließband und nicht für Dauer, sondern "funktional". So entsteht eine geisterhafte Marionettenwelt, starr und verchromt. Alles liegt auf der Hand. Gebrauchsgegenstände haben keinen Wert, nur Konsumwert. Zeitverlust ist Traditionsverlust, Geschichtsverlust, Erinnerungsverlust, Amnesie! Nur der Augenblick gilt (Alles wird schnell weggeworfen!).

Das Unbehagen am Leben ist hier stärker, obwohl ich "frei" bin. Schizophrenie auch in der Kunst. Der Raum ist austauschbar, die Zeit aber ist nicht reversibel..."

b) Wie verlaufen diese zersplitterten Perspektiven, die sich oft nicht berühren, sondern absurd ausschließen und verwirren im gesellschaftlichen Leben: "Teilsysteme" bilden? Ulrich Beck schreibt:

"Alles, was in systemtheoretischer Perspektive getrennt erscheint, wird zum integralen Bestandteil der Indvidualbiographie: Familie und Erwerbsarbeit, Ausbildung und Beschäftigung, Verwaltung, Verkehrswesen, Konsum, Medizin, Pädagogik usw. Teilsystemgrenzen gelten für Teilsysteme, aber nicht für Menschen in institutionsabhängigen Individuallagen (...) Die Teilsystemgrenzen gehen durch Individuallagen hindurch."

 

c) Also wäre wieder ein Universalmensch wie in der Renaissance nötig? Das ist kaum möglich bei der Zersplitterung heute. Doch das Selbst, das Subjekt allein kann in einer "Selbstreferenz", wie die Soziologie es nennt: in einer anstrengenden Seelenarbeit "bündeln". Ist die Aufgabe des Schriftstellers heute also von neuer Bedeutung? Und dies gerade heute: Ist das Subjekt heute wieder außerordentlich wichtig, die Person, der Einzelne, die Ich-Identität als "selbstreferenzielle" Eigenleistung? "Synthesen, die sich nur im Einzelnen" vollziehen können?

Historisch hat sich diese Eigenleistung vor kurzem sogar kollektiv gezeigt, und zwar in der Wende von 1989, die von Millionen Einzelnen erzwungen wurde. Es kam in dieser Revolte etwas Zeitgemäßes hoch, das die eingesperrte und kontrollierte alte Wirklichkeit überschritt: im Osten von einer Gemeinschaft von Einzelnen getragen, mit einem Pathos der Gewaltlosigkeit, der Nichtaggression und ohne Invektiven. Es war eine Art "Übergewalt" hemmungsloser Selbstverschwendung, das Gegenteil des herrschenden Prinzips Zeit und Nützlichkeit; souverän setzten sich die Aufständischen über alle Rücksichten hinweg, sogar das eigene Leben nicht achtend - ein Aufstand der menschlichen Natur, die anderen Ordnungen angehört als der sozialen. Als wäre diese Explosion der menschlichen Natur der delegierte und kompetenteste Ausdruck in der gewaltigen Insurrektion gewesen, die heute die Natur auf unserer Erde wider ihre Vernichtung und gegen das technokratische System der totalen Machbarkeit führt.

Solch ein Durchbruch in den vielen Einzelnen geschah auch im Dezember 89 in Kronstadt, ein Augenzeuge, Matthias Pelger, Kronstädter Stadtpfarrer, weiß davon zu berichten, und er hatte aktiven Anteil an einem Phänomen, das jeder Massenpsychologie Hohn spricht: Die Masse war schon dabei das Gebäude der Sicherheitspolizei zu stürmen, von wo aus Maschinengewehre auf sie gerichtet waren, da zog sich Pelger an einem Zaun hoch auf eine Brüstung und rief in die Menge: Ich bin der Pfarrer der Schwarzen Kirche, bitte keine Gewalt, wenn ihr wollt, daß Gott uns helfen soll, müssen wir nach seinen Gesetzen handeln, sonst sind wir allein. Es wurde still, wie ein Wunder in diesem Tumult ... Ja, hörte ich die Leute sagen, es ist der Pfarrer der Schwarzen Kirche, es ist ein ernster Mann, was er sagt, stimmt. Und wieder knieten alle nieder.

Das alles war nur ein kurzer Geschichtsaugenblick der Öffnung Die Ressourcen im Einzelnen bleiben bestehen, der Autor geht, sollte jedenfalls damit umgehen und nicht mit artistischer Wortkunst im abwesenden Raum.

 

3

Aber wichtiger noch als die "Inklusion" scheint mir die "Exklusion" zu sein. Ich zitiere dazu eine eigene Erfahrung bei einer Bauernhochzeit aus meinem Roman "Vaterlandstage":

"Bei Tisch saß ich neben William, dem Londoner Friseur (...) Der kleine, vergrämt blickende Friseur und sein liebenswürdiger, zwar etwas angegrauter, doch immer noch recht hübscher Sunnyboy mit den blanken dunklen Augen und dem besonderen Charme, waren eben aus Miami Palm Beach, wo sie einen Friseurladen besaßen, zurückgekehrt; sie haben wie wir ein Haus hier. Er sei angegriffen, sagte William und sah mich mit seinen sanften müden Augen an: von der Langeweile der Millionäre und Milliardäre angegiffen. Er redete auf mich ein, weil er keinen Sinn mehr in seinem Leben sehe. Am liebsten würde er auch das Haus in C. verkaufen, abhauen. Aber wohin? Denn genauso grause es ihm, in London oder in New York zu leben. Die Freunde in New York habe er gar nicht erst besucht, er sei ohne Zwischenaufenthalt von Miami gleich nach London geflogen, er habe sich aber auch dort schlimm gelangweilt mit den Freunden. Dann sagte ich zum unglücklichen Friseur, der mit traurigem Hundeblick vor mir saß: Sieh, dies junge Paar, das jetzt heiratet, hat es doch viel besser als wir, auch die Bauern alle, die leben und zweifeln nicht: Alles ist noch festgefügt und fraglos da, als gäbe es gar nichts anderes - und ist schon eingefahren seit langem. Da muß nicht jeder an seinem Leben basteln, das kriegt er fertig geliefert, samt der Armut und dem Unglück, ein enges Korsett, da schlüpft man rein; mit wenigen Bruchstellen von der Wiege bis zur Bahre. Das kostet nicht diese Anstrengung wie bei Leuten, die sich das alles selbst machen müssen, wie wir - dauernd im Gegentakt, daher immer in Zeitnot und mit aufreibenden Schuldgefühlen. Und dies sei überhaupt das Thema meines Buches, in dem wir uns jetzt gerade befinden - bemerkte ich; er verstand nicht."

 

Trotzdem möchte ich nicht tauschen, auch wenn eine gewisse Nostalgie und Zwiespältigkeit da ist, ich an den verlorenen festen Boden in Siebenbürgen zur Zeit meiner Kindheit zurückdenke, der, wie sich erwiesen hatte, kein fester war. Auch kann ich der traditionellen unfreien Menschmaschine des Sozialen, jenem zoon politikon letztlich nur Horrorgefühle abgewinnen, ich bin froh diesen "Sicherheiten" und "Behütetheiten" entronnen zu sein und gebe mir Mühe, dem Zwang meiner Biographie zu entkommen. Jene enormen Schwierigkeiten des gegenwärtigen innern Zeitaufbaus, von dem vorhin in meinem Romanfragment die Rede war, und den das nach-moderne Individuum zu leisten hat, wird von Armin Nassehi so beschrieben:

 

"Selbstentfremdung bedeutet in diesem Zusammenhang also, daß soziale und zeitliche Komplexität immer weniger von außen in die Lebenszeit importiert werden kann und sich damit eine Umstellung von rein fremdreferenzieller Verortung der Person auf selbstreferenzielle Selbstbeschreibung ankündigt.

Der gesellschaftsstrukturelle Hintergrund dieser kurz dargestellten Entwicklung hin zu einer stärkeren Differenz von Lebenszeit und Weltzeit (Blumenberg) (...) läßt sich an der veränderten Inklusionsform ablesen, die im Laufe der Modernisierung der Gesellschaft zu einer völlig neuen Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Person geführt hat (...) Vormoderne Hochkulturen (konnten) die Identität der Person dadurch sichern (...) , daß sie Lebenszeit und soziales Prozessieren parallelisieren und damit aufeinander abbilden konnten. Funktionale Differenzierung dagegen erlaubt eine solche eindeutige Zuordnung nicht mehr."

 

Die Schwierigkeit solch einer Differenzierung, also gleichzeitige Teilhabe an vielen sich ausschließenden, unüberschaubaren Teilbereichen der Gesellschaft, die aber das Ich alle zu einer Synthese bringen muß, ist eine stresshafte Zeit- und Lebensleistung, Spezialist in allem zu sein: Autofahrer, Produzent, Wahlbürger, Computerbenutzer, Reisender, Kontobenutzer, Faxbenutzer, Familienvater, Rechtssubjekt, Steuerbürger, Bootsbesitzer etc.etc. Die modernen Individuen stehen:

 

"(...) zwischen den funktional spezifischen Teilbereichen der Gesellschaft müssen die verschiedenen funktionalen Semantiken, die bisweilen völlig inkompatibel und kaum `übersetzbar` sind , über ihre eigene Selbstreferenz sinnhaft miteinander verbinden. Also nicht die bloße Zugehörigkeit zu einem sozialen System sichert Identität, sondern die je individuelle Selbstbeschreibung der Person im Wirkungsbereich verschiedenster gesellschaftlicher Ansprüche."

Und selbstkritisch könnte ich hinzufügen: vielleicht ist das Ausnützen dieser möglichen Zwischenschaft eine neue Fluchtlinie, eine Art Genuß im Inkognito, das befreit. Möglicherweise läßt sich hier im Labyrinth der neuen "Selbstreferenz" eine Art Schuld des Sich-Versteckenkönnens, um sich jeder Verantwortung und Bindung zu entziehen im schwebenden Dazwischen, wo sogar Genuß in der "Erlebnisgesellschaft" zu einer Art Pflicht wird, die das Ganze aufrechterhält. Das Resultat ist nicht unproblematisch und kann Bindungs- und Schicksalslosigkeit bedeuten, das Individuum überfordern. Der Soziologe Zygmunt Bauman, Professor an der Uni Leeds, behauptet:

"Wir sind alle Landstreicher", und analysiert die Moral im "Zeitalter der Beliebigkeit": "Die Postmoderne ist der Punkt, wo das moderne Freisetzen aller gebundenen Identität zum Abschluß kommt: Es ist jetzt nur zu leicht, Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des höchsten Triumphs muß Befreiung erleben, daß sie den Gegenstand der Befreiung vernichtet hat. Freiheit wird zur Beliebigkeit, bindungs- und verantwortungslos. Alles, was ist, ist bis auf weiteres."

 

Vorläufigkeit als Pendant zur Wegwerfkultur. Dieses wurde früher einmal in der Kultur- und Literaturkritik als Dekadenz bezeichnet. Man kann freilich diese Kunst des Verschwindens hinein in die Leere und Bodenlosigkeit auch als positive Nichtsherstellung im Sinne etwa der Religionen, der Mystik sehen. Ich möchte dazu ein eigenes Emigrantenlied zitieren, das versucht beides zu verbinden:

 

GENAU DIES WEISS ICH NUN NACH SIEBEN JAHREN:

Zuhause kann ich sein

Nur hier - im Flug. Als wär ich damals in der Luft,

Und schwebend zwischen meinen Vaterländern,

Trotz all der Schüsse auf der Grenze stehengeblieben.

 

Ein Vogel aber bin ich nicht.

Der Grüne Wagen blüht mir. Doch ich wollt ein Haus.

Gern wär ich nur ein Bürger, - bin sein Waisenkind.

Ich lieb die Länder, Orte, Frauen nur,

Wenn ich die Freiheit auch zum Abschied hab;

Nur in der bitteren Flucht und ungeschützt -

Im Freien kann ich Zeit erfahren :

Die Zeit der Zeit, - Vorläufigkeit.

In all den Leuten ist sie heute auf der Flucht -

Den Himmeln schrecklich nah.

Und nicht mehr auf der Erde.

 

Bauman sieht diese Zeit des Verschleißes und der wachsenden Entropie auch als die der Vaganten. "Wir sind wie Landstreicher" schreibt er. Und: "Nicht der Pilger... sondern der Landstreicher und die Touristen reagieren vernünftig auf die Chancen unserer Zeit und die Fußangeln, die sie auslegt". Ich würde sagen: daß ist eine echte westliche Karikatur, unbewußt ein Hohn fast auf die Tragödien der Nichtidentität heute, die Millionen Flüchtlinge, Emigranten, Haus- und Heimatlosen, Arbeitsemigranten und Verhungernden in unserer Völkerwanderungszeit geschlagen hat. Vor allem die Wanderbewegung, ja, kollektive Westwanderbewegung des Ostens heute, ihr Ohnehaus und wachsendes Elend. Und doch stimmt, das sehe ich auch aus eigener Erfahrung, Baumanns Definition des Landstreicher- Innenlebens auch für die Ost- und Südemigranten, die vor Zwang und Elend fliehen, freilich nicht so touristisch- luxuriös, dies trifft eher auf den saturierten Westeuropäer zu:

 

"Was ihn forttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten Aufenthaltes sowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort von ihm noch nicht besucht, oder vielleicht der übernächste möchte frei sein von den Mängeln, die ihm die bisherigen verleidet haben".

 

Über meine Erfahrung mit diesem falschen Paradies schrieb ich schon kurz nach dem Weltwechsel:

 

"Was hat sich alles in reiseverbotenen Jahren angesammelt: Städte wie Paris, Berlin, Frankfurt, Brüssel waren nicht real, sondern Punkte auf einer Landkarte und Traumbilder. Eine Art irrationale Ehrfurcht ließ sich nicht abwehren. An diese Namen war alles gebunden, was ich noch nicht erlebt hatte, nicht erleben durfte; was man wahrscheinlich auch nie erleben kann. Also nicht nur schöne Fiktion, sondern auch Metaphysik, im schlechtesten Sinne des Wortes. Und weiter, eine Art Verheißung, ein verwirklichtes Paradies, wo der tägliche Druck der Angst und der politischen Selbstkontrolle abfallen würde: als freier Mann durch eine großartige Welt gehen, das ist der Trugschluß, den viele nach langjährigem Ostleben ziehen und alles Versagen und Ungenügen wie ein Goldenes Zeitalter nach vorne ablegen, wo das langentbehrte und für lange Zeit verlorene, gelobte Land betretbar wird. D. h., daß sich nun alles erfüllen wird, was sich naturgemäß nie erfüllen kann. Solch bombastische Vorstellungen hatte auch ich mir von meinem ersten Kontakt mit der Freien Erde gemacht; und dazu: mich auf sie werfen, wenn einmal die verhaßte Grenze überschritten sein würde, und: schreien, brüllen, jubilieren. Nicht weniger, nicht mehr. Was dann weiter folgen würde, daß ich mich selbst nicht plötzlich ablegen konnte, sondern mich weiter mit mir herumschleppen mußte, wohin auch immer die Reise geht, bedachte ich keinen Augenblick. Daß die miserable Wirklichkeit unseres Jahrhunderts in jenem vermeintlichen Eden noch gesteigert auffindbar ist, kam mir nicht in den Sinn. Eine plötzliche mystische Verwandlung hatte einzutreten, mit einem Schlag sollte sich alles verändern. Utopia auf schönste und kindischste Art."

 

4

Diese Zustandsbeschreibungen klingen alle sehr abwertend und negativ. Doch scheint dies ein Übergang zu sein zu einer neuen Lebensform, die die Immaterialisierung der Wirklichkeit, ihr Verschwinden, jedenfalls von dem, was bisher als Wirklichkeit angesehen wurde, vorantreibt und dem Innern des Subjekts nähert, oder besser: dieses immer mehr freistellt, mehr oder weniger leidvoll - bis zur Vernichtung. Am intensivsten läßt sich dies ablesen in der Beziehung zwischen "Exklusion" und Emigration. Dieser Punkt zielt mitten in das Zentrum etwa der östlichen Literatur, auch der kleinen rumäniendeutschen Literatur heute, meine Texte machen da keine Ausnahme. Wir stehen im Nirgendwo des Offenen, der Überraschung, des Unübersichtlichen und Unvorhersehbaren, seit 89 noch mehr als früher. Es gilt kaum das Vorfindbare, also Gewesene, sondern das offene JETZT. Wobei die Soziologen heute sagen, Identität entstehe erst über "Exklusion", sie bestimme sich nicht mehr wie früher über "Inklusion". EXIL aber wäre das Extreme dieser Exklusion des modernen Menschen, schmerzlich erfahrenes Vakuums, in dem der Einzelne sich selbst finden muß, ohne Stütze und äußere Hilfe.

Bemerkenswerte Beschreibungen einer Tiefengrammatik dieser tödlichen Isolation oder Exklusion zwischen den Systemen und Welten haben eine ganze Reihe der bekanntesten ost- und südosteuropäischen Autoren von Milosz bis Brodsky, Solschenizyn, Reiner Kunze, Paul Goma oder Milan Kundera gegeben; auch meine rumäniendeutschen Kollegen haben bemerkenswerte Introspektionen über diese Bodenlosigkeit geschrieben, vor allem Herta Müller und Werner Söllner möchte ich hier zitieren. So definiert Herta Müller diesen neuen Zustand als: "Das Wohnen ist kein Ort", im Roman "Barfüßger Februar" heißt es dazu:

 

"Die lange Reise war ein Schienenstrang, das Eisen der Behörden. Die Scheibe hetzte Bilder. Nur der Kieferknochen war zerschlagen. Nur der Blick erfroren von der Kälte der Verhöre. Nur die Briefe und Gedichte nackt und ausgelacht.

Die Ankunft war der Winter. Fremd war das Land und unbekannt die Freunde. Die Bäume zugeschnitten, kalter Februar."

 

Sowohl in Gedichtform als auch in einem Prosatext hat Werner Söllner dieses "Nirgendwo", den Todeszustand eines im Bodenlosen zwischen den Ländern Lebenden beschrieben, vor allem im Monolog "Es ist nicht alles in Ordnung, aber OK," der eine Ichfigur beschreibt, die meint, sie sei gestorben. Verdichtet im Gedicht "Null" erscheint der gleiche Zustand:

 

Null

Eingehen in Deutschland und aus ist schön fast

keine Kontrolle zum Glück das macht frei Vogel

hier bist du drüben ein paar Fragen keine Reden

Erklärungen werden hier nicht verlangt keine Reden

Macht null keine Rede ist hier von Reden alles

geht und ist so und macht daß es so geht so daß

hier keine Rede von Sprache sein kann nein null

 

Söllner hat auch einen Text über diese Problematik in meinen Arbeiten geschrieben: Er nimmt meine Lage, die selbstgewählte zweite Emigration nach Italien z.B. zum Anlaß, um auch über sich selbst zu schreiben: Die Selbsteinschätzung der Aus-Reise als Verrat: "Nicht nur (an) zurückgelassenen menschlichen Bindungen, sondern auch an unfertiger Hinterlassenschaft an Utopien, an Wünschen und Hoffnungen... Der neugewonnene Freiraum im persönlichen Bereich.... erwies sich so als ein... des selbstverschuldeten Werteverlusts durchtränkter Nährboden für eine Entwicklung, in deren Verlauf lediglich die persönliche und allgemeine Katastrophe noch eine logisch folgerichtige und paradoxe Alternative zum stetigen, allmählichen Verlust des Ortes und des Zustands Heimat wäre . An deren Ende kann wohl nur die physische und psychische Auslöschung (im genaueren Wortsinn): Selbstauslöschung des Individuums stehen ." Chancen zur Genüge, die Abwesenheit als Schmerz zu erfahren, um das, was man sein könnte, aber nicht ist, zu erkennen: "daß man nicht das ist, was man ist", denn ohne diese totale Loslösung vom Gewohnten, das blind macht, gäbe es den Sog nicht, daher auch die etwas seltsame Chance jener nicht, die den sozialen Boden unter den Füßen verloren haben, wirklich in die historische Gegenwart zu kommen, in der die meisten (im Westen) nicht leben oder nicht leben wollen, sondern sich falsche Identifikationsangebote kaufen oder träge konsumieren (Fernsehen etc.). Exil (oder totale Exklusion, sogar als totale Inklusion im Totalitären Staat am Grunde der Hölle) - wäre also paradoxerweise eine Chance zur Selbsterkenntnis? "Identität und Individuum fallen zusammen", heißt es bei Weber und Nassehi: "Individualität wird also nicht mehr über Inklusion, sondern über Exklusion bestimmt." Über diese Erkenntnis wird Identität bestimmt, wie Luhmann sagt: "(...) daß man nicht das ist, was man ist (...) Ohne ein solches Defizit bestünde überhaupt kein Anlaß, die eigene Identität zu reflektieren, so wie auch umgekehrt die Reflexion das Defizit als Dfferenz zwischen dem, was man ist, und dem was man nicht ist, produziert. Individualität ist Unzufriedenheit." Und diese Unzufriedenheit charakterisiert auch viele Autoren, die sich in der Nachmoderne nur negativ bestimmen können, was ziemlich kräfte- und lebenszehrend ist, kräftezehrend nämlich, sich durchzuschlagen als ewiger Fremder und Emigrant, und immer unzuhaus zu sein, denn der Autor, (zumal der "freie") versucht die Robinson-Situation als Produktionsmittel zu nützen, indem er sich selbst als Erfahrungsinstrument einsetzt (und verbraucht), aber er versucht, diese aufreibende Situation unter allen Umständen zu erhalten!

So kann der ("freie") Autor als Extremfall des heutigen Menschen angesehen werden, der, nicht mehr eindeutig einer sozialen Gruppe zuordenbar ist, sondern, wie es bei Nassehi/Weber heißt, "den selbstreferenziellen Bezug zur eigenen Person, zum eigenen Bewußtsein und zur eigenen Lebensgeschichte erfordert" und die "zunehmende Selbstidentifikation (nur) aus personalen Ressourcen" erhält. Wobei bei Autoren, zumal bei Lyrikern: außer dem sozialen Vakuum noch "metaphysischer Heimatverlust" und "Sinnverlust" als treibende Kraft wirken, totaler Mangel also an jeder Art von "Identifikationsfolien", wie die Soziologen so schön sagen. Wer aber sehnt sich nach "Folien" zurück. In meinen Essays "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", habe ich an Beispielen, auch an Beispielen von selbsterlebter Schockerfahrung diese treibende Kraft des Abwesenden und Fehlenden im sozialen Vakuum beschrieben, z.B. auch eine Erfahrung der Zeitfreiheit und ekstatischer Zustände, die die Todesangst verschwinden ließen während der Aufstände 1989. Es seien ähnliche Erlebnisse gewesen, wie die Inspiration beim Schreiben, versicherten mir Kollegen. Gleicht also jenes kollektive Erlebnis, jene momentweise kollektive Realität, vielleicht gar jener von Soziologen geschilderten Zustand, ungewöhnlicherweise nun im Intersubjektiven erkennbar, der sonst doch nur im Einzelnen - als die vielgenannte "Selbstreferenz" eine Synthesefunktion in der zersplitterten Wirklichkeit hat, wobei die Kopplung von gesellschaftlicher und individueller Autopoiesis, die gerade in totalitären Systemen unmöglich gemacht wird, in jenem Augenblick sozusagen rein und fast ohne Hindernisse stattfand, nämlich im Augenblick der Befreiung - im Grenz- und Zwischenraum der Systeme auf einem Terrain reiner Zeit? Ein Deutungsansatz wäre: daß eine fehlgelaufene totalitäre Sozialisation außer Kraft gesetzt wurde, und da es keine andere dort gab, kamen im Vakuum vormoderne Instanzen der Psyche zum Zuge, als hätte es dort noch ein Seelenmuseum vergangener Zeiten gegeben. - Eine exakte Analyse des Zustandes steht noch aus.

 

Ein weiterer Aspekt der "Modernen Zeiten", wird durch die Erfahrung zwischen den Systemen scharf konturiert: das Problem der Absenz durch die am eigenen Leben erfahrene Ent-Dichotomisierung von innerer und äußerer Zeit:

 

"Straßen und Ali Baba/ grasen im Mai ihre Maul-/Tiere/ aber das Wort/ passiert nicht mehr/ Und steht/ am neuen Tor/ du rufst wie einst/ im Traum die Zauberformel an/ aber die Höhle/ sie bleibt zu/ Und nur als Schatten kommt ein/ schiefes Bild getragen als die verlöschende Flamme/ vorbei." (Gelenktes Licht)

Ein Zurückgeworfenwerden auf reine Autopoiesis einer Null-Situation in Platons Höhle - und eine radikale Entlarvung des Beharrungsvermögens allgemeiner Gewohnheit.

 

"Du schöne Welt das kranke Röntgenbild/ und wie ein Tumor ists/ im Kopf/ durchleuchtet.// Das Negativ, als wäre jedes Bild/ jetzt möglich. Fertig gemacht, das Licht./ Die letzten Dinge auch, sie werden Nichts/und / wie im Auge keine Gegenliebe." (Negative. Unbelichtet).

 

Alles wird zu einem Negativfilm, und das Todesgefühl eines Bodenlosen, läßt die Trauer des Abschieds mit dem Wissen vom Un-Sinn verschmelzen, wo die gedämpfte Metaphysik des Hohns alles umkehrt, gespiegelt auf der Sinn-Folie der Sprache, erhält so etwas Unsagbares im Paradoxon Kontur, wie im folgenden Satz: "Ein wenig Nie verging".

 

"Was sonst noch wäre/ kein Hals/ mehr für oben: der Galgen ist/ eine Feder." Oder: "Wie dann noch/ reden.// Als säße er auf der Leitung/ `verkohlt am Traumende`. Und fällt./Vor dem Abgelebten,/ der Tod.// Hirnträchtig Heilige Kühe/ voll mit Gras innen und lassen/ mich vergessen rückwärts zu lesen". (Wobei "Gras" ja dann "Sarg" hieße.) "Mutter Sprache ist mir/ weit Weg und schön/ von Sinnen (...)// Streich durch was Himmel war/ gebrochen und wir./ Darüber Erde tief;/ der vergangenen Zeit/ entsprochen. (Fragmente für das gewesene Kommen).

 

Der Erfolg der kleinen rumäniendeutschen Literatur in der Bundesrepublik beruht auf einem die Sprache rückwirkend affizierenden Zwischenzustand, der diese Autoren exemplarisch erleben ließ, was ist: "nur im Negativ, als Paradox (...) zu sagen, was ist. Abschiedsgedichte im schon Posthumen..." Für sie gibt es eine Wahrheit: "(...) in Hypostasen des Fremden, wo auch die Sprache sich von Satz zu Satz wundert, daß sie noch da ist. Das sind Röntgenblicke in die Gegenwart aus einer noch sinnlich erlebbaren Abschiedssituation, Modell auch für die übrige Welt, wo dieses freilich so scharf nicht mehr wahrnehmbar ist..."

Und aus der "Brucherfahrung verdichten sich in dieser kleinen Literatur epochale Wahrheiten: "Illusion des Raumes, der Zeit, Illusionen der Sprachlogik werden entlarvt."

 

Ich kann jetzt hier keine Identitätstheorie des radikal "autopoietischen" bis autistischen Autors bieten, Identität kann für Schreibende, wie ich schon sagte, nur eine mit ihrem Leben parallel laufende Werkbiographie geben, Sprache und Phantasie sind Identifikationsspender, allerdings nur punktuell; wenn der Autor ins "Leben" entlassen ist, ist er wieder jedermann, auch nur ein Mensch, der sich anpassen muß, um zu überleben. Es laufen da also zwei Identitätsgeschichten parallel, die sich wechselseitig beeinflussen. In der Exklusion des Emigranten stehen sich die Werk- und die Lebensbiographie freilich näher als unter normalen Lebensbedingungen.

Eine Beschreibung meiner persönlichen Lebenslage, als einer, in der ich unter allen Umständen den Umbau der Person, den zum normalen Überleben so notwendigen Verlern- und Erlernprozeß der Integration zu vermeiden suchte, machte auch mich zu einem "Zwischenschaftler" und "Deutschen der Dritten Art", der Ost und West bewußt in sich zusammenstoßen ließ, denn ganz entziehen kann sich keiner, und der Umbau der Person geschieht letztlich doch, nur ist er bei "Freien" schmerzlicher und langsamer dieser unausweichliche Prozeß - und er geschieht unter Selbstbeobachtung, nämlich schreibend. Meine Übersiedlung ins Außerhalb, in ein soziales Vakuum - oder besser in die Umgebung einer dörflichen Sippe in Italien, hob den Prozeß der Desozialisation und neuen Resozialisation, auch jenen im Zeitlupentempo, fast ganz auf, und verlegte "Leben" zum großen Teil in die Werkbiographie, jedoch nicht etwa nur als Kompensation, sondern als Erfüllung oder Illusion der Erfüllung? dieses frage ich mich fast täglich.

 

("Weich faß ich jetzt, nackt, ein blaues Heft/ auf dem Schoß schreibend mein Schamhaar an,/ wie eine letzte Berührung, Griffel,/ der mitgeht.// Weinend im Gebüsch raschelt/ unsichtbar schmerzt ein Papierkind."

Oder: "WIE HAST DU MICH GEQUÄLT/ Langjährige Liebe/ Zeile// Ein Pausenzeichen/ oft nichts als gedacht/ und dann wars doch/ ein ganzes Leben.")

 

Solch eine Anpassungsverzögerung war freilich nur möglich, unter der Bedingung, daß der Betroffene starke Konflikte und Gefährdungen auf sich nahm, die auch in der Partnerschaft den Alltag belasteten, in einer Art doppelten Halluzination, denn das "Leben", die andere Biographie ließ sich auf die Dauer nicht wegschreiben oder wegdenken, wobei - wie bei allen meinen Kollegen, die Flucht in den Alkohol sich drohend zu Alkoholismus auswuchs; gerettet hat mich dann wieder die geistige Aufarbeitung, verzweifeltes Schreiben und Chakraarbeit im Tantra-Yoga. Also Existieren im Circulus vitiosus - oder oft im Kreis der Hölle.

Meine Identitätssuche gehört also nicht zu den Reaktionstypen Emigrant- Immigrant in Deutschland, 1.) dem Traditionalisten, der in der Enklave, einer Fiktion des Alten lebt, noch 2.) des Konformisten, der versucht, seine Herkunft in übertriebener Rollenanpassung zu vertuschen, wie sie Renate und Georg Weber in ihrem Zendersch-Buch beschreiben, auch nicht zum dritten, dem chronisch Nicht-Angepassten, der an den Rand der Gesellschaft gerät, den Outlaws oder gar den Kriminellen. Eher läßt sich der - bewußt zwischen allen Stühlen befindliche - "zwischenschaftliche" Autor zum vierten Reaktionstypus, zum "Pendler zwischen heimatlicher Welt und Aufnahmegesellschaft" und ebenso zum fünften Reaktionstyp, den "Grenzgänger" zählen. "Grenzgänger" also im kritischen Zustand einer beobachtenden und selbstbeobachtenden Distanz; eine Art Kunst der kritischen Zwischenschaft einer verzögerte Integration, wenn auch dieses kritische Laboratorium der hinausgeschobenen Integration aus der innern Distanz bei ihm nur durch Sprache gelingen kann, er aber im "Leben" nicht einlöst, was eben dieser fünfte Reaktionstyp sonst leistet:

"Durch ideologiekritische Entzauberung geistiger Vernebelungen, die Aufdeckung unterdrückter Dialoge, schließlich durch seine neue Selbst- und Fremdannahme wurde er für das Zwiegespräch auch mit der neuen Umwelt befähigt. Die Distanz in der Nähe zum Vergangenen ermöglichte es ihm, sich in Rollen seiner neuen Mitmenschen hineinzuversetzen und sich mit deren Augen selbst zu sehen.. Das wiederum erleichterte ihm den Abschied von alten, hohl gewordenen Geltungsansprüchen ..."

Vielleicht gehöre ich als "freier" Autor zu einer Art experimentellen Grenzgängerei, bei der nur die Ersatz-Institution SPRACHE und meine Partnerin verhindert haben, daß es zu einem "experimentellen Irresein" gekommen ist. Etwa 6000 Seiten Text entstanden in diesem tagebuchartigen Schreibprozeß zum Roman "Vaterlandstage" , unaufhörliches Schreiben, schreibend leben in der fremden Umgebung, beim Essen, in der Straßenbahn, im Auto, im Flugzeug, im Kaufhaus, in der Innenstadt, vielleicht aus einer Art Angst, zwischen die Sekunden zu fallen, da es anfangs so schien, als könnten die Sinne nirgends einen Halt finden, und müßten ins Nichts fallen, wenn die Sprache sie nicht in einem selbstgeschaffenen Außenbild, das aus dem eben Gesehenen ein Wortfoto als Boden herstellte, auffing.

Bei dieser Reflexion des Ausgeschlossenseins im Weltwechsel ergibt sich aus der eigenen Erfahrung, wenn ich nun diese mit dem theoretischen Diskurs als Autor vergleiche, ein Auseianderfallen der verschiedenen Gedankengänge, ein Widerspruch zwischen soziologischem Optimismus und der verzweifelten negativen Theologie des Schreibers, den hautnahen Erlebnissen und schließlich der literaturwissenschaftlichen Werkanalyse. Da in der heutigen Soziologie empirische Forschung angestrebt wird, kann die Theorie Essenz und Wahrheit des wirklichen Erlebens nicht fassen, nicht erfassen; Brücken bauen kann wohl nur das narative Element; die "kleine Erzählung" heute, im Gegensatz zur "großen Erzählung" der Metadiskurse der idealistischen Philosophie, wie sie der Postmodernist Lyotard nennt, also literaturähnliche Formen von Lebensdokumenten, die so gut erfunden sein müssen, daß sie den Kern nicht nur umkreisen, sondern in der Mitte treffen, letztendlich trifft da wohl nur die wissende FIKTION, die das Schale der Ereignisse in einer Erzählstruktur überspringen kann, weil sie aus der Substanz des Erzählenden kommt. So schreibt etwa Oliver Sill in einer ausführlichen Analyse der modernen Autobiographie: "Die Mitteilung über das Autoren-Ich im autobiographischen Werk liegt allein vor in einer sie realisierenden Struktur." Er zitiert dazu ein Standardwerk über Max Frisch: "Es nützt nichts, sich an historische Vorkommnisse, Daten und Namen zu klammern - sie sind schal." Besonders einleuchtend ist ein Satz von Reinhart Koselleck: "Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen."

Die Fakten allein, aber auch die sogenannten "großen Erzählungen" sind, vor allem jetzt nach 1989 "delegitimiert," unglaubwürdig, es bleiben die "kleinen Erzählungen": "Form par excellence der imaginativen Erfindung" (Lyotard); im Narrativen nämlich ist das Schwere zu leisten, "das sein zu können, was das Wissen sagt, das man sei." Und zum Verhältnis Literatur-Soziologie noch ein schönes Zitat: "Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen, - die Erzählung zurückzugreifen, das ihm Nichtwissen ist (...) "

Der Einwand von Nassehi und Weber freilich ist berechtigt, daß so "ein notwendig gespaltenes Bewußtsein" entstehe, "das zwischen allgemein zugänglicher und individuell-existentiell bedeutsamer Topoi genau trennen muß". Und dieses ist auch das Problem des Literaten, denn wie läßt sich die eigene Befindlichkeit und Innerlichkeit allgemein vermitteln? Vieles in der Lyrik geht damit um, umkreist in Zwischenräumen der Bedeutung das Unsagbare, in der Metapher in der Metonymie kehrt es das Reale um, wie einen Handschuh. Und die Pole der Elektrisiermaschine, mit der diese behandschuhte Hand hantiert, müssen so weit wie möglich auseinander stehen, doch dürfen sie nicht zu weit gespannt sein, sonst springt der Funke nicht mehr. Das Zauberwort heißt "Vermittlung" : und das "personale Sinnhandeln (bildet) den notwendigen Bezugsrahmen für jede Möglichkeit universalistischer Diskurse." (Nassehi/Weber, S. 400). Nur - die Spaltung: einerseits Teilhabe an der "allgemeinen Auslegung von Welt" und andererseits ein "hoher Grad an Individualität", läßt sich nicht aufheben. Der Tod allein ist die entscheidende "Nahtstelle", wo sich Ich und Gesellschaft "unausweichlich begegnen". (S. 401). Unter den heutigen Bedingungen der Gefahr fürs Überleben sind die "verallgemeinrungsfähigen Handlungsmaximen" nicht zu vergessen, dies gilt auch für den Ausgeschlossenen und Träumer.

Doch kehren wir zum Schluß zu ihm zurück:

Es gibt da ein wichtiges Moment in seiner Absenzerfahrung und totalen Exklusion alles Faktischen und Gewohnten in einer Non-Identität, als wäre da eine Ähnlichkeit mit der Herstellung von "Leere" im Abschnüren der Sinne bei einem Meditationsprozeß und einer Initiation unter Schmerzen, nämlich ein "Herausschießen" unter Druck (und unter Gefahr, in aller Exilanten-Unsicherheit und Unbestimmtheit) einer jenseits des Sozialen liegenden Substanz, die aber mental und auch in der Sprache vor allem eingelagert ist und anschließt an ein riesiges Gedächtnis geistiger Erfahrung. Czeslaw Milosz, der polnische Schriftsteller im französischen Exil, weist auf James Joyce hin, der ebenfalls fern von seiner Stadt Dublin, ein ideelles Dublin aufgebaut hat, mit neuen Berührungs- Koordinaten und Stilwerten, ein geistiges Dublin, jenseits einer banalen Heimatstadt. Ein ähnlicher Haltepunkt "personaler Identität" via grenz-überschreitender Sprache war auch meine Arbeit am Roman "Vaterlandstage", der Titel ein Hölderlinzitat: diese "Tage" nämlich SIND möglich erst bei Abschiedsfähigkeit vom empirisch-Realen und ordinär Heimatlichen, solch ein utopischer Ort entsteht erst bei "Umkehr aller Vorstellungen und Formen."

 

("Löschte das Augenlicht, also/ die Landschaften und/ Städte aus, trog/ nicht mehr, Nein trank/ die Welt täglich aus (...)// Es gab keinen andren Weg mehr/ als Jahre: gingen hinüber/ wo ein anderes schwereres Warten war/ das Weinen das Lachen und jeder Erfolg Ja/ die Frauen nur etwas Trauer// Als hätte ich alles überlebt./ Ein Anfang klopfte/ ganz ohne Tür bei mir an,/ keine Dauer, ein Leben, was/ zu fürchten ist, hebt an und auf,/ was war." ( DER ZEITPUNKT. Keine Bilanz mehr.)

 

Was ein Autoren-Einzelner allein erfährt, ist aber heute seltsamerweise symptomatisch für die "postmoderne" Gesellschaft, die ihn nicht wie früher: als Autorität zur Kenntnis nimmt; und dies - obwohl er ja eigentlich ihre Tiefengrammatik in seiner existentiellen Situation spiegelt und ausdrückt. Der paradoxe Schluß: wäre er anerkannt, könnte er diesen innern Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft gar nicht erleiden, um ihn auszudrücken .

 

( Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten im Rahmen der Vortragsreihe "Identität - nur ein Modewort ?" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Soziologie/ Sozialpädagogik, 24. Januar 1994.)

 

 

 

IV

ZUR URSACHENFORSCHUNG DES HEUTIGEN ZUSTANDES IM INNEREN UND ÄUßEREN NIEMANDSLAND DES HEIMATVERLUSTES: ZEITFELDER 1940-1945. DAS VERDRÄNGTE INFERNO.

 

Diese "Zeitfelder" spiegeln sich in der Literatur durch Strukturen und Strukturen psychischer Gegebenheiten von Personen. Es geht um einen bestimmten, historisch geformten Menschentypus, den der Siebenbürger Sachsen, zu dem ich selbst gehöre, so daß ich mich für meine Personen auch auf Selbstanalyse stützen konnte. Um diesen Menschentypus und das auch selbstverschuldete Ende seiner Geschichte, 1940-1945, und sein heutiges Verhältnis dazu, um diese innern "Zeitfelder" analysieren zu können, nehme ich als Grundlage Texte aus meinem eigenen Roman "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens", der 1986 bei Benziger in Zürich erschienen ist, und an dem ich über zehn Jahre gearbeitet habe. 6000 Seiten sind in Mappen geordnet, ein Bruchteil davon ist erschienen. Der Erzähler, der "zu Hause" von einem kommunistischen Gericht verurteilt ist, nicht heimkehren kann, schickt an seiner Stelle die Hauptfigur Michael T. in seine siebenbürgische Vaterstadt S. Diese Hauptfigur charakterisiert sich selbst und ihre Heimkehr so: "Es kam mir alles sehr weit entfernt vor, obwohl es heißt, ich sei hier zu Hause... gewesen... ja, gewesen... eine Art Krankheit, ein Gewesener zu sein... Angehöriger einer sehr schwerblütigen Menschenart. Und hatte nie Gefallen gehabt an der Gegenwart. Zukunft als Angst erlebt, wie alle meine Leute; die Vergangenheit als riesigen Raum verbrauchter Erfahrung zog mich an, als wäre ich beauftragt, diesen Berg des Verlorenen, der wächst jeden Tag, abzutragen; schwitzend; - in Zeitnot."

Dieses Vakuum aber charakterisiert und charakterisierte eine ganze Menschengruppe, die Siebenbürger Sachsen, ihre Zeit, ihre Katastrophe und Tragödie.

Was ich vorhabe, ist den Entstehungsprozeß dieses Katastrophen-Romanes einmal umzukehren: zurückzugehen zum Material, den Rohstoffen. Und zu den Materialien dieses Buches gehören ganze Stöße von Briefen aus jener Zeit, Tonbandprotokolle zu diesem Thema zwischen 1976-1985 in meiner rumäniendeutschen Familie, mit rumäniendeutschen SS-Offizieren aus dieser Familie und mit dem Auschwitzapotheker Dr. Victor Capesius, der Apotheker der Apotheke "Zur Krone" meiner Heimatstadt Schäßburg in Siebenbürgen war. Mein Gespräch mit ihm ist übrigens in der "Halbjahresschrift. Zeitfelder 1918-1944", Frühjahr 1993 erschienen.

Im Zentrum der "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens" steht das Schuldproblem.

Hier ein Zitat aus einem Brief des in Kronstadt/ Siebenbürgen geborenen Theologen Gerhard Möckel in die Zelle des siebenbürgischen Auschwitzapothekers Dr. Capesius nach Frankfurt: "... Denn je länger wir darüber nachdenken, desto klarer wird es uns, daß Sie nicht allein und auch nicht für sich allein vor Gericht stehen. Je tiefer man diesen Vorgängen in Auschwitz folgt - und da können nur letzte Maßstäbe helfen - desto solidarischer werden wir andern mit Ihnen in der Verantwortung und in der Schuld". "Die radikale Schuld ist durch menschliches Rechnen und Selbstprüfen wohl nicht zu begreifen. Die Übernahme einer Verantwortung dieses Umfangs und dieser apokalyptischen Tiefe spottet allen menschlichen Kräften." (Gerhard Möckel, Brief an Capesius, 1965). Meinem Roman "Vaterlandstage" hatte ich ein Hölderlin-Motto vorangestellt: "... daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, und erschüttert, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist. Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen." ("Anmerkungen zur Antigonä"). Daß durch diese Erfahrungen und Erkenntnisse die kleine Gruppe der Rumäniendeutschen, die in dieses Verbrechen und die nachfolgende Apokalypse mit hineingerissen wurde, nicht nur überfordert war, sondern daß dadurch ihr gesamtes Schutzsystem der Verdrängungen erschüttert worden wäre, ist klar. Ich habe in einer Sendung (" Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Was habe ich mit Auschwitz zu tun", Hessicher Rundfunk 1, 8.5.81) über die beiden Auschwitzoffiziere Capesius und Albert, diese Frage in den Mittelpunkt gestellt, und Erwin Wittstock parallel dazu zitiert, Wittstock hatte in seinem Roman " Das Jüngste Gericht von Altbirk" diesen wundesten Punkt der Siebenbürger Sachsen so charakterisiert: "Jedenfalls sind viele Maßstäbe, die man uns anerzogen hat, falsch ... Wir fühlen uns glücklich, solange wir naiv nach diesen Maßstäben messen. Und wir müßten aus tiefster Seele unglücklich sein... die Sicherheit verlieren, wenn wir dessen innewerden, daß unser Weltbild zu einem Traumbild geworden ist ... (den) verborgenen, unbewußten Widerspruch in unserem Innenleben ... (erkennen) denn sonst müßte man sehr schwerwiegende Entscheidungen treffen."

Diese schwerwiegenden Entscheidungen sind nie getroffen worden, es sei denn durch Auswanderung, indem man sich nur und ausschließlich als Opfer einer Diktatur, nie zweier Diktaturen ansah, geschweige denn sich selbst mitschuldig fühlte.

Verweisen möchte ich auf den Aufsatz des Hermannstädter Literaten und Kritikers Joachim Wittstock "Die Neue Schuldlosigkeit" (Manuskript, 1990), wo Wittstock nach einer eingehenden Analyse erkennt, daß die rumäniendeutschen Autoren Schwierigkeiten mit einem "verinnerlichten Schuldbegriff" die beiden Diktaturen betreffend haben. Von den Rumäniendeutschen ganz allgemein ganz zu schweigen. Und um diesen verdrängten Schuldbegriff geht es auch in den "Vaterlandstagen" und meinen Recherchen zum Thema. Je jünger die Autoren, aber auch die Leser, umso weniger sind sie geneigt, auch nur zu verstehen, was damit gemeint ist. Wittstock spricht von einer "dritten Schuld", nämlich - sich für völlig unschuldig zu halten. Auch in der Literaturkritik und Historie ist wenig von dieser Problematik spürbar, sie fällt einer Pseudoobjektivität zum Opfer.

Mein Vortrag beschäftigt sich eigentlich mit diesem rumäniendeutschen speziell siebenbürgisch-sächsischen Bewußtsein, beschränkt allerdings auf die Jahre 1976-85, gebrochen im Spiegel der Jahre 40-44, in der die Rumäniendeutschen völlig "gleichgeschaltet" in Schule, Kultur, Kirche, Gemeinwesen, "ideell" sozusagen ein Teil des Nazireiches gewesen waren, eine mächtige und anmaßende Enklave im Reich des Marschalls Antonescu. Seither gehört die rumäniendeutsche Geschichte (1940-1944) unmittelbar und mit allen historischen und moralischen negativen Konsequenzen und heute praktischen Konsequenzen zur Geschichte des Dritten Reiches. Eine finstere Zeit - und die schönste Zeit meiner Kindheit, was seine Spuren in mir, und freilich im Roman hinterlassen hat, und mit zum Thema gehört: die Korrektur und damit Beschädigung der Erinnerung durch aktuelle Information, durch die grausame Wahrheit im Erwachsenenalter. Wobei es sonst auf Rumäniendeutsch üblich ist, politisch ein Kind zu bleiben, nur nicht daran zu "rühren", diesen Schaden zu vermeiden, zu vergessen und zu verdrängen, was wohlgelungen ist und wohlgelingt, und zum zweiten Hauptthema meines Vortrages gehört, dessen Analyse via Tonbandprotokolle und Briefe zu unserer vertrautesten Minderheitskrankheit führt: einer gesellschaftlichen Lebenslüge, die mindestens bis 1867, bzw. 1876, der Zerschlagung des Königsbodens, zurückzuverfolgen ist und seine Folgen heute im Untergang zeigt. Der Tragödie letzter Akt: die historische Selbstvernichtung dieser Minderheit.

Und ich will mit diesem Schutzsystem der Abschottung von der Realität beginnen, ein geschlossenes minisoziales ethnozentrisches System, das schon nach Gesetzen der Entropie dem Untergang geweiht ist. Und mich vor allem auf meine eigene engere Herkunftsgruppe, die Siebenbürger Sachsen stützen, der ältesten, und ausgeformtesten deutschen Minderheiten-Gruppe, bei der alle negativen und positiven Charakteristika der Rumäniendeutschen am ausgeprägtesten sind, und die auch in den "Vaterlandstagen" im Mittelpunkt steht-

Zu beachten ist hier, daß diese Sachsen bis zur Auflösung ihres Territoriums und ihrer Institutionen keine MINDERHEIT waren, sondern mit den andern "Ständen" Ungarn und Szeklern eine selbstbewußte "Nation", wie sie sich nannte, die als Teil der "unio trium nationum" im siebenbürgischen Landtag vertreten war.

Erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick, der historisch und völkerpsychologisch diese tiefsitzende Verdrängung objektiviert: Die Sachsen hatten auf ihrem fundus regius, dem Königsboden, allein Bürgerrecht, so war dies vor 750 Jahren im Andreanum 1224 festgelegt worden, ein Privileg der ungarischen Könige. Doch schon durch die Konzivilität Josephs II. Ende des 18. Jhdts. wurde das Privileg aufgehoben, und dann wurden moderne und demokratische Verfassungen, ja, das Bürgerliche Gesetzbuch, das gleiche Rechte allen versprach, nach 1876 Gesetz. Die privillegierten "mittelalterlichen" Sachsen wurde aus einem gleichberechtigten "Volk" der "unio trium nationum" eine schutzlose Minderheit, und ihrer historischen Existenzgrundlage beraubt, die "Volksidee", Gebietsherrschaft, samt ihren Institutionen beseitigt, die einmal festgelegt worden war im statuta iurium municipalium Saxonum Transsilvaniae von 1583. Tragisch war, daß diese Existenzgrundlage mittelalterlich und gegen die Zeit existierte, wie der gesamte Volksstamm, sich abschotten mußte, um zu überleben, in zwei Diktaturen furchtbaren Schicksalsschlägen ausgesetzt, nach dem Krieg deportiert, vom Staatssozialismus enteignet, verfolgt, das eigene, alte Identitätsangebot eigenwüchsigen Deutschtums betrügerisch eingesetzt in der Vernichtungs- und Eroberungs- Maschinerie der Nazis, schließlich dem sanften Bazillus der Wohlstandsgesellschaft ausgesetzt, der den Siebenbürger Sachsen endgültig den Garaus macht, sie nun dem Untergang weiht. All dies nicht ohne eigene tragische Schuld, und vor allem Schwäche und Schuld der eigenen Politikerklasse.

Das Elend beginnt radikal aber erst mit dem Minderheitenstatus nach 1867 bzw. 1876, der Auflösung ihres "fundus regius", des Königsbodens, und dem dazugehörigen Minderwertigkeitskomplex, dem historischen Nichts, ja, Abgrund dem sie gegenüberstanden. Das sich nachher ans "Reich"- Anschließen, um irgendwo einen Boden zu haben, begann damals. Die beginnende chauvinistische Reichsbegeisterung setzte schon mit der Reichsgründung 1871 ein.

Einer der von mir Befragten, Helmut K., Arzt, ehemaliger SS- Arzt, geb. 1914, der in den "Vaterlandstagen" dann als Figur auftaucht, sagte: "So ist dies zum Teil auch als Rettungsanker begriffen worden wie in Deutschland... Und es war ja vieles furchtbar anachronistisch... ein irrationaler Versuch, gewisse Dinge aufzuhalten... die sich überlebt hatten. Formen und Werte und Wertvorstellungen, die eigentlich stark angekränkelt waren, künstlich wieder auf ein Podest gesetzt wurden..." So hätten viele gedacht, sagte er. "Es gründet, da mußt du zurückgehen, auf unsere Privilegien, die unser Dasein garantierten, viele Jahrhunderte hindurch.... Aber dieses Bewußtsein, das jahrhundertelang sich entwickelt hat, ist so stark gewesen, daß es dieses Jahrhundert praktisch überdauert hat, wo die äußere Form nicht mehr vorhanden war."

Wir sehen, wie in dieser Generation das Geschichtsbewußtsein noch stark ausgeprägt war, und gerade dieses, d.h. der drohende Geschichtsverlust, sie zu Nazis hat werden lassen. Ein anderer Siebenbürger, Roland A., Jahrgang 1916, ehemaliger Auschwitz-Offizier, der heute keine Distanz zu seiner Vergangenheit hat, faßte zusammen: er wolle das gesunde Mittelalter.

 

Die große "Nations-Zeit" als "Volk" im Mittelalter wirkte also wie ein Märchen, eine Traumtänzerei im Bewußtsein weiter, daher wirkten dann auch die "völkischen" und heroischen Nazi-Worte wie ein Zauber. "Wir waren immer geschlossen" und hatten ein "deutsches Herz", sagten andere der Befragten; und der Interviewer hatte "kein deutsches Herz", wenn er "daran" rührte, es war ein "im Häßlichen Wühlen", hörte er bei seinen Interview- Fragen. Manchmal hieß es auch " kein Instinkt" oder gar "Verrat". Der Glaube ans "Völkchen", sich selbst als Teil davon zu betrachten, die "große Vergangenheit nicht zu beschmutzen", stand im Vordergrund. Es korrespondierte mit dem wichtigsten Verdrängungsinstrument, das ein ästhetisches war, das sogenannte "Schöne", "Edle", "Hohe", "Geistige" - völlig abgekoppelt von jeder Realität oder Geschichte, dieses "Schöne" hatte den "grauen Alltag" vergessen zu machen, und zu "erheben". Wobei vor allem von "Gefühl", von jener Sentimentalität, die "ergreift" die Rede war, die zu "Tränen rührt". Dieses "Schöne" erreicht seinen Höhepunkt in den sentimentalen sächsischen Gassen- und Dorf-Chor-Liedern und der Operettenkultur der Kleinstädte.

All dieses sind die Grundvoraussetzungen des Kitsches, die Unwahrhaftigkeit, das Vorspiegeln falscher Tatsachen, das unbewußte Heucheln, auch das Vorspielen von triefend sentimentalen Gefühlen. Und wer die Kitsch-Analysen von Hermann Bloch liest, (in der großen Arbeit: "Das Böse im Wertsystem der Kunst" und "Zum Problem des Kitsches") und von den politischen Gefahren dieses Kitsches erfährt, ist verblüfft wie dies übereinstimmt mit jenem kollektiven Zustand, aber auch mit einem großen Teil der rumäniendeutschen Heimatliteratur. Das oben erwähnte "Schöne" etwa ... Oder, ich zitiere weiter Broch: die "Flucht ins Historisch- Idyllische ... denn jene historische Welt ist `schön`... Es wird ein unmittelbarer Anschluß an die Vergangenheit gesucht, genauso wie der Kitsch stets den unmittelbaren Vorgänger kopiert..."

Das stimmt genau mit dem überein, was auch Gerhardt Csejka in seinem Essay "Der Weg zu den Rändern, der Weg der Minderheitenliteratur zu sich selbst", 1990, Heft 7/8 in der "Neuen Literatur" erschienen, festgestellt hat: nämlich wie "zwingend mächtig der Glaube an den Volkscharakter der sächsischen Gemeinschaft noch nachwirkte", obwohl es sie gar nicht mehr gab, so "assimiliert die Literatur", laut Csejka, "jeweils das Rollenbild, das der Erwartungshaltung der vorausgegangen Epoche entsprach - sie hinkte gewissermaßen sich selber nach:" Wittstock, Meschendörfer, Zillich realisieren "Projekte" der Michael-Albert-Generation aus dem vorigen Jahrhundert, und sogar nach dem endgüligen Geschichtsbruch 1944 führe Paul Schuster (geb. 1930) in der "Fünf-Liter-Zuika-Trilogie", so Csejka, diese Vorstellung des "repräsentantiven" und realistischen sächsischen "positiven" Geschichtsromans ohne Geschichte und "Volk" weiter. Ja, die sozialistisch-realistischen Thesen stützten diese Lebenslüge 40 Jahre lang weiter, die zwangsläufig Fälschung, also Kitsch produzieren mußte, nämlich schmerzlich tragische Themen im beschönigenden, unwahrhaftigen, nicht-entsprechenden und pseudorealistisch-abbildenden Stil zu behandeln, wo doch furchtbare Abgründe und Unbeschreiblichkeiten metasprachlich z.B. im Totengespräch mit den Millionen Opfern zu übersetzen gewesen wären: das, was zwischen 1940 und 1944 geschehen war, und nachher erstrecht. In einem Vortrag an der Universität Triest bei Claudio Magris hatte ich die These aufgestellt, daß erst Stalingrad die moderne rumäniendeutsche Literatur geboren habe, aus dem endgültig totalen Nichts und der Bodenlosigkeit nämlich, Magris hat das dann im "Corriere dela Sera" vom 8. Februar 1987 so kommentiert: - der Autor der "Vaterlandstage" habe in seinen Ausführungen in Triest, ich zitiere: "gesagt, daß für seine Leute erst nach Stalingrad eine wahrhaftige Literatur möglich wurde."

 

Die "Vaterlandstage" sind dem Verständnis des Autors und seiner Stilmethode nach - ein radikaler Bruch mit der rumäniendeutschen ästhetischen Tradition auch des verdrängenden Narrativen im Sinne eines allgemeinen sächsischen Publikumsgeschmacks: und dieser Roman wurde natürlich von den Landsmannschafts-Publikationen nicht einmal richtig verrissen, nicht einmal im Negativ-Spiegel durfte, man höre und staune: noch 1986 das tabuisierte Thema berührt werden, sondern der "modernistische Stil" wurde als "unschön" und das "Gebrochene" und Bruchstückhafte, als "unsächsisch" und "fremd" diffamiert, der Roman über die Todeslager und die sächsische Schuld als etwas, das "fremd" ist, die Sachsen also gar nichts angeht, beiseitegeschoben, den Leuten vom Besuch von "Vaterlandstage"- Lesungen abgeraten, als täten sie beim Zuhören etwas Unsittliches.-

Nun ja, genau dieser Stil der Zersplitterung gehört meiner Meinung nach zum Umgang, zum zerbrochenen Spiegel und dem Haltlosen eines ins Nichts und Nirgendwo entlassenen Rumäniendeutschen als typischer Hauptfigur, die hier Michael T. heißt, und bei der auch noch die "schönen" Erinnerungen und die Kindheit durch Wissen von dem was während dieser Kindheit zwischen 1940 und 1944 geschehen ist, zerstört worden war. Und am deutschen Höllengeschehen, wo die deutsche Sprache, ja, jedes "Und" oder "Oder" mitgewirkt hat, zerbricht ja auch sie, und kann nicht mehr so sein, wie bisher. Stottern angesichts des Geschehens, anstatt schöne schwingende Syntax. Sprachblöcke, anstatt Rhythmus und "schöne" Bilder und Sätze oder Sentimentalität fürs Gemüt.

In sich selbst hinabfallende Bewegung, so dicht, daß anstatt Handlung, nur dichter Prosavers dasteht, der Zeitabläufe blockiert. "Sic et non," das sofort wieder Zurücknehmen des Gesagten im gleichen Satz als Stilprinzip. Usw.

Am genauesten hat die siebenbürgische Autorin Bettina Schuller diese durch den Romangehalt aufgebrochene Sprache analysiert. (In: "Neue Literatur", 3/4, 1990). Die Sprache bediene sich "streckenweise nicht der Logik und Grammatik des Denkens... sondern der Assoziationen der Gefühle", doch "nach solchen Strecken ergibt sich unversehens" "ein Bild", so daß "die, wie zufällig aneinandergereihten Worte und unfertigen (grammatikalisch unfertigen) Wortgruppen genau am rechten Fleck stehen, und man von einer Stimmung des Déjà-vu, des "ja, so war es damals (in der Summe von Farbe, Geruch, Möbelstück, Tagesgespräch) - erfaßt wird." Wichtiger als dieses Umkreisen ist der wunde Punkt, den es, sprachlos geworden, doch benennt, das Grauen, eben mit diesen "sprunghaften Assoziationen," die schon "intuitiv geformt" sind, vor allem in "Ungereimtheiten der Assoziation", etwa in solchen Zitaten, wie "die Faust aufs Aug". Weiter Schuller: "Ein Beispiel von Unzähligen: Eichhörnchenjagd - und Tod assoziert mit Löns-Liedern, und dabei entsteht eine Bangigkeit, eine Sehnsucht nach - und Furcht vor Kindheit. Geborgenheit inmitten (wie sich später herausstellte) unsäglicher Grausamkeit." Und: "was sich der Logik zu entziehen sucht, wird locker und gezielt von diesem eigenständigen Stil... eingekreist". "Es war die Zeit meiner Kindheit, gewußt und gewesen." "Im Rückblick wird die Idylle zum Verhängnis; eine ungeahnte Schuld, ähnlich einer antiken Tragödie." ",In der Klosterkirche predigt ein junger Divisionspfarrer`, - ein klarer Aussagesatz, kein Spekulieren, aber im Konzept schlägt er ein wie ein Orakel, das in der Regel Unheil verkündet."

"Ich fühle mich wie einer", sagt der Hauptheld: "dem das Recht auf sein Gedächtnis abgesprochen wurde". Aber die Sprache wird verwendet "für suspekt gewordene, kompromittierte Gefühle".

Es ist, wie es Andreas Möckel, Siebenbürger, heute emeritierter Historiker an der Universität Würzburg in einer sehr genauen Besprechung nennt: "Seelenarbeit der Hauptperson, die in die eigene Vergangenheit zurückkehrt... anders und neu nacherlebt." "Naiver Kode von einst und entschlüsselter, wissender Kode heute liegen übereinander." (In: "Zugänge", Juli 1987). Das sei verheerend für die Seele des Kindes, die "Vergangenheit sich selbst fremd", ein "merkwürdig irrealer Alptraum und gibt ihm erst im Neubesinnen die wirkliche Bedeutung, erst nachträglich Realität". Diese Last, meine ich,. nämlich daß Literatur allein die Vergangenheit verändern kann, sogar neu begründen hilft, ist mit bisherigen Mitteln nicht mehr möglich. Für die Sachsen sei dieses Buch eben gerade deshalb eine "Provokation", sagt Möckel, da es eine Umkehr fordere. Auch in der Sprache, die durch die Nazizeit und das rote Chaos nicht unbeschädigt geblieben sei, deren Museum, genau wie das Museum des Bewußtseins allein gelten soll. Solch ein Museum aber wurde in den "Vaterlandstagen" auch vorgeführt durch die Verarbeitung der vielen Interviews. Am spannendsten beim ehemaligen SS-Offizier Roland A. Ich will zu diesen "Rohmaterialien" zurückkehren, und hier nicht allzu ausführlich auf die Poetik der "Vaterlandstage" eingehen, obwohl sie einiges zum Thema hergeben würde, da sie ganz eng am Inhalt liegt.

Zum Rohstoff des Buches gehören auch vier Sendungen: Radio Bremen eine Stunde, Süddeutscher Rundfunk drei Stunden, Hessischer Rundfunk eine Stunde, wo vor allem O-Ton meiner Interviewpartner die Basis war. Darunter der Auschwitzapotheker Capesius und ein Verwandter, der Schöngeist, Religionslehrer und SS-Offizier Roland A.. Die Szene, die ich zitieren möchte, erscheint auch in den "Vaterlandstagen" als eine Szene mit "Onkel Andreas", allerdings steht das Dokument wie ein starre Wand dem Stil im Wege.

Meine Bemühung ums Dokument, hat mir von vielen älteren siebenbürgischen Lesern den Vorwurf eingetragen, das "Schöne" zu vernachlässigen; ja, ich habe am Gegenteil gearbeitet, unbewußt aber ist das "Gräßliche", also das "Verdrängte" zu einem Zeichen geworden. Dokumente dieser Art, ja, jeder Art zu bemühen, heißt der "Authentizität des Alltäglichen den schönen Schein zum Opfer" zu bringen: " ... doch verleiht er ihnen durch Montage eine Schönheit zweiten Grades - die der Allegorie" ( Norbert Bolz) In den "Vaterlandstagen" habe ich versucht, auch diese Montagen wie den "Traum hieroglyphisch, mit Bildzeichen" funktionieren zu lassen. Ich gehe von jenem ganz persönlichen Wissen aus, daß beim Verstehen, beim Schreiben vor allem, in der Lektüre, ein flash möglich ist, wenn man sich dem größeren Zusammenhang, dem "Einen", das nicht ausdrückbar ist, nähert. Neben vielen andern, hat mich auch Thomas Pynchon mit seinen "Enden der Parabel" beeinflußt, hier kehrt der ineinsgleitende metonymische Schreibprozeß die Wirklichkeit und unser kausal funktionierendes Bewußtsein um wie einen Handschuh. Der Stil geht dem Inhalt wider den Strich, wider die Moral von der Geschichte ist er ÖFFNUNG, sucht Berührung, erfüllt mit Optimismus, während auf inhaltlicher Ebene Tod und Zerstörung wüten. Diese Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die wie dieses erst im Entstehen ist. Hier ist die neue U-Topie einer "Gegenmacht" zu suchen, nachdem die alte des erstarrten Ego, die sich mit Ideologie verband und mit dem politischen Verbrechen, weltweit gescheitert ist.

Aber ich will Sie mit diesen ästhetischen Problemen jetzt verschonen. Und zitiere aus dem Roman: "Wer unterscheidet noch zwischen Licht und Irrlicht.... T. will Kontakt mit seinem toten Vater aufnehmen und hört nur die Stimme des Andreas: `Man hat ja dort manches ansehen müssen,` höre ich ihn, anstatt der Totenstimme meines Vaters: `Funktionshäftlinge hatten unter Aufsicht Dylewskys wohl ein seltsames Gestell getragen, es war die sogenannte SPRECHMASCHINE oder SCHAUKEL, darin wurde der verschärft zu Vernehmende reinmontiert wie ein Stehaufmännchen... schlugen Board und Dylewsky auf ihn ein, daß er sich wie ein Kreisel drehte... Die meisten starben kurz nach der Tortur.`" Und Andreas sagte dazu: "Wo andere ohnmächtig geworden sind... da blieb ich standhaft und hart... es hat mich weniger berührt als andere. Ich war robuster als die Robustesten." Und gibt vage zur Erklärung an: "Jaja, aber die Kunst, Musik und Poesie vor allem, sie haben mir oft zur Flucht verholfen, auch dort..." Das Schöne also? Als wäre das andere "notwendig" , der graue Alltag eben, dort etwas grauer. Aber das Schöne blieb ja hoch oben und war das Wichtigste? Das war Verdrängung schon im Augenblick des Geschehens mit Hilfe des ominösen "Schönen".

Wieder also dieses typisch "Schöne", abgekoppelt. Brochs Kitschdefinition auch hier: "Neurose und Kitsch", wo sogar Hölderlin so, schlimmer noch als der Tornister-Hölderlin, denn Andreas las ihn auf dem KZ-Wachturm, zu Kitsch werden kann.

"Andreas", Untersturmführer, Leutnant, Schöngeist, führte es vor. Ebenfalls in einem Gespräch (1979) in Innsbruck, sagte er, wie er ständig "Wachvergehen" begangen habe, da er auf dem Wachturm, "um das nicht sehen zu müssen", andauernd "die Nase in einem Buch hatte". Mit Vorliebe las er Nietzsche und Hölderlin, "um das nicht sehen zu müssen." Er war ein guter Klavierspieler, obwohl ihm die Finger oberhalb des Gelenkes vor Moskau abgeschossen worden waren, und er nur mit den Stummeln spielen konnte; frontuntauglich wurde er 1942 nach Auschwitz versetzt.

Und er habe nur gedacht `inter arma silent musae'; vor den Waffen schweigen die Musen. "Doch ja, sagte er: "Ich hab auch Posten geschoben und ständig den Rucksack voller Gedichte gehabt. Nicht wahr. Ich hab ständig Wachvergehen begangen."

In den Sendungen "Vaterlandstage" (90 Minuten) beim Süddeutschen Rundfunk am 1. März 1980 und "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Oder was habe ich mit Auschwitz zu tun" (Gemeinschaftsproduktion HR/ Radio Bremen 60 Minuten, am 8. 5. 1981), kamen Capesius und "Andreas" ausführlich zu Wort. Hier ein Fragment aus der zweiten Sendung:

"A. hat eine weiche pastorale Stimme. Unterbrach sich, setzte sich ans Klavier und spielte ein Schubertlied. Plötzlich ist er absent, starrt auf einen entfernten Punkt außerhalb des Raumes, ist nur mit sich selbst beschäftigt, seine Freundin, eine blonde Frankfurterin, tippt ihn vorsichtig an, wie man Irre anrührt, da er nur sich Wein eingeschenkt hat und sagt: das war aber nicht höflich. Sieht ihn mit einer milden Wut an. Doch er nimmt es kaum wahr, murmelt abwesend: jaja.

Du willst also ein Buch schreiben, erkundigt er sich neugierig. Was beschäftigt dich?

Die Ursachen unseres Verschwindens.

Aha, aha, du bist also kritiksüchtig! Nietzsche hat da ein schönes Wort: Menschliche Tugenden: Güte, Hilfsbereitschaft, Edelmut usw. seien nichts als eine Art Luxusgüter, die wir uns nicht immer leisten können. Das habe ich irgendwo bei Nietzsche gefunden, und das möchte ich fast unterschreiben.

Es sind nicht die obersten und höchsten Werte?

Ich möchte sagen, es gibt keine obersten Werte. Weltanschauung ist immer biologisch: Ich will leben und überleben.

Das Gesicht des SS-Sturmführers war wie verweht, ein großes verschwommenes Ei.

Aber ich meine, fuhr er plötzlich ungewohnt leise fort: Gewissensfreiheit ist das Höchste.

Warum bist du dann nicht aus Auschwitz geflohen, wie andere auch?! Stand die Todesstrafe darauf?

Er sah mich mit seinen bläßlichen Augen amüsiert an: Freilich stand die Todesstrafe darauf. Desertion. Nein, das wars ja nicht, an Mut hat es mir nicht gefehlt, aber ich war für Ordnung, für bedingungslose Disziplin. Wohin hätte ich auch fliehen sollen, es waren ja meine Leute, die dort das Sagen hatten, die mich brauchten."

In einer Besprechung der Sendungen, in "Licht der Heimat", Beilage der "Siebenbürgischen Zeitung", damaliger Betreuer der Beilage: der Historiker Prof. Andreas Möckel, erschien eine positive Kritik der Sendung. Und brach damit ein Tabu der Landsmannschaft, da damals lauter ehemalige NS-Amtsträger das Sagen hatten, Schreibtischtäter, die um ein Vielfaches schuldiger sind, als der "Pechvogel" Dr. Capesius, oder Roland A., hatte diese positive Rezension über dieses, das brisantest mögliche Thema, ein Eklat zur Folge: Der Chefredakteur der "Siebenbürgischen Zeitung, " Hans Bergel, weigerte sich das "Licht der Heimat" mit jener Rezension zu veröffentlichen. Sicher auf "höhere Weisung." Möckel mußte die Beilage abgeben. Er wurde gefeuert. Und etwas später wurde als eine Art "Gegenlandsmannschaft" der "Evangelische Freundeskreis Siebenbürgen" gegründet. Und diese Auseinandersetzung über die siebenbürgisch-sächsische Mit-Schuld fand erst im Jahre 1981 statt. 1981! Man höre und staune!

 

Schöne Gedichte konnte man ab 1940 in den "Kirchlichen Blättern" Siebenbürgens lesen. Etwa dies: "Herrgott/ steh dem Führer bei,/ daß sein Werk das deine sei,/ daß sein Werk das seine sei,/ Herrgott, steh dem Führer bei." Oder diese Verse des "wertvollsten" Sachsen-Autors Heinrich Zillichs, seine Hitler-Hymne: "Den Deutschen von Gott gesandt... Gütiges Auge, blau, und erzene Schwerthand,/ dunkle Stimme du und der Kinder treuester Vater..."

Es entspicht in hohem Maße Hermann Brochs Kitschdefinition des Uneigentlichen, des schreienden Widerspruchs zur Wahrheit des Besungenen. Freilich weniger gefährlich, als das innere und akzeptierte Regelsystem des blutigen "Spiels", wie wir es bei A. gesehen haben, es nicht mehr ethisch, sondern nur noch ästhetisch zu werten: nämlich, wer innerhalb des vorgeschriebenen Spiels entsprechend handelt, handelt gut.

Broch warnt aber auch vor der Droge Sprache, ihren sentimentalen Giften: vor innerer Hohlheit, Leere, die das Übersteigerte, Emphatische, Geschwollene braucht, eine furchtbare Sentimentalität, die sich für "hohes Gefühl" hält, bei Hitler am stärksten ausgeprägt, der tot und leer war, und wie ein Vampir die Masse, aber auch das Komödiantische brauchte, scheint ein Charakteristikum jener Generation und sicher nicht nur bei den Rumäniendeutschen gewesen zu sein. Ich habe es immer wieder, auch in Deutschland bei den Männern dieser Generation in ihren "schwachen Stunden" beobachtet: Das falsche, unechte Pathos und auch das falsche Gefühl. Doch falsches Pathos, Kitsch, reichte bis zu den kritischsten Geistern wie Karl Kraus, so daß wir laut lachen mußten beim Anhören eines von Kraus vorgetragenen eigenen Gedichtes; bei Schauspielern wie Alexander Moise oder bei Gustav Gründgens ist dieses Pathos noch penetranter. Klaus Mann hat sogar einen Roman, "Mephisto", mit Gründgens als Modell geschrieben. Und die verlogenen Fassaden einer geheuchelten Welt, die Natur und Echtheit vor sich hertrug und das Gegenteil war: gefühliger und tränenreicher enthusiastischer Kitsch in jeder Lebensregung bis zur Kunst, den Monumentalbauten, Filmen, Reden, ist typisch für die Nazizeit: Kitsch, vor allem in der Sprache als tödliche Gefahr, "kochende Volksseele" mit viel "Gefühl", das von der Politik, der Realität aber völlig abgekoppelt war, und so Krieg und Todeslager möglich machte, Alltag wurde das Unvorstellbare der Todesfabriken - und gleich daneben wurden im Familienkreis der Offiziere deutsche Weihnachtslieder gesungen und Bescherung gefeiert. Konzerte gegeben, Gedichte vorgetragen. Kunst und Barbarei. Hermann Broch hat in seinem großen Essay "Das Böse im Wertsystem der Kunst" früh vor der Gefahr gewarnt: "der... Zusammenhang zwischen Neurose und Kitsch" sei "zeitgeschichtlich nicht unbedeutsam", schreibt er, es sei "kein Zufall, daß Hitler (gleich seinem Vorgänger Wilhelm II.) ein unbedingter Kitsch- Anhänger war." Ähnliches wissen wir von anderen Diktatoren, inklusive Stalin. Und denken wir nur an die Szene des auf dem Wachturm Hölderlin lesenden siebenbürgischen SS-Mannes: So ist Nero als Modell nicht weit... "ein Schönheitsbeflissener," so Broch: "das Feuerwerk des brennenden Rom", "die lebendigen Christenfackeln hatten sicherlich gewisse künstlerische Valeurs, wenn man kraft Ästhetentum taub gegen die Schmerzensschreie der Opfer sein oder gar als ästhetische Begleitmusik einwerten konnte." Kitsch ist nach Broch Imitation, Simulation. Überhitzte Lüge, imitiertes Gefühl etwa und gefährlich ins "Hohe" gebracht zur Verführung: "sieh, es stehen geschart über die Erdteile hin/ Weib und Mann in den Flammen der Seele/ heilig vereint..." Heinrich Zillich: Hitler ist gemeint. Ist das nicht Pseudoreligion, die der arme sächsische Leser oder Hörer damals nicht mehr von echter unterscheiden konnte.

Aus den "Vaterlandstagen" (S. 84) dazu diese Passage, die freilich ebenfalls auf realen Zitaten und Dokumenten beruht, der "junge Divisionspfarrer" in der Klosterkirche: "Alles für die Front, d.h. aber: alles für unser Volk... dem wir mit der Herz- und Heilkraft unseres Glaubens in erster Reihe zu dienen haben... Der Herr segne und behüte euch, der Herr lasse leuchten sein Angesicht über euch und sei euch gnädig."

Eben: das "Völkische", Volksgemeinschaft, ja "die Front" gar als Gottersatz. Volk "Heilig vereint". Und man sang: "Heilig Vaterland in Gefahren/ alle Söhne sich um dich scharen." Usw. Mit schwülstig getragener hymnischer Melodie.

Daß die Siebenbürger Sachsen "areligiös" seien, wie sogar einer der Nazi-Vordenker und kryptofaschistischen Theoretiker schreibt, stimmt leider völkerpsychologisch, und es stimmt auch, daß der "Nationsbegriff als religiöses Surrogat... anstelle des Gottesbegriffs" wirkte, so Alfred Pomarius; Pomarius hat diesen "Hang zum Rationalismus", eine "Abart des religiösen Lebens", eine "politisch-ökonomische Religiosität" genannt. Eine ähnliche Charakterisierung finden wir auch beim siebenbürgischen Philosophen Lucian Blaga, der als Beispiel für diese rationale Grund- und Abwehrhaltung die Tuchfühlung der sächsischen Häuser in einer Dorfgasse angibt.

Daß Religiosität ästhetisch, mit allen möglichen "Gefühlen", vor allem dem höchsten Wert "Gemeinschaft", "deutsches Wesen" und dazugehörend: Pflicht, Gehorsam usw. ersetzt wurde, hat Hitler und die Todeslager erst ermöglicht. Vor allem die Vermischung der Nazi-Pseudoreligion mit dem Christentum zum "germanischen Christentum", Abschaffung Gottes und des freien Gewissens, mit dessen Hilfe man sich den Macht- und Befehlszwängen der "deutschen" Sozialisation hätte entziehen können. Dieser Breich aber war bei den Siebenbürger Sachsen betäubt durch die historische Seelenverfassung der ethnisch bedingten Gruppenhalluzination "Geschlossenheit", die heftige Emotionen bei meinen Gesprächen mit Verwandten weckte. Zitat: "Wir waren immer geschlossen. Immer geschlossen... andernfalls wären wir doch längst nicht mehr da!"

Der vielleicht klarsichtigste sächsische Autor, Erwin Wittstock, schrieb in seinem klarsichtigsten Roman " Das Jüngste Gericht von Altbirk" über diese sächsische kollektive Seelenverfassung: "Weltgericht ...(weil sie keine Möglichkeit haben, ihre Zeit, die Zeit des Feudalismus, aus eigener Kraft zu überwinden....) Religion, Sitte, Brauch, Treue, Bildung und Geschichtsbewußtsein, Opfersinn und Unterordnung sind die Seiten der Windharfe, die nur unserem Ohr vernehmbar sind." Und übersteigert wurden. Bei großen Gemeinschaften ist sie nie so ausgeprägt, diese instrumentelle Moral, die ohne höheren Wert, ohne das System überschreitende Gewissensfreiheit blind macht. Wir erinnern uns: Hitler nannte das Gewissen eine "jüdische Erfindung", auch gab es das Wort "innerer Schweinehund" dafür.

"Mir ist der Kampf etwas Heiliges" - Ernst Jünger. Wer das nicht kenne, bei dem sei die "Idee des Vaterlandes tot... uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren Strahlen großer Gefühle zu leben." Wider das "Negative", das "Kritteln" und "Klügeln", alles "jüdische Eigenschaften". Das "Negative" warfen mir meine sächsischen Gesprächspartner vor. Zitat: "Es ist traurig... weil du es nicht mehr nachempfinden kannst. - Doch, ich kanns leider nachempfinden ... ich lehne aber diesen Teil in mir ab... - Du lehnst ihn ab... aber er ist da... der bessere Teil ist verlorengegangen... Du hast kein deutsches Herz."

Die Erregung, wenn man diesem Empfinden nahetritt, ist groß. Als wäre es Religion und sakrosankt, dieses "Gefühl".

Die Gemeinschafsthalluzination war heilig, unantastbare Grundlage des Selbstverständnisses. Und sogar lebensrettend in schweren Zeiten. Eine Verwandte sagte bei unseren Gesprächen: "Wir haben überhaupt viel verdrängen müssen. Das ist so. Wir sind aus der Zeit... wir haben uns nicht ausreden können, wie es heute an der Tagesordnung ist ... Aber wir müssen ja auch mit unserem Leben fertig werden, irgendwie."

Ja, "aus der Zeit". Zum Problem der Verdrängung, der unbewußten Verdrängung hier ein Zitat: eine in den "Vaterlandstagen" nicht erschienene Szene aus den 6000 Seiten, die in Mappen liegen. Es geht dabei um eine andere Figur aus dem Roman, um Karl Wilhelm oder "Töff" genannt, der ebenfalls, wie fast alle männlichen Mitglieder dieser Sippe zur SS ging, und nun dem armen Vetter, dem Andreas helfen sollte, von Auschwitz wegzukommen, was nicht gelang, da Auschwitz "Frontdienst" war. In einem Brief heißt es, der Brief ist ein Dokument und im Roman nur zitiert:

"An einem dieser Tage hatten sie sich im Herrenzimmer versammelt, und saßen im Kreis und Mama las den Brief Karl Wilhelms mit lauter Stimme vor, kam von oben, der Brief, und alle hatten gerötete Wangen, waren sehr aufgeregt, Mama entzifferte mit Mühe die großen ungelenken Schriftzüge Karl Wilhelms:

OA, 2. August.

Ihr Lieben!

- Meine Arbeit hier ist sehr interessant und macht mir viel Spaß, nur leider muß man auch viel Wache schieben u. zwar in ähnlicher Art wie unser Andreas, und das gehört so ziemlich zu den ermüdensten Angelegenheiten und so gilt ein entsprechend erhöhtes Schlafbedürfnis. Andreas will sich Studienurlaub geben lassen u. da mußte ich mich hier erkundigen, weil sie dort von nichts wissen wollen. Ich habe mir dann hier von einen Fürsorgeoffizier des Batt. die genauen Bestimmungen geben lassen, auf die er sich berufen kann und auf Grund derer es ihm als Kriegsversehrtem unbedingt zusteht. Hoffentlich klappt es, daß er endlich von Auschwitz loskommt..."

In der Psychiatrie gibt es den Ausdruck "Zustandsgrenzen", zwischen Traum und Wachen, das Vergessen - z.B. von Träumen beruht darauf. Diese Grenzen gelten aber auch für Zeitgefühle und Stimmungen. Meine Gesprächspartner behaupteten, sie hätten nie von "Auschwitz" gehört. Ich zeigte ihnen diesen Brief, und sie waren ehrlich erstaunt. Das Wort Auschwitz war eben heute anders "besetzt" als damals. Sie hatten nicht gelogen.

Die Frage, kann sich der Einzelne überhaupt diesem Zeiteinfluß entziehen, habe ich aus eigener Erfahrung für mich negativ beantwortet. Bei den Gesprächsaufnahmen sagte ich wörtlich: "Vielleicht wäre ich auch ein KZ-Aufseher geworden, ich weiß nicht. Wahrscheinlich." Und die Antwort der Runde: "Wahrscheinlich?! Wahrscheinlich? Bestimmt! Na., siehst du, da liegt der Unterschied... Der Mensch wird geprägt von der Zeit, in der er lebt... Aber warum willst du in dem wühlen? Was für einen Sinn hat das!"

Die Antwort war eigentlich schon in der vorherigen Aussage gegeben. Erstaunlich aber, daß dieses erst im Westen geschah, zu Hause, wurde alles "vergessen", weil man sich selbst als Opfer einer anderen Diktatur sah, die eigentlich jenes Schuldgefühl zur Pflicht, ja zur Staatsgrundlage hatte machen wollen. Und es so überdeckte, ja, absorbierte. Antifaschismus war Pflichtübung. Umso frischer aber blieben die alten Gefühle, dieses Ostreservoir der Verdrängungen schädigt heute die Demokratie in der Bundesrepublik. Im "Nachfolgestaat" BRD aber war diese Nazivergangenheit historische Grundlage des so und nicht andersseins. Eine Verwandte sagte: "Ich habe insoweit ein Schuldgefühl, daß ich deutschen Blutes bin, das sag ich. Das hab ich Zuhause nie gehabt, aber hier hab ich es!"

Wer aber diese Schuld wirklich annimmt, wird geschlagen, mit einer Art Tabula rasa geschlagen, im Roman heißt es über den Haupthelden: "Er fühlte sich wie ausgebrannt. Sein ganzes Leben war von einem Rächer bestimmt gewesen, wie von einer Furie, die das Verschwinden auf raffinierte und kaum merkliche Weise betrieben hatte, nun schon vierzig Jahre lang... Er hatte sich gewehrt, hatte Widerstand geleistet, geplant, gearbeitet, nun war er leergebrannt. Sogar das Heimweh war nur noch ein leises Ziehen..."

 

Da das, was tatsächlich geschieht, kaum wahrgenommen wird, 1945 genau wie heute, etwa jenes Erwachen wie aus einem Alptraum, das Kaum-Wahrgenommene verstärkt, übersetzt und erhält es die Literatur, sie ist dieses Modell des Erwachens aus einem Traum, und Erwachen aus einem Traum im Traum; in den "Vaterlandstagen" ist dieses zum Grundmodell des Romans geworden: intensiv wie im Traum stößt so dem Subjekt das Gewesene zu, alles ist nun wieder da wie ein frisches Erlebnis, das eben erst geschieht, und so wird Verdrängung schmerzlich aufgehoben, "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung" (Freud) tritt ein; es könnte lebensgefährlich werden, wäre es nicht eine Aufhebung im transzendenten Bereich.

Die Schlüsselszene ist eine Erschießungsszene: Michael T. kehrt heim, wird verhaftet, träumt in der Zelle seine Hinrichtung, Reflex und Projektion seines Schuldgefühls, Wissen um den Verrat, das Land verlassen zu haben; doch die Zeit wird aufgehoben, die Kugeln des roten Erschießungskommandos kommen nicht an, zwischen Leben und Tod, in einer einzigen Sekunde, träumt T. sein ganzes Leben, es ist wie ein Gericht. Und diese Rückschau, dieser Gerichtstag oder besser die richtende Sekunde entwickelt die Handlung dieses Buches.

Es ist ein geträumtes Erwachen zu einer thanatologischen Panoramaschau im Todesmoment der geträumten Hinrichtung, der Rahmen für die ganze Handlung: das Gericht. Schmerzlicher aber ist die "Befreiung", das endgültige Erwachen aus dem Traum, ein heroisch Verfolgter zu sein; T. erwacht dann schockartig in der Zelle; seine Verhaftung war nur ein "Irrtum", er wird mit Entschuldigungen zum Flughafen gebracht und ins Aus-Land abgeschoben. "Befreiung" durch die Abschiebung ins Aus-Land am Ende des Buches zerstört endgültig seine heroische Emigrantenlegende, wie jedes dieser Erwachen-Szenen eine Ent-Täuschung zur kruden Wirklichkeit ist, die keinen Sinn und keine Überhebung ins Ideal kennt: Alles ist so wie es ist; nach 1989 erwies sich dieses als neues Vernichtungsmittel, das Endgültige der normalen Banalität, nachdem der Ausnahmezustand der Diktatur aufgehoben war, der zumindest für ein Später als Hoffnung Anlaß gab; Negativspiegel.

Noch ein Wort zum "Verdrängen" wie es heute in der Literatur gesehen wird: nämlich als Schutzsystem, das nicht etwa von Schuld befreit, aber erklärt und mit Mitleid umgeht: vor allem bei Alexander Kluge und H.M. Enzensberger, nicht bei Peter Weiß. Doch packt uns bei einem tieferen und vergleichenden Blick das Entsetzen. Wenn wir von Jean Baudrillards Theorie der "Schweigenden Mehrheiten oder Das Ende des Sozialen", (schon 1979 im "Freibeuter") ausgehen. Wo die "Banalität" des Alltags, das Private als eine Rache der Mehrheiten, ihr Schweigen wider Politik, Wissenschaft, Kunst und Geist gesetzt wird, ein Sich-Sperren gegen das Denken, das Abstrakte ist, ein im Bedeutungslosen des unmittelbaren Alltags Versinken ist, wie sich die Masse der Un-Subjekte der Kultur entzieht.( Hanns Johst, der Nazi-Dichter sagte sogar: "Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich den Revolver".) Die Un-Klasse des Kleinbürgers, ihre Wut gegen Intellektuelle, Außenseiter, Fremde, ist eine ewige Trägheits-Kategorie der Tiermenschen, sie ist wieder akut da, diese Masse heute. Schon in Hitlers Bewegung läßt sich eine Ranküne, eine jubelnde Masse, die sich am Geist rächen will, erkennen. Das Hitler-Modell ist noch längst nicht passe´, es war nur eine Variante.

 

(Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten in der Walberberger Bildungsstätte im Rahmen des Symposions " Die historische und kulturelle Entwicklung der deutschen Minderheiten im südosteuropäischen Raum von 1918 bis 1945, 8.-10. Oktober 1993.)

 

IN EINER STUNDE WERDET IHR EUCH WIEDERSEHEN

Ein Gespräch mit dem siebenbürgischen Auschwitzapotheker Dr. Victor Capesius

(TONBANDPROTOKOLL 1978)

 

DS: "Thogt Reform and the Psychology of totalitarism" von Robert Litton, Yale University...er hat Sie um Auskunft gebeten für das Buch?

FC: Ja, mehr eine psychologische Studie.

C: Jedenfalls verkauft er seine Bücher sehr gut.

FC: Ja, und er hatte auch das Interesse mit dir zusammenzukommen, um die Empfindungen...

C: Ich habs abgelehnt.

DS: Sie sollten schreiben, was Sie dort...

C: ... empfunden hätte bei dieser Tätigkeit, die wir dort ausgeübt haben, so in dieser Art... das war recht verschieden, wir... ich hab es nachher erfahren, wir wußten nicht, daß unsere Wohnungen in unserer Abwesenheit genauestens kontrolliert werden, ob wir nicht irgendwelche Edelsteine oder Gold genommen haben von jemandem.

FC: Du meinst dort in Auschwitz?

C: Ja, in Auschwitz. Und die Apotheken natürlich auch, vom Boger. Er war der Politische. Ja, sicher.

DS: Ich habe die Bücher darüber gelesen, weil es mich sehr belastet, daß ich auch aus dieser Sozialisation komme; wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich die Chance gehabt ebenfalls da rein zu kommen, es hätte mir das gleiche passieren können...

C: Und die Landsleute, die dort Wache geschoben haben, die waren ja so geschult. Und der der Schulleiter gewesen ist, der läuft jetzt frei herum, der hat mich einmal gezwungen über den Himmler zu sprechen, und ich hab so im Laufe des Gespräches gesagt, "der Reichsheini". Und da wollte mich ein Teil dieser Unterscharführer nachher anzeigen. Aber da haben die Siebenbürger es durchgesetzt, daß nichts gemacht wurde. Die haben gesagt, wenn du das tust, zeig ich dich wegen dem und dem an. (Lachen). Und dann war Ruhe. Ich hab es anfangs nicht erfahren; erst nachträglich hat es mir ein Siebenbürger gesagt.

DS: Waren viele Siebenbürger dort?

C: Ja, 2-300.

DS: Ich meine aber Wachmannschaften.

C: Wachmannschaften.

FC: Der Albert, der war ja auch da. Ja.

C: In diesem Buch vom Langbein da ist er angeführt, Untersturmführer war er, Leutnant.

DS: Nicht Obersturmführer?

C: Vielleicht am Schluß. Im Vierundvierziger da sind wir noch befördert worden alle mal, wie wir die Heimat verloren hatten, Da hat man jedem eine Beförderung gemacht...

DS: Sie waren ja die höchste Charge im Prozeß?!

C: Ja. Denn der Kommandant war... der ist ja gestorben im Lager...

DS: War das zuletzt der Höß?

C: Nein, der Wirths Nein, der Wirths war ja Standortarzt. Der Höß war der eigentliche Kommandant gewesen bis zum Schluß Der Höß war die eigentliche treibende Kraft dort, ohne ihn wäre es nicht so scharf zugegangen... Die meisten sind ja nach dem Krieg abgeurteilt worden...

DS: Also gehängt oder....

C: Ja, gleich nach dem Krieg. Auch der Dr. Klein Fritz.

DS: Woher stammt der?

C: Kronstadt. Und der Klein Fritz war in Auschwitz. Und war Untersturmführer. Er war damals schon gut 65 Jahre alt. Er hätte nicht mehr einrücken müssen. Aber er ist eingerückt.

DS: Freiwillig?

C: Und er hat als Untergebener vom Mengele Dienst gemacht in Birkenau Und ist bei Selektionen und so immer hinter dem Mengele spaziert und hat mitgemacht und so weiter, teils selbst gemacht, teils hat der Mengele gemacht. Und da kommt der eine Arzt aus Tg. Mures mit seinen Zwillingen. Und der Klein hört wie der sagt, es seien Zwillinge, die bringt man dort gerade fort, und der Klein sagt gleich: Zwillinge? wo sind die? Und dann ist er gleich gesprungen zum Hauptsturmführer Mengele, der zwei Grad höher war ...

DS: Den kennt jeder, der ist sehr bekannt geworden.

C: Naja, weil sich alles um dies gedreht hat in Auschwitz. Denn die Amerikaner haben die Studien, Erbforschung... Zwillingsforschung und Erbforschung...

FC: Eineiige Zwillinge, das war sein Spezialgebiet.

C: Und das haben die Amerikaner von den Polen für viel Geld gekauft, weil das eine sehr wichtige Sache war, da man ja nie so ungeniert forschen konnte, wie dort...

DS: Furchtbar...

C: Na sicher. (Pause). Und der Mengele hat abgewunken, weil es nicht eineigige waren. Und dann kommt der Klein zurück und klopft dem Mann auf die Schulter und sagt: Na, lassen Sie, in einer Stunde treffen Sie sich ja wieder... Und nachdem der Klein nach dem Krieg gleich hingerichtet wurden wegen diesen Lagerverhältnissen in Bergen-Belsen, hingerichtet worden ist...

DS: Wo die Häftlinge nur bewacht worden sind und wo sie verhungert sind! Sie sind ja so zu Tode gebracht worden...

C: Sie sind nicht zu Tode gebracht worden. Man konnte nicht mehr soviel Nahrung geben für sie. Und es kam alles aus dem Osten und kam bis Bergen-Belsen. Bergen-Belsen war für 12000 Leute eingerichtet und 120 000 waren da. Ja, wie sollten die gesund leben. Die, die über mich geschrieben hat, die hat auch über Bergen-Belsen geschrieben. Sie war auch dort (als Häftling) und da schrieb sie, wie schön war es doch und wie ordentlich in Auschwitz, da sind die Leute gleich verbrannt worden, hier aber (in Bergen-Belsen) hat man sie einfach, weil es zu kalt war, es keine Feuerung gegeben hat, hier wurden sie aufgestapelt im Hof, und die Ratten haben sich vermehrt an denen. Und dann sind die Ratten in die Baracken gekommen und haben auch da alles zernagt.

DS: Furchtbar.

FC: Ja, es ist furchtbar.

C: Das schreibt sie in ihrem Buch.

DS: Aber wie heißt die Frau?

C: Zuhause habe ich es in den Akten.

FC: Sollen wir nicht nach Hause gehen, Kaffeetrinken?

C: Klein war tot, ihm konnte man es nicht mehr in die Schuhe schieben, die Leute aus Israel aber wollten auch einmal gerne nach Deutschland kommen und sich mit ihren Freunden treffen, und mal hier etwas einkaufen können usw. und so ist der Doktor gekommen, so hat er alles, was auf den Klein stimmte auf mich angewandt, weil ich auch ungarisch spreche. Da hatte ich zwei Zeugen, daß ich an dem Tag, an dem er gekommen ist, am ersten oder am zweiten Pfingsttag, ich habs genau zu Haus, daß ich nicht dort war, ich war damals in Berlin beim Bäcker Pepi, das ist ein Schwab, der war dort als Sturmbannführer in der Zentral-Apotheke in Berlin, und ich war in Berlin. Und da waren zwei Schwestern, und diese zwei Schwestern waren beim Abendessen beim Bäcker. Da hats alles gegeben, was es im Banat gibt. Und in der Früh ist die Schwester zum Dienst und da ist ihre Schwester gekommen und die zwei Schwestern hätten nun ganz klar beweisen können, daß ich dort bei ihnen war. Aber die hatten Angst, weil die eine in Amerika lebt, vor einer Verfolgung und Behinderung durch die dortigen Juden. Und die andere konnte natürlich auch nicht aussagen. Und ich hab dann darauf verzichtet.

(...)

Ja, die Gisela Böhm... Wenn sie den Paskewicz fragen, was hat ihm die Frau Böhm unten in Segesvar gesagt.

FC: Die Frau Böhm sollte herauf als Zeuge...Und sie hat zum Paskevicz gesagt, ich bin in solch einem Dilemma, ich weiß gar nicht wie ich mich verhalten soll. Einesteils hätte ich Schwierigkeiten bei den Juden , wenn ich nicht gehe, andererseits hat mich der Capesius immer anständig behandelt und ist mir nett entgegengekommen. Der Dr. Mendel, er ist ja der Bruder von der Frau Dr. Böhm, hat zu mir gesagt, er ist zu mir in die Apotheke gekommen; ich verdanke nur Ihrem Mann es, daß meine Schwester am Leben geblieben ist. Und die war mit ihrer Tochter in Auschwitz.

C: (Sucht in einer Kladde und in einem Auschwitz-Buch )... Ella Böhm, das war die letzte Eintragung von Frauentransporten. Dr. Ella Böhm: A 25382 und A 25 383 für die Tochter...

DS: Und der Mann war nicht dabei?

C: Der Mann ist zuhause gestorben und nicht während des Prozesses, wie sie gesagt hat...

Ja, da kam sie in die Apotheke (in Auschwitz) und hat geschrien: Mikor a Doktorur látam, tudok hodj elni fogog. Und hat einen Schrei getan. Und zu ihre Tochter hat sie gesagt: Hat näm üschmers äs a Doktorur, a Segesvári Doktorur.

Und ich hab ihrem Bruder, dem Rechtsanwalt Dr. Mendel geschrieben: Schwester und Tochter sind bei mir. Ich werde für sie sorgen, sorgen Sie für meine Familie.

FC: Und Frau Zilinski hat mir ein Telegramm gezeigt. Und in dem Telegramm war der Vorschlag zum Austausch der Familien.

C: Aber Schatzele, da ward ihr ja schon unter den Russen.

... Nun, unten in Segesvár ist sie ( die Tochter von Frau Dr. Böhm) auf meinem Knie gesessen und der Mendel ist neben mir gesessen, wir haben bei der Ruth Fabritius verkehrt zusammen... und diese Tochter ist bei mir auf dem Knie gesessen, und das Foto haben sie dann (zum Prozeß) mitgebracht. Eben dadurch wollten sie nun untermauern, daß ich sie gekannt hab. Natürlich hab ich sie gekannt. Aber sie haben ja drei Wochen gebraucht, bis sie zu mir in die Apotheke gekommen sind: wenn sie mich auf der Rampe gesehen hätten, denn sie hat dann gesagt: es waren drei: Mengele , Klein und Capesius, er hat nichts gemacht, er ist nur dort gestanden, hat sie dann gesagt, (wäre sie doch sofort gekommen). Der rumänische Staat hat sie herausgelassen unter der Bedingung, daß sie belasten.

(...)

Genauso wie die Böhm gesagt hat, ich wär auf einem Rad im Lager ringsrum gefahren und hätte sie zur Strafe im Kreis laufen lassen... ich wär mit dem Rad hinter ihnen gefahren und hätte mit der Peitsche auf sie eingeschlagen. Es hat das gegeben. Aber das war dann dort der einfache SS-Mann, der sie gestraft hat, weil sie irgend etwas gemacht haben, vielleicht auch weil sie das Essen von 80 Leuten gestohlen haben oder sonst diese Sachen. Das ist schon vorgekommen, daß man so bestraft wurde. Aber da fährt doch nicht ein Sturmbannführer (Lachen) mit dem Bizzikel herum. Das hats dort doch nicht gegeben. Es war ja kein Zirkus...

DS: Ein Prozeß, das ist ja ganz gut, aber die Dinge, die da geschehen sind, die gehen doch über einen Prozeß und über die Kompetenz eines Gerichts weit, sehr, sehr weit hinaus. Das alles ist für mich so unvorstellbar, das kann man doch nicht einfach mit irgendwelchen Gesetzen...

C: Wie ich am 12. Februar 1944 hinkam, da war für sie der Krieg schon verloren, für mich auch. Der Sikorski hat gesagt, Chef habe gesagt, schau: heute seit ihr hier, morgen vielleicht wir. Krieg ist nicht mehr zu gewinnen. Chef hat gesagt... Ja, das bin ich.

DS: Mußte man keine Angst haben, dort so etwas zu äußern?

C: Ich ihm gegenüber nicht.

DS: Er war Apotheker, Häftlingsapoheker?

C: Ja. Und sein Vater war noch Apotheker beim Zaren gewesen.

Am 12. Februar kam ich also dorthin. Und es stand schon in den Listen, wo ich nachgezogen werden sollte von Berlin: Soll für den erkrankten Apotheker Krämer als Ersatz eingesetzt , als Vertretung eingesetzt werden. Der in Berlin hat gesagt, sie kommen in ein SS-Lazarett, sie müssen aber auch die Häftlinge, die dort in Lager haben, mitbetreuen. Mit...

FC: Mit Medikamenten versorgen...

C: Und bin dann hingefahren. Und am 12. bin ich dort angekommen. Am 12. hat der Sturmbannführer mir die Apotheke gezeigt, übergeben, mit mir herumgegangen und hat nichts über die Krankheit gesagt, ich hab auch nicht viel gefragt, ich dachte nur, es geht ihm besser scheinbar. Dann ist er wieder zurück zur Abteilung. Im selben Haus im ersten Stock. Dort war so eine Sanitätsabteilung für die erkrankte SS. Es gab nicht viele Erkrankungen bei der SS, denn die waren ja alle gut genährt und hatten ja ihre Familien dabei, die meisten.... Der Mann jedenfalls (Krämer) ist damals wegen Defaitismus erschossen worden, weil er allen Ankommenden erzählt hat, sie werden noch Auge machen, da ist Sodom und Gomorrha. Es gibt noch etwas mit der Unterwelt, irgend so ein Zitat, das auch vorkommt, das man so sagt, wenn es einem mies geht, am miesesten geht...

DS: Die Apokalypse?

C: Nein, nicht das...

DS: Das Inferno?

C: Ja, das Inferno in der Unterwelt sei nichts dagegen, so in der Art. Er hat aber eine kleine SS-Nummer gehabt, aus dem ersten Jahr...

C: Mich hat man im Prozeß oft gefragt: Na, Sie hätten sich doch einfach an die Front melden können. Ich konnte mich nicht an die Front melden, ich war zu alt. Denn an der Front waren junge Ärzte, die Leutnants waren, die Obersturmführer waren, die wollten nicht einen Apotheker, der Sturmführer oder Hauptsturmführer war, und dadurch nach SS-Manier das Kommando hat.

DS: Haben Sie versucht mal...

C: Nein, das hat man gesagt, daß man nicht kann, daß man uns nicht braucht dort, man kann nur im Hinterland beschäftigt werden.

DS: Wie war das, hat der Roland A., der hat sich doch, glaube ich, freiwillig dann an die Front gemeldet, der ist ja dann auch abkommandiert worden...

C: Wie die Sache vorüber war... so hieß das bei uns, naja, sicher.... Wenn man im November 44 ihn also abkommandiert hat, dann war das alles schon vorüber. Man hat um die Zeit alle abkommandiert, die man irgendwie verschwinden lassen wollte... daß man nicht viel merkt. November 44. Da war dort alles schon vorüber, denn die Ungarn sind im Juni/Juli gekommen, dann sind noch im August ein paar Leute gekommen und dann war es ja vorüber mit der Vernichtungsaktion...

DS: Die meisten Belastungen waren doch im Zusammenhang mit dem Transport aus Klausenburg für sie...

C: Ja, sicher... das kam alles damals in der Pfingstwoche.

DS: Schöne Pfingstwoche...Und wie war das mit Roland Albert?

C: Sein Vetter oder wer aus Innsbruck, der hat ja dann die Sache doch noch geschmissen... er war dort Staatsanwalt oder so etwas in Innsbruck. Oder ein guter Bekannter. Sie können ihn ja fragen, er wird es Ihnen erzählen. Und der hat alle Papiere verschwinden lassen. Es haben keine Papiere mehr existiert, es konnten keine Belastungen gebracht werden, und die Leute, die da eine Belastung gemacht haben, waren zum Teil schon tot.

DS: Wie begann überhaupt Ihre "Laufbahn"?

C: Sicher, wir sind in Hermannstadt assentiert worden. Assentiert worden vom Dr. Richard Weindel ... in Bukarest, der ist überall hingefahren mit so einer Kommission. Einwaggoniert in Hermannstadt. Im Viehwaggon bis nach Wien. Und ich wurde von Wien zuerst nach Berlin geschickt im Ersteklassewagen und alles, vorher waren wir im Viehwaggon gekommen.

DS: Und dann kamen Sie ja von Berlin, kamen Sie zum erstenmal in so ein Konzentrationslager? Sie haben ja vorher überhaupt keine Ahnung davon gehabt?!

C: Doch. Nicht vom Konzentrationslager direkt, sondern vom Zentralen Sanitätslager in Warschau...

DS: Sie kamen also von Warschau nach Dachau?

C: Warten Sie, wir kamen von Berlin, dort sind wir acht Wochen herumgelaufen, haben bezahlt, damit sie unsere Uniformen schneidern, das hat der Pepi arrangiert, der Bäcker, dem hats kolossal gefallen in Berlin, wir haben dort Zigaretten und alles gehabt. Hat eine Schachtel Zigaretten hingelegt und hat verlangt drei Karten in der ersten Reihe oder der zweiten Reihe, in der Friedrichstraße war ein Kabarett á La Pol Bergiger in Paris... das war im Herbst 43. Und dann sind wir alle zusammen geschickt worden zu einem österreichischen Apotheker, der in Warschau das Zentrale Sanitötslager hatte und wir sollten uns dort allmählich an die Sache gewöhnen, und der hat auch son wenig Schulung gehalten vom absoluten Befehl und daß man eben tun muß, was befohlen wird: Es gibt keine Widerrede.

DS: Das kannte man ja schon von zu Hause...

C: Weil man ja in Stellen... das hat mir ja auch der Wirths* dann gesagt: Ich habe im Lager Sondervollmachten, hat der gesagt, ich kann sofort erschießen lassen... mich könne er erschießen lassen.

FC: Ja, weil du dich gewehrt hast zu selektieren?

C: Ja. Und ich hab mich dann sofort ans Telefon gehängt und hab mit dem Pepi gesprochen...

DS: Aus Hermannstadt stammt der ?

C: Nein, aus dem Banat. Und der hat sofort mit den Gruppenführern gesprochen, die beim Führer waren, der höchste von der Arzeneiabteilung, ist ein großer Mann gewesen, körperlich groß...

DS: Ich weiß, wie er heißt, hab es aber vergessen.

C: Der hat dann veranlaßt und der hat den Standartenführer Lolling, der war der höchste Arzt über die KZ`s, den hat er zur Sau gemacht. Was könnt ihr da machen, da kommt ein Apotheker mit Erfahrung und will euch helfen, arbeiten, und dann stellt ihr ihn in einen Betrieb, der ja gar nichts mit der Apothekerei zu tun hat. Sie werden sofort hinfahren und Ordnung schaffen. Und dann ist er nach Auschwitz gekommen...

FC: Der Lolling oder wer?

C: Ja. Und sie haben mich dann eingeladen zum Wirths.

DS: Sie waren also damals schon in Auschwitz? Von Warschau aus?

FC: Du hast nicht richtig erzählt, Victor!

C: Nein, von Warschau nach Dachau, und dann von Dachau direkt nach Auschwitz. Über Berlin. Dort gemeldet bei dem Lolling. Aber das andere war schon in Auschwitz, vorher hat mich ja kein Wirths bedrohen können.

FC: Und der Wirths hat verlangt, daß du selektierst, und du hast dich gewehrt und darauf hat er gesagt, ich kann Sie erschießen lassen...

C: Und mein Unteroffizier hat es gehört, denn er hat sich im Nebenzimmer ans Heizrohr gestellt, er war neugierig, hat aber hier nicht soviel Charakter gehabt, das anständig auszusagen beim Prozeß...

DS: Und was war vorher mit Warschau?

C: In Warschau war kein Lager mehr, da war alles ratzeputze abgebrannt. Da war auch ein Lager vorher. Aber da hat man ja diese große Vernichtung gemacht. Da war das Getto, wo der Aufstand war. War alles weggeputzt. Dort hab ich kein Lager gesehen.

DS: Und in Dachau?

C: In Dachau hab ich mein erstes Lager gesehen. In Dachau war damals noch immer ein recht geordnetes Lager. Es waren auch keine Vergasungen in Dachau, und es war in der Art nicht. Es war ein strenges Regime , aber zu uns sind Häftlinge gekommen in das Zentralsanitätslager und in das Spital - ich hab im Lazarett ein Zimmer gehabt für mich - und haben dort Ordnung gemacht bei uns, und es war alles tadellos zuverlässig.

DS: Wars kein Schock für Sie?

C: Dort nicht. Und in Dachau, wenn die Leute ausmarschiert sind, sind sie singend ausmarschiert mit der Hacke am Rücken, die haben dort im Moor gearbeitet...

DS: Die Moorsoldaten.

C: Aber sie haben gar nicht den Eindruck gemacht damals, daß sie verhungert wären.

DS: Sie sahen also nicht so furchtbar aus, wie man sich die Häftlinge vorstellt?

C: Nein, nicht so aus, wie das, was ich nachher in Auschwitz gesehen habe.

DS: Sie waren ja dort völlig ausgemergelt, ich meine, was man so auf Fotos gesehen hat und in Filmen.

C: Aber das ist alles hauptsächlich im letzten Jahr passiert, weil man dem Rückfluten auch nicht mehr gewachsen war. Auch die Aufnahme in Auschwitz konnte nicht 150 000 oder 300 000 Menschen aus Ungarn innerhalb eines Monats schlucken...

DS: 400 000...

C: Ja, aber es sind ja 200000 oder 250000 gleich ins Gas gegangen, die haben nichts zu essen bekommen. Und an jedem Zug waren zwei Waggon Lebensmittel angehängt, die hat man dem Lager zur Verfügung gestellt. Man hat sie nicht für die deutsche Bevölkerung freigemacht, wie man das hier so schön im Prozeß sagen wollte. Zwei Waggon waren voll mit Lebensmittel, da war die ungarische Regierung dafür verantwortlich, das mußte vollgestopft sein: Ein Waggon mit Speckseiten (DS: Siebenbürgischer Speck!) Ja, die kamen ja alle aus Siebenbürgen. Und halbe Schweine geräuchert. Oder dann waren Bohnen und Erbsen in Säcken, ebenfalls, der Waggon bis oben voll.

DS: Und sie haben das dann auch bekommen, die Häftlinge?

C: Ja, ja.

FC: Aber das war doch zu wenig!

C: Nein, für die die gearbeitet haben, war es nicht zu wenig, denn die haben 2000 Kalorien bekommen, und haben sich noch manches beschaffen können. Denn wenn die irgendwo in der Erde oder bei den Arbeiten etwas gefunden haben, was man noch verscheuern konnte, dann haben sie es nach außen verscheuert. Und der Bäcker, der Weißbäck, der hat gegen Gold und Diamanten denen Brot gegeben noch und noch.

DS: Ein richtiger Schwarzmarkt.

C: Na, sicher.

DS: Wenn man aber da ist...

C: Ja, wenn man das Elend sieht, ist es so deprimierend und es kommt einem zum Kotzen. Ein Erbrechen ist unbedingt da. In der ersten Zeit. Man gewöhnt sich dran. Aber der eine hat sich z.B. nicht dran gewöhnt, der hat eine Zeitlang selektiert...

DS: Wer, der Dr. Lucas?

C: Lucas. Sie sind ja gut im Bild!

DS: Ich habe alles gelesen, weils mich...

C: Omnia. Das hat nicht der Lucas gesagt, das war so ein Großer. Das war die Laborantin, die hats Labor gemacht. Der Lucas jedenfalls war auch nicht so, wie er von seinen Schwestern sehr positiv beschrieben wird. Ihn haben nämlich die Kreuzschwestern rausgeholt aus dem ganzen.

DS: Aber er hat den Aufenthalt dort als Selbsterniedrigung empfunden, daß er das machen mußte, daß er überhaupt dort war. Das Gewissen hat ihm geschlagen...

C: Naja, und er hat dann den Bischof befragt.

DS: Und einen hohen Justizbeamten auch.

C: Ich kenn noch jemanden, der den Bischof befragt hat, über den Onkel, der Onkel war Professor in Wien, und hat es dem Innitzer...

FC: Dem Bischof... dem Kardinal...

C: Und hat erzählt, was dort los ist.

DS: Sie haben es in Wien erzählt, im Urlaub?

C: Ja.

DS: Wem?

C: Dem Professor Finsterer, der ist gegangen zur Donnerstagsrunde

DS: Also ihr Onkel?

FC: Mein Onkel ist der Professor Finsterer, und wie mein Mann in Wien...

C: In der Donnerstagsgesellschaft da sind sie alle zum Innitzer. Das ist so ein Jourfix.

FC: Der Finsterer hat es dem Innitzer erzählt...

C: Und der Innitzer hat gesagt, da kann man nichts machen, das ist eben so, wir müssen froh sein, daß wir quasi gut weggekommen.

Und der Onkel...

DS: Wer ist so gut weggekommen?

FC: Österreich eben, nicht wahr...

DS: Aber es waren viele Österreicher in den KZ's, sowohl Häftlinge als auch Wachmannschaften...

C: Na, das spielt keine Rolle.

FC: Das interessierte den Papst nicht, der Papst hat es doch gewußt...

DS: Gewußt.

FC: Der Papst hat es gewußt und der Innitzer hat es auch gewußt.

C: Und der Innitzer war höher als der Herr Bischof vom andern Lucas... Aber ich hab die Innitzersache nicht gebracht wegen dem Onkel. Und der hat wahrscheinlich so etwas gehört von mir...

FC: Da war er doch schon tot, Victor...

C: Naja, aber die Tante war nicht tot und die Kinder. Und es ist immerhin ein Schock, wenn so etwas ins Gespräch kommt, die ganze Familie leidet darunter...

FC: Bitte, der Finsterer hat gesagt, ich habe es eigens meiner Mutter gesagt, der Finsterer ist dann elend zugrundegegangen, das heißt, er war in geistiger Umnachtung. Dieser supergescheite Mann ist dann tatsächlich elend zugrundegegangen, und hat ja auch lichte Momente gehabt und hat gesagt: Ich nehme es als meine Strafe. Er war kolossal fromm und katholisch: Ich nehm es als meine Strafe hin, dieses Leiden, weil ich davon gewußt und nicht den Mut gefunden habe, etwas dagegen zu unternehmen.

C: Aber wem hätte man es sonst sagen können?

FC: Aber bitte, Mann, in der damaligen Zeit.

C: (Redet erregt dazwischen).

FC: Für die damalige Zeit, denn jetzt kann man es aus einer anderen Perspektive anschaun... Das Leiden als Strafe, weil ich gewußt habe, eben von ihm gewußt hab, und was dort passiert und weil ich nicht den Mut gefunden habe, etwas dagegen zu tun. Er hat es dem Innitzer gesagt.

C: Der Innitzer hat nachher auch gesagt...

FC: Das hab ich im Fernsehen gesehen, aber viele Jahre nachher: Da war ein Innitzer-Film oder so ein Nachruf. Und der Innitzer hat gesagt: Ich habe heute eine große Spende von meinem Freund Professor Finsterer bekommen, eben für die Wiedergutmachung, den Juden irgend etwas zuzuschicken und ihr Schicksal zu erleichtern, um sie, ich glaube, man konnte sie zum Teil auch loskaufen, es war jedenfalls eine Aktion mit dem Loskaufen. Und dieser Aktion hat eben der Finsterer eine bedeutende Summe gespendet...

C: War der Onkel auch Jude... Sie sind ja Halbjüdin?!

FC: Nein, nein, nein, der Finsterer ist absolut katholisch erzogen worden, und hat es mit seiner katholischen (DS: Theologie?) Nein, Medizin. Der Finsterer ist als ganz armes Kind, Kind armer Eltern...

C: Ich habe dort nur jenen helfen können, die dort zufällig einen Posten bekommen konnten, irgendwie mit uns zu tun hatte. Wir hatten ja oben über der Apotheke eine Sortieranstalt für Medikamente, da haben ja vierzehn Häftlinge gearbeitet, und das waren ja hauptsächlich Landsleute ... und die waren dann hier als Erzkommunisten als Zeugen. Und der eine hat gesagt: Er (Capesius) hat uns geholfen und es ist gut gegangen, aber die andern Millionen sind alle gestorben. Und er war ja dort Apotheker. Das hat natürlich auch dem Gericht nicht imponiert. Denn der hat mit solch einem Haß die Beschuldigung geschrien, weil er ja beschuldigen mußte, sonst konnte er ja nicht (nach Deutschland) kommen.

DS: Vom Gericht wurde das Wort "Verstrickung" gebraucht, und das ist das einzige was man akzeptieren kann. Verstrickung.

C: Ja, wir sind dort reingekommen. Wo wär ich sonst mit Häftlingen zusammengekommen und hätte über 30 000 Häftlingen die Medikamente beschaffen müssen. usw.

DS: Und dieses Wort "Verstrickung" finde ich sehr gut, weil die Voraussetzungen nicht nur in der persönlichen Biographie waren. Denn Sie sind ja nicht Parteimitglied der NSDAP gewesen (Nein!)

Und Sie haben sich ja nicht freiwillig gemeldet, sondern sind zum Militärdienst eingezogen worden auf Grund der siebenbürgisch-sächsischen Verhältnissen, der rumäniendeutschen Verhältnisse, das ist doch das Problem. Um überhaupt zu so einer persönlichen Biographie und zur Schuldfrage zu kommen, müßte man zuerst einmal untersuchen, inwieweit diese Erziehung, die man mitgemacht hat und Teil dieser Minderheit, dieses "Völkchens", dieser Gruppe war, inwieweit diese Gruppe selbst und wo die Schuld dieser Gruppe selbst liegt ... das ist erstmals das Problem.

C: Bei der Gruppe in Siebenbürgen liegt es sicher nicht, denn wir haben Juden in der Schule gehabt, und wir waren zum zehnjährigen Maturajubiläum und die Juden waren mit uns angetreten, sie sind auf dem Foto noch verewigt. Und wir haben uns bestens vertragen, und ich habe Juden besucht, obwohl Judenboykott war in Deutschland...

FC: Von der Firma aus besucht...

C: Und ich bin mit ihnen ausgekommen.

DS: Sie haben ja auch viele gekannt, ich meine dann, die nach Auschwitz kamen in den furchtbaren Transporten... Sie haben die jüdischen Häftlinge zum Teil gekannt...

FC: Ja, die jüdischen Ärzte...

C: Aber die sind ja nur zum Teil in Auschwitz geblieben, die Leute, die man aussortiert hat für die Arbeit, sind ja mit dem nächsten Transport weitergegangen nach Deutschland herein.

(...)

C: Von Auschwitz sind insgesamt 231. 000 Personen...

FC: noch lebend weggekommen...

C: ... noch lebend weggekommen.

DS: Und wieviele sind ermordet worden?

C: Gleich an der Rampe?...

FC: In den ersten Jahren sind ja viele...

C: ...Männer und Frauen...

FC:... gespritzt worden (Senkt die Stimme)...

C: Nur hat man ja nicht mehr das Tempo mit den Spritzen einhalten können ... was man gebraucht hat... Männer und Frauen wurden aus den Ungarntransporten 113.000 tätowiert... Sammeltransporte...

FC: Wie der Himmler in Auschwitz war, warst du da schon dort?

C: ... n-nein...

FC: Warst also noch nicht dort! Aber der Sohn vom... Draser hat er geheißen? (Ja.), der hat dann nach Hause geschrieben quasi: heute war unser oberster Führer da, eben der Himmler, und hat Auschwitz inspiziert. Und er ist auch ein Mann wie jeder andere ... er hat ihm nicht imponiert.

DS: Haben Sie Himmler gesehen?

C: Er ist sehr in meiner Nähe gewesen am Schluß.

C: Im Januar 45 sind wir schon geflüchtet... aus Auschwitz. Am 30. September, also am 1. Oktober 44 kamen noch 2490 Leute aus Theresienstadt.

DS: Und die sind alle ermordet worden?

C: Nein. Da hat man 250 Männer und 250 Frauen zuerst mal rausgenommen. Und 1499 hat man vergast, sofort. Und die 500 hat man nicht tätowiert, sondern ins Mexiko-Depot geschafft.

DS: Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wäre ich in diese Maschine hineingekommen...

FC: Ich glaube, daß unter diesen Bedingungen eben doch andere Regeln gelten, andere Maßstäbe angelegt werden müssen...

DS: Die Maßstäbe schon, aber man kam ja mit seinem normalen Gewissen da rein...

FC: Ja.

DS: Es ist unvorstellbar...

C: Es ist ja von den ersten Tagen immer wieder so: "sprechen", das sagt dir der nächste Bekannte, wenn er Sturmbannführer oder Obersturmbannführer ist, nicht über diese Sache sprechen...! () Dem entfliehen? Da hätte man Sie doch erwischt! Sie wären doch am nächsten Pfahl aufgehängt worden.

DS: Mir wären auch Selbstmordgedanken gekommen, ich weiß nicht.

(...)

C: Es konnte sich doch der einzelne nicht auflehnen ... und wir konnten unser Vaterland nur retten, wenn die Russen nicht herüberkommen ... aber wir hätten das verhindern können, wenn man nicht alles verraten hätte...

DS: Also daß die Russen kommen?

C: Ja, sicher ... wir wußten, wie es uns geschieht, wenn Stalin kommt. Und das mußten wir bekämpfen. Dagegen mußte man dann eben so manches einstecken.

 

 

 

VI

 

DIE LITERATUR DER STADT SCHÄSSBURG

IN SIEBENBÜRGEN

 

Die Literatur ist das Schatzhaus der Erinnerung; auch die Literatur unserer Stadt hat ein Langzeitgedächtnis, es reicht bis ins vierzehnte Jahrhundert und übertrifft darin die meisten binnendeutschen Städte vergleichbarer Größe. Sie trägt mit ihren Werten zum großen Schatzhaus der deutschen Literatur bei und bereichert sie, hält die Stimme der Siebenbürger Sachsen neben andern deutschen Volksstämmen wach, sichert ihre Identität auch unter den Lebensbedingungen einer schmerzlichen Spaltung: - jetzt, wo die Mehrheit der Siebenbürger Sachsen nicht mehr in Siebenbürgen lebt

Aber Bücher haben ein längeres Leben als viele Folgen von Generationen, heute sind sie ihre Zeugen.

Es gibt eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern aus Schäßburg und aus seiner engeren Umgebung, die im Laufe der Jahrhunderte weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt bekannt, ja berühmt waren. Einer von ihnen ist Johannes Kelpius Transsilvanus, der um 1670 in Denndorf bei Schäßburg geborene Pfarrerssohn und pietistische Theologe, Dichter geistlicher Lieder, der in Nordamerika, wohin er als Zwanzigjähriger auswanderte, auch heute noch als Heiliger verehrt wird. Seine Einsiedelei am Wissahickonfluß südlich vom Eriesee, ist Wallfahrtsstätte. Dieser Mann aus der Schäßburger Umgebung gehört zur amerikanischen Kulturgeschichte.

DIE ÄLTESTEN LITRATURDENKMÄLER UND DER "BIENENSEGEN"

Zur Einwanderungszeit und der ersten Kolonisationszeit war Siebenbürgen im Bewußtsein der Deutschen durch Klingsors rätselhafte Gestalt gegenwärtig, der beim Wartburg-Sängerkrieg als "Klingesor von Ungerlant" und Zauberer eine Rolle spielte.

Mythus, Legende, Phantasie finden wir auch bei den ältesten Literaturdenkmälern. Leider gibt es kaum handschriftliche Sammlungen, die aus der Urheimat mitgebrachte Volkspoesie, Lieder, Sagen und Legenden wurden später aufgezeichnet. Ein für die Sprachwissenschaft sehr wichtiger "Bienensegen" wurde in Schäßburg auf der Innenseite eines Buchdeckels gefunden. Man sprach ihn, um die Bienen am Wegfliegen zu hindern. Mittelhochdeutsche Einflüsse in der Rechtschreibung, das alte Wort "suarm" für Schwarm etwa, zeigen das erhebliche Alter des "Bienensegens": "Maria stund auf ein sehr hohen Berg,/ sie sach einen suarm bienen kommen phlügen;/ sie hub auf ihre gebenedayte hand: sie werbot in da czuhand,/ wersprach im alle hilen/ wnd die beim werslossen,/ sie saczt im dar ein fas,/das Zent Joseph hat gemacht;/in das solt ehr phlügen,/ wnd sich seines lebens da genügen,/In Nomine patris, Filij et spiritus sancti. Amen."

 

In dieser Stadt war das Zentrum einer volkskundlichen Sammeltätigkeit und Forschung von Joseph Haltrich, Friedrich Müller und Friedrich Wilhelm Schuster. Haltrichs Verdienst ist, daß er, betraut vom Verein für Siebenbürgische Landeskunde, an die Ausarbeitung des siebenbürgisch-sächsischen Wörterbuches ging. Erst später erfolgte die Scheidung zwischen Dialektologie und Volkskunde. Viel vom Schatz des Dialektes ist jedoch ins Wörterbuch eingeflossen. Neben Mutter, Großmutter und Geschwister waren Haltrichs Quellen der Trappolder Martin Lautner, dann die Schüler des Lehrerseminars, die sich in ihren Dörfern Märchen erzählen ließen, und sie dann Haltrich nacherzählten. Im Nachlaß Haltrichs gibt es noch viel Unaufgearbeitetes, etwa zur Märchentheorie.

Beachtlich ist, daß Lieder aus der Einwanderungszeit auch heute noch gesungen werden, so "Es saß ein klein wild Vögelein". Wendungen aus einem der beiden Merseburger Zaubersprüche wurden noch Anfang unseres Jahrhunderts zum "Besprechen" des Viehs verwendet. Auch andere Lieder und Gedichte aus der Einwanderungszeit, wie "Der Tod", waren im Volk bekannt: "Wie kam der Tod? Er brach mich nieder./Er zerbrach mir alle meine Glieder." Und dann diese stolze Zeile, die den "Waldvögelein"- Protest ins Transzendente verlängert: "Scheiden will ich aus der Welt./ Fahren will ich zu den Freien." Einige der wertvollsten alten Balladen erklingen im Schäßburger Dialekt, so z.B. "Brautmörder", "Die Rache".

 

HUMANISMUS UND BAROCK

Der Mediascher "Poeta laureatus" Christian Schesäus schildert die schwere Zeit der Türkenkriege in seinem Versepos "Ruinae Pannonicae," (1581), den Ansturm der Türken auf Europa zwischen 1541 und 1571. Schesäus gehört durch Michel Alberts Übersetzung und Kommentierung gewissermaßen auch zum Geistesleben dieser Stadt. Ebenso Arbeiten des Hermannstädter Barockdichters, des Rektor, Bürgermeisters und dann Sachsengrafen Valentin Franck von Franckenstein. Die Anthologie "Rosetum Franckianum" (1692) vereinigt "Casualcarmina" Lobverse auf Franckenstein. Über das "Rosetum" hat Michael Albert die erste, heute noch gültige und maßgebliche Studie veröffentlicht.

Das "Franckianum" ist die wichtigste Gedichtsammlung von meist Gelegenheits- und Festgedichten des sächsischen Barock, es gehört nicht nur durch Albert zur Schäßburger Literaturgeschichte, sondern es enthält auch Gedichte des Schäßburgers Martin Tutius, einer der drei kaiserlich gekrönten Poeten ("poeta laureatus") jener Zeit, neben dem späteren Sachsenbischof Michael Pankratius und Petrus Mederus. Franckenstein wäre heute sehr modern: er sprengt in seinem "Hecatombe sententiarum Ovidianarum" Sprachgrenzen, ihm gelingt eine Alchemie deutscher, ungarischer, rumänischer, griechischer und siebenbürgisch- sächsischer Verse. (Trausch, Bd.2, S.246.) Bekannt wurde der Schäßburger Martin Kelp als eine Art philologisches Genie, der z.B. den Wahlspruch des Augustus (Festina lente, Eile mit Weile) in drei Stunden zu lateinischen und hebräischen Versen verarbeitete. (Vgl. dazu M. Schuller, "Georg Tutius" in Klb, 22.Jg., 1899/5, S. 70.)

Die Barockzeit ist Türken- und Notzeit. Der Schmerz, die Unsicherheit, die Verwüstungen ließen keinen Raum für rationale Verbissenheit und Besitzdenken, zu deutlich war die "Eitelkeit der Welt", Tod und Leid, das Irdische als Schein. Wir können es beim Chronisten Georgius Kraus (1607-1679, ab 1646 Schäßburger Stadtnotär) in seiner Chronik nachlesen (1608-1665), die die Chronik des Schäßburgers Ustinus fortführt. Kraus ist durch seine Sprachkraft und Darstellung der Literatur zuzurechnen, und er ist der bedeutendste siebenbürgisch-sächsische Chronist, bedeutender als Matthias Miles, Johannes Tröster oder Damasus Dürr.

Die anonymen (Kriegs-)Waisenlieder jener Zeit gehören zum schönsten, was im Sachsenland an Poesie entstanden ist; anders als bei Waisenliedern anderer Völker steht das Kind hier nicht am Grab der Mutter, nicht verlassen im leeren Haus, es steht vor dem Nichts auf der Straße:

 

"Wo goit der Wänd, wo steift der Schni,

Dat doit den örmen woise wih."

 

"Meinj Schäjeltcher sen zerrässen,

meinj Hemdchen äs zeschlässen,

meinj Hor verknudert gor,

meinj Uge wi vun der Zor."

 

Es ist anzunehmen, daß auch Schäßburger Waisenlieder dazu gehören; der Dialekt müßte untersucht werden. Friedrich Wilhelm Schuster hat sie gesammelt. Die Kraft und Originalität unserer Literatur, ihre Poesie liegt im Reichtum des Bodenständig-Dialektalen. Noch Honterus hat sächsisch gepredigt ("lingua Dacica").Es gab das sogenannte "Bauernsächsisch", "Bürgersächsisch" und "Kanzelsächsisch". Ja, der Dichter Gustav Seivert hat sogar das "Hohe Lied" ins Siebenbürgisch- Sächsische übertragen und es wirkt gut, wie mittelhochdeutsch.

 

 

 

DER KÖNIGSBODEN UND DIE BEGINNENDE KRISE

Aus der Zeit als die Sachsen noch keine Minderheit waren, sondern ein Volksstamm mit politischer Verantwortung und Rechten, stammt ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstbewußtsein. Sie hatten auf ihrem fundus regius, dem Königsboden, allein Bürgerrechte, so war dies vor 750 Jahren im Andreanum 1224 festgelegt worden, ein Privileg, verliehen von den ungarischen Königen. Doch schon durch die Konzivilität Josephs II. wurde das Privileg aufgehoben, und dann wurden moderne und demokratische Verfassungen, ja, das Bürgerliche Gesetzbuch, das gleiche Rechte allen versprach, nach 1876 Gesetz. Die privilegierten "mittelalterlichen" Sachsen wurden aus einem gleichberechtigten Volk der "unio trium nationum" eine schutzlose Minderheit, und ihrer historischen Existenzgrundlage beraubt, die Gebietsherrschaft, samt ihren Instutionen beseitigt, der Königsboden in Komitate aufgeteilt, diese res publica mit ihren Privilegien, festgelegt im statuta iurium municipalium Saxonum Transsilvaniae von 1583 gab es nicht mehr. Dieses alles wirkte auch auf die Literatur ein, und führte oft zum Wirklichkeitsverlust.

Vergessen wir nicht, daß sächsische Volkspoesie, Märchen, Sagen, Waisenlieder noch von Jacob Grimm mit Begeisterung begrüßt worden waren. Ebenso hatte Klingsor, und dann die Humanisten und die siebenbürgische geistliche Dichtung der Barockzeit in Deutschland Erfolg. Die erotischen Romane des Kronstädters Johann Georgias, die unter Pseudonym erschienen, waren damals in Deutschland Bestseller. Kelpius wurde sogar als Heiliger verehrt. Noch im 18. Jahrhundert waren Brukenthal, Johann Samuel Keßler oder Michael Hißmann, der mit Lavater verkehrte, in Deutschland bekannt. So ist nach dem "Vormärz," dem Märtyrer Stephan Ludwig Roth, Josef Marlin oder Johann Friedrich Geltch, dann dem Mühlbacher Soziallyriker Friedrich Krasser, der weltweit Erfolg hatte ("Antisyllabus" Auflage: 2 Milionen ), ein Absinken des Bekanntheitgrades dieser kleinen siebenbürgischen Literatur in Deutschland festszustellen.

 

 

 

DIE ZEIT MICHAEL ALBERTS

Die Zeit als die Sachsen (als "Nation" im Landtag) Teil an der siebenbürgischen Geschichte hatten, jene Zeit war vorbei, ab 1876 sind sie eine "Minderheit". Schon nach 1850 zeichnet sich dieser neue Zustand langsam ab: Tradition, Geschichtswissenschaft der beiden Teutsch, Volkskunde (Haltrich, Müller, Schuster, Mätz) sind der Versuch einer Selbstfindung: das Geleistete scheint nochmals in der Kultur, im Gedächtnis auf. Schäßburgs Literatur- und Geistesleben hat in dieser Epoche (1849-1890), es ist auch die Zeit Michael Alberts, seine größten Erfolge, in den andern Epochen war es eher geistiges Randgebiet oder sogar Zentrum der Antimoderne um die Jahrhundertwende gegen Meschendörfers "Karpathen". In der Blütezeit wirkten in unserer Stadt: Georg Daniel Teutsch (1817-1893), Pfarrer, Lehrer, Publizist, Historiker, auch Lyriker, der spätere Sachsenbischof; Georg Friedrich Marienburg (1820-1881), Lehrer und Pfarrer, Linguist, Lyriker; Josef Haltrich, (1822-1886), der Märchenforscher.

So manches in der Lyrik jener Zeit ist Goldschnittpoesie. Das läßt sich auch über die Gedichte des Schäßburger Landesadvokaten und Petöfiübersetzers Heinrich Melas (1829-1894) sagen; interessanter als Poet ist der Schäßburger Jurist Gottfried Wilhelm Henning D.Ä. (Erwin Sachs) (1829- 1909). Und schließlich der alle überragende Michael Albert (1836-1893), ehemaliger Schüler von Haltrich und Müller, selbst ein Leben lang Lehrer an der Bergschule. Seine Literatur war bis in den Stil hinein Spiegelbild der vorhin erwähnten historischen und folkloristischen Forschung in Schäßburg. Ein Rückzug hatte sich nach der Revolution aus der Tat in die Forschung vollzogen, und auch die Gefahr der provinziellen Enge, des Spießertums in der "behaglichen" Kleinstadtenge drohte, gegen die sich Albert nach seinen deutschen Studienjahren heftig wehrte, vor allem mit Dramenprojekten wie "Hutten", "Till Eulenspiegel" und "Karl XII." Er hatte damit nicht den gewünschten Erfolg. Und blieb von nun an bei heimischen Stoffen, die er aber ebenfalls sehr kritisch behandelte, etwa in den Novellen "Das Haus eines Bürgers", oder in der "Dorfschule", wo gegen den Geiz und die Habgier der Landsleute anschrieb. Auch wider Madjarisierung und Königsbodentragödie schrieb er, wendete sich jenem "zusammengedrängten, gepressten Haufen sich wehrender Menschen" zu, in die sich "mitunter beängstigend das Gefühl der Heimatlosigkeit" einschlich "auf uralter ererbter ... Scholle."

 

Ein Bogen läßt sich schlagen von hier aus der Vergangenheit, als in der siebenbürgisch-sächsischen Stadt noch die Stadtgründer, die Sachsen lebten, zu uns Heutigen: Damals, im letzten Drittel unseres Jahrhunderts heißt es bei Michael Albert, der schon damals die Tragödie der Siebenbürger Sachsen sah:

"Was du auch sonst auf Erden/durch Schicksalslaune bist,/eins wünsche nie zu werden:/ein deutscher Kolonist.// Ob du in fremden Landen/zum fremden Mann verdirbst,/ ob du dort festgestanden/ und als ein Treuer stirbst;// es ist in beiden Lagen/ ein trauriges Geschick,/ denn deinen schönsten Tagen gebricht`s am schönsten Glück:// daß nie auf festem Grunde/ du sicher dich erhebst, daß du in keiner Stunde/ recht aus dem Vollen lebst." (1878).

Schon das Verlassen der Urheimat im 12. Jahrhundert wird von Albert im Altersdrama "Die Flanderer am Alt" (1883) als Schuld gesehen. Als wäre seither eine geheime und krankhafte Sehnsucht, ja, ein Schuldgefühl den Sachsen geblieben. Als wären Seele und Geist mit der harten Realität "nicht ganz nachgekommen", dies zeigt sich auch in Alberts Altersdrama, so im Vers: "Hier stirbt der Deutsche nicht, darauf vertraut!"; dieser Vers ist auf der Festsaaldecke der Bergschule eingraviert; die harte geschichtliche Realität, war eine andere, sie hat diese Illusion zerstört.

 

Im Unbewußten freilich führte sie zu einer schwermütigen Seelenlage, die immer wieder in der Literatur Sprache gewann:

"Der Sommer lacht mir noch einmal./ Todmüden hilft kein Sonnenstrahl:/ Kehr heim!...//Das Glück verblüht, hier einst gesucht,/ In Todesglut nur reift die Frucht: Kehr heim! "

 

Gegenwehr gehört dazu:

"Hast du das Übel recht erkannt,/ Mach`s gründlich besser:/ Bei Gipfeldürr` und schwarzem Brand/ Hilft nur das Messer." (Heinrich Melas).

Bei Michael Albert ist diese Seelenlage ausgeglichener, eines seiner schönsten Gedichte verdanken wir diesem Gleichgewicht: "Die Bergglocke," die möglicherweise nach dem Tode seines Kindes entstanden ist:

 

"Wenn tief im Tal erloschen sind

Am Weihnachtsbaum die Kerzen

Und noch im Traum so manchem Kind

Die Freude pocht im Herzen,

 

Dann tönt voll Ernst, dann tönt voll Macht

Vom Berg die Glocke droben,

Um in der stillen heil`gen Nacht

Den Herrn, den Herrn zu loben."

 

Auch bei Albert aber kommt zu dieser schwermütigen Seelenlage tapferer Humor hinzu, der freilich manchmal im lokalen Witz verflachte.

Nüchterner bis geiziger Bürger- und poesiefeindlicher Nützlichkeitssinn hat es dem feinsinnigen Dichter in dieser Kleinstadt schwer gemacht, er selbst zu sein: "Geliebt hab` ich, geschont,/ Im Schuldbuch viel gestrichen;/ Ihr habt es mir gelohnt/ Mit Gift und Messerstichen."

Die stolze Selbstgewissheit und jahrhundertealte Identität, die auch von den andern Völkern bewundert wurde und wird, vor allem handwerkliche Begabung, Tüchtigkeit, Ordnungssinn und Zuverlässigkeit, "Einfachheit, Aufrichtigkeit, Anständigkeit und Loyalität... Bedachtsamkeit und Ruhe" (Nicolae Iorga) und nicht zuletzt der Kultursinn, das Organisationstalent und die soziale Begabung, die dazu beigetragen haben, daß die Siebenbürger Sachsen das Gesicht dieses Landstrichs - nicht nur als Städtebauer - entscheidend geprägt haben, konnten im Laufe der geschichtlichen Schläge nur noch mühsam aufrechterhalten werden. So entstanden in der Spätzeit auch die Tendenz zur Bewußtseinsspaltung und Verdrängung der bitteren Wahrheit. Schon Michael Alberts Werk geht mutig dagegen an. Nicht nur Landleben und Geschichte, sondern vor allem die schmerzliche Krise und beginnende Heimatlosigkeit hat er offen dargestellt; so die Stimmung von Untergang und Verfall, vor allem in drei Novellen, die in seinen Sammelband "Altes und Neues" gar nicht aufgenommen wurden, da sie "Häßliches" zeigen: "Der Amerikaner", dann die buddenbrookartige Erzählung vom Verfall einer Familie "Das Haus eines Bürgers", die Novelle über bürgerliche Scheinwelt und geistige Marktwelt "Die Literaten". Alle drei Texte sind heute noch aktuell auch für die Nachgeborenen, Erben jenes Heimatverlustes, der heute für viele total ist. Das Leben wird zum Schatten, die Existenz Schein und Geschäft. Individuelle Freiheit durch Zerstörung alter Bindungen führen zu Egoismus und Amoral. Alles, auch Liebe und Ehe werden zu einem geschäftlichen Unternehmen. In der Novelle "Auf dem Königsboden" entsteht aus Not und parasitärer Freiheit und Verantwortungslosigkeit die Massenpsychose der Auswanderung nach Amerika. Damals schrieb Albert seine wohl bekanntesten Verse, die für das "Bleiben" und wieder das "Gehen" geschrieben sind; sie klingen heute in Zeiten der Flucht und Beliebigkeit wieder neu, wie eine Utopie nach dem Verschwinden, Bodengewinnung im Gedächtnis:

 

"Deiner Sprache, deiner Sitte,

Deinen Toten bleibe treu,

Steh in deines Volkes Mitte,

Was sein Schicksal immer sei. (1883).

 

Der Schäßburger Dichter wußte noch nicht, daß die "Neue Zeit", die er begrüßte, zu der sich zu bekennen, er seine Sachsen aufforderte, zu jener falschen Freiheit führen sollte, deren Auswirkungen erst ein Jahrhundert später voll spürbar geworden sind. Damals aber ließ sich noch für "Fortschritt" plädieren: "Das ist die Zeit, das ist ihr Gang!/ Wer kann ihr Einhalt setzen?/ Sie mag nicht nach dem Adelsrang,/ Den Wert des Mannes schätzen" ("Die Privilegien").

Gemeint ist der exklusive Charakter der sächsischen Sonderrechte und deren Unhaltbarkeit in einer modernen Gesellschaft.

Von Anfang an lebte dieser Volksstamm gefährlich an Kreuzwegen der Geschichte, bedroht von Pest und Kriegen, von Feuersbrünsten, Überschwemmungen, von Deportationen dezimiert, zuletzt Opfer zweier furchtbarer Diktaturen und zweier Weltkriege und deren Folgen. Die mikrosoziale und kulturelle, nach außen sich abschließende innere Organisation der Sachsen ist durchaus ein großartiges Unikum in der abendländischen Geschichte, zugleich unausweichlich Grund ihres Unterganges als "Nation" und dann als Minderheit. Sogar die Kirche stand als "Volkskirche" und Verteidigungskirche (die vielen Wehrkirchen sind steinere Zeugen dafür) im Dienst, vor allem nach der Zerschlagung des Königsbodens versuchte sie diese Grundhaltung (schon seit 1861) mit Gott zu verbinden. Die Kirche war die einzige Institution, die den Sachsen noch geblieben war! So übernahm sie viele weltliche Aufgaben. Alfred Pomarius, der Schäßburger Essayist und Philosoph hat diesen "Hang" zum Rationalismus", eine "Abart des religiösen Lebens" eine "politisch-ökonomische Religiosität" genannt. ("Wesen und Formen unserer Religiosität", Klingsor III, 1926.)

 

Alberts Auflehnung und politischer Kampf dauerte nur einige Jahre; bald resignierte er, die Indolenz der Öffentlichkeit und des Publikums machten ihn mutlos; er zog sich in die "heilsame Beschränkung" zurück. Titellose, unveröffentlichte Novelle im Nachlaß.

Er schrieb Lokalpossen, höhere Richttagpoesie, Librettis für Emil Silbernagels Operetten, sammelte einen geselligen Kreis um sich, eine Art literarischen Stammtisch, die "Askalon"- Gesellschaft. Als Dichter des lokalen Geschehens schrieb er "Rettung durch die Feuerwehr," dramatische Lokalhumoreske in einem Akt, aufgeführt 1883 in Schäßburg; "In der oberen Baiergasse," aufgeführt am 24. März 1877; "Im Hotel Stern", komische Lokalszene... u.a.

"Draußen" aber hatte das Industriezeitalter die Welt auf den Kopf gestellt, die Leidensgeschichte des modernen Menschen hatte begonnen. Und mit dem Naturalismus setzte ihre literarische Beschreibung, die Entlarvung des Großstadtelends, der Lüge der Konvention und bürgerlichen Moral, des Geldsystems und der Ausbeutung ein. Albert lehnte diese kritische Moderne als guter konservativer Sachse ab.

Hellsichtiger war eine Nachfolgerin in Schäßburg, die Dichterin Regine Ziegler, sie schrieb: "Hauptmann, Ibsen und andere/ Haben `ne Bowle gebraut;/Kosten und nippen will jeder,/ Ob`s ihm davor auch graut."

 

DIE JAHRHUNDERTWENDE

In dieser Schäßburger Enge lehnt Albert die modernen Formen der Literatur ab, die die neue Zeit spiegeln. Heimatgefühl wird als Reservat des Menschentums dem großen "häßlichen" Geschichtsstrom gegenübergestellt. Dies ist typisch für die Jahrundertwende in Schäßburg, Zentrum dieses Denkens ist die vom Albertschüler und Dichter Wilhelm Hermann und dem Lehrer an der Bergschule Josef Groß herausgegebene "Monatsschrift für siebenbürgische Literatur, Kunst und Ästhetik. Die Bergglocke" ( ab 1904, sechs Hefte), sie sie vertrat die typisch epigonale Einstellung und Poesie, sie war ein Gegenpol zu Meschendörfers "Karpathen" (1907), die für die Moderne und eine Öffnung auch im Stil warben.

Dieser Wirklichkeitsverlust wird erkennbar z.B. auch an der oft papierenen Art der siebenbürgischen Dorfliteratur jener Zeit in Kalendern, Feuilletons und Büchern. Michael Alberts Dorfrealismus war noch kraftvoll und echt, ja wirklichkeitskritisch, im Unterschied zur deutschen Dorfgeschichte; und dies gilt noch für die Dorfliteratur der "Blütezeit", weil sie jede nationale Tendenz vermied, ebenso moralische Kategorien, Leben und Gestaltung standen im Mittelpunkt, ebenso Humor, sie kannte noch keine falsche Heroisierung, sondern nur die Wahrheit und Wirklichkeit.

In der "Blütezeit" war der volkskundliche Hintergrund der Schäßburger Forscher Haltrich und Müller auch für Albert ausschlaggebend. Doch schon um die Jahrhundertwende war Naturalismus eine Art Schimpfwort, das Reale nicht genehm, sondern stilisierte Heimatkunst. In Schäßburg gehörten zu dieser Richtung etwa Johann Leonhardts (1859- 1917?) "novellistische Federzeichungen" "Geschichten aus Siebenbürgen (1890), "Aus Siebenbürgen"(1895), "Siebenbürgisches Kleinleben". Geschichten und Gestalten" (1912). Leonhardt war Gymnasiallehrer der Bergschule (1883-90) und Pfarrer in Großlasseln, Draas und Zeiden. Bleiben werden wohl nur seine zahlreichen kulturgeschichtlichen Essays, vor allem sein großer zusammenfassender Aufsatz "Die siebenbürgisch-sächsische Literatur". (In: "Siebenbürgischer Volkskalender" 1890). Leonhardt schrieb auch ein Versepos im Hexameter, die Theaterstücke "Frau Balk", 1896, ein Drama aus der Zeit Gabriel Bathorys, "Die Werberin," 1899 und "Der Silbergulden," 1902. Die Stücke wurden alle mit Erfolg aufgeführt. Leonhardt suchte leider billige Effekte und Exotik. Der Stil ist überladen. Kolorit wird in diesen Skizzen aufgesetzt, sie wirken "salonsiebenbürgisch" (K.K. Klein), wie auch die meiste mundartliche Schwankliteratur jener Zeit. Auch die dörfliche Prosalyrik von Fritz Albert (1873-1922), Sohn Michael Alberts der viele Jahre Schriftleiter der beiden Schäßburger Zeitungen war, machen da keine Ausnahme. "Volksgemeinschaft", Dienst am "Volksgeist" etc. heißt es z.B. bei Karl Hoch (in den "Karpathen"), "poetische Verklärung" sei wünschenwert. Einiges hätte die sächsische Literatur von der ungarischen und rumänischen Literatur lernen können, doch die Isolation war perfekt. Selbst Ilarie Chendi, der in Schäßburg ein Schüler Alberts gewesen war, wußte nun seinerseits wenig über diese kleine Literatur.

 

DIE MUNDARTDICHTUNG

Die Mundartliteratur wirkte beharrend, verklärend, betonte oft sentimental Tradiertes, Bodenständiges. Die Kritik daran wird freilich problematisch, wenn man außer Acht läßt, daß der Dialekt die eigentliche Muttersprache und das Gefühls- und Kindheitsmuseum der Sachsen in ihrer siebenbürgischen Enklave war. Victor Kästners Lyrik ist der Höhepunkt der Mundartdichtung. Die Dichtung seiner Nachfahren war oft blasser, papierener. In das Umfeld Schäßburger Literatur gehört um die Jahrhundertwende der Prudener Pfarrer und Mundartdichtern Friedrich Ernst. Hier eine Probe seiner Dichtung: "HIMETSTROA./Zeisken huet se klinzich Näst/än den Äjerschbimen,/ sannbeschinnen, rendurchnäßt,/kit ed duer äny himen./Of de Derner et bekratzen, oft beleoren uch de Katzen,/ängde kit et wedder.

 

Jeden Sachsen werden die bekanntesten und zu Volksliedern gewordenen, von Rudolf Lassel oder Hermann Kirchner vertonten Mundartgedichte Ernst Thullners "Af deser Ierd", die Verse Christine Maly-Theils, Grete Lienert-Zultners "De Astern blähn iensem äm Gärtchen" oder "Seangtochsglock", Karl Gustav Reichs Verse rühren und amüsieren. Doch auch in der Mundart-dichtung finden wir jene typische sächsische Schwermut, von der vorhin die Rede war, so bei Lienert-Zultner, die in einfachen Versen ergreift:

 

"De Astern blähn insem äm Gartchen,/de Medcher gohn sängän verbä;

der Mon stiht iwer de Giweln,/ der Herwest, der Herwest äs hä.

Kam, len dich nor fest u meng Schulder,/deng Zehren se seng esi hiß.

Hekt kan ich noch fest dich ämschlängen,/wi wiß woni wedder, - wie wiß...// De Astern blähn insem äm Gartchen,/de Risen seng alle verbä...

schlof gat, ta meng inijet Härzken,/det Schiden - det Schiden äs hä."

 

Kann die hochsprachliche Dichtung die emotionalen Bedürfnisse nicht voll befriedigen? Es sind "kleinräumige Situationserfahrungen,jener gemeinsam durchgestandenen Lebensbedingungen", die das emotionale "grundsätzliche Einverständnis und Geborgenheit darin ermöglichen.

 

IMPRESSIONISMUS, EXPRESSIONISMUS UND DIE ZWISCHENKRIEGSZEIT

Schon die Dorfskizzen der Schäßburgerin Regine Ziegler (1864-1925), die 1910 in den "Karpathen" erschienen sind, führen impressionistische Momentaufnahmen im Dorfmilieu in unsere Literatur ein; ihre Momentaufnahmen und Tagebuchgfragmente "Wenn die Ähren reifen",Berlin 1908, wurden preisgekrönt von der Weimarer Schillerstiftung. Regine Ziegler, die Schwester des Malers Karl Ziegler, die längere Zeit in Berlin gelebt hat, war eine Vorkämpferin der Frauenbewegung. Sie und ein anderer Schäßburger Dichter, Friedrich Siegbert Höchsmann, überwanden in ihren Gedichten das Epigonentum, die Mentalität stickiger Kleinstadtenge. Regine Ziegler: "Enge Gassen, enge Herzen,/ Überall der alte Zopf; / Wichtig thun mit kleinen Schmerzen,/ Hie und da ein heller Kopf." Oder: "Warum ist das Leben heute so toll,/Fragt mancher sich verwundert;/Es liegt im schweren Delirium/ das neunzehnte Jahrhundert." (Krisis).

 

Friedrich Siegbert Höchsmann (1874- 1956), der Albert-Schüler, Journalist in Wien und Pfarrer in Bluthrot und Bulkesch, ist von Liliencron beeinflußt, hat schlichte zu Herzen gehende Gedichte geschrieben ( Mir ist so weh:/ als wär ich schnöd betrogen/um dieses Jahr,/um das ich älter bin"), oder Verse über das Leid des Ersten Weltkrieges: "Wann kommt der Vater, Mutter? /Dein Vater kommt nicht mehr./ Warum nicht, liebe Mutter?/ Er findet nicht mehr her."

 

Die Weltoffenheit und die Initiativen des Wirtschaftsführers Karl Wolff, ebenfalls ein Schäßburger, führten nicht nur in unserer Stadt zu einem außerordentlichen Umbruch im Lebensstil am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Karl Wolff, (auch Carl Wolff), der zeitweilig das Siebenbürgisch-Deutsche Tagblatt herausgab, griff auch literaturkritisch in Debatten ein.

Kriegsbegeisterte Gedichte haben 1914-1918 fast alle Schäßburger Dichter geschrieben.

Nach dem Anschluß an Rumänien 1919 entstand die eigentliche rumäniendeutsche Dichtung: Banater, Bukowiner, Siebenbürger fanden zu Gemeinsamkeiten, die Zeitschrift "Klingsor" wirkte auch in diesem Sinne. In Hermannstadt oder Kronstadt probierten siebenbürgisch- deutsche Autoren in der turbulenten Zwischenkriegszeit impressionistische und expressionistische Stilformen, und eine neue Weltläufigkeit und Anerkennung auch in Deutschland war die Folge. Mit Erwin Wittstock, Heinrich Zillich, Erwin Neustädter, Egon Hajek oder Adolf Meschendörfer, der das schönste Gedicht der Sachsen, die "Siebenbürgische Elegie" (1927) geschrieben hat, kann Schäßburg im Vergleich eigentlich kaum etwas bieten. Das Blatt dieser Jahre bleibt in unserer Stadt unbeschrieben. Andererseits fand sich unsere Stadt und ihre Bürger in Erwin Wittstocks "Freundschaft von Kokelburg" (1935) liebevoll gezeichnet wieder. Ebenso in Werken von Otto Folberth und Heinrich Zillich.

Der bekannteste Schäßburger dieser Zeit im Bereich der Kultur- Essayistik ist Alfred Pomarius, der Philosoph des "Klingsor", an dem sich auch beispielhaft die Tragik des siebenbürgischen Denkens und Lebensgefühls nachvollziehen läßt: von der tiefgründigen Analyse, etwa im Aufsatz "Vom geistigen Wesen der jungen deutschen Generation Siebenbürgens," (1926) wo Pomarius von der Ausweitung des "völkischen" Horizontes jahrhundertealter "evangelisch- sächsischer Nation" zum "rumänischen Ostdeutschtum" und zu "übervölkischen Wertungsregionen" schreibt, bis hin zum Dienstaufsatz der "Erneuerungsbewegung": "Unsere Jugend und das Ethos der Disziplin", eine Paralelle etwa zu Arnold Roths oder Zillichs Entwicklung, ein Verrat an der achthundertjährigen sächsischen Tradition. Der alte "Selbstbehauptungskomplex" (Walter Myss) war in dieser Zeit falsch gepolt, bis er in die Selbstvernichtung führte. Kriegsleid, Deportation, Familientrennungen waren die Folge. Diese Zeit ist in der rumäniendeutschen Literatur erst spät beschrieben worden.

 

DIE NACHKRIEGSZEIT UND DIE GEGENWART

Die furchtbaren Jahren der roten Diktatur, dann der Heimatverlust im Welt-Wechsel nach Deutschland und das geschichtliche Ende der Siebenbürger Sachsen führte bei den Literaten zu einer neuen Bodensuche im Dialekt und in der Hochsprache: die Erinnerung, die Gegenstände der materiellen und geistigen Kultur und Tradition und die im Buch aufbewahrte Sprache von der Chronik bis zur Belletristik und zum großen Lexikon des Siebenbürgisch-Sächsischen bleiben unverloren. Doch unverloren bleiben auch die materiellen und geistigen Werte, die immer noch in Siebenbürgen und im Ausland von Sachsen geschaffen werden. Sie und ihr Gedächtnis haben das historische Ende des Volksstammes überlebt.

Und dieses Überleben begann schon nach 1944. Auch in dieser Zeit gibt es aus unserer Stadt nur wenige Autoren, die die rumäniendeutsche und die deutsche Literatur bereichert haben.

Mundartdichter wie Grete Lienert-Zultner oder Karl Gustav Reich, der vom Schäßburger derben Humor und von Schäßburger Originalen beeinflußt, Erzählgedichte schrieb. Viele seiner Gedichte entstanden in unserer Stadt, wo er Lehrer war: ("Kut mer lachen int", 1976 u.a.). Andere Schäßburger Autoren der Nachkriegszeit sind u.a. Eckhard Hügel (1908-1977), Frida Binder (1908- 1986), "Das Brauthemd" 1983 u.a. die Lyrikerin Ursula Bedners (1920) "Im Netz des Windes",1969, "Märzlandfahrt", 1981 u.a. Der Journalist und Lyriker Hans Schuller (1934),"Wenn ich vor dir stehe", 1966, "Berichtigung", 1979 u.a. Gerhard Eike (1945),"6/60 konelliptische landschaften,1975 u.a. Dieter Schlesak (1934) Lyrik:"Grenzstreifen", 1968, "Weiße Gegend," 1981, "Aufbäumen" 1990; der Roman "Vaterlandstage", 1986; der Essay-Band "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", 1991 u.a.

 

Das Trauma der Kriegs- und Nazizeit, das jahrzehntelange Leben zwischen Vaterland und Muttersprache unter Bedingungen der Zensur und der Verfolgung in der roten Diktatur,dann die Aus-Reise und der Heimatverlust, die Fremde hat die rumäniendeutschen Schriftsteller der Gegenwart geprägt. Vgl. dazu Dieter Schlesak, "Vaterlandstage. Und die Kunst des Verschwindens, Zürich-Köln 1986, 1986. Und genau hundert Jahre nach Michael Albert, heißt es bei den letzten sächsischen Autoren unserer Stadt: "Seltsames Land, dein Geheimnis auf Wegen und Flüssen/hat keine Zahl, und die Jahre bleichen nur in den Uhren und in uns,/ und der Staub flieht über weißes Haar mürbe von soviel Zeit:/Doch längst war es Mittag!/ Aus Mörtel und Moder, aus Klee und Wein/ heben wir einen Becher Staub/ und trinken uns zu, unseren umschatteten Augen./ Am Kirchturm schlägts 25 Uhr./ Anders rauschen die Brunnen, anders vernachtet im Wein/ der skythische Sommer, das Sinkende über den Wäldern. Wir aber trinken die Rührung aus Staub und Gedenken,/ wir trinken noch immer ..." (Dieter Schlesak, Landschaftsversuch aus Traum).

Dieter Schlesak, Ursula Bedner, Gerhard Eike gehören zur rumäniendeutschen Literatur,ebenso die Hermannstädter Oskar Pastior und Franz Hodjak, der Kronstädter Klaus Hensel,Vgl. zur Literatur nach 1944 und zu den siebenbürgischen Autoren U.Bedners O.Pastior, D. Schlesak, F. Hodjak, K. Hensel u.a. dann die Banater Werner Söllner, Herta Müller und Richard Wagner; diese kleine Literatur, hat ein Niveau und einen Bekanntsheitsgrad im deutschsprachigen Raum erreicht, wie er in der Geschichte der Rumäniendeutschen bisher beispiellos ist; aus geschärfter Sprachsensibilität, aus dem Bewußtsein eines Schwanengesanges und aus dem Leid historischer Brüche und Abgründe entstanden ihre Gedichte und Romane. Ganz wenige ihrer Autoren, so der Hermannstädter Joachim Wittstock und die Schäßburgerin Ursula Bedners leben noch zu Hause. Sie bereiten dem Gefühl einen Boden, der verloren schien, so klingen die Gedichte der immer noch in Schäßburg lebenden Ursula Bedners:

"...die Burg/ bleibt/ erreichbar/ an ihrem Ort," heißt es in Ursula Bedners `"Märzlandfahrt". "Kehr um, erspar dir nicht/ den Blick/ aufs Scheunendach,/ den Büffelweg/ von ehedem.../ Kehr ein,/ eins bleibt,/ das Erbe einzulösen:/ Kokelbrot und Salzgestein."

 

(Dieser Text ist in großen Teilen in der Schäßburg-Monographie des "Wort und Welt"-Verlags erschienen. Die letzten zehn Zeilen, aber auch viele andere zu "kritische" und "wertende" Passagen, die von den Abgründen der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte und ihrem Ende handeln, sind der Zensur des Herausgeberkollektivs zum Opfer gefallen. )

 

 

 

 

 

 

 

VII

 

VON DER UNFÄHIGKEIT ZU TRAUERN.KOMMENTARE UND BRIEFE

 

 

Mein Text über die Literatur meiner Vaterstadt führte zu Angriffen der landsmannschaftlich orientierten "Elite" dieser Stadt Ich fühlte mich bei dieser provinziellen Erregung an Thomas Manns "Bilse" in seinem Aufsatz gegen Angriffe aus seiner Heimatstadt Lübeck "Bilse und ich" erinnert. Grundätzlich ist eine eine Mentalität erkennbar, die sich anscheinend mühelos aus den vierziger Jahren "herübergerettet" hat... So schreibt einer dieser Landsleute, ehemaliger SS-Offizier, lebendiger Zeuge dieses Bewußtseins-Museums: "DS ist (seine literaturhistorischen Kenntnis in Ehren!) als entwurzelter Intellektueller in meinen Augen nicht dazu berufen, sich mit diesem Beitrag im Schäßburg-Buch einzunisten." Und wer hört da nicht das ganze Arsenal der Nazi-Invektiven von "entartet" bis "Asphaltliteratur" heraus, die zur Bücherverbrennung und schließlich zur Bedrohung und zum Tod von vielen Intellektuellen geführt hatte.

Ein anderer Briefschreiber wird noch deutlicher: "Daß die Gesinnung viel zu negativistisch ist und somit unserer Grundhaltung voll und ganz widerspricht. Es ist als ob ein Außenstehender urteilt, der uns nicht gut gesinnt ist....( Jude, Kommunist?) Wenn ich vom Politischen her urteile, so würde ich sagen: links, während wir alle Mitte rechts einzuordnen sind." Es kommt also nicht auf die "literaturhistorischen Kenntnisse" und Fakten an, sondern auf die "Gesinnung", die identisch sein muß mit "Mitte rechts", was nicht ganz stimmt, denn diese Haltung ist rechtsradikal, NPD (wie das Vorbild Hermann Oberth), NPD und noch weiter rechts.

Einer dieser rechtsgesinnten Landsleute schlägt vor, der ehemalig "Ortsgruppenführer" Alfred Pomarius müsse ins Buch aufgenommen werden, während DS ... naja: - "wiederholen möchte ich meine Ablehnung von S.! Mag er auch gute Kenntnisse haben, so teile ich die Meinungen von ....( es folgen die eben schon Zitierten): er hat es meines Erachtens nicht verdient, in unserem Buch aufzutreten."

 

Ahnungslos wird grundsätzlich gefragt, so in einem Bief des Herausgebers: "Warum soviel Schuldgefühle, wessen? Wofür? Diese sind dem Schäßburger fremd.. Zeitgeschichtliche (zeitgeistliche?) Betrachtungsweise verstellt den wahren Charakter des Schäßburgers. Mehr Schäßburg-Seele."

 

Daß nur etwa die Hälfte der "Elite" jenem alten "Gedankengut" anhängt, und daß es auch demokratische Ausnahmen gibt, wie den Leipziger Professor Heinz Brandsch, der zu meinem Essay schrieb: "Zu meiner eigenen Schande muß ich weiter gestehen, daß ich D.Sch und seine Werke nicht kenne. Aus dem mir vorliegenden Text erlaube ich aber ableiten zu dürfen, daß er mir mit seiner kritischen Haltung näher steht, als andere bekannte und unbekannte Landsleute..." - dies ändert wenig an der Trauer, die ich empfinde angesichts dieder Einsicht, daß ich froh sein muß, nicht mehr hautnah in jener Enge und mit Leuten dieser Art, deren Bewußtsein, noch mehr ihr Unterbewußtsein, von den gleichen intoleranten und harten, ja, unheilvoll- autoritären Inhalten geprägt sind, die zum bekannten Desaster geführt hat; eine Prägung, auf deren gefühlvolle Zustände des sentimentalen "völkischen" (so auch heute noch der Begriff!) Heimatsinnes, Volks- und Familiensinn, die nichts als eingelegte alte Ideologie sind und einer Erziehung anghören, deren Schmallippigkeit jedem aufs unangenehmste bekannt sind, der jene Zeit noch miterleben durfte! eine Prägung, auf die unsere braungefärbten Traditionalisten auch noch stolz sind. Das Museale und Antiqierte springt ins Auge; und hätte ich es nicht selbst erlebt, ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß es solche ein Museum des Bewußtsein noch gibt, das man als Historiker, Psychologe oder Autor mit Fleiß studieren sollte - bevor es ausstirbt.

 

Ich war leider nicht im Zustand solch einer Freiheit, sondern tatsächlich und in den Niederungen einer wirklichen Konfrontation mit und in diesem Museum zu Gast, eben "zu Gast", das ließ man mich auch kräftig spüren! Ich hatte also meinen Preis zu bezahlen für diese Erkenntnisse und Erfahrungen mit diesem Ausflug in die, ach so ersehnte Vergangenheit und ihre Zwangslagen, wie sie wohl früher in dieser Stadt an der Tagesordnung gewesen waren, zu zahlen in Form von Zeitverlust und Frust. Denn die "Zensur" hatte effektiv und in einer alten Richtung des kollektiven Drucks "gearbeitet", da bekanntlich mit allem eine Evidenz herstellbar ist, wo es Mehrheiten gibt, wo Überzeugungen arbeiten, und man als Einzelner "Realitäten" gegenübergestellt wird, seien es auch museale oder gar wahnsinnige (wie etwa in der KP-Zeit). Dieser Gesinnungs-Druck (hier in bräunlicher Ausgabe), der im Brustton der Selbstverständlichkeit und der Entrüstung, ja eines "Wir" arbeitete, der zwar eine Art Halluzination war und ist, eine Enklave (Gottseidank!) in der übrigen Wirklichkeit, jedoch wie in einem Ehestreit oder einer Parteisitzung etwas Mikrosoziales einsetzt, das dem Zwang im Wahnsinn gleicht. "Gesinnung" also hatte mit guter Wirkung gearbeitet. Auch wurde alles "negativistische" (also Kritik und Wahrheit, wie bekannt und in diesem Ambiente der "Gesinnungen" üblich!) als "unangebracht" und "dem Schäßburger fremd" in meinem Essay gestrichen. Es gab keine Möglichkeit der Gegenwehr, die "Geschlossenheit" und der Druck der Mehrheit war zu stark. Ich bekam eine Ahnung, wie das früher in den sächsischen Städten vor allem in den frühen Vierziger Jahren zugegangen sein mag! Ich hätte meine Arbeit zurückziehen können, das wäre die einzige Alternative gewesen. Doch hätte ich da nicht den Rausschmeißern zugearbeitet und ihnen letzlich Recht gegeben?! Das wollte ich nicht. Auch hoffte ich mit den wenigen kritischen Bemerkungen wenigstens etwas zur geschichtlichen Wahrheit beizutragen; zumindest mit dem Hinweis, daß es die Nazizeit in Siebenbürgen überhaupt als negative Erscheinung gegeben hatte (einige der Ansprechpartner halten sie auch heute noch für eine positive Erscheinung! Und die SS etwa für eine "gute Sache"!) Jedenfalls war es eine tiefgreifende Erfahrung (und wie eine emotionsgeladene Reise in die Vergangenheit), an diesem Buch mitzuarbeiten.

 

So fielen unter anderem folgende Passagen dem Rotstift zum Opfer oder mußten von mir nach harter und zäher Diskussion wie in den besten, mir nur zu gut bekannten roten Zeiten, "abgeschwächt" werden: Am härtesten war die Disklussion über die Frage, ob die siebenbürgische Nazizeit ein Verrat an der 850 Jahre alten Tradition der Siebenbürger Sachsen gewesen war, wie ich nachweisen konnte. Man wollte sie innerhalb dieser Tradition sehen. Vielleicht gar als deren "heroischen" Höhepunkt.

Doch alles begann schon mit der Ablehnung jeder Kritik, jedes "Meckern" und "Kritteln" war untersagt. So wurden folgende Passagen "gekürzt":

......nach 1876, der Zerschlagung des Königsbodens, beginnt der Abstieg und die Provinzialisierung auch der siebenbürgischen Literatur, eine Folge der Isolierung durch eines sich zum finis saxoniae steigernden Wirklichkeitsverlust und Geschichtsverlust.

Sogar der "Nationaldichter" Michael Albert durfte nicht zu "negativ" und kritisch die Wahrheit sagen, etwa wie in diesem Gedicht:

 

Ob du in fremden Landen

zum fremden Mann verdirbst,

ob du dort festgestanden

und als ein Treuer stirbst;

 

es ist in beiden Lagen

ein trauriges Geschick,

denn deinen schönsten Tagen

gebricht`s am schönsten Glück:

 

daß nie auf festem Grunde

du sicher dich erhebst,

daß du in keiner Stunde

recht aus dem Vollen lebst." (1878).

 

Dazu schrieb jener, der mir, dem "Kritikaster" und "Nestbeschmutzer" das Recht, in meiner Stadt geboren zu sein, streitig machte, sozusagen nun eine Art "Verbannung" post festum zumutetet, da ich den "Rang unserer Heimatstadt - und ihrer verdienstvollen Repräsentanten - ... peinlich verfremdet und herunterkritisiert. Dazu gehört auch unser lieber Michael Albert..." Er schrieb apodiktisch: " Untergangsstimmung ist bei M.A. kaum zu finden."

 

Ein Aufschrei also auch wegen der Analyse von "kritischen" und "negativen" Ansichten und Werken des Nationaldichters, sie wurden gestrichen, darunter auch die vorhin zitierten Strophen..

Dabei ist das Beste, was Albert schrieb, Realitätskritik im Dienste der Wahrheit; und dieses ist ja nicht nur bei diesem Autor so, Abgründe - und nicht Opportunismus, in welcher Form auch immer, Distanz schafft Stil, Distanz, und nicht rührselige Bejahung, die Idylle und Kitsch hervorbringt. Wir wissen heute, wohin Tendenzpoesie und Hymnen führen. Daß Albert den Untergang der Siebenbürger Sachsen schon damals vorausgeahnt hat, zeugt von Hellsicht und Talent, dieses Ende, das sich nun vor unseren Augen vollzieht, ein historisches Ende, das 1940 begann (unter kräftiger Mithilfe der politischen Elite und der vielen SS-Freiwilligen) - ist unbestreitbar. Doch, so dir Version des schon erwähnten SS- und Auschwitzoffizier heute (1993), der mit zum Zensur-"Gremium" gehört hat: "Da wir zwischen den Mühlsteinen des verhängnisvollen Laufes der Geschichte in den 40-er Jahren aufgerieben wurden, darf es keine Schuldzuweisung geben, auch nicht an unsere politischen Führung". (Die damals die Lümmelgarde des Volksgruppenführers Andreas Schmidt war, Schwiegersohn des SS-Reichsrekrutierers Obergruppenführer Gottlob Berger. Schmidt trägt die Verantwortung dafür, daß es einen Vertrag zwischen Buklarets und Berlin gab, und daß so fast jeder wehrpflichtige Rumäniendeutsche automatisch zur SS kam. Viele wurden dann in den KZs eingesetzt. So auch der rumänische Hauptmann Victor Capesius, der zwangsweise zur SS beordet, zum Auschwitzapotheker ernannt wurde.) Und der erwähnte SS-Offizier (er freilich meldete sich begeistert freiwillig noch vor der Zeit) schreibt: "Es ist müßig, nach einem halben Jahrhundert noch nach Schuldigen zu suchen, wie es die Vertreter der jüngeren Generation tun, die diese Zeit nicht am eigenen Leib ( und an eigener Seele!) erlebt haben. Volentem fata ducunt, nolentem trahunt, zu Deutsch in Nietzsches Fassung: Schicksal ich folge dir, und wollt ich nicht, ich müßt es doch unter Schmerzen tun. Es hätte nichts genutzt, wenn wir versucht hätten, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen... Wir waren keinen Nazis, wir haben bona fide wie eh und je, als Deutsche gehandelt und die Tragödie unseres Völkchens ist ein Teil des gesamtdeutschen Ruins dieses Jahrhunderts..."

So vermischt man Wahrheit und Lüge zu einem einzigen Brei, der jede Verantwortung abschiebt! Und es wurde mir klar, daß mit diesen Mitarbeitern und ihrer Zensur über die wirklichen Ursachen der rumäniendeutschen Katastrophe keine Analyse geschrieben werden konnte, wie es einige hellere Köpfe verlangt hatten.

 

Gestrichen wurde auch dieser Hinweis: Und genau hundert Jahre nach Michael Albert, heißt es bei den letzten sächsischen Autoren unserer Stadt, so in einem Roman des Verfassers:" Sein ganzes Leben war von einem Rächer bestimmt gewesen, wie von einer Furie, die das Verschwinden auf raffinierte und kaum merkliche Weise betrieben hatte... Der letzte Schlag für ihn war die Emigration mit ihren Folgen und Spätfolgen gewesen. .. (aber) in seinen Träumen lebte er immer noch in jener kleinen siebenbürgischen Stadt..." (Dieter Schlesak "Vaterlandstage.Und die Kunst des Verschwindens", Zürich-Köln 1986, S.275.)

 

Ganz unmöglich war folgende Bewertung der vierziger Jahre und ihres Ortsgruppenführers Pomarius durch die kolektive Zensur zu bringen (und ich höre auch meinen Vater und meine Mutter in den Chor einstimmen und dabei rufen: "Wir waren immer geschlossen, das Völkchen!") (Pomarius zwischen 1940-1944) : ...eine Paralelle etwa zu Arnold Roths oder Zillichs Entwicklung, es ist ein Verrat an der 800-jährigen sächsischen Tradition festzustellen.. Der alte "Selbstbehauptungskomplex" (Walter Myss) war in dieser Zeit so falsch gepolt, bis er in die Selbstvernichtung führte. Kriegsleid, Deportation, Familientrennungen waren die Folge. Diese Zeit der Siebenbürger Sachsen ist in der rumäniendeutschen Literatur erst spät beschrieben worden, jedoch immer noch nicht wirklich aufgearbeitet.

 

Und gerade die Ansätze dazu, die kritische Literatur von Pastior, Schlesak, Hodjak, Hensel, Söllner und den Banatern Müller, Wagner u.a. wollten die wahren Sachsen sich nicht zumuten, sondern in ihrem Erinnerungsparadies verharren. Gestrichen wurde auch die Passage, die von dieser Literatur handelte, ich konnte sie nur retten, inden ich alle Namen strich, dies, weil ich die Heimatliteraten der älteren Generation nicht erwähnt hatte, die "eigentlichen Werte", so das Argument.

 

Ich frage mich auch heute, warum ich mich dieser Zensur, bei der es wie "zu Hause" "keine Widerrede" gab, gebeugt habe. Einiges dazu habe ich vorhin ausgeführt. Dazu kommt noch: Ich habe mich der Tatsache , daß es das einzige einigermaßen vollständige Buch über meine Heimatstadt ist, es ein anderes nicht gibt und wohl auch nicht geben wird, gebeugt, weil ich diese Stadt liebe und ihr viel verdanke. Zweitens weil ich meinte, Tote, und was die Herkunftsgruppe betrifft, eine dem Untergang geweihte Menschengruppe und ihre Geschichte, verdienen mildernde Umstände. Der Tod reinigt und Opfer haben besondere Rechte. Und drittens habe ich gemeint, vielleicht gegensteuern zu können, und wenigstens ansatzweise etwas von der historischen Wahrheit "durchbringen" zu können, gar die Mitautoren zu beeinflußen und vielleicht in ihrer zum Teil zeitfernen absurden Haltung schwächen zu können. Grundsätzliches habe ich im Gespräch mit Stefan Sienerth dazu gesagt. ( Vgl. S. 209ff in diesem Buch )

 

ZITATE AUS EIGENEN BRIEFEN AN DEN HERAUSGEBER DES HEIMATBUCHES "SCHÄßBURG":

 

März 94

Alle Wünsche konnte ich nicht erfüllen, da einige völlig "daneben" oder einfach falsch waren. Auch konnte ich die Zeit nach 1944 nicht einfach wegstreichen, sie ist, was die Qualität der (rumäniendeutschen) Literatur betrifft - jetzt mal gesamtdeusch gesehen - , den letzten 200 Jahren ... Literatur überlegen. Und was den Bekanntheitsgrad in Deutschland betrifft, unvergleichglich wichtiger. Daß sie von den Siebenbürger Sachsen kaum zur Kenntnis genommen wird, ist kein Maßstab, sondern eher diesen anzulasten, als der rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur. Eine gewisse Objektivität der Maßstäbe müßte auf jeden Fall gelten. Daß Ihr alle anscheinend Pastior, Söllner, Wagner, Müller etc. gar nicht kennt, finde ich nicht gerade lobenswert. Und meine Arbeiten, vor allem die "Vaterlandstage" gehören ebenfalls zu einem neueren und notwendigen exil-siebenbürgischen Bewußtsein von heute.

 

Ich sage das alles auch nur, weil Du am Gelingen und dem Wert unseres Buches selbst zweifelst, und weil ich Dir sagen muß, daß diese Zweifel sehr berechtigt sind. Ich habe inzwischen, trotz meiner sehr knappen Zeit... die von Dir zugeschickten Aufsätze gelesen, und dabei ein unvertretbares "Vergessen" eben gerade der Zeit von 33-44, aber vor allem der "Volksgruppen-Zeit" (40-44) feststellen müssen, als habe es die nie gegeben. Das ist unzulässig. Das ist Geschichtsfälschung. Und es würde mir jetzt nachträglich leid tun, überhaupt mitgemacht zu haben, wenn dieses "Vergessen" und Ausklammern nicht berichtigt wird, denn diese "Amnesie" wird einmal allen Autoren, nicht nur den Herausgebern zur Last gelegt werden.

Aber ich habe nun wieder viel Arbeit aufgewendet, um mitzuhelfen, so weit das noch irgend geht, diesen gravierenden Mangel zu beheben, damit dieses erste umfassende Buch über unsere Heimatstadt keine Fehler und gar Unwahrheiten enthält!

 

Mein ganzes Werk geht dem Grund unseres Geschichtsendes nach, ich kann, falls das wichtigste Thema der Siebenbürger Sachsen heute in einem Buch, an dem ich mitschreibe, fehlt, nicht einfach darüber hinwegsehen, sonst müßte ich mich selbst verachten, angesichts der Fakten dieser Jahre, die ich nun kenne, die Augen zu verschließen und zu schweigen, wenn andere es tun.

Ich möchte ganz dringlich bitten, die Wahrheit in den Aufsätzen nicht zu vergessen.

Und was meinen Text betrifft, werde ich unter diesen Umständen einige Sätze über die Spiegelung jener Zeit und ihrer Katastrophe in den "Vaterlandstagen" an den Verlag nachschicken müssen, damit es deutlich wird, was es mit jenen Jahren 1940-44 auf sich hatte, viele von mir erlebte, erfahrene und in Dokumenten gefundene Ereignisse aus jener Zeit in Schäßburg werden in meinem Buch erzählt. Ich mußte eine Art Korrektur meiner Erinnerungen vornehmen, was schmerzlich war. So werde ich versuchen in ein paar Sätzen darauf einzugehen.

Der einzige Aufsatz, der diese Zeit und den Widerstand dagegen, den es ja Gottseidank auch gegeben hat, objektiv und entsprechend abhandelt, ist "Kirchen und kirchliches Leben" ... Es wird hier sogar klar, daß für die Kirche die kurze Zeit 44-48 tatsächlich eine Befreiung - eine Befreiung von der drückenden antichristlichen Naziherrschaft (1940-1944) war.

Eine einzige Bemerkung hätte ich, auf der fünften Seite vom Schluß: das ruhmreiche Ende der protestantischen Bildungsgeschichte fand 1941 statt und nicht 1948. 1941 als Bischof Glondys, der rechtmäßig gewählte Sachsenbischof sein Amt niederlegte, um nicht von der NS-Clique einfach davongejagt zu werden. Und die Schulen ab Nov. 41 (Schuldekret-Gesetz, veröffentlicht in: "Jahrbuch d. deutschen Volksgruppe in Rumänien 1942, S. 127-131) langsam "angepaßt", am 1.7.42 dann von der Volksgruppe (außer Nordsiebenbürgen natürlich) "übernommen" und gleichgeschaltet wurden.

 

In den Aufsätzen über die Schule Schäßburgs fehlt dieses verheerende Ereignis. Ja, im Text Das Schulwesen in Schäßburg wird es sogar als hoffnungsvolles Ereignis bezeichnet. Der Autor, der die Bergschule zur "Gesinnungsschule" erklärt, was das Gegenteil von freiem Geist und Forschung ist, und auf keinen Fall stimmen kann, meine Studien zeigen mir das Gegenteil, und auch während meiner Schulzeit an der Bergschule habe ich nichts von solch einem Gesinnungszwang verspürt, außer bei einzelnen, negativen Lehrern, die dazu nicht nur den Taktstock einsetzten; der Autor also soll ein einziges Zitat aus der Bergschulgeschichte beibringen, wo er das nachweist! Jesuiten mögen "Gesinnungsschulen" haben, doch nicht die Sachsen mit ihren alten Gymnasien und unserer freien Bergschule, wo "Gesinnungsschule" erst durch den braunen Zwang und dann durch den roten begründet wurde und spürbar wurde. Ich möchte das im Andenken an die vielen demokratischen und freien Lehrer und des Forschungsgeistes der Bergschule nicht stehenlassen! Das ist eine Vokabel, die unsere Schule schlechtmacht! ohne es zu wollen!

Doch schlimmer: auf S. 22: wird die verheerende Gleichschaltung 1942 der Schule sogar mit "Hoffnung auf materielle Sicherstellung" gelobt, und dann gleichmütig vom "Ende der evangelischen deutschen Schule in Siebenbürgen" gesprochen. Kein Wort darüber hinaus über diese zerstörerischen braunen Jahre und den von Hitler verursachten furchtbaren Krieg: Etwa Notabitur, etwa die Tatsache, daß sich ganze Klassen leerten und geschlossen zur SS ziehen mußten, mit 17! Wenige sind wiedergekehrt. Auch nichts von den neuen "Gesinnungslehrplänen" über die Degradierung der Schule zu einer Schule der Leibeserziehung und Erziehung zum Kanonenfutter usw. Aber auch über die Umschulung und die Erziehung der Lehrer zum "neuen Geist" in der neugegründeten Organisation "Deutsche Erzieherschaft" kein Wort. Man könnte aufschreien. Nichts über den Zwang zur DJ usw. Nichts über die Unzufriedenheit der Eltern, schon wegen der Trennung von der Kirche, die ein altes Bollwerk der Sachsen gewesen war, nichts über die Verbote des Coetus usw. Ich habe mich mit dieser Zeit während der Recherche zu meinem Roman "Vaterlandstage" befaßt, und ich kann sagen: diese nun ideologische Behandlung eines schulgeschichtlichen Stoffes, der vom Ende der sächsischen Schule und dessen Ursache sprechen müßte, durch Verschweigen aber Ideologie betreibt, müßte korrigiert werden.

 

Der etwas magere Aufsatz "Schäßburger Schulwesen" weiß auch kaum etwas über die Jahre 1941-44, nichts über die Jahre von 1948 bis heute.

 

Auch was die anderen Institutionen und Verbände betrifft, weiß nur der musterhafte Text "Kirchen und kirchliches Leben" Bescheid - oder besser: will auch Bescheid wissen! Er spricht vom Widerstand des Stadtpfarrers Dr. Wagner gegen die antichristliche, unchrisliche und lümmelhafte NS-Zwangs-Verbote etwa der Nachbarschaften oder des Frauenvereins.

Als wäre in der jahrhundertealten Sachsengeschichte so ein Verbot gar nicht der Rede wert, übergehen auch andere Aufsätze diese Enormität!

In "Vereine und Gesellschaften von Schäßburg" ... ist weder beim "Frauenverein", der sicher auch vom NS-"Frauenwerk" "übernommen" worden war, noch bei der "Lesegesellschaft" oder dem "Sebastian-Hann-Verein", die dann wohl zur "Kulturkammer" gehörten, die Rede vom wirklichen Geschehen in jenen Jahren, allein beim "Jugendbund" heißt es, daß durch die Gründung der DJ das Ende des JB gekommen war. Und was war mit dem "Musikverein"? Und der "Gewerbeverein"? Dem "Verein für Frauenbildung"? Die Informationen über diese Vereine enden bei 1930. Und tauchen manchmal 1944 wieder auf. Was ist mit ihnen in der Zwischenzeit geschehen? Einzigartig klar war alles beim "Leichenbestattungsverein", er wurde "niemals unterbrochen". Ein Hohn.

Und die Nachbarschaften, die sogar in der kommunistischen Zeit funktionieren durften? Sie wurden in der NS-Zeit verboten, euphemistisch "aufgelöst". Ein einziger Halbsatz auf S. 6 und ein (Gottseidank aufschlußreiches Zitat), keine Einschätzung oder gar Kritik, und keine Charakterisierung oder Vergleich mit der Folgeorganisation! im überdimensionierten Aufsatz über die "Nachbarschaften und das Wesen des Schäßburgers"... Wie funktionierte diese NS-Nachbarschaft der "Zellen " in der sehr schweren Zeit 1941-1944? Wieso dürfen wir darüber nichts erfahren? Und wie war das mit dem Richttag und anderen traditionellen Festen, die sogar die Kommunisten gestatteten, die Nazis aber nicht: sogar die Monate hießen ja nun "Hornung" usw. (1939 gab es das letzte Skobationsfest! Warum wohl?) Eigentlich machten die Herren des Nationalsozialismus all diesen schönen uralten Festen den Garaus. Ist das nicht der Rede wert?! Es gab Widerstand, inneren zumindest, ich weiß es von meiner Mutter, meinem Vater, andern Schäßburgern, z.B. dem ehemaligen Redakteur Clemens Markus, die alle dagegen waren, wie viele Sachsen, die aber den Mund nicht aufmachten, sich nur Randbemerkungen im Familienkreis erlaubten.

Es ist nur die halbe Wahrheit, wenn es im Aufsatz ("Ausblick") heißt: "Die Nachbarschaften haben Türkenzeit und Kommunismus überdauert". Heißen muß es: "Türkenzeit, Nationalsozialismus und Kommunismus überdauert"! Ich möchte darauf bestehen, daß die Wahrheit gesagt wird!

Im Aufsatz "Landwirtschaft und Landbau", den ich sonst sehr gut finde, sehr gut geschrieben und mit vielen Informationen, fehlen ebenfalls die Jahre 1940-1944, der Anfang ist außerdem leider etwas tendenzios und sarkastisch antirumänisch, und er setzt "rumänisch" auch noch mit dem Kriegs- und Nachkriegsdesaster gleich: "Das Ende des zweiten Weltkrieges bot die Möglichkeit, das nationale Ziel der Rumänen fortzusetzen... die landwirtschaftliche Frage wurde ... erfolgreich gelöst" = Enteignung." Das ist reine Behauptung, durch nichts belegt. .. Auch das Wort "völkisch" sollte lieber nicht benützt werden, weil es im ganzen deutschen Kulturraum diskreditiert ist, und nur noch in Anführungszeichen benützt wird, weil es NS-Jargon ist.

Weiter fehlen in diesem Aufsatz ebenfalls die entscheidenden Jahre 1940-1944. Von 39 springt der Text sofort zum Jahr 45. Es gab doch das "Landesamt", dem war die Organisation "Deutsche Bauernschaft" unterstellt. Und "lenkte" auch die 3 Haupt- und 500 Ortsgenossenschaften, dem "Reich" und der Wehrmacht lieferte diese Organisation schon vom 1.7.41 bis 1.7.42 Tierische und pflanzliche Erzeugnisse im Wert von 9.431.202, -RM; (Gesamtumsatz ca. 33 Millionen RM.-) etc. etc. Und dies im Zeitraum von nur einem Jahr.

Nicht richtig ist die Behauptung, daß "unser Exodus ab initio ein national-rumänisches Anliegen war" - das ist nicht belegt (das Gegenteil läßt sich belegen!), und tendenzios ist es auch und dies sollte und wollte doch das Buch nicht sein. Soll es nicht eher Vorurteile abbauen!? Wenn etwas wahr ist: Ceausescu hat die Rumäniendeutschen für DM "verkauft", nicht weil er uns loswerden, sondern weil er und die Seinen das Geld haben wollten! Schlimm genug! Obwohl er doch tat, was die Sachsen und Schwaben selbst wollten!

Unzulässig ist auch, daß in der Zeittafel NEDR, DVR, ihre "Saalschlachten" etc., die NS-Organisationen, die Gleichschaltung der Schulen, die Abschaffung der Verbände, der Kriegsbeginn, das Einziehen zur SS. usw. usf. fehlen. Auch der "Umsturz" im August 44 und der Einmarsch der Russen im September gehören in diese Zeittafel.

Der Aufsatz- Die wirtschaftliche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, den ich ansonsten gut finde, außer, daß der Handel, die Kaufleute zu kurz kommen, und die haben durch grenzüberschreitende Kommunikation einiges zur Entwicklung Schäßburgs beigetragen, einige Details hat mir mein Vater über AV. Hausenblasz erzählt ... - auch dieser Aufsatz also macht von der Regel keine Ausnahme, das Ausklammern von 1933-44. Einzige Bemerkung S. 6 über die "Erneuerungsbewegung".

Es kann nicht übergangen werden, daß es damals ein "Amt für gewerbliche Wirtschaft" gab, mit 13.890 eingeschriebenen Betrieben, die aus Schäßburg gehörten ebenfalls dazu! Ebenso ist es ausgeschlossen , daß von den 72o ehrenamtlichen und 80 Hauptamlichen Amtswaltern keine Schäßburger dabei gewesen waren! Ursprung der Organisation war: die Romanisierung zu verhindern. Dann aber kam alles ins NS-Fahrwasser und in die Kriegswirtschaft. Ebenso die Wirtschaftsgruppe "Banken und Versicherungen", daß es eine deutsche Hauptbank gab mit Aktienkapital von ca. 2,6 Millionen DM. (All dies ist nachzulesen im "Arbeitsbericht der NSDAP der DVR vom 1.7.41 bis 1.7.42, an das AA D IX, 62-15 19/9.2, Inland II D -4/1.) Unmöglich, daß Schäßburgs Banken nicht dazu gehörten. Auch daß die Schäßburger Arbeiter nicht zur "Deutschen Arbeiterschaft", gehörten, ein Amt für die soziale Betreuung der Arbeiter. Arbeitsvermittlung, Arbeitseinsatz etc. Etwa 1000 Lehrlinge wurden nach Deutschland zur Ausbildung geschickt, 10 neue Berufsschulen gegründet, 5 Lehrlingsheime eröffnet. Freilich Endabsicht war: die gesteigerte, bessere Kriegsproduktion.

 

Diese Daten ... müßten ins Schäßburgbuch hineingenommen werden. Ich habe mir die Mühe gemacht, sie herauszusuchen, da die Zeit sehr drängt!

( Ein große Hilfe dabei war mir das Buch von Johann Böhm, "Das Nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Volksgruppe in Rumänien 1936-1944" (Frankfurt, Bern, New York 1985), eigentlich die einzige wahrheitsgemäße Darstellung (außer Wolfgang Miege) dieser Zeit. Es wird natürlich von der "rechten Gesinnung" und der Landsmannschaft verfemt und totgeschwiegen, auch nicht zitiert!!)

 

Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden , daß da nur eine Art Bestandsaufnahme etc. durchgeführt werden soll. Obwohl ja auch diese Daten "Bestandsaufnahmen" sind!! Jedes historisch orientierte Buch ist neben exakter Information auch Volkserziehung und Selbsterziehung durch vermitteltes exaktes Wissen, sonst ist es belanglos, beliebig und sogar unmoralisch, die Wahrheit entstellend. Das wußten unsere Vorfahren sehr wohl. Die alte Chrinik: der "Siebenbürgische Würgengel" (1670) beginnt schon nach wenigen Zeilen mit der Sentenz: HISTORIA EST VITAE NOSTRAE MAGISTRA; LUX VERITATIS; TEMPORUM MINISTRA. Und unsere Traditon war immer volkserzieherisch orientiert, sonst hätten die Siebenbürger Sachsen nicht 850 Jahre überlebt, die Autoren haben den Leuten nie nach dem Munde geredet, sondern sie stellten an sich hohe ethische und Wahrheitsanforderungen. Wieso sollen wir das nicht mehr tun? Sollen wir das nun verraten?

Sehr schön, dicht und lehrreich finde ich den Text von Heinz Heltmann, der mir auch bei meiner Schreibe inspirativ helfen wird, und so manches Bild im Gedächtnis ausgelöst hat, steht doch im Mittelpunkt bei meiner Literatur ja immer dieser Schatz der Erinnerung. Doch bin ich auch den andern Autoren dankbar für die vielen Informationen und das Bild Schäßburgs, das nun ein viel genaueres und vertiefteres ist, als vorher! Eben deshalb möchte ich auch meine dringende Bitte noch einmal vortragen, die vorgeschlagenen Verbesserungen vorzunehmen. Und bitte auch, mir den etwas polemischen Ton nachzusehen: Sowohl meine Liebe zur Stadt, als auch mein Gerechtigkeitsgefühl haben diesen innern, nun nach außen getragenen Aufstand beim Lesen verursacht .

 

2. April 94

Danke für Deinen Brief und die neuen "Korrekturen" an meinem Aufsatz... Du hast anscheinend nicht die letzte Fassung vom Verlag erhalten. Ich schicke Dir diese - mit einigen kleinen Änderungen, die Deinen/Euren Vorschlägen etwas entgegenkommen, zu. Es ist aber mein letztes Angebot. Ich kann Zensur auch in diesem Fall nicht tolerieren, vor allem wenn es um sachliche Dinge geht, wo es nicht mehr um Meinungsverschiedenheiten geht, sondern um Diktat. 1. Zu Pomarius. Ich habe in meinem ganzen Aufsatz andauernd ästhetische und andere Wertungen vorgenommen, sei es bei Michael Albert oder bei kleineren Geistern wie Regine Ziegler oder ganze Epochenwertungen. Literaturhistorie lebt von "Wertungen", das geht nicht anders. Ich bestehe darauf, daß wenigstens in meinem Aufsatz die kritische Meinung zur Nazizeit erhalten bleibt. Und ich hoffe, daß die in meinen Ergänzungsvorschlägen beigebrachten Daten - sachlicher Art- in den verschiedenen Aufsätzen mitaufgenommen werden, diese Zeit nicht einfach "unter den Tisch gekehrt wird." Ich habe ausführlich in meinem Brief dazu Stellung genommen, und erbitte auch eine präzise Antwort darauf! Es ist nicht nur ein sachliches, sondern auch ein zutiefst moralisches Problem!!!

2. ... Und schon gar nicht geht es um Selbstdarstellung, wenn von der rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur die Rede ist, zu der schließlich auch die Schäßburger Autoren gehören. Wobei es notwendig war, ein paar Zeilen zu dieser "Strömung", wie bei allen anderen Autoren der Vergangenheit, zu schreiben. Ich finde es nicht gut, dem Buch sehr abträglich, daß diese Unkenntnis, vielleicht heimliche Aversion und auch Befangenheit in Punkto lebender Schäßburger und Siebenbürger Autoren, die Sachlichkeit dieses Berichtes über Literatur gefährdet. Von einer heimlich ideologischen Einstellung, die sich als Neutralität und Nichteinmischung in Fragen des letzten halben Jahrhunderts tarnt, ein halbes Jahrhundert, das unser Leben entscheidend verändert hat und immer noch bedingt, ganz zu schweigen. Wollt Ihr denn ein total museales und unrichtiges Buch haben, das durch Ausklammern die Unwahrheit sagt?

Es täte mir von Herzen leid - auch für das Buch - wenn sich diese Kontroverse, die einen sehr entscheidenden Punkt betrifft, nicht mit von beiden Seiten entgegenkommenden Kompromissen und Gesprächen lösen ließe, wenn ich also am Schluß, nachdem alles "ausgestanden" schien, meinen Essay nun doch zurückziehen müßte; er hat mich sehr viel Arbeit gekostet, von den äußerst belastenden und höchst unangenehmen Einmischungen Ewiggestriger und anderen Sekkaturen, ganz zu schweigen, doch alles war eine Art Obulus und Hommage an mein geliebtes Schäßburg! Und auch ein Versuch jetzt zu verhindern, daß die historische Wahrheit über die letzten fünfzig Jahre - nicht verschwiegen wird, wenigstens punktuell da ist. Es ist für mich ein ethisches Problem, da gibt es kein "über den Schatten springen", mit meinem ganzen Werk bín ich für diese Wahrheit und Analyse der Zeitgeschichte unserer Herkunftsgruppe eingetreten, ich kann nun nicht so handeln, als gäbe es dieses nicht mehr, nun plötzlich das Gegenteil tun und auch bei andern akzeptieren, daß sie es tun!

 

VIII

 

NEIN, NICHT ALLE SIND GESCHEITERT: HITLER, EIN MONOLOG ÜBER DAS LIEBLINGSBUCH DER DEUTSCHEN

 

A. und andere, aber auch Robert Walser behaupteten steif und fest, mit Hitler Kontakt gehabt zu haben. Wichtiger aber als Augenzeuge ist der persönliche Stenograph im Führerhauptquartier "Wolfsschanze". Hitler habe sich ihnen gegenüber gerühmt, sagte A., daß kein anderes Buch so verbreitet gewesen sei, wie sein eigenes, und sowohl Walser, von dessen erstem Buch nur 47 Exemplare verkauft worden waren, als auch Hölderlin, die Niete, könnten sich da ganz sicherlich verstecken, es sei geradezu lächerlich, ihn mit denen zu vergleichen, gleich nach der Bibel komme sein Buch, sagte Hitler es sei in alle Sprachen, sogar ins Japanische und Chinesische übersetzt worden, etwa 12 Millionen mal verkauft worden, und er habe sein Lebenlang keine Mark des Deutschen Reiches berührt, sondern ausschließlich von den Einnahmen seines Buches gelebt. Somit ist er also unter anderem als der erfolgreichste Schriftsteller zu bezeichnen, den die Deutschen, nein, die Welt, je gehabt hat, obwohl er nur ein einziges Buch geschrieben hat, und verglichen mit all diesen Hungerleidern habe er auch ihnen gezeigt, wie man dem Volk aufs Maul schauen müsse, und was es brauche und lesen wolle. Denn er sei mit seinem Volk und dem Volkskörper wie durch geheime Fühler verbunden, die ihm zutrugen, was das Volk wünschte oder fürchtete, billigte oder tadelte, glaubte oder nicht glaubte. So habe er es sich auch leisten können, das Volk gelegentlich und eigentlich zu verachten.

Sein Buch habe in jedem Bücherschrank gestanden, ja, in jeder öffentlichen und halböffentlichen Bibliothek habe es ein oder mehrere Exemplare gegeben, und da es offiziell und feierlich jedem Hochzeitspaar am Hochzeitstag überreicht wurde, verpflichtete wiederum die Gemeinden sich damit ausreichend einzudecken, ebenso Presse, Rundfunk und Film, von den Parteizellen ganz zu schweigen oder auch was den Schulen und Kindergärten, vor allem diesen, da habe er Gewicht darauf gelegt, daß den Kleinen ausführlich aus seinem Leben erzählt wurde, vor allem an seinem Geburtstag.

Und was seinen Freund und Dutzfreund Ernst Röhm betreffe, bei dem er eindeutig und ohne zu zaudern, wenn auch sein Herzblut da gezuckt habe, und so die Entscheidung ungeheuer erschwert hatte, habe er die Entscheidung getroffen, daß Ernst sterben müsse, geopfert werden mußte, mehr könne er nicht sagen, aber er habe ihm persönlich den Revolver auf den Nachttisch gelegt, und Röhm habe ihn nicht benützen wollen, so daß er gezwungen gewesen war, General Dietrich zu beauftragen, Ernst zu erschießen.

Daß an jenem 30. Juni 1934 auch Pater Staempfle, der angeblich sein Erfolgs-Buch "Mein Kampf" mehrfach redigiert habe, um es überhaupt lesbar zu machen, aus diesem Grund liquidiert worden war, das sei eine ungeheure Verleumdung, die vor allem Otto Starrer verbreitet hatte, aus Rache wohl, weil dessen Bruder Gregor an jenem Tage leider ebenfalls hatte liquidiert werden müssen, so hatte Strasser die ungeheuerliche Mär in die Welt gesetzt, die "Rohfassung" des Buches habe ausschließlich aus einem wahren Chaos von Gemeinplätzen, schülerhaften Reminiszenzen, schlechtverdauter Lektüre und persönlichen Haßgefühlen und dem Gift der Ressentiments bestanden, und nur Pater Staempfle habe die offensichtlichen Irrtümer und kindlichen Gemeinplätze ausgemerzt und das Buch davon gereinigt, das hätte er, der Autor nie zugelassen, daß ihm da jemand in seinem Werk herumgepfusche, schon gar nicht ein katholischer Paffe. Auch sei hier keineswegs wider die Errungenschaften des menschlichen Geistes revoltiert worden, wie der Verräter Strasser behauptet hatte. Ganz im Gegenteil.

Aber ganz allgemein habe er schon etwas gegen die Tintenfritzen und Schreiberlinge, ja, auch gegen die sogenannte Wissenschaft, die habe einen fatalen Beigeschmack, da deren hauptsächlichsten Repräsentanten vorzugsweise im heimlichen Kämmerlein ihr Süppchen kochten, während ringsumher gleichsam die Knospen wie von selber aus allen Ästen und Zweigen sprössen. Allein die Natur schere sich gottlob nicht im geringsten darum, was irgendein mehr oder minder aufgeweichtes Gelehrten- oder Schreiberhirn an hieroglyphischer Kabbalistik zusammenbraue, um am Ende vielleicht gar noch eine höchst private Weltentheorie von einem Elfenbeinturm herunterzuposaunen. Was man jenen scheinheiligen Aposteln gleichwohl am meisten verübeln müsse, sei deren unsoldatische Haltung

 

 

 

 

IX

 

BRÜCHE, DEREN FOLGEN NOCH LANGE

NICHT AUSGESTANDEN SIND. GESPRÄCH MIT STEFAN SIENERTH

 

S: Herr Schlesak, vom Alter her - am 7. August 1994 werden Sie 60 - gehören Sie eigentlich jener Generation rumäniendeutscher Schriftsteller an, die in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen geboren wurde und in den sechziger Jahren mit ersten Gedichten, Erzählungen, Aufsätzen und Büchern an die Öffentlichkeit trat. Ihre Handschrift, Ihre ästhetische und politische Einstellung rücken Sie jedoch - wie auch im Falle Ihres Landsmannes Oskar Pastior - vielmehr in die Nähe der jüngeren rumäniendeutschen Autoren, die erst nach 1970, als Sie Rumänien bereits verlassen hatten, massiv zu veröffentlichen begannen. Wie würden Sie Ihre literarhistorische Position definieren?

 

DS: Es ist schwierig, in ein paar Sätzen auf diese entscheidende Frage zu antworten, da es meine ganze Denk- und Lebensstimmung enthält und mein ganzes Werk. Daß ich mich hier, beim Gespräch mit Ihnen, wie bei jedem Interview "äußere," also kaum in mich gehen kann, verhindert die richtige Antwort, die in der Literatur nie direkt, begrifflich gegeben werden kann. Was ich zu mir sage, sage ich zu Ihnen: es ist schon in meinen Gedichten, im Roman und in meinen Essays besser dazu geantwortet. Doch direkt, also un-literarisch geantwortet, und mit ein paar Stichworten: es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mußten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung, die meine, wie die jüngere Literatur erst möglich gemacht haben. So daß einige, wenn nicht sogar alle durch sie zu Autoren geworden sind. Ich weiß nicht, ob ich es in friedlichen Zeiten so ausschließlich geworden wäre?

Diese Brüche, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden und ausgelebt sind, sondern als Schnittpunkt immer mit zu den laufenden Ereignissen gehören, sind die Ursache, daß ich mich, ähnlich wie mein Kollege Oskar Pastior, als Schreibender, nicht altersmäßig, zu jener Generation zähle, die "die Folgen" in ihrem Leben und in ihrer Literatur nicht nur inhaltlich, sondern vor allem durch einen besonderen Stil tragen, Sprache, die so verändert wurde, und "es" austragen muß; ich nehme an, daß ich mich nicht nur zu dieser jüngeren Literatur-Generation und Sprache zähle, sondern hoffentlich ihr auch angehöre!

Sie steht der bisherigen Tradition, die wesentlich Heimatliteratur war, entgegen, sie hat zu einer radikalen Veränderung des Stils geführt. Der alte, sagen wir, nicht "transformierte", also nicht-entsprechende Stil für diese Brüche, hat auf Rumäniendeutsch noch die Literatur der sechziger Jahre, vor allem die Prosa, bestimmt: Heile Welt trotz all der Zusammenbrüche und Katastrophen: Man denkt da an einen idyllischen Realismus, der auch dem unsäglichen sozialistischen. Realismus und dessen zensiertem Heile-Welt- Bild nicht widersprach, sondern (von ganz anderen Voraussetzungen und einem völlig entgegengesetzten Weltbild ausgehend) doch ähnlich die Abgründe vertuschen wollte: Optimismus, "das Schöne" um jeden Preis. Noch meine Generationskollegen führten diese Tradition in roter Färbung fort.

Auch als Redakteur der "Neuen Literatur" für Lyrik habe ich zwischen 1964 und 68 versucht, gegen eine doppelt verlogene Heile-Welt und ihr Stilkonzept anzukämpfen, versucht, den Stil der Moderne als wichtigstes Angebot, diese Abgründe und Katastrophen darzustellen, in unsere Nachkriegslyrik einzuführen, wobei ich nicht nur mit der Zensur, der Chefredaktion, sondern auch mit den sächsischen und schwäbischen Lesern und den Traditionalisten Schwierigkeiten hatte, oder sie mit mir. Es war also eine Auseinandersetzung an zwei Fronten! Daß ich die marxistische Ästhetik mit ihrem primitiven Realismus, ihre Wiederspiegelungstheorie abgelehnt habe, geht ja auch in diese Richtung: Es war die falsche Verwendung des alten Begriffes "Mimesis", was keineswegs Realitätsspiegelung heißt, sondern Sichineinssetzen mit der "Ebenbildlichkeit", die "Apriorität des Individuellen" zu entdecken (Omoisis to theo, bei Platon: Angleichung an das Göttliche im Menschen. Dazu gehört, den Schein, das sogenannte "Wirkliche", die Hülle zu zerbrechen, zu entlarven; in der Moderne mit sprachlichen Mitteln; meta-phérein -Metapher- heißt ja hinüber-tragen, anderswohin tragen.)

Es gab freilich schon damals Oskar Pastior, es gab Anemone Latzina, es gab eine ganze Reihe Jüngerer. Doch erst nachdem sich die literarischen Erfahrungen gesammelt hatten, die Sprache langsam ausreifte, die vielen stilistischen Anfangsanleihen aus dem Westen dem Genuinen Platz machten, den selbstgelebten Traumen entsprachen, und dieses war bei vielen erst im Rückblick nach der Auswanderung der Fall, bereicherte wohl zum erstenmal diese kleine Literatur mit Eigenem die deutsche Literatur. Sie hinkte nicht mehr nach, sondern zeigte vor, was es sonst nirgends gab, auch in Ostdeutschland nicht: einen "Schwanengesang" nach dem geschichtlichen Ende und den Verletzungen einer nach 1944 den Schwaben und Sachsen gestundeten Zeit mit ihren Leiden. Es war eine absurde Lage, wir waren eingesperrt zwischen Vaterland und Muttersprache und nur im Bodenlosen "beheimatet" - oder eben in einer Sprache, deren Hellhörigkeit und Verletzlichkeit aus zutiefst erlebten Gefahrenzonen kamen, wo Sprechen, schreiben vor allem, äußerst gefährlich waren, im Gedicht oft "Versteckspiel in der Metapher". Dieses "Versteckspiel" hatte ich sogar als Ästhetik und Theorie für mich erarbeitet: nämlich mit brisanten Inhalten zum Leser zu kommen mit Hilfe des Transportmittels Metapher, ohne daß es die Zensur merkte, oder so gut versteckt war, daß sie es "durch-lassen" konnte. Zensoren waren irgendwo auch Komplicen. Ich schrieb damals: "Weh dem , der überschreitet!/Wer aber kennt den Raum,/ wo die Grenze täglich sich verschob?/ Wer mißt ihn?/ Wer traut ihr?/ Wir strecken die Arme aus bis in die Nähe des Blitzes, -/ aus der Erinnerung wird scharf geschossen." ( Dieses Gedicht und andere brisante Verse sind in meinem Band "Grenzstreifen," 1968 in Bukarest erschienen.)

Diese Lyriksprache war und ist eine explosive Mischung aus Sprachkomplexen des Minderheitendeutschs und des geschärften Sprachsinns in der Diktatur. Später kamen im Westen noch die schmerzliche Erfahrung des Weltwechsels und Heimatverlustes hinzu, dann die Ablehnung einer abgemagerten Mediensprache und Warensprache, viele sich überkreutzende Bewußtseinszustände, die zu sich überkreuzenden Sprachzuständen führten..

S: In Ihren frühen Texten, vor allem jenen, die Sie seit 1959 in der Bukarester Zeitschrift "Neue Literatur" veröffentlichten, ist bei allen Wandlungen und Nuancierungen Ihrer politischen Haltung ein unverkennbares Engagement für den Sozialismus - möglicherweise mit menschlichem Antlitz - nicht zu übersehen. Wie würden Sie Ihre Haltung zum Staatssozialismus jener Jahre und die ästhetischen Konsequenzen in Ihren frühen Arbeiten beschreiben? Was hat Sie bewogen, 1969 auf einer Ihrer Reisen in die Bundesrepublik Deutschland im Westen zu bleiben, zu dem Sie von Anfang an ein sehr kritisches Verhältnis hatten, und Rumänien den Rücken zu kehren, zu einer Zeit, noch bevor Ceausescu seine berüchtigten Juli-Thesen aus dem Jahre 1971 lancierte und eine neostalinistische Kulturrevolution einleitete?

 

DS: Ich habe Klischees, Parolen und Wortmonogramme in der Literatur oder im Alltag immer bekämpft, sie verdummen, decken zu, vereinnahmen, verführen,sie haben Unheil gebracht. Auch das Wort "Sozialismus" ist verbraucht, ich verspüre Wortekelpein dabei, leider ist auch das, was es auszusagen hätte, was heute weiter auszusagen notwendig wäre, und sich auch mit den Grundforderungen des Christentums trifft, durch die rote Diktatur diskreditiert, es war mir im Bukarest der Sechziger Jahre, und auch vorher schon klar, daß die Diktatur Wahrheit, Natur, auch die menschliche Natur und Geschichte nicht zulassen wollte, und mit Fahnen, Zensur und Gewehren umstellt hatte. Im persönlichen und beruflichen Leben als Redakteur bekam man es zu spüren; die Securitate, die "Pressedirektion" blieben im Alltag nicht aus.

Die vorher geschilderten "Siege" waren freilich recht zwiespältige und nur halbe Siege, denn die ganze Wahrheit konnte man ja nicht sagen, sonst blieb das Gedicht zumindest unveröffentlicht, wenn nicht Schlimmeres geschah, der Autor verhaftet wurde. Dieser Zwang zur nicht nur spielerischen, sondern existentiellen Metapher, aufgeladen von einen Lebensernst und Informationsgrad, ist in der Direktheit und bei den Gummiwänden des Westens, wo alles gesagt werden kann, aber wirkungslos bleibt, undenkbar, es war also ein Gewinn, ein paradoxer Gewinn, den das Negative der Diktatur bot. Meine jüngeren Lyriker-Kollegen haben unlängst bei ihren Poetikvorlesungen in Frankfurt kein gutes Haar an dieser "politischen Schule der Träume", gelassen, aus der sie schließlich selbst kommen. Der Kritiker Georg Aescht konterkariert ihre Radikalität so: "Ist nicht auch Schmuggeln eine Übung des Mutes, der Umsicht und der Gelenkigkeit. Überlebenstraining mit nichts zur Hand als Sprache, auch das ist Dichten - gewesen?"

Es war eine schizoide und gefährliche Sache. Und für viele eine leidvolle Krankheit bis zur Selbstzerstörung, wo nur noch die Ausreise retten konnte. Vergessen sollten jene nicht, die uns, die wir auch während der Diktatur die rumäniendeutsche Literatur, Kritik und Literaturgeschichte weiter schrieben, gerne als "Kollaborateure" verunglimpfen und das edle Abseitsstehen und Nicht-Mitmachen als einzige ethische Alternative ansehen, daß es ohne diesen schwierigen täglichen Kampf bis zur Aufopferung, diese kleine Literatur, die es im Laufe ihrer Geschichte erst heute geschafft hat, auch in Deutschland anerkannt zu sein, gar nicht (mehr) gäbe

Es gab freilich auch Kollaborateure und Spitzel. Die andern aber?!! Viele waren nicht einmal in der Partei, ich eingeschlossen, obwohl wir dauernd dazu gedrängt wurden. Ich stand "links", verehrte den frühen Lukács und Brecht, natürlich den frühen Marx, las aber auch Kafka, Rilke, Arghezis Psalmen, Celan. Es ging mir um den Einzelnen, die "Apriorität des Individuellen", wider die "Entfremdung" des Menschen, wie das Modewort damals hieß, die sich literarisch für uns vor allem in Franz Kafkas "Verdinglichungs"-Alpträumen und Schrekkensapparaten zeigte. Der "Prager Frühling" begann mit einer Kafka-Konferenz. Ich stand also "links" auch von jenem Staat und Regime, war immer schon gegen Staaten und Institutionen gewesen, die den Einzelnen erdrücken und unterjochen. Und meine ersten Rebellionen und innern Aufstände hatte ich als Schüler wider das Alt-Autoritäre in Schule und Familie hinter mir (vergessen wir nicht, damals wurde noch geprügelt!) Und am abscheulichsten kamen mir die staatlichen Foltern und Todesstrafen vor, als Eingriffe ins Recht des Einzelnen, der nicht von irgendeines Staates Gnaden existierte, und doch von diesem seiner Freiheit, ja, seines Lebens beraubt werden konnte, der Staat, der die Unantastbarkeit der Menschenwürde brach, Hand an den Einzelnen legte, ihn auch geistig vergewaltigte. Der Haß auf jede Art totaler Staatsmaschine hatte sich unter dem Eindruck des Wissens von den KZ`s, dann des selbsterlebten Totalitären von zu Hause noch sehr verstärkt. Wir waren alle überwacht, was nicht gerade zur innern Staatstreue beitrug, oder dazu die anmaßende Staatspartei und das korrupte Überwachungssystem zu akzeptieren, ja, ihm gar als Diener nützlich zu sein. Mein naiver "Idealismus" wurde schon früh gebrochen durch das Lachen der Securitateleute bei meiner ersten Verhaftung im September 196o, ein Jahr nachdem ich Redakteur bei der "Neuen Literatur" geworden war. "Kommen wir doch zur Sache", sagten die, als ich, um mich zu wehren, treuherzig meinte, ich sei doch "Marxist"!

Ja, die Ausreise. Ich war vierunddreißig, war noch nie in Deutschland gewesen, schrieb deutsch, las deutsch, fühlte mich zur deutschen Literatur gehörig. Zweimal war ein Besuch abgeschlagen worden. Absurd, daß ich dann nach der Balkonrede Ceausescus am 21. August 68 gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, gemeinsam mit andern Kollegen, Paul Goma, Paul Schuster und andern, um Eintritt in die Partei ansuchte, und auch das Land "gegen die Russen" verteidigen wollte! Wie blauäugig wir doch waren! Und prompt bekam ich dann auch den Paß. Ich war ja nun "vertrauenswürdig". Im Oktober 68 reiste ich dann mit Ion Caraion und Veronica Porumbacu zu einem internationalen Schriftstellertreffen nach Mondorf in Luxemburg, wo ich auch Thomas Bernhard, Peter Handke und andere für mich wichtige Autoren. kennenlernte. Ich habe all diese Erlebnisse in meinem ersten Buch, das im Westen (bei S.Fischer) erschienen ist: "Visa Ost West Lektionen" erzählt, und auch geschildert, welch Jubel- und Freiheitsempfindungen ich beim Überschreiten der Grenze hatte, wie langsam dann im Westen die innere Zensur abfiel, wie aber gleichzeitig Heimweh und Schuldgefühle, auch die Wahrnehmungsarmut und der "Umbau der Person" im Westen, eine neue Sozialisation bis in die Reflexe hinein in Frankfurt, wo ich damals lebte, beim S. Fischer Verlag meine spätere Frau kennengelernt hatte, mir eben dieser "Umbau" zu schaffen machte, so daß ich mit allen Risiken im März 69 mit Angst und Abschiedsgefühlen wieder zurückging. In Raten: von München nach Wien, Bratislava, Budapest, und dann erst zögernd weiter... Mit dem Endeffekt, daß ich nun als halber Westmensch und ohne innere Zensur, es dann auch zu Hause nicht mehr ertragen konnte, gleich zwei Länder verloren hatte, dann das "kleinere Übel" wählte und alles tat, um aus der süßen Heimat wieder heraus zu kommen.

 

S: Neben Ihren "roten Jugendillusionen", wie Sie sie im Nachhinein selbst genannt haben, und Ihrer kritischen Einstellung zu den bestehenden Gesellschaftsmodellen und Staaten in Ost und West - war es der bewußt herbeigeführte Bruch mit den tradierten Werten und Vorstellungen der siebenbürgisch-sächsischen Minderheit, was ich als dritte Komponente Ihrer frühen literarischen Prägung bezeichnen würde. Welche besonderen Erlebnisse und Erfahrungen Ihrer Kindheit und Jugend haben zur Distanzierung von herkömmlichen Lebensformen und Denkmustern der Siebenbürger Sachsen geführt, und dies unter Umständen, als nicht wenige deutsche Intellektuelle in Rumänien, die sich vor der kommunistischen Staatsmacht nicht vereinnahmen lassen wollten, im Kreise der Minderheit menschliche Wärme, Zuspruch und einen gewissen moralischen Schutz gegen die unberechenbaren und rücksichtslosen Übergriffe der neuen Ideologie suchten und zum Teil auch fanden?

DS: Nun, dieser Komplex gehört mit zu den Lebens-Brüchen und dem verlorenen Nenner nach dem Krieg und den offenbar gewordenen Kriegsverbrechen, der Suche nach einer neuen möglichen Moral. Es schien, als wären wir, so schrieb auch ein rumänischer Kollege, Nichita Stanescu, "eine elternlose Generation" geworden, da die Väter nichts mehr weiterzugeben hatten; in dieses Vakuum stieß der Marxismus. Die "Aktionsgruppe Banat" ist ebenfalls so angetreten: Als Kritiker ihrer Herkunft. Zusätzlich aber versuchte sie das Regime links zu überholen, was natürlich dann zur Überwachung durch die Securitate, zu Verhören und zu Verhaftungen führte. Bei mir, wie bei einigen älteren Kollegen war es ähnlich. Dazu kam ( anfangs unbewußt) die Scham wegen der braunen Verbrechen hinzu, bei denen meine Herkunftsgruppe aus unkritischer Reichsverhimmlung und Naivität unschuldig-schuldig Opfer und Täter zugleich geworden war: bei einigen von uns war der Wunsch da: auf die andere Seite der Front zu kommen. Akzeptiert wurden wir deutschen Bürgers- und Bauernsöhne freilich von den alten Antifa-Aktivisten nicht, sondern mißtrauisch beäugt. Doch bewußt oder unbewußt standen wir, nun eine Art "Waisenkinder des Klassenkampfes" zwischen Hammer und Amboß, zwischen Partei und Herkunftsgruppe. Ich konnte es nicht vergessen, wie eine jüdische Kommilitonin in Bukarest, die als Kind in Auschwitz gewesen war, bei einem Lager-Film, der ihre Erinnerungen berührte, neben mir im Kino in Ohnmacht fiel.

Sie Fragen nach Erlebnissen und Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend, die mich zur Distanzierung von der Lebensform und Denkform meiner Herkunftsgruppe geführt hatten. Sie sind zwiespältig diese Distanzierungen. Eines teils bin ich tief geprägt vom Sächsischen, ich war ja auch zwei Jahre lang überzeugter sächsischer Dorfschullehrer in Denndorf bei Schäßburg, und ich habe "leider" eine schöne Kindheit gehabt, auch wenn drakonische Erziehungsmaßnahmen und "Pflichtkantigkeit" der Erzieher das Bild verdüstern, die Erinnerungen bleiben - und mein Schreiben wiederholt immer wieder das Muster dieses tiefen innern Bruches, ein Trauma, das ich nicht mehr los werde. Ich hab noch die alte Erziehung "genossen", ich kenne diese Schmallippigkeit und den "unbedingten Gehorsam", "keine Widerrede", diese Erziehung zur bedingungslosen Unterordnung, und ich kann sehr wohl damit meine späteren Schocks verbinden, etwa die Antworten des siebenbürgischen Auschwitzapothekers Dr. Victor Capesius, der mir zu Hause als Kind Pfefferminzbonbons verkauft hatte in seiner Schäßburger Apotheke "Zur Krone", den ich dann in den siebziger Jahren in Göppingen besucht habe, oder die eines SS-Onkels, der ebenfalls "dort" an der Endstation unserer Zivilisation Offizier war, die beide auf meine Frage, wie das alles denn möglich gewesen sei, sie "dort" mitgemacht hätten, obwohl ihr Gewissen ihnen schlaflose Nächte bescherte, die Erklärung dazu fanden: "Ich war eben für den absoluten Befehl, für die unbedingte Unterordnung! Wohn hätte ich auch gehen sollen? Dort waren ja MEINE Leute!" Und wäre ich einige Jahre älter gewesen, hätte ich mich möglicherweise jenem Zwang auch nicht entziehen können. In meinem Roman "Vaterlandstage" habe ich so mit dem Erwachsenenwissen meine eigenen, naturgemäß naiven und schönen Kindheitserinnerungen "korrigiert", korrigieren müssen, sie wohl auch schreibend beschädigt, indem ich beide Dinge zusammengebracht habe, zusammenbringen mußte. Denn solch eine Seelenarbeit muß ein Autor, vor allem, wenn sie sonst in seinem Umkreis völlig ausbleibt, auch für andere leisten, das ist ja sein Beruf, schreibend sich selbst, aber auch andere zu befreien versuchen. Am schönsten hat der Historiker Prof. Andreas Möckel dieses für den eigenen Seelenfrieden nicht ungefährliche Muster in einer Besprechung des Buches analysiert. Ich erlaube mir hier daraus zu zitieren: "Die Erzählung wird gebrochen durch die Seelenarbeit der Hauptperson T., die in die eigene Vergangenheit zurückkehrt, vergegenwärtigt, und anders und neu nacherlebt. Verschlüsselter, naiver Kode von einst und entschlüsselter, wissender Kode heute liegen übereinander. Die Vergangenheit ist da, aber sich selbst fremd... Der Roman ist die Odyssee eines jungen Menschen ... in dessen scheinbar friedliche wassertropfenkleine Welt der Blitz eingeschlagen und allen Schutz um die Seele des Kindes verbrannt hat. Mit dem grellen Licht, das auf die chaotische, scheinfriedliche Welt gefallen ist, bleibt der Junge allein. Die Darstellung dieser Verlassenheit ist subtil und sehr genau... Der Roman .... ist die beste und konsequenteste Durcharbeitung und Darstellung des Chaos, in das die Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert schuldig-unschuldig hineingeraten sind, die ich kenne. Die Hauptperson ist kritisch und selbstkritisch bis an den Rand der Selbstzerstörung. Und muß es konsequenter Weise auch sein. Die Zeiten waren so." (Zugänge, 1/87). Sie können sich vorstellen, daß es mir unter diesen Umständen nicht möglich war "Zuspruch" und "moralischen Schutz" gar bei eben jener schuldig gewordenen Moral zu suchen, die in meinen Augen - leider ins Negative gehend, jenem jungen Menschen so zerstörerisch nahe stand, ähnlich wie die eigene Familie, zerstörerischer und belastender als der äußere Moloch der roten Ideologie und ihrer Verbrechen, der ja aus der Fremde kam.... Die Untaten der eigenen Leute gehen mir näher, als die von Fremden.

Wie soll ich als Autor, der seinem Gewissen und seinem Gedächtnis verpflichtet ist, auch seiner Biographie, dieses Trauma einfach "vergessen", und diese Wunde, die jetzt auch in Deutschland auf verheerende Weise wieder aufbricht, unterschlagen!

Ich betrachte es aber als eine Chance und eine wichtige Initiative des "Brückenbaus" zu uns "kritischen Intellektuellen", daß es Ihre Forschungsstelle für Literatur im "Südosteuropäischen Kulturwerk" gibt.

 

S: Je mehr sich die Gefahr einer durch Abwanderung der Deutschen aus Rumänien in die Bundesrepublik bedingten Auflösung der deutschen Siedlungsgebiete abzeichnete, läßt sich aus Ihren essayistischen und literarischen Arbeiten neben Kritik zunehmend ein prononciert nostalgischer Ton heraushören, und es ist wohl kein Zufall, daß zwei Gedichtaufstellungen in renommierten Literaturzeitschriften aus den Jahren 1992 und 1993 den Titel Siebenbürgische Elegien tragen. Glauben Sie - und wenn ja unter welchen Voraussetzungen -, daß der Exodus der Siebenbürger Sachsen - wie auch jener der Banater Schwaben und der andern deutschen Volksgruppen aus Rumänien - hätte verhindert werden können?

 

DS: Es ist der vorher geschilderte innere Bruch.. "Siebenbürgische Elegien" sind noch die sanfteste Form dieses auszudrücken, nämlich den schmerzlichen, den endgültigen Abschied von Siebenbürgen. Doch dazu kommt noch ein anderes wesentliches Moment - der Tod, hier der geschichtliche Tod der Siebenbürger Sachsen , der reinigt und adelt, er hebt die Betroffenen in der Gegenwart in eine Sphäre der Beispielhaftigkeit, heute ist ihr Verschwinden als Volksstamm, dieser Abschied wie ein winziges Exempel, der berühmte Wassertropfen der das Meer spiegelt, Exempel für das Schicksal der Welt. Der Exodus, das Verschwinden ist tragisch. Es ist mir unmöglich, darüber nicht zu schreiben, ich gehöre ja selbst dazu.

Zur Frage, ob dieser Exodus hätte vermieden werden können, kann ich nur mit Nein antworten, die Wurzeln dieses finis saxoniae sind schon in der Geschichte der Minderheit angelegt, bei den Sachsen dem Verlust des Königsbodens. Ihre Geschichte war notendigerweise immer ein Abwehrgefecht wider den Lauf der Zeit ( sogar die unseligen Jahre 1940-44 kann man so deuten), bis dieser Zeitlauf, dann mit ihrer kräftigen Beihilfe, ähnlich wie in alten Tragödien, wo das Gegenteil erreicht wird, von dem was beabsichtigt wird, oder alles Instrument des nicht änderbaren Schicksals ist, denken wir an Ödipus, sie schließlich überrollte.

 

S: Ihre Beziehung zu dem herrschenden Geld-System und zu seinen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland war von je her gespannt, ablehnend. Sie erblickten, im Zuge der Studentenrevolte 1968, am Anfang Ihrer Übersiedlung, in der "neuen Linken" - ich zitiere aus Ihrem ersten in Deutschland erschienenen Buch Visa. Ost West Lektionen (1970) - jene "relativ starke Bewegung", die "nach vorne gewandt und wissenschaftlich fundiert" die durch den Stalinismus "verratene Revolution" weiterführte, eine Alternative, die "zu Hoffnungen Anlaß" geben könnte. Nun haben die Dinge durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und die Vereinigung Deutschlands einen ganz anderen Lauf genommen. Wie sehen Sie unter diesen Umständen Ihre Aufgabe als Schriftsteller und mit welchen Herausforderungen werden Sie konfrontiert?

 

DS: Der "Linken" anzugehören, heißt doch nicht, die Bundesrepublik abzulehnen, sondern sie für veränderungs- und verbesserungswürdig zu halten. Unlängst stand in der FAZ, daß seit 89 nun die einzig mögliche Kritik an diesem westlichen System "der Warentest" sei. Man staune: DER WARENTEST als Wahrheitskriterium! Und wer es dennoch wage, Kritik zu üben, sei selber schuld.

"Links" und "orthodox" verträgt sich nun gar nicht. Links heißt das distante und kritische Verhältnis zu jeder Gesellschaftsform, die dem Menschen die Möglichkeit zur freien Entwicklung seiner Persönlichkeit nimmt oder Bedingungen schafft, die diese verhindern. Oder auch mit subtilen Mitteln in ihrem Interesse alle Kräfte in eine falsche Richtung lenkt, wie in der Geld- Reklame- und Konsumwelt! Wie in allen bisherigen (nicht-totalitären) Gesellschaften besteht eine Diskrepanz zwischen Verfassung, demokratischer Staatsform und "Gesellschaftssystem". Ich habe kürzlich in einem Essay ("Literaturmagazin" 31, Rowohlt) versucht, diesen Standpunkt genauer zu umreißen. Hier in unserem Gespräch fehlt der Raum dazu.

Mein Versuch, mit meinen sehr bescheidenen Mitteln und ganz auf mich gestellt als ohnmächtiger, aber autonomer Autor, und oft genug als "Freihungerer" gegen beide Systeme, die sich nicht vergleichen lassen, da es sich um ein totalitäres und um ein offenes System handelt, anzuschreiben, hat sich nach 89 vereinfacht. Es ist nur noch eines der Systeme übrig geblieben, was dieses freilich gestärkt und bestärkt hat, als hätte es nun, ohne jede Einschränkung, Recht und Wahrheit "gepachtet", dem sich die ganze Welt nun zu fügen hat. Dabei muß scharf zwischen dem freien Spiel der Kräfte in der Politik, der Öffentlichkeit als Verfassungsprinzip, samt einer institutionell abgesicherten Selbstkontrolle und den gewissermaßen totalitären Enklaven der Großbetriebe und Banken und ihren Interessen unterschieden werden. Und was den Osten heute betrifft, wo eher letzteres auf Mafia-Art und ohne Öffentlichkeitskontrolle einbricht, sind die neueren Zustände bekannt. Es wird wohl niemand behaupten können, daß der Zusammenbruch im Osten mehr Frieden oder gar Glück in die Welt gebracht hat, es ist so, als wäre 1989, wie Heiner Müller definiert "die Lokomotive der Apokalypse" gewesen. Die einzige Hoffnung in diesem Tabula rasa, wo die durch das Patt eingefrorene Zeit wieder fließen kann, ist die totale Offenheit aller Alternativen. Wo aber vorerst und ziemlich gefährlich (vor allem in Rußland, aber auch in Rumänien) nun alles nach rechts gerückt ist bis hin zu offenen nazistischen Gruppierungen. Man sieht es auch am Fremdenhaß und an den Brandfackeln in Deutschland.

Was mich nach 89 beschäftigt, ist verstärkt jene Aufgabe, die mich auch vorher beschäftigt hat. Es ist schwer, dieses in ein paar Worten zu erklären, doch ich will es versuchen, da es ins Zentrum meiner Arbeit zielt: nämlich den Abgrund zwischen dem, was das Denken und das Handeln - bis hin zu den Politikern, Managern und Universitäten bestimmt, und den Dimensionen, auf die unsere gesamte Umwelt aufgebaut ist, nämlich eine Welt von Geist, die nicht als Geist erscheint, mit meinen literarischen Mitteln überbrücken zu helfen. Genauer: Das, was uns umgibt, ist ja eine völlig andere, immaterielle Welt an einer unvorstellbaren Grenze zu einem neuen Weltmuster und Paradigma. Beispiel: Denken wir nur an unsere "elektronischen Haustiere," Computer, Radio, Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedankenblitze" wie in der Kunst, aus einem großen kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das Nicht-Materielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und Gesellschaft. Völlig im Gegensatz dazu beherrscht der krasseste Materialismus die Köpfe und das Handeln. Die Menschen der Gegenwart bewegen sich und handeln in dieser neuen immateriellen Umgebung weiter so, als wäre es immer noch die alte Körperwelt. Das herrschende materielle Denken ist antiquiert, denn die Welt ist Geist, der nicht als Geist erscheint, wie ein bekannter Physiker formuliert! Außerdem ist durch weltweite Kommunikation unsere Welt eine einzige geworden, in der anstatt der Kontrolle einer Weltregierung, die von diesen Bedingungen des Lebens überholte alte und trübe nationalistische Emotionen in den armen Ländern und das materialistische Profitdenken des Geldsystems in den reichen Ländern wie ein Krebs wuchern und die Erde teilen!

 

S: Sie haben bereits in Rumänien wie kaum ein anderer Schriftsteller Ihrer Generation nicht nur zeitgenössische deutsche Literatur den rumänischen Lesern vermittelt, sondern sich auch - gewinnbringend für Ihr eigenes Werk - intensiv mit moderner rumänischer Literatur befaßt. Von der faszinierenden und vielfältigen Welt des Südostens sind Sie auch später nie ganz losgekommen. Ist in Zukunft damit zu rechnen, daß der Westen angesichts der Schwierigkeiten, die jetzt und hinfort auf ihn zukommen, auf die geschichtlichen und gegenwärtigen Erfahrungen der ost- und südosteuropäischen Länder angewiesen sein wird?

 

DS: Im März 93 habe ich in Hermannstadt ( in der Evangelische Akademie Siebenbürgen) einen Vortrag gehalten, mit folgendem provozierenden Titel: "Östlicher Reichtum und westliche Armut". Ein Essay von mir heißt " Das walachische Nichts, ein europäischer Wert?"

Was ich vom östlichen, vom fernöstlichen Denken gelernt habe, ich übe z.B. seit 18 Jahren täglich Yoga, ist die unverlorene Substanz des psychischen Lebens, die im Westen gefährdete re-ligio, die Anbindung an jenes große kosmische Informationssystem, von dem ich vorher sprach, zu behalten, und der durch die verlorengegangen Bindungen entstandene Gefühlsschwäche entgegenzuwirken. Vom rumänischen Denken habe ich viele Impulse erhalten. So etwa von Tudor Arghezi oder E.M. Cioran, den ich persönlich kenne, und mit dem ich in freundschaftlichem Briefwechsl stand. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er. Durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse. Und der Grund? Es ist der Abgrund der Geschichte. Östliche Denker vor allem wissen darüber zu berichten. Aus dem Osten kamen wichtige Impulse, einige auch aus Rumänien. Wie der Religionsphilosoph Mircea Eliade, der Bildhauer Brâncusi oder einer der Begründer des Absurden Theaters, Eugène Ionesco. Von Ionesco lese ich in einem Buch, das bei Suhrkamp in Frankfurt über Mircea Eliade erschienen ist, es heißt "Die Mitte der Welt", über die Gründe jenes Taumelns sagt Ionesco: "Die Technik und die Ideologien des Abendlandes, alles nur verfälschte entfremdete Weisheiten, wie der Marxismus, haben sich im Orient durchgesetzt, er hat sie akzeptiert, aufgenommen und seine eigene Weisheit verloren. Nicht das Abendland hat sich dem Orient seit der Entkolonisierung geöffnet, sondern der Orient dem Okzident, er hat sich Fehler und Wahnsinn des Abendlandes zu eigen eigen gemacht." Ionesco beschreibt seine Enttäuschung darüber, daß Eliade "nur" ein abendländischer "Gelehrter" geworden sei, seine Generation aber und seine Freunde erwarteten mehr, einen "Eingeweihten", der ihnen in ihrer metaphysischen Not helfen sollte. So blieb das Absurde, der abgründige Nihilismus als eine negative Theologie und eine Philosophie des Scheiterns für ihre Generation übrig .

Ein Gegengift also auch zu einem durch die Ideologie im Osten sich selbst entfremdeten Marx. Von der "Heimatliteratur" ganz zu schweigen. Ein Gegengift aber auch gegen den Materialismus des westlichen Geldsystems und seiner seelenvernichtenden Lebensform. Erlauben sie mir zu Marx noch ein Wort: Ich lese gerade wieder in Hegels "Phänomenologie". Da ist Verständnis schwierig, verstehen kann einer nur, wenn er diesen ganzen Prozeß, aber intim und durch sein ganzes Leben, schon selbst in sich hat, diese Prozesse, die Hegel versucht zu analysieren, mit Erfahrung zu füllen. Eigentlich ist dieses ganze Unternehmen eine Unmöglichkeit und am Rande des Unsagbaren und Unfaßbaren. Es ist allenfalls im Gedicht möglich, wie es Hegels Freund Hölderlin getan hat, und dabei krank geworden ist. Welch ein Mißverständnis von Marx, anstatt auf dem Kopf zu gehen, den Abgrund zu sehen, alles "auf die Füße stellen" zu wollen, und so natürlich auch, wie sollte es anderes möglich sein: in seinem extremen Materialismus, der die wichtigste Gesellschaftskomponente, den genialen Einfall ausklammert, auch mit den Füßen zu denken. Daß alles nur ein "Veräußern" sein soll, scheint zwar evident und die härteste Wirklichkeit, die uns bedrängt, und ist doch nur halbwahr, also sehr subtil falsch! Dies hätten auch die Geld-Herren ganz gern, daß alles veräußerbar, auch meine und deine Seele käuflich sein sollen. Der alte Bärtige hat so wenigstens zum Kollaps des Denkens heute, zum Negativen viel beigetragen, zur Tabula rasa. Doch Gottseidank nicht nur. Jetzt vom Bleigewicht des Ostens befreit, wird seine in Teilen äußerst wichtige Analyse, die auch Philosophie "aufhebt", zu Praxis werden läßt, wieder als kritisches Denkinstrument einsetzbar. Wie zur Strafe war Philosophie eine Zeitlang, bis 1989, fast nichts anderes mehr, als eine Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gedicht, also dem Brennpunkt Subjekt, wie das ja schon Kant, dann sehr spät, manieriert und verworren Heidegger getan hat.

 

S: Ihre Bücher, die über den Kreis Ihrer Landsleute hinaus bekannt geworden sind, wurden von Kritikern bestimmten literarischen Richtungen zugeordnet. Zu welchen deutschen und ausländishen Autoren der Gegenwart fühlen Sie sich besonders hingezogen?

DS: Die Liste wäre sehr lang und erschöpft sich nicht bei Gegenwartsautoren, sie beginnt mit den Griechen, Shakespeare, Hölderlin, Joyce, Proust, Kafka. Lyrik: Shelley, Rilke, Loerke, Jeffers, Yeats, Celan. Aber die Liste ist keineswegs vollständig. Denn Wissenschaftstheorie und Physik kommt heute hinzu. Und vor allem Essayistik von Walter Benjamin bis Günter Kunert. Ich lese viel, und habe dann meine momentanen Vorlieben, je nach dem, was ich selbst denke und schreibe. Da ich vier Jahre lang (für ein großes dreibändiges Kunstbuch, die die Renovierung der Kapelle dokumentiert) an Bildmeditationen zur Sixtinischen Kapelle geschrieben habe, war es in diesen Jahren vor allem die Genesis und theologische Literatur. Dann habe ich mich mit schöpferischen Prozessen von Kranken beschäftigt, viel psychiatrische, kabbalistische, parapsychologische Literatur und die Mystiker gelesen. Seit einigen Jahren fühle ich mich zur phantastischen Literatur und zur Science-Fiction hingezogen von Maupassant bis zu Dino Buzzatti, Eco, Stanislaw Lem, Spielberg. Dann von den Heutigen Alexander Kluge. Heiner Müller, Brigitte Kronauer, Botho Strauß, der junge Leipziger Kurt Drawert. Essays von C.F. von Weizsäcker bis zu Paul Virilio. Und zur Zeit lese ich das beeindruckende zukunftsweisende wissenschaftliche Buch vom Mainzer Physikprofessor Ernst Senkowski "Instrumentelle Transkommunikation", in dem sich zeigt, daß die phantastischsten Vorstellungen real werden können und sind! Eine neue (und exaktere) Hoffnung - unsere; in diese Grenz-Sphäre hineinreichende Geräte ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld," nämlich mit den Toten; es klingt, wie Science-Fiction...

Von den Rumäniendeutschen schätze ich meinen Kollegen Oskar Pastior. Von den Jüngeren: Herta Müller und Werner Söllner, die Lyrik Franz Hodjaks, Klaus Hensels und Ernest Wichners, die Essays und Kurzgeschichten Wagners. Von den Rumänen Arghezi. Cioran. Noica. Fundoianu. Von den Jüngeren: Sorescu, Manea, Sin.

 

S: Ihre Werke weisen Sie als einen sehr wandlngsfähigen und -freudigen Autor aus. Man hat als Leser den Eindruck, daß Sie beim Schreiben von einer ständigen Angst vor dem bewährten und erprobten Ausdruck begleitet werden. Hängt das allein mit Ihren Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der Sprache zusammen oder gibt es auch andere Gründe für diese Unruhe?

 

DS: Wieso "Unruhe"? Und wieso Angst? Nein, es ist weder das eine noch das andere. Im Aufbrechen oder der Parodie von Klischees, oft auch des "bewährten und erprobten" Ausdrucks, des nichtssagenden Standardausdruckes, schließlich der alles zudeckenden Wort-Lüge im Berufs- und Familienalltag oder in der Politik, im Mediengeschäft und andern Geschäften, einer Wort-Lüge, die in den beiden Diktaturen die Sprache zur Mithelferin von Verbrechen hat werden lassen, zur Mitschuldigen, beginnt heutzutage die Spracharbeit des Autors. Dies die Negativ-Aktion. Angenehmer ist die Arbeit mit dem großen Sprachgedächtnis, stehenden Wendungen, Zitaten etc. Erst beim Ablegen von oder sehr oft auch der Reibung an "bewährten" Sprachfertigteilen, im überraschenden, unerwarteten Kontext wird der eigene Ausdruck gefunden, und Berührung mit Traum und Phantasie wird erreicht, "wenn die Dinge aus dem Namen fallen" - der schöpferische Prozeß kommt in Bewegung. Sie haben sicher von der Sprachskepsis gehört, die seit Hofmannsthal und Nietzsche auch die deutsche moderne Literatur begleitet und erst ermöglicht hat. Dieser Prozeß ist auf Deutsch nach dem Krieg und der Nazizeit besonders drastisch gewesen, und hat vielleicht heute nach dem Fall der zweiten Diktatur auf deutschem Boden einen Höhepunkt erreicht, anders als bei den Franzosen, Engländern und Italienern. Und genau mit dieser Sprache, die, so Paul Celan "durch die Finsternisse todbringender Rede hindurchgehen mußte," mußte ich mich als siebenbürgischer Autor ebenfalls auseinandersetzen, weil die Inhalte und Handlungselemente danach waren, in ihr und nirgends anderes mehr heute "spielten". Dieses hat in meinem Roman "Vaterlandstage" zu einer entsprechenden Form und Sprache geführt, nämlich zur Form jener Ereignisse, die uns an die Grenze unserer Vorstellung begegnen, und manches sprachlich "Erprobte" auf Deutsch in Frage stellen. Es gab nichts Erprobtes mehr, auf das man sich hätte verlassen können, sondern das Gewissen und Sprachgewissen wurde auf eine harte Probe gestellt und kreiste um die eigene Sprachlosigkeit angesichts dessen, was geschehen war - und heute noch geschieht. Wer sich in irgendwelcher Sicherheit wiegt, betrügt sich selbst. Und vor allem einem Siebenbürger, der im Vakuum seiner eigenen Geschichte lebt, und lange, auch zu Hause schon im Vakuum gelebt hat, dabei viel hinter sich hat und wenig vor sich, viel über die blutige Epoche wissen müßte, sie am eigenen Leib erlebt hat, steht solch ein museales Bewußtsein eines in der Luft hängenden Erprobten am wenigsten zu. Und gerade dieser alte, ein wenig sentimentale Siebenbürger, ist dabei einfach überfordert, er klammert sich vielleicht, aus Angst vor dem eigenen, nicht nur persönlichen Abgrund, der ihn erwarten würde, ließe er das "Erprobte" fahren, an dieses "Erprobte", diese alten Denkgewohnheiten und ihre gewohnte Sprache, die eigentlich nichts sind als ein Seil im Nichts. Daß man sich daran gerne klammert, vor allem in diesem Anpassungsstreß des Weltwechsels, der ja eine Art Krankheit sein kann, davon weiß ich auch als Autor ein Lied zu singen. Das "Erprobte" ist ein Erfahrungsreservoir aus einer andern, vergangenen, heute nicht mehr gültigen Zeit.

 

S: Als allgemeines Kennzeichen Ihrer Gestaltungsweise fällt beginnend mit Ihren frühen Dichtungen auf, daß Sie sich der Collage bedienen und auch gern Zitate in Ihre Arbeiten einbauen. Entspricht diese Art des Vorgehens einer zwingenden künstlerischen Notwendigkeit, und welche Bedeutung messen Sie den jeweils neuesten Trends bei?

 

DS:. Die Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit meiner Phantasiearbeit, denn meine Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Handlungs-Stößen; vielleicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Moment oder die Welt als Einfall, ganz "heiß" dann aufgeschrieben, tagebuchartig in "Zeithäppchen", flashs, und dann erst nachträglich zusammengesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch beim nachträglichen Zusammensetzen alles "heiß" und inspirativ geschehen muß, es darf keine Manipulation oder Bastelarbeit sein; dieses ist deshalb so erregend, weil es wie die Simulation eines ebenbildlichen Prozesses zu sein scheint, wo Sinn sich summiert. Je mehr Einzelszenen oder auch Fragmente sich gegenseitig anziehen, dichter werden, ein annäherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden "Sinnarbeit", die sich eben einem Unerreichbaren, einem verborgenen Ganzen annähert. Es ist ein erhellendes Verstehen, das immer näher und intensiver wird, je mehr "Bildpunkte" auf dem Bildschirm des Gedankens und dann des Buches zusammenkommen. Es ist eine komplizierte, jahrelange und sehr einsame Reise in eine Zone, wo das Unerreichbare, das platonische "Eine", vielleicht "Gott" warten. Und so wäre diese Sinnarbeit via erlebter Weltfragmente im Laufe der Zeit, diese zerfallenen Stückwerke der Momente und Lebensphasen in ihrem anscheinend sinnlosen, daher schmerzhaften "Unten" ihrer mangelnden Bindung und des fehlenden Zusammenhanges eben das Rohmaterial eines Ganzen, einer stimmigen schwingenden "Sprachheimat". Es ist bisher die einzig mögliche "Sicherheit", einer fast numinosen Geborgenheit im Nirgendwo, die es für mich an der Grenze zwischen sinnlichem und geistigem Bereich noch gab, mit ihrer Tiefengrammatik des Sprachgedächtnisses als das einzige unzerstörbare Haus, das ich noch besaß.

In letzter Zeit aber bin ich auch auf nicht-literarische Sprachphänomene und Schriftphänomene, die über Computer und Tonband, Fernsehschirm und automatische Schrift Forschern aus der ganzen Welt vermittelt werden, gestoßen, viele Tausende von Seiten, die möglicherweise den Beginn eines neuen Weltverständnissses - nach dem Einsteinschen - ankündigen, im Bereich der Überlichtgeschwindigkeit, also dort als rein geistige Phänomene angesiedelt sind, die den berühmten Satz vom Tod als der "Sünde Sold" aus der Genesis und der Paradiesvertreibung damit aufheben würden, in ein neues Zeitalter weisen könnten, falls es tatsächlich über-sinnliche Wirklichkeit wäre und nicht nur Projektion unserer eigenen todesgeängstigten Seele. Hermann Oberth hat übrigens einiges dazu gesagt und geschrieben, und ich hatte mit ihm einen angeregten Briefwechsel über diese Psi-Phänomene. Vorerst wirkt diese Botschaft wie Science-Fiction und phantastische Literatur; damit hätten freilich Kunst und Literatur eine neue Möglichkeit und Aufgabe, und dieses sogar auch dann, wenn es nicht wirkliches sondern Projektion unseres Inneren wäre - denn wo sonst wird die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten, wenn nicht in diesen seelischen Bereichen?! Die Aufgabe der Kunst, der Literatur wäre wieder jene, die sie früher immer schon hatte, nämlich intuitiv das Kommende vorwegzunehmen, nicht dem Wissen, der Wissenschaft nachzuhinken - wie in den vergangenen 50 Jahren.

Zitate? Nun ja, die Einfügung von Zitaten in meine literarischen Sprachnetze und Gewebe kommen ebenfalls aus dem Bedürfnis, Einleuchtendes, das gut gesagt ist, wie Eigenes einzubauen, aufzubewahren in Kon-Text zu setzen und eine neue Sinnumgebung zu schaffen. Meine Arbeit war nie ein den "Trends"-Nachlaufen; niemals sind ja vor-genommene Pläne rigide durchzuführen in der künstlerischen Arbeit, sonst gibt es Rückschläge, ein Autor ist nur ein schwingendes Instrument, da arbeitet die intuitive Sprachphantasie in ihm, entfaltet ihren Reichtum, wenn er es zuläßt, sich nicht mit seinem kleinen Ich einmischt aus Mangel an Vertrauen in andere Kräfte, die in ihm arbeiten; intellektuelle, gar vorgeplante Einmischung von dieser kleinen beschränkten Ebene der Ratio und des Alltagsverstandes aus, stört den kreativen Prozeß. Daher ist auch jede Art Tendenzliteratur ein kunstvernichtender Prozeß, zumindest aber eine Binse. Auch müssen alle vorgenommenen und vorgewußten Reißbrettspiele immer wieder vom wirklichen Schreibgeschehen durchkreuzt werden. So war ich in vielen meiner, wie die Kritiker sagen: "hermetischen" und "esoterischen" Arbeiten den "Trends" eher voraus, daher oft völlig "out". Das schmerzt oft, beunruhigt, geht bei einem "freien" Autor mit Ängsten einher. Doch das ist der Preis, wenn man sich selbst treu bleiben will; dafür wird man ganz anderes, nämlich schon während der Arbeit "belohnt" mit Erregungen und Glücksgefühlen, da wartet das geschriebene Glück, wie es mein Kollege Werner Söllner in einem Gedicht so schön ausdrückt.

 

S: Die Hauptgestalt in Ihrem bisher einzigen Roman Vaterlandstage (1986) trägt autobiographische Züge. Werden eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Prägungen auch in Ihrem zweiten Roman, der meines Wissens bald erscheinen soll, eine zentrale Rolle spielen und wodurch wird sich dieser, was Thematik und episches Verfahren anbelangt, vom ersten unterscheiden?

 

DS: Von den autobiographischen Zügen, die der Roman "Vaterlandstage" zwangsläufig tragen und ertragen mußte, werde ich im zweiten Roman, dem "Verweser", loskommen; ich arbeite schon jahrelang an dem, was ich die "Abschiedsfähigkeit" nannte, und vielleicht habe ich diese nun langsam erreicht. Gerade um diese Züge zu eliminieren, aber auch aus den oben geschilderten Erfahrungsgründen, muß "Der Verweser", der schon 89 in einer Fassung vorlag, neu überarbeitet werden. Ich hoffe, diese neue Fassung in einem Jahr fertigzustellen. Doch im Herbst 94 ist bei Reclam Leipzig eine andere Textcollage, eine Art synoptisches Tagebuch 89-93 unter dem Namen "Stehendes Ich in laufender Zeit" erschienen, eine Art Trauerarbeit der Hinterbliebenen, wo es auch um den Abschied von Siebenbürgen geht, vor allem um den Versuch, zu verstehen, was mit diesem Ich heute geschieht, das der "laufenden Zeit" nicht nachkommt, das Gefühl hat in einen abgründigen beweglichen Traum neuer Gefahr entlassen worden zu sein.

Der erste Roman war eine schmerzhafte Korrektur der Kindheitserinnerungen in einem fiktionalen Verfahren als Rahmen, um der Collage einen festen und sinnvollen Bezugspunkt zu geben. Dieser Bezugspunkt liegt in meiner Arbeit immer auf der Grenze zwischen Leben und Tod, und er versucht, dem was Un-Zeit bringt, Unmögliches und Ungeheuerliches, durch Erfindung so nahe wie nur möglich zu treten - bis es wehtut. Der zweite Roman, vorerst noch im Manuskript, ist ein Geisterroman, der in Lucca und in Siebenbürgen des 16. Jahrhunderts spielt. Im Gegensatz zu den "Vaterlandstagen" wird hier viel erzählt, aber gerade diesem Erzählen, dieser vorgefaßten und selbstbewußten (naiven) Art des angeblichen Wirklichkeitswissens wird drastisch und schließlich tödlich der Prozeß gemacht. Und das für die Spätrenaissance-Zeit, wo noch (angeblich) alles überschaubar, geordnet, also noch erzählbar war. Im Zentrum stehen alle Dimensionen des Buches, der SCHRIFT als magisches und gefährliches Elixier und Machtmittel, das die Obrigkeit zu allen Zeiten gefürchtet, aber auch selbst in den eigenen Dienst genommen hat, gefürchtet aber vor allem , wenn es wie in der Literatur die unkontrollierbare Sprache des Subjektes ist, das sich jeder Macht so entzieht. Diese Rettung, aber auch böser Zauber, kann das Buch sein, das Unglück, nicht nur Glück und Schönheit bewirken kann. Vor allem durch das selbstherrliche Diktat des "alleswissenden" Erzählers, der so eine Art Spiegelbild eines Diktators ist, der sich dieses Machtmittel anmaßt, anstatt in die Tiefen seines ungesicherten und mit dem Tod verbundenen Eigenen hinabzusteigen, wird Schrift zum Instrument eines falschen Denkens und einer falschen, ja, verbrecherischen Moral und des Kitsches. Im "Verweser" mißbraucht die Hauptfigur Granucci, Arzt und Autor, ihre Macht, um sich an einer Frau zu rächen, die ihn verraten hat, und die er durch ein bewußt falsches diffamierendes Porträt der Obrigkeit ausliefert, die sie hinrichtet. Ihr Phantom aber verfolgt den unmoralischen Autor, der am "Ebenbild" frevelt, bis die "Gerechtigkeit" wieder hergestellt ist, er ins Exil getrieben wird, wo er heimat- und ruhelos durch Europa irrt, schließlich eingemauert in einem Turm sein Leben beendet. Reizvoll ist die andauernd grenzüberschreitende Moral für Dinge jenseits unserer Vorstellung; daß nämlich kein irdisches Gericht dazu fähig ist, den Fall in seiner Komplexität zu richten. Aufgelöst soll auch das alttestamentarische und antike Rache-Prinzip werden, die Geschehnisse weisen durch die Metapher der "Gespenstergeschichte" über unser Verstehen hinaus, öffnen sich höchstens einem sehr umfassenden "karmatischen" Schicksals-Begriff, der mit dem modernsten und tiefsten Begriff heute, jenem des sokratischen Nicht-Wissens einer negativen Theologie korrespondiert, und bis hinein in die Quantenogik der modernen Physik heute äußerst wichtig geworden ist.

Sie sehen, die Ablehnung des "Realismus" eines festen Weltbildes und seiner Sprache, wie ich es anfangs geschildert habe, verfolgt mich bis in die Motive, Inhalte und Formen meines Schreibens. Jene Sicht einer heilen "festen Welt" ist nicht nur falsch, wie die moderne Wissenschaft zeigt, sondern führt letztlich zur Zerstörung jener Weltmitte, die im Subjekt des Einzelnen verborgen ist.

 

März/November 1994

 

(Erweiterte und verbesserte Fassung des in Heft 3 der "Südosteuropäischen Vierteljahresblätter" erschienenen Gesprächs.)

 

tX

 

ÜBER SPRACHSKEPSIS, BILDVERBOT UND DEN BEGRIFF ZEIT

 

1 Möglicherweise griff die Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in seiner Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Waler Benjamin war es die schon früh vorgenommene Dekonstruktion der "Fortschritts"-Teleologie im starren Blick seines "Engels"; in Louis Althussers "Selbstkritik" war es, ähnlich wie bei Walter Benjamin, der Gedanke: wie läßt sich Selbstbewußtsein erhalten, wie die Kette der Geschichtsereignisse und des status quo, in denen Bewußtsein gefangen ist, wie den "Verblendungszusammenhang" zerreißen. Beim unglücklichen Philosophen Althusser hatte die Entdeckung, daß jede Verbindung zum "Realen" "Imagination" und vereinzelt sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr geben kann, möglicherweise zum Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom radikalen "Bildverbot", ja, "Illusionsverbot" aus; er endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène in der Heilanstalt, kam zwar wieder frei, lebte aber bis zu seinem Tode (1990) vergessen und als Privatmann.

Die totale Entlarvung des "Realen" ist kaum zu ertragen, muß in der Selbstzerstörung oder im Zynismus enden. Heute ist die Lage noch extremer. Wer das Bild, - Sprach- und Illusionsverbot durchbricht, verfällt, falls er nicht zu dessen transzendenten Ursprüngen zurückfinden kann, im besten Fall der Anmaßung einer reduktiven Logik, die den großen und undenkbaren Zusammenhang, der jeder menschlichen Sprache unzugänglich bleiben muß, ausklammert. Oder er verfällt jenen populären Vorurteilen, die "Realität", die alles, was so ist, wie es ist, unbesehen akzeptieren, jenem also, was von Platon bis Kant und dem Denken bis heute als Illusion und Irrtum galt: Dem Unmittelbaren, der "Evidenz" der manuipulierten Sinne, der Meinung (als übereilter Verallgemeinerung), der hohlen Abstraktion verfällt.

 

Der Schein trügt, sagt schon das Sprichwort. Dabei ist der Wider-Schein aus dem, was wir nicht denken können, täglich im Licht, sogar im elektronischen, greifbar da: "Noch auf ihren höchsten Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches, empfängt sie vom Scheinlosen... Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene." Das Zentrum des Denkens ist heute Deutung der Poesie, ist Denken im Umkreis der Ästhetik. Der Schein trügt: Nicht die Oberflächen kollektiver, sozialer Massenexistenz, sondern der Einzelne, das Subjekt mit seiner Anschlußfähigkeit an jenes "Scheinlose" ist das Zentrum der Ästhetik und der Kunst, und in vielen grundlegenden Untersuchungen auch der Naturwissenschaft, denn auch diese muß heute erkennen, daß sie ihren eigenen Grund nicht denken kann. Der Zugang liegt unaussprechbar im Abgrund des Subjekts, Bilder und Begriffe verdekken ihn. Und unsere Bild-Inflation heute ist ein neuer Sündenfall.

Schon Kafka wußte, in einer Umkehrung des schlechten Künstlergewissens, daß sich die Realität vor der Kunst und dem Geist zu rechtfertigen habe, und nicht diese vor ihren Oberflächen, daß der Einzelne eine "ungeheure Welt im Kopfe " habe, daß das "Nichts" der Literatur, ihr unmögliches Unternehmen, ein "Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" sei.Literatur, Kunst und Meditation stehn im Zentrum des menschlichen Abgrundes - und nicht das äußere Bild eines "Wirklichen", gar dessen anämische Abstraktion. Erich Rothackers "Metaphorologie", die Hans Blumenberg übernahm, und die besagt, daß Denken ohne (inneres) Bild unmöglich sei, ist nur ein weiterer Beleg wider die weltlose Abstraktion der Begriffe, der blutleeren formalen Logik, aber auch der äußeren Bildinflation. Das Umkreisen des Erlebnis- und Erfahrungskerns der Existenz mit Metaphern, Erzählungen, innern Bildern und Traumbildern paßt sich gerade der Sprachskepsis und dem Bildverbot an; auch die "dritte Phase" des "professionellen Vernunftgewerbes", nach der "naiven" und der "ratlosen" Phase - die Phase der Pluralität und Offenheit heute, versucht so dem entlarvten ideologieverdächtigen "Absoluten" zu entkommen, das jedoch nicht mit dem "Einen", der "Alles" ist, und begrifflich nicht faßbar sein kann, verwechselt werden darf, wie es etwa Eckard Nordhofen tut. (Die Aufhebung des Bildverbots, in: "Literaturmagazin" 25, S. 61ff) In der Archetypenlehre der Tiefenpsychologie sind die Traumbilder, Phantasiebilder, die in der Erinnerung unmittelbaren psychischen Realitäten, Zeichen des begrifflich Unsagbaren; ähnliches gilt für Bilder und Metaphern der Poesie. Das Gegenteil des Abstrakten. Besonders deutlich in der Conversio und dem An-Wesen bei der Begegnung mit großen Weisheitslehrern, die keine Schriften hinterlassen haben wie Sokrates oder Christus. Das Angleichen an den Meister und den "innern Meister" (omoisis to theo bei Platon), dieser Prozeß der Individuation ist das, was MIMESIS ursprünglich bedeutet hat, Angleichung des Ich, die Eben-Bild-Suche in einer initiatischen und schmerzhaften Metamorphose, und nicht "Mimesis", wie sie später in einer primitiven "Widerspiegelungstheorie" der nochmals verbildlichten "Realität" auf den Hund kam. Am schlimmsten im "sozialistischen Realismus", wo das Kunstwerk nicht Angleichung an "Gott" (omoisis to theo), sondern sklavisch eine "Spiegelung" der "objektiven Realität" sein mußte, und schließlich die Partei bestimmte, was objektive Realität zu sein hatte! Wir sehen also, daß nach dem Scheitern dieser Abbild- und Abgott-Ästhetik, die nur ein Bastard des auch im Okzident vorherrschenden Realitätsglaubens und vulgären Materialismus (hier des Geld-Scheins) ist, das alte "Bildverbot" der Bibel gegenüber dem Realitätsgötzen wieder zeit-gemäß wird. Und was dahinter liegt, taucht heute wie eine Wiederkehr des Verdrängten in der neueren Deutung der Kategorie des Erhabenen als paradoxe Struktur eines Nicht-Darstellbaren auf. War diese früher Ästhetik des Prunks von Herrschaft, wird heute mehr der Aspekt von Schrecken, Schauer, Grausen betont, das Unheimliche, wenn das Gewohnte, wenn Verstand und Logik nicht mehr greifen, erschüttert werden. Dabei geht es um einen Augenblick des Schreckens, ein "Now", wie Lyotard es auf Zeitbegriffe des chokartig und ekstatisch auftauchenden "Nichts" der hebräischen Kabbala zurückgreifend, genannt hat. Herrschende Raum-Zeit aber ist Projektion einer Angst, Angst vor dem Unbekannten. Nach Freud eine Verschiebung des Unheimlichen und Namenlosen zwischen den Sekunden: der Anwesenheit und Abwesenheit der Augenblicke ins Bild. Dazwischen aber der Schock des Nichts. In der nächsten Sekunde ist nämlich noch niemand gewesen, und es könnte jeden Augenblick etwas Überraschendes und Furchtbares geschehen: "... Now... eher das, was das Bewußtsein außer Fassung bringt ... was ihm nicht zu denken gelingt, und was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren." "Ästhetik des Schreckens" und der Öffnung. Peter Weiss freilich oder auch Thomas Pynchon liegen mir bei diesem Grenzgang näher. Die hebräische Bibel verlangt, den Schrecken der in diesen Zwischenräumen auftauchenden numinosen Epiphanien auszuhalten, dies hieße, dem Bildverbot zu gehorchen, der Entlastung durchs Goldene Kalb nicht zu folgen, jede Zeit- und Bild- Konstruktion zugunsten des Un-Heimlichen, nach Freud des ursprünglich Heimischen, des zeit- und todlosen Paradieses aufzugeben.

 

2 Das alte Bildverbot hing ja mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis, dem Exodus, der Strafe des Todes und der Zeitangst zusammen; Lebenskürze und Tod des Alten Gottes bedingten aber auch Machttrieb, Besitzgier und Zeithast, die im Egotrip die angeblich so kurze Zeit "nützen möchte" und so in einem um die Ewigkeit verkürzten Leben die Betroffenen krank macht. Als könnte nun mit dieser neueren Selbstanalyse, die eng auch mit den durch Foto und Film und elektronische Haustiere neugewonnenen Seh-Erkenntnissen zusammenhängt, "der Tod, der Sünde Sold", die alte Erbsünde als Illusion entlarvt werden. Denn es ist eine Illusion, die eng mit dem Körper-, Bilder- und Sprach-Glauben, also der Halluzination "sichtbare Wirklichkeit" zusammenhängt, zusammenhängt vor allem mit unserem überholten Konzept "linearer Zeit", das sich in der neueren Physik als Fiktion erweist. Dieses neue Erlebnis trat vor allem in der sichselbstaufhebenden SCHRIFT und dem Verschwinden von Raum und Zeit im BILD seit dem Impressionismus zutage. Gegenwart, Präsenz, auch Geschichtlichkeit sind Projektionen, "nachträglicher Effekt einer Verschiebung" nach Freud, Konstruktionen, Bewußtsein entsteht "an Stelle der Erinnerungsspur" und vom Gedächtnis ausgeschlossen - also leere, aber selbstreflexive Gegenwart eines Subjekts, und niemals die "Gegenwart" einer Gemeinschaft. Oder besser, diese Gegenwart ist die gesammelte Zensur von Individuen, die intersubjektiv eine Art Halluzination herstellen, BILD, eine "gedeutete Gegenwart", daß die schwindet, nicht mehr oder noch nicht ist, aber gewesen sein wird, kommt darin nicht vor: "Die Erzählungen des Bewußtseins sind von dem Wunsch besessen, sich der Bewegungen der Gegenwart durch Deutung zu versichern, einem Wunsch, der jedoch eben dieses Ziel konstitutionell verfehlt." Es war wieder ein langer Umweg dahin nötig: Die alte "Gesinnungsästhetik", gar Kunst als oberflächlicher sozialer Widerstand und als Weltveränderungskonzept (einer Illusions-Realität) sind ad absurdum geführt worden; Kunst steht in dieser Späte und nach einem Ende heute allmählich (viel zu langsam reift dieses Bewußtsein!) wieder mitten in jenem Gang zum Grund. Die alte Theodizeefrage, wie in einer Welt voller Übel Kunst (wie früher Gott) noch zu rechtfertigen sei, ließe sich nun so beantworten: daß sie gerade durch die historischen Übel und Verbrechen dieses Jahrhunderts wieder und radikal an diese Grenze geführt worden ist, doch sie, die Vermittlerin zu einer grenzüberschreitenden U-Topie, muß sich selbst überschreiten, um weiterbestehen zu können! Brechts Gespräch über Bäume wurde schon durch Celans Parodie widerlegt, dieses neue Bewußtsein (das eigentlich mit der Moderne begann) verschärft ausgesprochen: "Was sind das für Zeiten,/ wo ein Gespräch/ beinahe ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt." (Ein Blatt, baumlos, für Bertolt Brecht.)

 

3 Wenn wir an die Ursprünge des alten Bildverbotes zurückgehen, stellt sich freilich die Frage nach jenem unbekannten und unbeschreiblichen Wesen jenseits der Sprache, das unheimlich ist, im Schrecken erscheint, uns sprachlos macht. Ist das Tabu des Bildverbotes "Gott", das hier Fehlende? Ist "Gott" der Tod? Abwesenheit der sinnlichen Welt als Anwesenheit ihrer Tiefenstruktur, Anwesenheit unseres "Angeschlossenseins" an den undenkbaren größten Zusammenhang, Er dafür eine Chiffre? Hier stoßen wir auf den schwierigen Un-Begriff des Nichts. Das Nichts ist im Hebräischen identisch mit Gott. Ayin heißt Nichts. Es ist zugleich Name eines Buchstabens, er hat die Bedeutung von (inneres) Auge. Jenes "Gott" genannte Eine, das immer und zugleich nie da ist, da es "Alles" ist - wirkt als treibende Absenz in allem, was existiert. Dieses "Nichts" ist als Entwicklungsspender in allem enthalten, im Menschen unbewußt als grenzüberschreitende Erwartung, Hohlform unverzichtbarer Hoffnung. Nach George Steiner bekommen wir jetzt die Rechnung dafür präsentiert, daß unsere Zivilisation, "darstellerisch orientiert", sich nur durch die Verletzung des Bildverbots entwickeln konnte, also durch den "Tod Gottes", daß sie dafür "Gott und die Welt im Wort `nachgebildet` hat," was letztlich eine Art Welt gewordene Illusion war. Diese Rückkehr zur Einsicht in die "metamorphische Bedeutung, die Willkürlichkeit von Bedeutung" und dann: "die fossilgewordene Autorität des logos", ist ein tödliches Vergessen, von dem auch die Autoren geschlagen sind: "Zeichen transportieren keine Gegenwärtigkeit", sie sind Illusion und Todesaufschub, Mallarmés Absence (das Wort "Rose" als Absenz der wirklichen Rose), die Schreibenden zum Schicksal wird. Dabei sei es nur eine traurige Imitation des andern großen Nichts ( das Wort "Gott" als seine Abwesenheit), auch die Zitate von Zwischenräumen, Rissen, Zeitspalten usw. sind Spiele mit dieser Absence; bei Mallarmé "les blancs" als Abgründe im Typoskript zwischen den Sätzen und Wörtern...

Das absolut Bildlose, Innere , die reine Absenz aber ist etwas existentiell sehr Ernstes und Lebenswichtiges, das nicht nur die Kunst angeht, es ist "der Abgrund, der in den Lücken des Seienden" sichtbar wird... Kein Ding und Wesen kann sich verwandeln, das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker eben Nichts nennt, berührt hat", heißt es bei Gershom Scholem . Das alte Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unvorstellbaren, Unfaßbaren, das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen können, durchbricht, verbietet, ließe sich heute so ausdrücken: Worte und Bilder dienen zur Beruhigung, zur Illusionsherstellung, ohne die wir so nicht leben könnten, wie wir leben; und das, was wir mit Worten und Bildern verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese die Erde vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dieses Unheimliche ist im Christentum das totaliter aliter, das Ganz Andere genannt worden. Wobei weiter zu bedenken ist, daß die vorstellbare Grenze, die uns davon trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres gegenwärtigen (uns schützenden) BILDES von ihr, das - weiter in diesem Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne, - ja eine An-Maßung ist.

Interessant auch der Zusammenhang dieses "Ganz Andern" mit der "Alterität" der Negativen Theologie. Adorno mit seiner "negativen Dialektik", eine Art Übervater der Postmoderne, verweist auf die in der Negation wieder erreichten theologischen Wurzeln. Kierkegaards Angriff auf das Ästhetische und Ethische, die ohne das Heilige als Sündenfall des Begriffs, der Emotion, der Tat und der Ideologien erscheinen, ist nicht weit davon entfernt. Adorno geht von ihm aus. Robert Notziks Deutung des Holocausts als antimessianischen Zeitbruch und Einzigartigkeit der abendländischen Unheilsgeschichte ist ebenfalls damit verbunden.

Grund dieser Unheilsgeschichte ist die Mimesis des rein Zweckmäßigen, Nur-Sichtbaren, die Abtrennung vom Unsagbaren; so erscheint etwa das banausenhafte Kunstverständnis des Kitschs und "Volksgeschmacks" der Diktaturen rot und braun, in der "Expressonismusdebatte" oder in dem Konzept "dekadente" und "entartete Kunst" als Symptom des Realitätswahns; die Patentlösung war auch in diesem Bereich Vernichtung des Abweichenden, "Fremden" der für Diktaturen gefährlichen "Alterität" in der Kunst, im Geist.

In der Frühphase der roten Revolution dagegen blühte gerade die Avantgarde, die Darstellung des "Neuen", die Zerstörung der bisherigen falschen Realität und ihrer Unterdrückungsmechanismen. Ähnlich der Versuch im frühen Christentum, das totaliter aliter Gottes in der Ikonenkunst darzustellen, wo die normalen Licht- und Perspektiveverhältnisse, das gewohnte Seherlebnis aufgehoben wurden. Als die Fetische und Götzen dann katholisch wucherten, gab es in Florenz Savonarola und im Norden den protestantischen Bildersturm.

Das alte Hebräische, die Schöpfungssprache der Bibel, umging die direkte Benennung oder Darstellung des totaliter aliter, des Heiligen (qadosch), auf geniale Weise: geschrieben werden darf nur der Körper, das natürliche Gesetz: die Konsonanten; ihre unendliche Verbindungsmöglichkeit dagegen, in uns anwesend als "Blitz" der Assoziation, der erst den Sinn des Wortes herstellen kann: sind die nicht zu schreibenden, nur hinzuzudenkenden Vokale, dazu-"gedacht" sind sie die "Gnade Gottes", dessen NAMEN überhaupt nicht ausgesprochen und gedacht oder vorgestellt werden durfte, sondern unbekannt bleiben mußte! ER wurde daher in der jüdischen Mystik auch das Nichts genannt, weil jene "ganz andere" Dimension nur sein kann, wenn der Mensch in seinem Bilderwahn absent ist. Der Sinn aber jeder Versenkung ist diese Abwesenheit, herstellbar durch ein "Abschnüren der Sinne", Los-Lassen, Leer-Werden.

Es gibt freilich auch Bild-Meditationen, die der Absenz-Erzeugung in der Kunst ähneln, sie sind dem echten Gebet nach-gebildet , denn die Vorstellung, die im Satz erzeugt wird, ähnelt jener, und jeder kann darin eingehn und verschwinden...

Botho Strauß behauptet, es ereigne "sich ein überzeugender Gedanke überhaupt nur" im Heraufrufen "seiner Bestreitbarkeit", wenn er die "Nähe eines anderen Erkenntnismodus, in dem sich dergleichen so nicht sagen ließe", "berührt", und er bringt dazu ein sehr einleuchtendes Gedicht von Giorgio Caproni als Beispiel: "Rückkehr. Ich bin wieder da, /wo ich niemals war./ Nichts ist anders als es nicht war./ Auf dem halbierten Tisch, dem karierten/ Wachstuch das Glas,/ darin nie etwas war./ Alles ist geblieben, wie/ ich es niemals verließ." Paul Virilio schlägt vor, wir sollten uns daran gewöhnen, auch die Negativ-Kontur, das Ausgesparte zu sehen, nicht nur den Berg, sondern das Tal, am Rand eines Glases die Leere, bei einem Speichenrad die leeren Zwischenräume.

 

Moderne Literatur ist undenkbar ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir "Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare "Aura" und den "Schock", Joyce die "Epiphania"; und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das Fehlende also erst sage aus, was ist.

Ausgerechnet der Stotterer ( der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche Thora - oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges, das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik ist.

Das Bildverbot, ja, Aussageverbot geht auf die Einsicht zurück, daß wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und aussagen können. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen Mutationen des kosmischen Zusammenhanges, mit dem wir und alles, was wir wissen, denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich benennt, teilt, verläßt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich der Zwei über.

So beginnt auch die Bibel mit der Zwei: Bereschith bara, Im Anfang schuf: B ist die Zwei. Doch so gesehen, läßt sich Annäherung ans Eine, den "Sinn", und sei es in einem einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über unsere Intuition "angeschlossen" sind. Aber diese "Gnade Gottes" scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form als SINN gespeichert zu sein. Mit dem flash des immer besseren Verstehens der Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens sind Glücksgefühle verbunden, die sich mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose, bruchstückhaft zusammenhanglose "Unten" aber schmerzt.

 

4 Neben der Kausalität existiert also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und Sinn, auch Synchronizität und "sinnvoller Zufall" genannt. Die alten Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch) unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te King nennt TAO auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit ausdrückt: "Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:/ Auf dem Nichts daran beruht des Wagens Wirkung./ Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung./ Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern,/ Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung./ Darum: das Etwas schafft Wirklichkeit,/ Das Nichts schafft Wirkung."

Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das "Etwas", nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist. Beim Schreiben weiß auch der Autor, daß er sich mit seinem Ich beim kreativen Prozeß nicht einmischen darf, sonst blockt er ihn ab. Die interesselose Anschauung in der klassischen Ästhetik korrespondiert damit. Es geschieht auch in der Meditation, dem Versenken, in der Ausschaltung der äußeren Sinne, um mit dem innern Auge zu sehen, dem innern Ohr zu hören. In dieser Art entspannter Abwesenheit erst kann höherer Zusammenhang und damit Sinn auch wirklich wahrgenommen werden. Kunstgenuß oder Lyriklesen ist nichts anderes: Alles löst sich, z.B. in Kleists Prosa und seinen Dramen, in einem unsichtbaren Gesamtzusammenhang auf. Das Bild, die Außenwelt verschwinden bei diesem PROZESS, sind nicht faßbar; ihm wird jede Einzelwirkung genommen. Und so wird tatsächlich verhindert, daß wir uns voreilig ein BILD machen oder ein Gleichnis und einen "kleinen", nur alltäglichen Sinn suchen. Denn an sich gilt das Detail, das Sichtbare nichts, ist nur Funktion und auf etwas anderes, noch Unbekanntes bezogen; jede Handlung hat in sich schon das Zukünftige (oder gleichzeitig das Ganze), ließe sich nur von da aus begreifen. Dieses aber ist fast immer die Katastrophe, ein Untergang, das Zeichen dafür steht schon am Anfang, was geschieht, holt nur die Zukunft ein, wiederholt das, was tödlich in ihm steckt.

 

5 Das Hebräische wird von den Kabbalisten als Sprachbaum, Informationsbaum des Alls vorgestellt, so wird auch das Geschehen nicht mathematisch, sondern poetisch, eher "poietisch" (alte Lehre vom Bau und der Struktur) in der Genesis entfaltet. Ihre Proportionslehre, wo jeder Buchstabe gleichzeitig Zahl ist, führt dazu, daß in jedem Text ein hintergründiges Bezugsgeflecht entsteht und im Satz viel mehr aussagt, als die Erzählung, etwa die naiven Geschichten von Adam und Eva, oder von Noah und der Sintflut oder von Kain und Abel aussagen können. Oder die so wichtige Geschichte von Moses auf dem Sinai und dem Bildverbot. Wir tun es lesend und wir gehn mit dieser Bibel um seit Kindertagen und wissen es nicht. Die Katastrophe der heutigen Welt hat damit zu tun. Aber auch damit, daß Zahl und Name, technisches Wissen und Gewissen auf tödliche Weise voneinander getrennt sind. Es paßt zu den Absurditäten des Okzidents, daß er mit einem ungeheuer wichtigen Teil seiner Kultur so umgeht, wie er mit allem, was nicht in sein rationalistisches Konzept paßt, umgeht: verdrängend, ausklammernd, hassend. Das Hebräische, das Jüdische und dessen gesamter Kosmos nahmen und nehmen in diesem Haß eine Sonderstellung ein.

 

Die SCHRIFT, auch die heilige, beginnt, wie wir schon sahen, mit dem Geteilten, der Zwei, mit B, dem Beth (was auch Haus heißt): "Bereschith bara" ("Im Anfang schuf", aber eigentlich im Kopf schuf) denn nach dem B steht "resch", resch heißt KOPF ( die Summe seiner Buchstabenwerte ist 200: die hundertfache 2= 200); reschith aber heißt Haupt-Sache. Die 20: Kaf (zehnfache zwei) ist die schaffende Hand. "Der Schöpfer" hat die Welt aus der schwingenden Information der "Sprache", aus den 22 Buchstaben und Zahlen ( Sephira= Zahl, Kräfte, Sphären) mit Kopf und Hand erschaffen; Kabbala heißt "Macht der 22" (Kaf=20, Beth= 2, La ist das Wort für Macht.) Lauter Zweier-Folgen aus der Eins.

Die sieben Schöpfungstage hängen ebenfalls mit der Tiefenstruktur der ersten 7 Zahlen und Buchstaben zusammen. 1-3 sind der sogenannte Urraum (Zimzum), der "achte Tag", jenseits von Zeit und Geschichte, doch zugleich in ihnen verwoben: 1: Null, 2: Lichtpunkt, 3: Grenze oder das Hinabgehen in Klang, Farbe und Form. Dieses Hinabgehen ins Materielle steht den Modellen der heutigen Informationstheorie sehr nah: Erst die Erscheinungsform im Kopf als Wissen des "Lichtpunktes" der Nulldimensionalität des Reschith (allerdings immer noch als berührbare Unendlichkeit) ermöglicht es dem Urlicht der Eins (En-Sof im Hebräischen), hier in der menschlichen Welt überhaupt zu erscheinen. Dieser Punkt aber braucht Laut und Klang, die Begrenzung, Umhüllung des Unmeßbaren, Verstofflichung des Gedächtnisses, das nicht von dieser Welt ist (Wissen im Samen, in den Genen, Chromosomen, dem Atom), mater materia; es ist ja Geist, der nicht als Geist erscheint, aber er braucht die Form, die Grenze, um sich verkörpern zu können. BINA, die 3. Sphäre - Grenze: Hinabgehen in Klang, Farbe, Form, die Ur- Mutter ermöglicht es.

Adam, der Mensch, hat dieses Strömen der Ur-Information im Sündenfall unterbrochen, das Außen, den Augenschein, die Frucht vom Ur-Baum getrennt, das Wesen von der Erscheinung, und so kam der Tod in die Welt, denn der von seinem Urgrund und Wesen gerissene Körper stirbt ja "tatsächlich"; Formen sterben, die Information des Samens, der sie weiß, aber bleibt im Immateriellen erhalten! Essen vom Baun der Erkenntnis ist Trennung der Frucht vom Baum. Essen vom Baum des Lebens ist Osmose; "Essen" der Sinne, Aneignung der Welt heißt im Hebräischen "achol"; es verbindet A (Aleph), die Eins, mit chol, dem Vielen, dem spezifischen Schwingungsklang, der in jedem Ding als Eigenart vibriert. Liebe ist die Verbindung der fünf Sinne auf höherer Ebene der Berührung. a-chol. Das Zerreißen, Abreißen, die Spaltung aber ist die Hölle. Das Sichtbare, so vom Einen getrennt (A von chol), ist seither einem furchtbaren Ungenügen, ist den zerstörerischen Gewalten, die Macht über den Körper haben, wehrlos ausgeliefert. Heute ist dies als Riß in uns und in der Welt und als Schmerz in der sinnlosen Kontingenz des Beliebigen und Zufälligen zu spüren , die ja selbst nur ein Nichtwissen der Zusammenhänge, eines Zu-Fallens etwa, ist, dessen nihilistische Verabsolutierung eine Täuschung und Selbsttäuschung im Spiegel des Empirischen, des Ausgeschlossenseins von den höheren Sphären bedeutet. Im Schmerz aber zugleich auch die Not-Wende: Denn noch nie war diese größte humane Aufgabe, den Zusammenhang des Ganzen zum Sinn wieder herzustellen, die abgerissene Verbindung wieder aufzunehmen, so lebensnotwendig und dringlich, und dies nicht nur für die menschliche Welt. Jenes Falsche der Trennung, jener Makel ist nicht nur in einem, für viele unerklärlichen Leidensdruck spürbar, sondern auch in der Falschheit des klassischen Erkenntnisansatzes, der Trennung von "Innen" und "Außen", die in sich selbst zusammengehören und untrennbar in der Ebene eines höheren Komplexitätsgrades wirken, der sich in uns als Intuition spiegelt und im Erkenntnisblitz Eins sind: letztlich hält uns die Natur den Spiegel unserer eignen Mittel und Instrumente vor, so z.B, formuliert in Heisenbergs "Unschärferelationen", die die Berechnung einer zeitbedingten kognitiven Unfähigkeit sind. Erstaunlich ist, daß sich in der Quantentheorie unser Fehlverhalten sogar durch die auf den Beobachter bezogene Wahrscheinlichkeit und die damit verbundene "unvollständige Kenntnis eines Systems" berechnen läßt.. Daß nämlich die Unwägbarkeiten des Subjekts sowie die Unkenntnis vom ganzen Kosmos mit in die Imponderabilien eines Experiments als Unbekannte, um das Experiment "genau" ausdrücken und berechnen zu können, einbezogen werden müssen. Aber diese Falschheit und Störung des Ganzen durch unkontrollierbare Eingriffe ist für die gesamte Natur und für die menschliche Gattung insgesamt gefährlich geworden, sie äußert sich ökologisch, atomar und in zunehmendem Maße auch im biologischen Informationssystem als Krebs, als Aids und als Neurose und Geisteskrankheit. Und ist letztendlich in diesem festgefahrenen Glauben an "Objekte", also an den SCHEIN eines Augenbildes gebunden, also im tieferen Sinn durchaus auch an eine drastische Übertretung des BILDVERBOTES.

So wird im Hebräischen die Zahl Sechzig (Sechs = waw, das Und, Folge, Zeichen des Menschen, in der Zehnerreihe, der Ebene des Handelns) wie ein Kreis geschrieben, das Zeichen Samech, heißt Wasserschlange; es ist das teuflisch Schlüssige, die Evidenz des Kausalen und Rationalen, seine Verführung. Der Sinai: wo der Mensch Moses die Tafeln mit den "zehn Worten" empfing, ist Verführung und Wunder zugleich: Wiederholung der Paradiesmetaphern. Zum Blitz auf dem Berg nämlich kommt das höllische Tal unten: das Goldene Kalb, hebr. egel. Und egel heißt das Runde, der geschlossene Kreis. Der Fetisch Ratio also, abgezirkeltes Oberflächen-Bewußtsein, im Osten vormals zur Ideologie geronnen, zur konsequenten Idiotie der Abbild-Theorie in der Ästhetik!

Die Warnung vom Sinai: "Du sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis" von Gott machen, gilt auch für die menschliche Wirklichkeit. Und nun sogar total, wir leben heute in dieser alles erfassenden Herstellung von Welt in der künstlichen Bilderwut, da das Medium, das die Botschaft ist diese Wirklichkeit nun nicht im Selbstschöpferprozeß eines einsamen Genies, sondern für die Massen herstellt, die Natur ersetzt, Ersatzdroge für alle ist, sie überschwemmt so die selbstgeschaffene "Wirklichkeit" mit Bildern. Alle sind bald in der gleichen Lage wie früher Künstler, ohne sich jedoch anstrengen zu müssen, und ohne jedes Leidrisiko. Und sie stürzen in jenes Bild, verschwinden darin. Aber - verschwindet nicht, genau wie der Autor im Buch, nun diese Zivilisation in der eigenen Erfindung? Erledigt die bisherige sinnliche, unmittelbare Realität? Mit Gewalt? Sich der wirklichen Existenz via technischer Entwürfe zu entledigen, ist das Ziel. Als wäre ein grausamer Autor am Werk, der Wälder, Flüsse, den eignen Körper und alle andern Menschen abschafft! Diese aber ist keineswegs die "ganze Welt", und wer sie allein spiegelt und von ihr ausgeht, bleibt in ihren Irrtümern gefangen, auch wenn er behauptet, sie und ihre Resultate zu "kritisieren". "Du sollst dir kein Bildnis machen!" Wie wahr so spät. Dabei ist es doch auch hier nur kreative oder eher vernichtende Weltflucht, wie bei Autoren oder Diktatoren. Man hatte schon früh den Alten sterben lassen, um selbst seine Stelle einzunehmen.

 

6 Das Bildverbot am Sinai ist das "zweite Ur-Wort", - nicht Gebot (im Hebräischen ist nur von "zehn Worten" die Rede,) es wird in der Pfingstbegegnung mit Jahweh, ohne Vokale geschrieben JHWH (Lichtblitz, Strahl, Lichtmetaphysik) auf dem Sinai Moses "gegeben": "Mathan Thora" Geben, Schenken der Thora, eine Art Strukturbild der Welt, nein, eigentlich ist der verborgene NAME Gottes ist in diesem Buchstaben-Geflecht enthalten. Und dieses Geflecht ist tatsächlich ein Wunder. Er ist die unaussprechliche Eins, der erste Buchstabe Aleph. Aleph besteht aus zwei Jod (Zahlenwert 10) und einem Waw (Zahenwert 6), und ergibt 26. 26 aber ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH (Jod: 10; He: 5; Waw: 6; He: 5). Die erste Hälfte (10, Potenz von 1) steht der zweiten gegenüber (5 UND 5, denn Waw, der Haken, heißt auch UND und ist das Zeichen des Menschen); der Mensch hat also durch seinen Fall, geteilt in Männlich und Weiblich, Gott verstümmelt und halbiert. Frei von den zur Bildprojektion gewordenen Entwicklungskräften der "Realität" war auf dem Sinai wieder Erlösung möglich: Kontakt zur "Eins". Das "Bildverbot" geht ja nicht um äußere Bildnisse nur, sondern um die Abtrennung des Sichtbaren vom Wesen, um die inneren Formkräfte, die verstellt werden. Die Urschrift, Information und "Ur-Wissen", Form als Kenntnis (eines Subjekts) vom Verhalten in jedem Ding, jedem Tier oder Stern, Form, die die Welt baut, war der Bibel nach ursprünglich mit schwarzen Feuerbuchstaben auf weißes Feuer geschrieben (Atomfeuer, Kern und Schalen?), innerste Formung, die wirklich werden sollte. Zwei Eingrabungen: Herzschrift und Mündlichkeit, sie waren aber noch nicht sinnlich wahrnehmbar, nur als Gedankenanreger da. Das weiße Licht war der Baum des Lebens; das davon Abgespaltene, Gedeutete und menschlich Geschriebene hieß Baum der Erkenntnis, die schwarze Schrift; Moses gelang es in einer ersten, der wichtigeren Begegnung auf dem Sinai, zum weißen Licht, zu der verborgenen EINEN Tafel der ZEHN Ur-Worte vorzudringen. Alles, was aufgeschrieben werden kann, auf Steintafeln, Schiefertafeln, mit Tinte auf Papier, auch in der Genesis oder der hebräischen Thora, ist nichts als Deutung, ja, nur halbwegs Wahrheit, gar Fälschung, im besten Fall Metapher und Gleichnis; der Rest aber ist Schweigen. Im kleinen Blitz der Intuition und Ekstase nichts als ein Schimmer. Aber auch dieses ist höchst aktuell. Nicht einmal die so einfachen mikrophysikalischen Vorgänge, die in unserem Bildverständnis mal als "Teilchen" , mal als "Welle" etwa "eingedeutscht" "zur Sprache kommen", lassen sich einfangen, sie sind wie Träume, die am Morgen aus dem Wachzustand verschwinden; als wären sie noch unberührt von der Erbsünde des vom Einen abgetrennten Augenscheins (ein vor Gott sich Verstecken! "Adam, wo bist du?"), dem sogar die Buchstaben der Genesis ausgesetzt waren, wie die Kabbala meint. Ihr grobmaterieller Charakter sei eine Folge des Sündenfalls. Ebenso wie Adams Lichtgestalt eine materielle Haut bekam und die Erde nicht mehr durchsichtig war wie vor dem Fall. Der Himmel war dichtgemacht, das heißt abgetrennt von der Erde. So wie das Chaos der Augenblicke Jetzt sei auch die Buchstabenkombination der niedergeschriebenen Genesis noch verkehrt, erst beim Ende der Welt werde sie lesbar sein, heißt es in den Kabbala-Kommentaren. Ein Spiegel von Adams Fall in die dichtgemachte Götzen-"Wirklichkeit", so erscheint zwangsläufig alles gespalten und vermischt in Lüge, Wahrheit, Gut, Böse, also paradox und absurd, Sprachprozeß dessen, der ist und schon nicht mehr ist: der Mensch, der seither immer schon Abwesende. Aber auch ein paradoxes Problemhandeln im Möglichen leuchtet auf.

Moses brachte nach der ersten Begegnung die mündliche, nicht geschriebene, er brachte die noch immaterielle Thora vom Sinai. Doch als er sah, was da unten das Volk tat, wie es um das Goldene Kalb, "egel", das Abgeschlossene, das Evidente tanzte, gab er dieses weiße Licht der ersten Thora nicht preis. Das Eine war gegenübergestellt dem Vielen, dem Volk, aber auch der Mannigfaltigkeit. 40 Tage war Moses in der Wüste gewesen, das Volk wartete, er kam nicht. Aaron, von dem das Volk endlich "ein Bild" verlangte, sichtbare Götter, nicht unsichtbare, etwas Greifbares, um aus dem Exil und der Wüste endlich ins Gelobte Land zu kommen, vertröstete, verzögerte Aaron "bis morgen"; doch als Moses nicht kam, da entstand das Goldene Kalb aus Ungeduld und Unglauben; Aaron warf zwar alles gespendete Gold (das, was den Leib der Frauen am schönsten macht, Glanz des Außen als Opfer) ins Feuer, um zu verhindern, daß daraus ein Götze entstehe, doch er war ohnmächtig, denn das Gold schmolz und die Form des Kalbes ("egel", das Runde) entstand ganz spontan, dieser fast "selbstgemachte Götze" der EVIDENZ. Eine Endzeit, wo sich Entwicklung enorm beschleunigt, war schon damals: dichtgemacht durch die Zeit, und der Ursprung verhüllt. Ein Aggregatzustand zugleich, Limit, Grenze. Der Tanz ums "Goldene Kalb" ist nicht etwa nur der Tanz um den "Mammon", erst die Tiefen- und Zahlengrammatik enthüllt, was das nur sichtbare "Kalb" wirklich IST: Festlegung nämlich im ausweglos Geschlossenen, "Runden"; Kalb "egel" (70-3-30 hat den gleichen Zahlenwert wie "agol", rund, 70-3-30. Eigentlich ein Akt der Verzweiflung). Dieses BILD als Simulation, dieser nur sichtbare und fix glänzende Ersatzgott des Eingeschlossenen, in täuschender Evidenz des "Glanzes"; bedeutet die Gefangenschaft im ausweglos Materiellen, Essen, Trinken, Schlafen, Beischlafen, "sich erfreuen" am Leben. "Erfreuen"; in diesem Kontext erscheint das sonst ungebräuchliche Wort "tsachek", 90-8-100, es bedeutet spöttisches, zynischen Lachen. An das, was geschieht, wird gar nicht mehr geglaubt, Leben wird nur ungläubig, zynisch angenommen, Freude, die keine Freude macht, Liebe, die keine Liebe sein kann, weil man an sie gar nicht glaubt, an gar nichts glaubt, in nichts Vertrauen hat, außer in die greifbare "Freiheit" und die Macht, das - "glänzende Gold". In allem, was man tut, fehlt die Tiefe, die eigene Begründung, der Grund, alles ist nur noch Schein, ohne dessen Wurzel, ohne den, der "fehlt".

Im Augenblick des tiefsten Falls kommt dann Moses mit der immateriellen Tafel, ist erschrocken, wie wenig sie hierher in dieses Umfeld des tanzenden Volkes gehört; aus Zorn zerbricht er sie, und aus der gesammelten EINS in der Zehn, wird wieder Materie, quälende Un-Zahl; und es heißt, die Buchstaben seien wie himmlische Vögel in dem Augenblick des Zerbrechens der Tafel wieder davongeflogen.

Beim zweiten Gang zum Sinai, um auf dem "tsur" (7-6-200) dem Felsen, ebenfalls FORM, die "neuen Tafeln" durch die STIMME zu erhalten, bestanden die Tafeln diesmal aus der Materie von "unten", auf sie gravierte Moses die zehn neuen Ur-Worte ein, menschengerechter, während die ersten Tafeln das Schöpfungsinstrument waren, ein zu gefährliches Geschenk.- Diesmal erhielt Moses nicht direkt die erste Zehn, sondern die Spaltung, wie in JHWH, in zwei Tafeln : (HWH) 5-6 (und)-5. Das, was wir lesen können, ist nicht etwa das Zahlen-Buchstaben-Geflecht des Gottes-Namens, sondern schon ein gespaltener Name, eine Deutung dieses Namens: JHWH (10-5-6-5), so wie zum ZWEITEN MAL die "Zehn Worte" in 2x5 - also auf zwei Tafeln erschienen. "Alle Deutungen sind Fehldeutungen" (George Steiner). Und das Indeterminationsprinzip stimmt auch da: Beobachtung ist unendlicher SPIEGEL in einer Metamorphose der Ereignisse, sie transformiert, ja, erschafft das Beobachtete nach der eigenen Gedankenform. Die Geburt des Schöpfers, des Autors dieser Welt wäre so erst mit dem Tod des Lesers gleichzusetzen, Hegels "Gott ist der Tod". So hieße auch innerhalb des Bildverbots, nach Roland Barthes, gut schreiben erst: "das Ausdrückbare unausgedrückt zu machen."

Moses also zerbrach die erste Tafel, so daß die Ur-Worte nicht in der "richtigen Folge gegeben worden" waren, denn wären sie in der richtigen, göttlichen Reihenfolge gegeben worden, "könnte jeder, der sie liest, die Toten wiederbeleben und Wunder verrichten". Ursprünglich waren sie aus schwarzem Feuer auf weißem Feuer, als Urlicht "gegeben", wir aber lesen sie nun nach unserem Verstande als äußere Bilder und Geschichten und gar Gebote, Handlungen und Anekdoten, dabei geht es um den Bauplan, die Struktur der Welt, und um Kommentare zur Weltformel. Wobei es auch hier, ähnlich wie bei christlicher Hermeneutik, am bekanntesten bei Dante, um einen vierfachen Deutungs-Sinn geht: 1.Um den buchstäblichen Sinn, 2.Den allegorischen Sinn, 3. Den tropologischen, und 4. Um den anagogischen Sinn (sensus mysticus); wobei letzterer den Zugang als intuitive Summe ermöglicht

Eigentlich also fällt auch der Thora-Leser, ja, die schriftliche Thora selbst unter das zweite Gebot des Bilder- und Sprachverbots.

 

7 Neben der mathematischen Formel und der Musik ist das Gedicht eine Möglichkeit, dem Wirklichkeitswahn und seinen Täuschungsmanövern zu entgehen. Jeder Poet ist durch seinen Einfall an das Noch-Nicht-Gewußte, den alles bedingenden apriorischen Grund (das Eine) gebunden. Es wird so möglich, sich jenem Glück zu nähern, das wir schon hier empfinden können, wenn das Netz der Zusammenhänge dicht ist und reich, schon im Undenkbaren an der Grenze unserer Vorstellung, ziemlich nahe in der Reihe des Zählbaren mit der Eins und dem Einen, nicht mehr getrennt und gespalten, sondern "heimgekehrt" zum Grund der eigenen Sagbarkeit. - Wäre eine Herausführung und Engführung durch WORTHÖFE und Sprach- BERÜHRUNG in "Zustandsräumen" möglich? Aber Berührung wird ja erst möglich in Zuständen zwischen Leben und Tod, in Sphären von denen wir durch den Körper getrennt sind. Manchmal ist es ein Gespräch mit den Toten, die auf einer Ebne mit mehr Bezügen erreicht werden können; das "Totengespräch", wie es Celan oder auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre. Es ist eine Wiederkehr des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem "exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz anderen Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte ( Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich mit den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten bezeugen, daß es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, daß wir uns kein Bild von jener fremden Sphäre machen dürfen und es auch nicht können. Das Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch ihre sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff dieser Zivilisation. Der skeptische Physiker Ernst Senkowski meint, daß es bei diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden, welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, daß es um höchst unheimlich "realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht: "Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als daß wir unsere Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und Sprachverbot? Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen geschlagen. Muß der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei, heißt es bei Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am Blindenstock der Feder sind!

Die Geschichte ist zum Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.

Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das "Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."

Erstaunlich ist, daß heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene, aufs Unheimlichste und Paradoxeste real zu werden scheint; daß auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt, wie im Traum stößt bei dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung" (Freud), nachdem das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen ist, Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten , "abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas; erstaunlich ist auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete" kehrt wieder; oft eine Wiederkehr, die Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin zu den "Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.

 

8 Leerer Ort der "Absence", ein Vakuum kann auch so "gefüllt" werden. Das Entscheidende aber ist, daß sich nun im Posthumen der Geschichte und der Ideologien Neues enthüllt, überraschend hinter dem zerbrechenden falschen Bild mehr und mehr "in der Gefahr" das einsam "Rettende" wachsen könnte: das Negativ zur Wirklichkeit durchaus im aufbauenden, nicht nur im zerstörerischen Sinn wie bisher in der ideologisierten Revolte. Für Thomas Pynchon, den Joyce meiner Generation, ist es eine "höhere Sinn-Zone" (in seinem Roman "Das Ende der Parabel", dt.1981) und sie ist nur erreichbar, wenn wir die okzidentale Ego- und Todes-Zone zum eigenen Sprungbrett machen und so nun "hinüber" kommen, die eingebildete Todeszone, die Krankheit dieses Ego, überwinden.

Reinald Goetz spricht in seinem neuen dokumentarischen Monster-Roman von der "Authentizitätsfalle", es ist die aufgebrochene Grenze zwischen Leben und Schreiben, wo die Wortwände sowohl zum Traum als auch zur Tatsachenwelt sehr dünn werden und zu psychischen Schäden führen können; die Gefahren einer Wiederkehr des Verdrängten sind durchaus nicht nur sozialer, politischer und militärischer Art, sie erfassen die Ästhetik und Kunst genauso wie die ungewohnten Grenzgänge, okkulte Hysterie, mediumistische und andere Psychosen. Dabei scheint es so, als gäbe es diese Gefahren gar nicht. Sie ist kaum erkennbar "im Herzen der Unmöglichkeit", im Indifferenzpunkt dieser Gefahren, wo jetzt die Kluft zwischen jener geschilderten "Ausnahme" des Todes und dem "Normalen" des "Lebens" so groß geworden ist, die zugleich aber durch die Immaterialisierung der Welt, das tiefe Eindringen der Geräte ins Gewebe des Kosmos und auch in den Tiefen des Unbewußten, zueinander streben, wie bisher noch nie; man könnte von einem Thanatovirus sprechen oder auch vom kollektiven Todestrieb. Doch das Thema ist brutaler, die Veränderung des Todes ist längst geschehen; und es gehört zu jenem Verdrängten, daß das Grauen der Geschichte, Hiroshima, der Gulag der Holocaust etwas aufgebrochen hatten, das die bisherige Geschichte und Gewohnheit transzendierte und immer noch andauernd transzendiert, und nicht etwa, daß der Fall des ideologischen oder auch philosophischen Absoluten nun das Zufällige, Triviale, "Einzelne, Beschränkte, Irdische" und Kleine, wie es in einem MERKUR-Aufsatz (Anathema. Der Holocaust und das Bildverbot) kürzlich hieß, wie es auch so bekannte Theoretiker wie Rorty oder Marquardt verkünden, wieder Trumpf sein soll - und alles einfach so ist, wie es ist! Es geht im Merkur-Aufsatz um Spielbergs "Schindlers Liste" und um den gefährlichen Versuch, dem Holocaust das Unfaßbare zu nehmen, ihn zu "vermenschlichen", ihn vergleichbar und einordenbar zu machen. Nolte läßt grüßen. Dabei ist doch die Rede von den radikalsten historischen Ereignissen, die nochmals jene auch in der Geschichte der Wissenschaft (und Geschichte der Literatur und des Denkens seit Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal) bekannte bildliche und sprachliche Unfähigkeit, das was ist, darzustellen, kurz gesagt: das Objekt der Sprachlosigkeit und Unfaßbarkeit ist auch im historischen Raum und brutal wie bisher noch nie wirklich geworden, so nun das Unheil in die Welt gestellt, was im Denken voller Furcht und Zittern vorweggenommen worden war. "Bildverbot" ist dafür nur eine historische Metapher, auch hier in diesem Essay. Anathema ist dabei nicht nur das Verbot, aus der Einsicht, daß das das Unfaßbare Eine, das ja in "Alles" hineinwirkt, kein Gesicht haben kann, sondern nun negativ, daß die Gott ersetzende Geschichte zum Unfaßbarsten fähig ist, das jede Darstellbarkeit überschreitet. Das Verbot "Gott" und nun den absolut negativen Gott in sinnlich-stofflicher Gestalt darzustellen, wie es für den alten Gott die byzantinische ikonoklastische Synode vor 1200 Jahren verordnet hatte, wie es (völlig zu Recht) der Islam und früher die Hebräer verlangt hatten, oder gar "andere" sinnliche, also falsche Bildgötzen und Fetische einzuführen, ist nur die Extremform der Anmaßung; nein, nicht nur "Gott" oder der Holocaust als unfaßbares Ereignis, sondern alles Existierende ohne Unterschied wäre, zumindest ironisch, mit dem Verbot zu belegen: sie mit bisherigen Mitteln, vor allem im Fernsehen darzustellen, bis hin zum letzten Grashalm ist Nichts darstellbar, weil das sprachgeprägte Bild und seine Logik eine Art Fiktion, Schein, Trug sind, Begriffe möglicherweise einer bestimmten Herrschaftsform (des Äquivalentes Ware und Geld) auf der Erde entsprechen, wie schon Adorno vermutet hat: "Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt ... dieselben Gleichungen beherrschten die bürgerliche Gerechtigkeit und den Warenaustausch .... die bürgerlkiche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Die Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung." (Äquivalenten-Geld-Ware-Lebensform als einziger Retter in der Not im Tabula-rasa-Zustand nach 89?) Dabei sind jene drei vorhin erwähnten negativen historischen Ereignisse, für die nur noch negative Theologie oder auch negative Poetik (wie bei Paul Celan) und das Schweigen an der Grenze unserer Vorstellung angemessen wären, möglicherweise eine drastische Rücknahme: Folge der mörderischen Zivilisationsmaschine, Folge einer dem Wesen der Natur und des Menschen diametral entgegengesetzten, machtbedingten Bild- und Sprachlogik, die nur auf der Zahl und dem Geld beruht. Die Kritik dieser Auffassung, daß diese drei Ereignisse Resultat einer infernalen Zivilisatonsmaschine seien, mit dem Gegenargument, so werde die Verantwortungsfrage nivelliert, ist unter diesem Gesichtspunkt eines totalen Sturzes bisheriger Geschichte zum Ende hin, nicht haltbar, da die Täter, als Mitverantwortliche dafür, erstrecht zu Schuldigen werden, allerdings mit einer Schuld, die juridisch nicht messbar ist, aber das Stigma einer riesengroßen Kluft zwischen banalem Bewußtsein und apokalyptischer Täterschaft trägt, die einer fast alttestamentarischen Verdammnis gleicht.

Diese Zivilisation hat sich selbst ad absurdum geführt. Ad absurdum geführt wird freilich auf theoretischer Ebene diese Trennung zwischen Bild und Zahl, daß die bildliche Anschauung und die Sprache auch in der neuen Physik ad absurdum geführt wird, gewohnte Worte und Bilder sind unfähig, das Geschehen im subatomaren Bereich auszudrücken. Für die Bewegung der Partikel im Atom erscheinen in der Beschreibung "Zustände", als wären die Partikel mal Teilchen, mal Welle, da solch eine sprachliche Beschreibung das Unverständliche, uns Unzugängliche "anschaulich" machen will. Bilder, die als "Ort" und "Impuls" des Elektrons sich gegenseitig stören, wobei zu Paradoxem Zuflucht genommen werden muß: diese Störung wird als "Produkt der beiden Ungenauigkeiten" in Formeln erfaßt und Plancksches Wirkungsquantum genannt. Einzig Kunst und Poesie wären bei einer Selbstverwandlung ihrer metaphorischen Mittel zu einem Brückenbau über den Abgrund fähig. Die Spur der Schrift ins Offene des Augenblicks beim Schreiben etwa, da, wo Zeit, die noch nie war, sich als überraschendes Fallen aus dem Unbekannten zur Inspiration verdichtet, kooperiert auch mit dem Wissen der Quanten-Logik, einer neuen Wissenschaft vom JETZT, die, wie auch eine neue Kunst, erst im Entstehen ist. Dies im Schreiben, in der Meditation, im Gebet, in der Liebe und in der Phantasie und in den besten Stunden vieler Einzelner, ein Raum, wo neue Wirklichkeit enstehen wird. Im Raum der sogenannten "Wirklichkeit" aber: wo wir vorerst weiter lebend, alles alltäglich tun, ohne es zu wissen, was wir tun, eher der Vergangenheit und der alten, einer andern, nicht mehr existierenden Zeit angehörenden Gewohnheit zugewandt, und kaum der Zukunft, diese Angst im sozialen Bereich, verschleppt eine alte Krankheit, die die vorhin geschilderte Kluft und die gefährliche Lage des Planeten erst tagtäglich ermöglicht, als wäre er ein unabwendbares Schicksal; aber "man kann sogar mit schlichter Vernunft, eigentlich mit dem Alltagsverstand sagen, was geschehen müßte... Es ist also nicht so, daß ein besonders gescheiter Mensch kommen müßte, um Manger- und Steuerungsaufgaben zu lösen... daran liegt es nicht, sondern es liegt letzten Endes daran, daß unsere seelische Verfassung so ist, daß jeder von uns an irgendeiner Stelle und viele von uns an vielen Stellen das einzig Heilsame abweisen, weil jeder Angst hat, daß ihm etwas passieren könnte..."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NACHWEISE. Einige der Beiträge aus dem zweiten Teil dieses Buches sind schon in einer ersten Fassung oder in anderer Form in verschiedenen Zeitschriften erschienen. So: "Schreiben als posthumes Leben. Rumäniendeutsche Lyrik der neunziger Jahre", in: Literatur und Kritik, November 1993; "In einer Stunde werdet ihr euch wiedersehen. Gespräch mit dem siebenbürgischen Auschwitzapotheker Dr. Victor Capesius" in: "Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik", Heft 1, 1993; "Die schöngeistige Literatur der Stadt Schäßburg in Siebenbürgen" in: "Schäßburg," Wort und Welt Verlag 1994; "Brüche, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden sind" in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Heft 3, 1994. "Über Sprachskepsis, Bildverbot und den Begriff Zeit", in: Literaturmagazin 34, September 1994.

 

 

KLAPPENTEXT

 

 

Dieter Schlesak, geb. 1934 in Schäßburg (Rumänien), war Volksschullehrer in Siebenbürgen, studierte Germanistik, arbeitete als Redakteur der Zeitschrift "Neue Literatur" in Bukarest. Er debütierte als Lyriker noch in seiner Heimat ("Grenzstreifen", 1968). l969 übersiedelte er in die Bundesrepublik, wo er ein Jahr später "Visa. Ost West Lektionen" 1970 bei S. Fischer in Frankfurt veröffentlichte. Seitdem erschienen zahlreiche Gedichtbücher (u.a. "Weiße Gegend", 81; "Aufbäumen. Gedichte und ein Essay", 90, alle bei Rowohlt); Prosa: l986 der Roman "Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens". Schlesak schrieb Hörspiele, Funkarbeiten, Arbeiten über Psychiatrie, Bildmeditationen über die renovierte Sixtinischen Kapelle (3 Bände einer Kunstdruckdokumentation), Essays und Prosa über die Zeit-Wende: "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", ist bei Rowohlt im Herbst 91 erschienen. Im Herbst 1994 "Stehendes Ich in laufender Zeit" - ein synoptisches Tagebuch der Jahre 89-94 bei Reclam Leipzig. Schlesak erhielt mehrere Preise (u.a. "Gryphius-Förderpreis, Schubart-Preis, Lenau-Preis) und Stipendien (Deutscher Literaturfonds, Akademie Schloß Solitude u.a.), er ist Mitglied des Deutschen P.E.N Zentrums.

 

Sprache ist eigentlich das einzige Haus, das ich habe. Die Sprache leuchtet mir heim ..." Diese Antwort gibt Dieter Schlesak auf die Frage danach, wie er mit dem Riß zwischen Heimweh und Fremdsein fertig werde...Grenzüberschreitung zwischen Abwesenheit und fremder Anwesenheit... Christina Weiss in der "Süddeutschen Zeitung".

Seit Goethes und Jean Pauls Zeiten gehört Schlesak zu den beeindruckendsten Traumerzählern.

Holger Jerkius, Nürnberger Zeitung

 

 

 

Auf der Rückseite des Umschlages:

Die im kalten Krieg eingefrorene Zeit ist aufgetaut, mit den gefestigten Lebensverhältnissen ist es vorbei, der Eiswind der Enttäuschung weht, und das Jahrzehnt der "Revolutionen" und Chancen erweist sich als eines der Schocks und der Kriege. Der Dichter Dieter Schlesak macht in diesem Buch, das auf Tagebuchaufzeichnungen beruht, den Zeitenbruch, der auch seine Heimat, den Südosten erschüttert und radikal verändert hat, in scharfen Tiefenkonturen sichtbar. Der heute in Camaiore/Italien lebende, in Siebenbürgen geborene Ost-Westeuropäer hat seit 89 Tagebuch geschrieben, Analysen, Traumvisionen, Erzählungen und Reiseberichten, vor allem auch nach mehrfachen Besuchen im Osten, kommen hinzu: Der brennende Punkt - die verlorene Heimat im Südosten, die Schwierigkeit als Ausgewanderter irgendwo Boden zu fassen, anzukommen; und nach dem Bruch von 1989 die Unmöglichkeit über den Abgrund der Diktatur den Bogen zurückzuschlagen ist schmerzhaft: die endgültig verlorene Hoffnung je wieder heimkehren zu können. Im zweiten Teil des Buches fragt Schlesak in Aufsätzen, Gedichten, Essays, Prosafragmenten, Gesprächen und Analysen nach der Ursache dieses Zustandes, der ausgewanderte, aber vor allem die zuhausegebliebenen Ost- und Südosteuropäer heute zutiefst bestimmt, den innern und äußern Kriegszustand auslöst: Zwei Diktaturen, die braune und die rote haben eine innere und äußere Schlammlandschaft hinterlassen, die seelisch in allen Betroffenen nachwirken.

 

Der Stillstand, das Herausfallen aus der Zeit, dann wieder der sich überschlagende Ablauf ....Zeitschrumpfung und Zeitdehnung, unvermittelt nebeneinander, vermutlich ein Symptom unseres geschichtlichen Krankseins. Eine umfassende Untersuchung wert - Sie haben den Anfang dazu gemacht und sollten das Thema festhalten: Es wird mehr und mehr eine Rolle spielen. Denn es führt ja dazu, daß wir, durch unser subjektivstes Zeitempfinden, mit anderen Menschen in unterschiedlichen Zeitdimensionen leben, als seien wir allesamt Figuren aus der Science- fiction- Literatur! Günther Kunert.

 

Ist Dieter Schlesak ... einfach ein westdeutscher Schriftsteller geworden? Nein, Schlesak fühlt sich auch weiter als ein "Anderer", und er sieht seinen Auftrag als Schriftsteller darin, dieses Anderssein zu verteidigen, das nicht einfach nur ... Heimat-Nostalgie ist, sondern das Bewußtsein von einer andren Art , Deutscher zu sein. Prof. Dr. Claudio Magris in "Corriere della sera", Mailand.

 

 

Dieter Schlesak bewirkt durch Sprache etwas für den, der zu hören bereit ist. Er schreibt nicht nur sich frei. Er schreibt nicht billig. Dadurch schreibt er auch für andere. Seine Geschichte ist die von Tausenden Ost-Wst-Wanderern und Auswanderern. Sie ist dazu die Geschichte von denen, die Nazizeit, Krieg und Nachkriegszeit in Rumänien erlebt haben... die Geschichte von Verlusten, vom Auszug, vom Abschied, vom Bruch mit der Vergangenheit, vom Untergang der kleinen Inselwelt ... Unter solchen giftig-dramatischen Umständen und Ausmaßen, wie im Zwanzigsten Jahrhundert, ist das den Menschen auf der ganzen Welt wohl noch nie widerfahren." Prof. Dr. Andreas Möckel .

 

 

BIO-BIBLIOGRAPHISCHE DATEN

 

Albert, Michael. Siebenbürgischer Heimatdichter 1836-1893.

Althusser, Louis. Französischer marxistischer Theoretiker, 1918-1990.

Améry, Jean. Österreichischer Essayist, Häftling in Auschwitz, lebte in Brüssel im Exil, endete durch Selbstmord, 1912- 1978.

Arghezi, Tudor. Einer der bedeutendsten rumänischen Lyriker; 1880-1967.

Bacovia, George. Bedeutender rumänischer Lyriker 1881-1957.

Baudrillard, Jean. Postmodernistischer französischer Theoretiker, 1929

Baum, Oskar. Prager Romancier, schrieb als Blinder. 1887 -1940.

Bedners, Ursula. Siebenbürgische Lyrikerin, lebt in Schäßburg, geb. 1920.

Benjamin, Walter Essayist und Kulturwissenschaftler, von den Nazis verfolgt, endete auf der Flucht in Frankreich durch Freitod. 1892-1940.

Bergel, Hans. Siebenbürgischer Schriftsteller, geb. 1925.

Bermann, Fischer Gottfried. Verleger des S. Fischer Verlages, geb. 1897, lebt in Camaiore/Lucca.

Biagi, Enzo. Bekannter italienischer Journalist und Fernsehmoderator .

Blaga, Lucian. Rumänischer Lyriker und Philosoph, 1895-1961.

Blandiana, Ana.. Rumänische Lyrikerin, trat nach 89 auch als Politikerin hervor, geb. 1942.

Bohrer, Karl Heinz Literaturwissenschaftler und Essayist, geb. 1934.

Broch, Hermann. Österreichischer Romancier und Essayist, 1886-1951.

Brukenthal, Samuel von. Siebenbürgischer Landesgouverneur, 1721-1803.

Buzzatti, Dino. Italienischer Romancier, geb. 1906.

Caragiale, Ion Luca. Bedeutendster rumänischer Dramatiker, 1852-1912.

Caraion, Ion. Rumänischer Lyriker, starb im Exil in der Schweiz, 1923- 1985.

Celan, Paul. Bedeutendster deutscher Lyriker nach 45. 1920-1970.

Cioran, E.M. Rumänisch-französischer Essayist, geb. 1911.

Csejka, Gerhardt. Rumäniendeutscher Kritiker; geb. 1945.

Dinescu, Mircea. Rumänischer Lyriker, und wichtigster Disident um 1989, geb. 1950.

Drawert, Kurt. Ostdeutscher Schriftsteller, geb. 1956.

Eich, Günther. Deutscher Lyriker. 1907- 1972.

Eliade, Mircea. Rumänisch-amerikanischer Schriftsteller und Gelehrter. 1907- 1986.

Eminescu, Mihai. Rumänischer Nationaldichter, 1850-1989.

Endler, Adolf. Ostdeutscher Schriftsteller, geb. 1930.

Enzensberger, Hans Magnus. Westdeutscher Lyriker und Essayist, geb. 1929.

Fellini, Federico. Italienischer Filmregisseur, 1920-1993.

Fischer, Christine. Schweizer Schrifstellerin, geb. 1952.

Fondane, Benjamin (auch B. Fundoianu). Rumänisch-französischer Dichter und Essayist. 1898-1944. Ermordet in Auschwitz.

Franck von Franckenstein, Siebenbürgischer Sachsengraf, Dichter, Übersetzer. 1643-1697.

Fuchs, Jürgen. Ostdeutscher Schriftsteller, geb. 1950.

Gaus, Günther. Diplomat und Schriftsteller, geb. 1929.

Geltch, Johann Friedrich. Siebenbürgischer Lyriker, Herausgeber. 1815-1851.

Georgias, Johann. Siebenbürgischer Romancer des Barock. 1640-1684.

Glondys, Victor. Siebenbürgischer Sachsenbischof. 1882-1849.

Goma, Paul. Rumänischer Dissident und Romancier. Lange Jahre Haft, geb. 1935.

Grosz, Peter. Rumäniendeutscher Schrifsteller, geb. 1947.

Hajek, Egon. Siebenbürgischer Schriftsteller, Musikwissenschaftler. 1888- 1963.

Haltrich, Josef. Siebenbürgischer Volkskundler, Märchensammler. 1822-1886.

Haufs, Rolf. Westdeutscher Lyriker und Redakteur, geb 1935.

Heltmann, Heinz. Siebenbürgischer Botaniker, geb. 1932.

Hensel, Klaus. Siebenbürgischer Lyriker und Publizist, geb. 1954.

Hißmann, Michael. Siebenbürgischer Schrftsteller und Philosoph. 1752-1784.

Hodjak, Franz Siebenbürgischer Schriftsteller und Verlagslektor, geb. 1944.

Hoprich, Georg. Siebenbürgischer Lyriker. 1938- 1969. Freitod.

Husserl, Edmund. Deutscher Philosoph. 1859-1938.

Iaru, Florin. Junger rumänischer Schriftsteller. Angehöriger der Autorengruppe "Generation 80", geb. 1954.

Ionesco, Eugène.Rumänisch-französischer Dramatiker. 1912-1994.

Ionescu, Nae. Rechtsradikaler rumänischer Philosoph. 1890-1940.

Iorga, Nicolaie. Rumänischer Schriftsteller und Historiker. 1871-1940.

Iova George, Junger rumänischer Schriftsteller der "Generation 80".

Johnson, Uwe. Ost-west-deutscher Romancier. 1934- 1984.

Johst, Hanns. Rechtsradikaler deutscher Schriftsteller. SS-Brigadeführer, geb. 1890.

Kantza, Giuliana. Italienische Psychoanalyikerin, geb. 1944.

Kluge, Alexander. Westdeutscher Schriftsteller, Filmregisseur, geb. 1932

Kraus, Karl. Österreichischer Schriftsteller und Kritiker. 1874-1936.

Kronauer, Brigitte. Westdeutsche Schriftstellerin, geb. 1940.

Kundera, Milan. Tschechischer Romancier im Exil, geb. 1930.

Kunert, Günther. Ostwestdeutscher Lyriker, Essayist und Prosaautor, geb. 1929.

Lacan, Jaques. Französischer Philosoph und Psychoanalytiker, geb. 1901.

Lácustá, Ion. Junger rumänischer Schriftsteller, gehört zur Gruppe d. "Generation 8o."

Latzina, Anemone. Rumäniendeutsche Lyrikerin und Übersetzerin. 1942-1993.

Lefter, Ion, .Bogdan. Junger rumänischer Lyriker und Kritiker, Angehöriger der "Generation 80".

Lem, Stanislaw. Polnischer SF-Romancier und Theoretiker, geb. 1921.

Lenz, Jakob, Michael, Reinhold. Deutscher Schriftsteller und Dichter. 1752-1791.

Lichtenberg, Georg, Christoph. Deutscher Physiker und Schriftsteller. 1742-1799.

Lukács, Georg. Marxistischer Philosoph. 1885-1971.

Luxemburg, Rosa. Sozialistische Politikerin. 1870-1919. Ermordet.

Magris, Claudio. Italienischer Literaturwissenschaftler und Erzähler, geb. 1939.

Mallarmé, Stéphane. Französischer symbolistischer Lyriker. 1842- 1898.

Mannheim, Karl. Deutscher Wissenssoziologe, Ideologiekritiker. 1893-1947.

Marin, Mariana. Junge rumänische Lyrikerin der Gruppe "Generation 80", geb. 1956.

Martini, Fritz. Literaturwissenschaftler. 1909-1991.

Merleau-Ponty, Maurice. Französischer Philosoph. 1908-1961.

Moissi, Alexander. Bekannter Österreichischer Schauspieler. 1880-1935.

Noica, Constantin. Rumänischer Philosoph. 1909-1987.

Oberth, Hermann. Siebenürgischer Raketenforscher, "Vater der Weltraumfahrt".1894-1989.

Ortega y Gasset, Spanischer Kulturphilosoph. 1883-1955.

Otto, Rudolf . Deutscher Religionsphilosoph. 1869-1937.

Paler, Octavian. Rumänischer Journalist und Romancier der mittleren Generation aus Siebenbürgen.

Plath, Sylvia. Amerikanische Lyrikerin. Endete im Freitod. 1932-1963.

Plesu, Andrei. Rumänischer Kulturphilosoph. Erster Kulturminister nach 89, geb. 1948.

Porumbacu, Veronica. Rumänische Dichterin und Übersetzerin. 1921-1977.

Pynchon, Thomas. US-Amerikanischer Romancier, geb. 1937.

Raicu, Lucian. Rumänischer Kritiker im Exil.

Senkowski, Ernst. Deutscher Physiker, geb. 1922.

Sin, Mihai. Rumänischer Romancier, geb. 1942.

Söllner, Werner, rumäniendeutscher Lyriker, geb. 1951.

Solowjew, Vladimir. Russischer Philosoph und Dichter. 1853-1900.

Sorescu, Marin. Rumänischer Lyriker, Essayist, Dramatiker. Kulturminister, geb. 1936.

Hanibal Stánculescu.. Junger rumänischer Schriftsteller der "Generation 80".

Stánescu, Nichita. Rumänischer Lyriker. 1933-1984.

Dumitru Stániloaie. Bedeutender rumänischer Theologe. Starb 1993.

Steiner, Georg. Französisch-englischer Kuturphilosoph, geb. 1929.

Stoica, Petre. Rumänischer Lyriker, geb. 1932.

Strauß, Botho. Deutscher Romancier, Essayist und Dramatiker, geb. 1944.

Swedenborg, Emanuel. Naturforscher, Schriftsteller und "Kundiger d. Überwelt." 1688-1772.

Tánase, Stelian. Junger rumänischer Schriftsteller. Zeitweilig Chefredakteur der Zeitschrift "22".

Tzara, Tristan. Rumänisch-französischer Dichter, Mitbegründer des Dadaismus. 1896- 1963. Ujicá, Andrei. Rumänischer Kommunikationswissenschaftler und Schriftstller im Exil. geb. 1951.

Urmuz, Rumänischer Schriftsteller. Vorläufer des Surrealismus. Endete im Freitod. 1877- 1923.

Virilio, Paul. Französischer Urbanist und Medientheoretiker, geb. 1923.

Wagner, Richard. Rumäniendeutscher Lyriker, Romancier und Essayist, geb 1952.

Walser, Robert. Schweizer Lyriker und Erzähler. 1878-1956.

Weizsäcker, Carl, Friedrich v. Physiker und Philosoph, geb. 1912.

Wittgenstein, Ludwig. Österreichischer Philosoph. 1889-1951.

Wittstock, Joachim. Rumäniendeutscher Lyriker, Prosaautor und Literaturwissenschaftler, geb.1939.

Wladislaw II. König von Böhmen und Ungarn. 1590-1516.

Wolf, Christa. Bekannte ostdeutsche Schriftstellerin, geb. 1929.

Zwetajewa, Marina. Russische Lyrikerin und Essayistin. 1892-1941. Endete im Freitod.

 

 

 

 

 

 

 

PERSONENREGISTER

 

Adorno, Th.W. 222

Albert, R. 169; 207

Albert, M. 191; 193

Althusser, L. 107

Altwegg, J. 110

Améry, J. 77

Arghezi, T. 51; 131; 210; 215

Augustinus, 84

Bacovia, G. 51; 129

Balibar, E. 108; 111

Baudelaire, Ch. 16

Baudrillard, J. 16; 21; 177

Baum, O. 106

Bauman, Z. 160

Baumann, M.161

Beckett, S. 101

Bedners, U.153; 198

Belinski, 54

Benjamin, W. 16; 24; 34; 54; 57; 132; 219; 223

Bergel, H. 174

Bermann, G. 82; 87

Biagi, E. 59

Blaga, L. 16; 51; 52; 175

Blandiana, A. 61

Blumenberg, H. 99; 160

Bohrer, K.H. 79; 84

Borges, J.L. 20

Brandsch, H. 200

Brecht, B. 210

Broch, H. 175

Brod, M. 91

Brukenthal, S. 192

Buzzatti, D. 215

Capesius, V. 169; 173; 174

Caragiale, I.L. 21; 51; 53

Caraion, I. 211

Cartesius, 114

Celan, P. 35; 54; 87; 98; 149; 150; 152; 155; 210; 216; 229

Chardin, Th de 99

Cioran, E.M. 11; 50; 51; 129; 131; 215

Cramer, S. 97

Croce, B. 54

Crohmalniceanu, S. 68

Csejka, G. 150; 151

Danton, G. 35

Dinescu, M. 22; 60; 61; 65

Döring, B. 86

Dostojewski, F. 54

Drawert, K. 215

du Prel, Ch. 82

Dürrenmatt, F. 60

Eco, U. 215

Egyptien, J. 17

Eich, G. 11

Eichmann, A. 96

Einstein, A. 134

Eliade, M. 16; 50; 51; 54

Elias, N. 34

Eminescus, M. 51

Endler, A. 120

Enzensberger, H.M. 177

Ernst, F. 196

Evard, J.-L. 21

Fellini, F. 62

Fischer, Ch. 76

Fondane, B. 129

Franck von Franckenstein, 191

Freud, S. 86; 111; 116; 177; 220

Fuchs, J. 19

Fundoianu, B. 215

Gasset, O. y 54

Gaus, G. 95

Geltch, F. 192

Georgias, J. 192

Gide, A. 65

Giotto, di B. 36

Glondys, V. 204

Goethe, J.W. 120; 131

Goetz, R. 230

Goma, P. 18; 22; 53; 211

Grosz, P. 94

Gründgens, G. 175

Hajek, E. 197

Haltrich, J. 190

Handke, P. 10; 211

Haufs, R. 97

Hauptmann, G. 195

Hegel, G.F.W. 117

Heidegger, M. 86

Heltmann, H. 207

Hensel, K. 152; 202; 215

Hißmann, M. 192

Hitler, A. 174; 175

Höchsmann, F.S. 197

Hodjak, F. 150; 151; 202; 215

Hofmannsthal, H.v. 84; 149; 216

Hölderlin, F. 17; 36; 128; 152

Hoprich, G. 152

Huchel, P. 99; 152

Husserl, E. 119

Iaru, F. 24

Ibsen, H. 195

Iliescu, I. 17

Ionesco, E. 21; 23; 35

Ionescu, N. 50

Iorga, N. 194

Iova, 21

Johnson, U. 97

Johst, H. 177

Joyce, J. 215; 223; 230

Jünger, E. 84; 176

Kafka, F. 16; 22; 87; 149; 210

Kamper, D. 21

Kant, I. 44; 114; 156

Kantza, G. 114

Kästner, V. 196

Kelpius, J. 190

Keßler, S. 192

Kierkegaard, S. 84; 114; 117; 222

Kirchner, H. 196

Kleist, H. v. 121; 122

Klingsor, 190

Klöss, H. 85

Kluge, A. 84; 177; 215

Konradt, E. 150; 151

Krasser, F. 192

Kraus, K. 64; 149; 191

Kronauer, B. 215

Kundera, M. 20

Kunert, G. 97

Lacan, J. 111

Lácustá, I. 21

Lassel, R. 196

Latzina, A. 86; 153; 209

Lavater, J.K. 192

Lefter, I.B. 18

Lem, St. 215

Lenin, W. I. 17; 111

Lenz, M. R. 36

Lenz, H. ; 87

Leonhardt, J. 196

Lichtenberg, G. Ch. 98

Lienert-Zultner, G. 196

Lippet, J. 149

Lukács, G. 53; 116; 158; 210

Luther, M. 84

Luxemburg, R. 36

Lyotard, J.F. 220 ff.

Magris, C. 150

Mallarmé, St. 222

Maly-Theil, Ch. 196

Mann, K. 175ff

Mannheim, K. 54

Marienburg, G.F. 193

Marin, M. 18

Maritaine, J. 69

Marlin, J. 192

Martini, F. 88

Marx, K. 54; 84; 107; 111; 112; 114; 116; 117;127; 210

Maupassant, G. de 215

Mauthner, F. 149

Melas, H. 194

Merleau-Ponty, M. 119

Meschendörfer, A. 193; 197

Miles, M. 191

Möckel, G. 169; 174

Möckel, A. 172; 174; 212

Moise, A. 175

Mörike, E v. 38

Moses, 227

Müller, 149; 151; 190; 202; 215; 229

Musil., R. 22

Nassehi, A. 157

Nestroys, J. 149

Neustädter, E. 197

Nietzsche, F. 84; 122; 216

Noica, C. 16; 22; 27; 53; 215

Nordhofen, E. 220

Notzik, R. 223

Oberth, H. 41; 200

Otto, R. 83; 229

Ovid, P. N. 85

Paler, O. 22

Pannenberg, O. 156

Parmenides, 97

Pastior, O. 152; 153; 202; 209; 215

Plath, S. 103

Platon, 118; 219

Plesu, A. 22; 61

Pomarius, A. 175; 195; 198; 200; 202

Porumbacu, V. 211

Prel, Ch. 82

Proust, M. 108

Pynchon, Th. 220; 230

Radish, I. 120

Raicu, L. 65; 68

Rembrandt, v. R. 155

Rickert, 54

Rilke, R.M 149; 210

Roth, St. L. 37; 192

Rousseau, J.J. 71

Rytman, H. 113

Samson, H. 154

Sartre, J.P. 117; 119; 16; 112

Savonarola, G. 223

Schesäus, Ch. 191

Schneider, K.F. 150; 153

Schönbergs, A. 223

Schuster, P. 190; 211

Seiler, H. 150; 153

Seivert, G. 192

Senkowski, E. 215; 229

Shakespeare, W. 215

Shelley, P. B. 97

Sin, M. 20; 63; 215

Sokrates, 55; 98

Söllner, W. 76; 151; 152; 154; 202; 215

Solowjew, W. 54

Sorescu, M. 17

Spinoza, B. 116; 127

Stánculescu., 20

Stanescu, N. 18; 211

Staniloaie, D. 52

Steiner, G. 132; 222; 223

Stern, I. 149

Stoica, P. 22

Strauß, B. 156

Swedenborg, E. 44

Tánase, St. 22

Teutsch, G.D. 193

Thales, v. M. 133

Thallmann, M. 37

Thather, M. 43

Thomas von Aquino, 119

Thukydides, 97

Thullner, E. 196

Traber, B. 76

Tzara, T. 21

Ujicá, A. 62

Urmuz, 21; 51

Virilio, P. 215; 223

Wagner, R. 20; 53; 93; 149; 151; 202; 215

Waitz, B. 153

Walser, R. 108

Weber, G. 157

Weiss, P. 177; 220

Weizsäcker, C.F. v. 17; 44; 120; 128; 156; 215

Wichner, E. 149; 150; 152

Wittgenstein, L. 114; 149; 223

Wittstock, E.. 169; 171; 175; 197

Wittstock, J. 45; 152; 153;170; 199

Wladislaw II,, 37

Wolf, Ch. 151

Wolff, C. 197

Ziegler, R. 195; 197; 207

Zillich, H. 174; 175; 197

Zwetajewa, M. 155

 

20.1.95

 

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