ZEITBRUCH

Über Kulturschock. Psychologie des Weltwechsels und die Exilproblematik

Zu Paul Celan Paul Celans "Wahn-Sinn" - Leid und Erkenntnis eines millenaren Zeitbruches

E.M. Cioran und die negative Mystik

Essays, Sendungen und unveröffentliche Briefe Emile Ciorans an Dieter Schlesak (Archiv):

Eine Horde von Verzweifelten

 

Begegnungen mit E.M. Cioran

 

Briefe

 

Bio-Bibliographie zu Dieter Schlesak und Stimmen der Kritik. Sekundärliteratur

 

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Kulturschock. Psychologie des Weltwechsels. Exil

Identität und Emigration

2, 3, 4, 5

Sprache, Heimat, Fremde

Gespräch mit S. Sienerth

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IDENTITÄT UND EMIGRATION

 

1

Von Marina Zwetajewa, der russischen Lyrikerin stammt ein erhellendes Wort: Bce poety jidy - alle Dichter sind Juden, d.h., sie bleiben immer Fremde und sie gehen einem Handwerk nach, das, laut Paul Celan, keinen Goldenen Boden, sondern überhaupt keinen Boden hat. Identität gibt es also für diese "Fremden" nur punktuell, nämlich im Augenblick der inspirierten Selbstherstellung via Schreiben, nach diesem Augenblick ist jeder dieser Ausgesetzten und Gefährdeten wieder entlassen und neu dem Vakuum ausgesetzt. Emigrierte Autoren spüren diese beiden Zustände: Punktuelle Identität der Inspiration und Entlassensein oder Verlassensein besonders intensiv. Und jene, die eine Diktatur hinter sich haben, dann beim Systemwechsel einen Kulturschock erleiden, dürfen als besonders Auserwählte der Identitätskrise angesehen werden.

Im Herbst 1968 hatte ich diesen Weltwechsel vollzogen und ihn in meinem ersten, im Westen erschienen Buch, "Visa. Ost West Lektionen" beschrieben:

"Brüssel oder die Irrealität. Die Aufregung steigerte sich, als das Flugzeug in Richtung Brüssel vom Bukarester Flughafen abhob. Ich glaubte zerspringen zu müssen. Bis zum letzten Augenblick dachte ich an ein Versehen, an Irrtum: Ich werde mit Sicherheit noch zurückgeholt. Der Flugkapitän wird Order erhalten Der Major an der Paßkontrolle. Doch der sah mein schwitzendes, hektisches Gesicht nur prüfend an und gab mir lächelnd die Papiere zurück. Wußte der, was in den Leuten hier vorgeht, die durch seine Sperre gehen müssen? Ein guter Job, so den ganzen Tag gewissermaßen auf der Grenze zu sitzen. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich bequem in der nach Westen fliegenden ,Iljuschin` saß. Meine beiden Kollegen, die mit von der Partie waren, schienen ähnliches zu empfinden: eine quecksilbrige nervöse Bukarester Autorin, die schon ein paarmal im Westen gewesen war, und ein rumänischer Poet, der nach achtjähriger politischer Haft zum erstenmal einen Paß erhalten hatte. Er reagierte auf alles wie ein großes Kind."

"Brüssel war die erste Station. Darauf ein Freiheitsnachmittag. Und eine blitzende, glitzernde Umwelt, Halle des Airport. Die eleganten Leute. Fremd, kühl, aber zugleich dynamisch - und wie Traumrealität; alles aus einem merkwürdigen Stoff, für den meine Sinne taub, die Wahrnehmung anscheinend unzureichend war, jedenfalls empfand ich nichts, nahm nichts wahr, sondern registrierte nur. Nun war es also so weit, wir konnten hinter den Streifen gehen, der in uns jahrelang nur von Illusionen bewohnt worden war (...) Große Unsicherheit überkam mich auf diesem fremden Planeten, einem Glasplaneten, dachte ich. Er roch nach nichts, es schmeckte nach nichts. Und vor den Augen schienen Fliegen zu schwirren; wie auf einer Mattscheibe, oder wie im Kino war alles. Das ergab eine Welt, wo ich erfahrungslos ankam; ich hatte noch keine Gewohnheiten und Erinnerungen (...)

Alles hastete, schien keine Zeit zu haben, etwas Eiliges tun zu müssen. Als könnten auch diese gutgekleideten Leute ihr Schicksal nicht annehmen, anders als die Leute bei uns zu Hause, die einfach dasitzen können, Kaffee trinken, reden, reden, Zeit "verlieren". Als hätten die hier eine Droge, ein Gift in sich, die sie so zappeln ließ. Manche hatten tote Fischgesichter. Zappelten an einer unsichtbaren Angel. (...) Ich wiederholte in Gedanken dauernd meinen Spruch : Nun aber, sieh, bist du wirklich hier ! Doch es klaffte ein Abgrund zwischen meiner Vorstellung und dem, was hier auf mich zukam; ich wartete verzweifelt, daß nun endlich das Objekt meines Erstaunens einträfe, aber nichts traf ein. Alles blieb ruhig, alltäglich, auch diese Straße mit den gelben Taxen und gelben Polizisten, es gab Nebel nämlich an diesem Tag in Brüssel. Pissman. Die reichen Geschäfte. Rembrandt van Rijn."

Schon in "Visa Ost West Lektionen" hatte ich den ersten Schock so beschrieben:

"Was würde geschehen? Eine große Unsicherheit bemächtigte sich meiner, ähnlich jener, die man in fremden, großen Städten empfindet, hier noch um eine Dimension, die des Geisterhaften, gesteigert. Wir hatten einen andren Planeten betreten. Es bringt schlaflose Nächte, wenn man noch nichts selbst setzen kann. Und eine Welt hatte sich nun aufgetan, wo es noch keine Erinnerungen für mich gab. Stark meinen Emotionen ausgeliefert, bewegte ich mich wie auf Eiern und hatte Angst, etwas zu zertreten, etwas zu zerbrechen, vielleicht meine eignen Vorstellungen von dieser Welt, die sich nun als Realität anbot, zu der es aber für mich unmöglich war hinzukommen; mein eignes Bild von ihr stand wie eine Isolierschicht dazwischen. Die Imagination von dieser Stadt und ihre Wirklichkeit klafften weit auseinander.

 

Dieser Zustand prägte mich viele Jahre lang. Doch dazu noch einige ketzerische Gedanken, vor allem aus der Literatur, die vielleicht, wie schon aus diesem Text zu ersehen ist, die ganze Identitätsdebatte fragwürdig macht, die Frage nämlich, ob nicht eher von Non-Identität und nicht von Identität als menschlichem Normalzustand ausgegangen werden müßte, soziale Identität aber fragwürdige, wenn auch überlebensnotwendige Anpassung an Rollenverhalten ist. Jeder, der sich selbst erfährt, weiß von den täglich aufoktroyierten Voreingenommenheiten, und empfindet eine Kluft zwischen der "Maske", der gelebten Person, dem kritischen Bewußtsein und dem Gewissen. Ein altes Problem der Literatur. Leben im Urteilsstreit, da die innere Stimme und das "Überich" weitgehend verloren gegangen sind, verschüttet, betäubt vom schnellen Rhythmus dieser Großstadtzivilisation.

Doch genau dieses Phänomen der Auflösung bringt nicht nur die erwähnte Non-Identität mit sich, sondern entmythifiziert das gesamte Identitätsproblem, wirft die Frage auf, ob es nicht vielleicht überhaupt in eine vergangene Zeit gehört. Botho Strauß hat in seinem Essay-Band "Beginnlosigkeit" zu diesem Zustand eines Überich und Gewissensdefizits, zu bedenken gegeben, daß es nur "geringer biochemischer Reize" bedürfe, und daß die "körpereigenen Stimulanzien" aus uns einen "anders erinnernden, anders gestimmten, anders sich fassenden Menschen!" machen. "Angst und Glück, Ruhe und Zorn, schließlich auch das Empfinden für Gut und Böse: körpereigen selbsterzeugt sind." Dieses sei " in der Geschichte seiner Abgründe ein neuer Sturz des Ich."

So einfach ist es freilich nicht. Man kann die Tradition dieses Begriffes nicht außer Acht lassen. So fand ich bei einem Theologen, bei Wolfhart Pannenberg, Meditationen zur Antizipation und Entelechie, sowie daran gebundene Überlegungen über das Unendliche; Pannenberg versucht an eben diese Vorläufigkeit des Identitätskonzepts, um diese Krise gelinde auszudrücken, anzuknüpfen. Dabei ging er, um den heutigen Traditionsbruch besser zu begreifen, eben von der Tradition aus: vom empirischen und transzendentalen Ich der Subjektlehren Hegels und vor allem von Kants Synthese des Mannigfaltigen und Einheit der Vorstellung aus, um das Ich in der Perspektive eines Gesamt-Lebenshorizontes und seiner Perspektiven zu sehen, so der Zersplitterung heute besser beizukommen. Anknüpfend an William James und Kant sieht Pannenberg das Ich als momentanen Querschnitt des Bewußtseinsstromes: "Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich" - Person. Das Ich also als "Instanz", wie es auch C. F. von Weizsäcker sieht, seine unendliche Transzendenz.

2/

Ich komme nun zu Punkt 2, dem Kernpunkt dieser Arbeit: zur Frage nämlich, wie sich interdisziplinär die erfahrungsbeschreibenden Texte der LITERATUR mit der identitätserforschenden SOZIOLOGIE ins Gespräch bringen ließe. Es wird dabei letztlich doch so sein, daß ich den von den Soziologen erarbeiteten Rahmen übernehme; und ich möchte der Einfachheit halber, aber auch weil mich die Texte von Georg Weber und Armin Nassehi sehr angesprochen haben, diese Texte zum Ausgangspunkt nehmen. Ich setze mit ihrer Hilfe meine Erfahrungen und mein Material einer Alchemie aus, stelle sie in diesen Rahmen, wobei ich hoffe, daß eine Durchdringung stattfinden wird, die auf die Dauer nicht einseitig bleibt, sondern beiden Teilen "interdisziplinär" eine Ausweitung des Horizontes ermöglicht. Ich habe diese Arbeiten mit Faszination wiedergelesen, als gäbe es hier nun ein neues Begriffsarsenal, Definitionen für Zustände und Abgründe, die die Literatur unmittelbar beschreibt, als wäre sie das konzentrierte Leben selbst. Dieses ausformulierte Begriffsarsenal, das von Niklas Luhmann u.a. übernommen und auf die Emigrationsthematik, auf ein ausgeweitetes Identitätskonzept etc. übertragen und analytisch angewandt wurde, kommt so meiner eigenen Erfahrung, nun von der theoretischen Seite, entgegen, vor allem in zwei Punkten:

1.) Die wichtige Rolle des "selbstreferenziellen" Subjekts in der modernen Gesellschaft.

2.) Das angeschärfte Bewußtsein eben dieses Subjekts durch Emigration.

Ich versuche einige Anknüpfungspunkte zu beschreiben:

Zuerst zu Punkt 1: Die "selbstreferenziellen Subjekte" in einem Umgebungsvakuum des westlichen Systems. Oder die INKLUSION.

a) Im Westen geht es um die sogenannte "universelle Inklusion" (idealisiert als Freiheit und Gleichheit) ; sie ist Inklusion in "alles", aber ohne "vorreguliert" zu sein, und eigentlich eine Exklusion, eine Art Wahnsinn, zu allem und nichts zugehörig zu sein. Das läßt sich mit aufgeschriebener und verarbeiteter eigener Erfahrungen, also mit literarischen Textstellen und mit Beispielen erzählend "dokumentieren" .

Hier einige Proben dazu; zuerst, verdichtet, eine lyrische Aussage zu dieser entfremdenden "Inklusion" einer völlig abstrakt gewordenen Zivilisation, die paradoxerweise einem luxuriösen Gefängnis der Freiheit ähnelt, wo die Türe andauern offen steht, doch wo es aus inneren Zwängen und äußerer Chronokratie unmöglich ist, die Schwelle dieses geschlossenen Raumes zu überschreiten:

 

"Was öffnet sich, ich schrei vor Leere, bin lebend

längst wie jener Baum / von innen kränker noch als ein Gedanke,

der überlebt und stimmt sich ein.

Und redet unter dieser Silbe, war Jetzt

mit ihnen, ein Gewisper, wenn lang

schon nichts mehr ist. Die Sonne aber scheint.

 

Ein wenig Kälteschock. Treibhauseffekte. Und alles

schon, als wärs ein Sonntagsfilm auf einem Bild-

schirm , sieh, der GILBBRT in Jamaika

 

will schneller sein als Luft und Schall.

Die Eigenzeit ist iiberspielt. Kein Ding mehr

darf es selber sein. Ein Flugzeug hängt dort

 

hoch in einem Baum, denn die Erkenntnis

hat's ihm beigebracht. Wir sind schon bei den Toten.

Der letzte Rauch vergeht. Fertig gemachte Ideen

entweichen/ als Treibgas durch ein Loch

zu Niemandem mehr als / Gott."

 

"Wer zwingt mich, den Zufall auszuklammern, von dem allein es sich leben läßt? Meine Reise sollte ich am besten: Reise durch den verlorenen Zufall nennen, weil in mir kaum noch ein Ort der Freiheit verblieben ist, obwohl anscheinend ungeheuer viel davon auf der Straße liegt.

Eine Reise sollte man eigentlich wie ein Gedicht behandeln, wo es noch Zwischenräume gibt! Doch das ist unmöglich. Die Verwaltung der Welt wird immer mehr davon verdrängen. Lächerlich dagegen einen `lyrischen` Augenblick setzen zu wollen, der intensiv ist, weil er Zeit braucht. Weshalb habe ich hier kein einziges Gedicht geschrieben? Ist die `innere` Zeit erstickt? Diktatur der Sachen! Wo bleibt das Individuelle in dieser auf persönliche Freiheit bedachten Welt? Der Zufall kann nicht rationalisiert werden, er entgeht der Abstraktion. Alles wirkt wie ein Alptraum, doch wie ein gemachter.

Zeit ist Geld. Ich habe keine Zeit. Immer wieder hört man diese verräterische Floskel. Und es ist so: hier hat niemand Zeit. Merkwürdig, daß das alle so einfach hinnehmen als sei es in Ordnung. Bei uns im Osten ist Zeit genügend da, man kann sich auf Kosten der Gesellschaft mit Zeit bereichern, sich drücken. Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast. Und nach Plotin ist Zeit das Leben der Seele.

Die Zeit verliert ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter, sie erstarrt zu einem umgrenzten quantitativ meßbaren, von "Dingen" (den von der Person abgegrenzten "Leistungen") erfüllten Kontinuum: zu einem Produktionsraum. (Lukács).

Naturerlebnis, persönliche Entwicklung, individuelles Lebensrecht? Nichts mehr fließt, alles erstarrt. Mumien, Masken, von der äußeren Kontaktfreudigkeit eines Barmanns, einer Sekretärin; Höflichkeit, Routine: auch das Benehmen wird Geschäft, berechenbar.

Alle Leute scheinen gestorben. Nichts ist lebendig. Sie sitzen in ihren Glaskabinen. Glas, Glas, Glasscheiben.

Wieso diese große Sehnsucht nach Bukarest? Jahrelange Sehnsucht: aus dem Lande fortzukommen, und nun ist es mir ganz egal, ob sie mich wieder herauslassen oder nicht.

Impuls: sich sofort in den Zug setzen und zurück.

Der Staat rechnet damit!

Superkünstliche Gebrauchswelt bis in die Landschaft. Weshalb diese Sucht hier nach Sichtbarkeit (man nennt`s Konkretheit? Abstrakte Sichtbarkeit: Fernsehen. Flugzeug; Rasen. Das Bild, eine Verfallserscheinung. Bildliche Kultur bis zum Kitsch. Erstarrung, Maskerade, Glitzern. Weil nichts mehr durch schöpferische Arbeit hergestellt wurde, sondern am Fließband und nicht für Dauer, sondern "funktional". So entsteht eine geisterhafte Marionettenwelt, starr und verchromt. Alles liegt auf der Hand. Gebrauchsgegenstände haben keinen Wert, nur Konsumwert. Zeitverlust ist Traditionsverlust, Geschichtsverlust, Erinnerungsverlust, Amnesie! Nur der Augenblick gilt (Alles wird schnell weggeworfen!).

Das Unbehagen am Leben ist hier stärker, obwohl ich "frei" bin. Schizophrenie auch in der Kunst. Der Raum ist austauschbar, die Zeit aber ist nicht reversibel..."

b) Wie verlaufen diese zersplitterten Perspektiven, die sich oft nicht berühren, sondern absurd ausschließen und verwirren im gesellschaftlichen Leben: "Teilsysteme" bilden? Ulrich Beck schreibt:

"Alles, was in systemtheoretischer Perspektive getrennt erscheint, wird zum integralen Bestandteil der Indvidualbiographie: Familie und Erwerbsarbeit, Ausbildung und Beschäftigung, Verwaltung, Verkehrswesen, Konsum, Medizin, Pädagogik usw. Teilsystemgrenzen gelten für Teilsysteme, aber nicht für Menschen in institutionsabhängigen Individuallagen (...) Die Teilsystemgrenzen gehen durch Individuallagen hindurch."

 

c) Also wäre wieder ein Universalmensch wie in der Renaissance nötig? Das ist kaum möglich bei der Zersplitterung heute. Doch das Selbst, das Subjekt allein kann in einer "Selbstreferenz", wie die Soziologie es nennt: in einer anstrengenden Seelenarbeit "bündeln". Ist die Aufgabe des Schriftstellers heute also von neuer Bedeutung? Und dies gerade heute: Ist das Subjekt heute wieder außerordentlich wichtig, die Person, der Einzelne, die Ich-Identität als "selbstreferenzielle" Eigenleistung? "Synthesen, die sich nur im Einzelnen" vollziehen können?

Historisch hat sich diese Eigenleistung vor kurzem sogar kollektiv gezeigt, und zwar in der Wende von 1989, die von Millionen Einzelnen erzwungen wurde. Es kam in dieser Revolte etwas Zeitgemäßes hoch, das die eingesperrte und kontrollierte alte Wirklichkeit überschritt: im Osten von einer Gemeinschaft von Einzelnen getragen, mit einem Pathos der Gewaltlosigkeit, der Nichtaggression und ohne Invektiven. Es war eine Art "Übergewalt" hemmungsloser Selbstverschwendung, das Gegenteil des herrschenden Prinzips Zeit und Nützlichkeit; souverän setzten sich die Aufständischen über alle Rücksichten hinweg, sogar das eigene Leben nicht achtend - ein Aufstand der menschlichen Natur, die anderen Ordnungen angehört als der sozialen. Als wäre diese Explosion der menschlichen Natur der delegierte und kompetenteste Ausdruck in der gewaltigen Insurrektion gewesen, die heute die Natur auf unserer Erde wider ihre Vernichtung und gegen das technokratische System der totalen Machbarkeit führt.

Solch ein Durchbruch in den vielen Einzelnen geschah auch im Dezember 89 in Kronstadt, ein Augenzeuge, Matthias Pelger, Kronstädter Stadtpfarrer, weiß davon zu berichten, und er hatte aktiven Anteil an einem Phänomen, das jeder Massenpsychologie Hohn spricht: Die Masse war schon dabei das Gebäude der Sicherheitspolizei zu stürmen, von wo aus Maschinengewehre auf sie gerichtet waren, da zog sich Pelger an einem Zaun hoch auf eine Brüstung und rief in die Menge: Ich bin der Pfarrer der Schwarzen Kirche, bitte keine Gewalt, wenn ihr wollt, daß Gott uns helfen soll, müssen wir nach seinen Gesetzen handeln, sonst sind wir allein. Es wurde still, wie ein Wunder in diesem Tumult ... Ja, hörte ich die Leute sagen, es ist der Pfarrer der Schwarzen Kirche, es ist ein ernster Mann, was er sagt, stimmt. Und wieder knieten alle nieder.

Das alles war nur ein kurzer Geschichtsaugenblick der Öffnung Die Ressourcen im Einzelnen bleiben bestehen, der Autor geht, sollte jedenfalls damit umgehen und nicht mit artistischer Wortkunst im abwesenden Raum.

 

3/

Aber wichtiger noch als die "Inklusion" scheint mir die "Exklusion" zu sein. Ich zitiere dazu eine eigene Erfahrung bei einer Bauernhochzeit aus meinem Roman "Vaterlandstage":

"Bei Tisch saß ich neben William, dem Londoner Friseur (...) Der kleine, vergrämt blickende Friseur und sein liebenswürdiger, zwar etwas angegrauter, doch immer noch recht hübscher Sunnyboy mit den blanken dunklen Augen und dem besonderen Charme, waren eben aus Miami Palm Beach, wo sie einen Friseurladen besaßen, zurückgekehrt; sie haben wie wir ein Haus hier. Er sei angegriffen, sagte William und sah mich mit seinen sanften müden Augen an: von der Langeweile der Millionäre und Milliardäre angegiffen. Er redete auf mich ein, weil er keinen Sinn mehr in seinem Leben sehe. Am liebsten würde er auch das Haus in C. verkaufen, abhauen. Aber wohin? Denn genauso grause es ihm, in London oder in New York zu leben. Die Freunde in New York habe er gar nicht erst besucht, er sei ohne Zwischenaufenthalt von Miami gleich nach London geflogen, er habe sich aber auch dort schlimm gelangweilt mit den Freunden. Dann sagte ich zum unglücklichen Friseur, der mit traurigem Hundeblick vor mir saß: Sieh, dies junge Paar, das jetzt heiratet, hat es doch viel besser als wir, auch die Bauern alle, die leben und zweifeln nicht: Alles ist noch festgefügt und fraglos da, als gäbe es gar nichts anderes - und ist schon eingefahren seit langem. Da muß nicht jeder an seinem Leben basteln, das kriegt er fertig geliefert, samt der Armut und dem Unglück, ein enges Korsett, da schlüpft man rein; mit wenigen Bruchstellen von der Wiege bis zur Bahre. Das kostet nicht diese Anstrengung wie bei Leuten, die sich das alles selbst machen müssen, wie wir - dauernd im Gegentakt, daher immer in Zeitnot und mit aufreibenden Schuldgefühlen. Und dies sei überhaupt das Thema meines Buches, in dem wir uns jetzt gerade befinden - bemerkte ich; er verstand nicht."

 

Trotzdem möchte ich nicht tauschen, auch wenn eine gewisse Nostalgie und Zwiespältigkeit da ist, ich an den verlorenen festen Boden in Siebenbürgen zur Zeit meiner Kindheit zurückdenke, der, wie sich erwiesen hatte, kein fester war. Auch kann ich der traditionellen unfreien Menschmaschine des Sozialen, jenem zoon politikon letztlich nur Horrorgefühle abgewinnen, ich bin froh diesen "Sicherheiten" und "Behütetheiten" entronnen zu sein und gebe mir Mühe, dem Zwang meiner Biographie zu entkommen. Jene enormen Schwierigkeiten des gegenwärtigen innern Zeitaufbaus, von dem vorhin in meinem Romanfragment die Rede war, und den das nach-moderne Individuum zu leisten hat, wird von Armin Nassehi so beschrieben:

 

"Selbstentfremdung bedeutet in diesem Zusammenhang also, daß soziale und zeitliche Komplexität immer weniger von außen in die Lebenszeit importiert werden kann und sich damit eine Umstellung von rein fremdreferenzieller Verortung der Person auf selbstreferenzielle Selbstbeschreibung ankündigt.

Der gesellschaftsstrukturelle Hintergrund dieser kurz dargestellten Entwicklung hin zu einer stärkeren Differenz von Lebenszeit und Weltzeit (Blumenberg) (...) läßt sich an der veränderten Inklusionsform ablesen, die im Laufe der Modernisierung der Gesellschaft zu einer völlig neuen Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Person geführt hat (...) Vormoderne Hochkulturen (konnten) die Identität der Person dadurch sichern (...) , daß sie Lebenszeit und soziales Prozessieren parallelisieren und damit aufeinander abbilden konnten. Funktionale Differenzierung dagegen erlaubt eine solche eindeutige Zuordnung nicht mehr."

 

Die Schwierigkeit solch einer Differenzierung, also gleichzeitige Teilhabe an vielen sich ausschließenden, unüberschaubaren Teilbereichen der Gesellschaft, die aber das Ich alle zu einer Synthese bringen muß, ist eine stresshafte Zeit- und Lebensleistung, Spezialist in allem zu sein: Autofahrer, Produzent, Wahlbürger, Computerbenutzer, Reisender, Kontobenutzer, Faxbenutzer, Familienvater, Rechtssubjekt, Steuerbürger, Bootsbesitzer etc.etc. Die modernen Individuen stehen:

 

"(...) zwischen den funktional spezifischen Teilbereichen der Gesellschaft müssen die verschiedenen funktionalen Semantiken, die bisweilen völlig inkompatibel und kaum `übersetzbar` sind , über ihre eigene Selbstreferenz sinnhaft miteinander verbinden. Also nicht die bloße Zugehörigkeit zu einem sozialen System sichert Identität, sondern die je individuelle Selbstbeschreibung der Person im Wirkungsbereich verschiedenster gesellschaftlicher Ansprüche."

Und selbstkritisch könnte ich hinzufügen: vielleicht ist das Ausnützen dieser möglichen Zwischenschaft eine neue Fluchtlinie, eine Art Genuß im Inkognito, das befreit. Möglicherweise läßt sich hier im Labyrinth der neuen "Selbstreferenz" eine Art Schuld des Sich-Versteckenkönnens, um sich jeder Verantwortung und Bindung zu entziehen im schwebenden Dazwischen, wo sogar Genuß in der "Erlebnisgesellschaft" zu einer Art Pflicht wird, die das Ganze aufrechterhält. Das Resultat ist nicht unproblematisch und kann Bindungs- und Schicksalslosigkeit bedeuten, das Individuum überfordern. Der Soziologe Zygmunt Bauman, Professor an der Uni Leeds, behauptet:

"Wir sind alle Landstreicher", und analysiert die Moral im "Zeitalter der Beliebigkeit": "Die Postmoderne ist der Punkt, wo das moderne Freisetzen aller gebundenen Identität zum Abschluß kommt: Es ist jetzt nur zu leicht, Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des höchsten Triumphs muß Befreiung erleben, daß sie den Gegenstand der Befreiung vernichtet hat. Freiheit wird zur Beliebigkeit, bindungs- und verantwortungslos. Alles, was ist, ist bis auf weiteres."

 

Vorläufigkeit als Pendant zur Wegwerfkultur. Dieses wurde früher einmal in der Kultur- und Literaturkritik als Dekadenz bezeichnet. Man kann freilich diese Kunst des Verschwindens hinein in die Leere und Bodenlosigkeit auch als positive Nichtsherstellung im Sinne etwa der Religionen, der Mystik sehen. Ich möchte dazu ein eigenes Emigrantenlied zitieren, das versucht beides zu verbinden:

 

GENAU DIES WEISS ICH NUN NACH SIEBEN JAHREN:

Zuhause kann ich sein

Nur hier - im Flug. Als wär ich damals in der Luft,

Und schwebend zwischen meinen Vaterländern,

Trotz all der Schüsse auf der Grenze stehengeblieben.

 

Ein Vogel aber bin ich nicht.

Der Grüne Wagen blüht mir. Doch ich wollt ein Haus.

Gern wär ich nur ein Bürger, - bin sein Waisenkind.

Ich lieb die Länder, Orte, Frauen nur,

Wenn ich die Freiheit auch zum Abschied hab;

Nur in der bitteren Flucht und ungeschützt -

Im Freien kann ich Zeit erfahren :

Die Zeit der Zeit, - Vorläufigkeit.

In all den Leuten ist sie heute auf der Flucht -

Den Himmeln schrecklich nah.

Und nicht mehr auf der Erde.

 

Bauman sieht diese Zeit des Verschleißes und der wachsenden Entropie auch als die der Vaganten. "Wir sind wie Landstreicher" schreibt er. Und: "Nicht der Pilger... sondern der Landstreicher und die Touristen reagieren vernünftig auf die Chancen unserer Zeit und die Fußangeln, die sie auslegt". Ich würde sagen: daß ist eine echte westliche Karikatur, unbewußt ein Hohn fast auf die Tragödien der Nichtidentität heute, die Millionen Flüchtlinge, Emigranten, Haus- und Heimatlosen, Arbeitsemigranten und Verhungernden in unserer Völkerwanderungszeit geschlagen hat. Vor allem die Wanderbewegung, ja, kollektive Westwanderbewegung des Ostens heute, ihr Ohnehaus und wachsendes Elend. Und doch stimmt, das sehe ich auch aus eigener Erfahrung, Baumanns Definition des Landstreicher- Innenlebens auch für die Ost- und Südemigranten, die vor Zwang und Elend fliehen, freilich nicht so touristisch- luxuriös, dies trifft eher auf den saturierten Westeuropäer zu:

 

"Was ihn forttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten Aufenthaltes sowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort von ihm noch nicht besucht, oder vielleicht der übernächste möchte frei sein von den Mängeln, die ihm die bisherigen verleidet haben".

 

Über meine Erfahrung mit diesem falschen Paradies schrieb ich schon kurz nach dem Weltwechsel:

 

"Was hat sich alles in reiseverbotenen Jahren angesammelt: Städte wie Paris, Berlin, Frankfurt, Brüssel waren nicht real, sondern Punkte auf einer Landkarte und Traumbilder. Eine Art irrationale Ehrfurcht ließ sich nicht abwehren. An diese Namen war alles gebunden, was ich noch nicht erlebt hatte, nicht erleben durfte; was man wahrscheinlich auch nie erleben kann. Also nicht nur schöne Fiktion, sondern auch Metaphysik, im schlechtesten Sinne des Wortes. Und weiter, eine Art Verheißung, ein verwirklichtes Paradies, wo der tägliche Druck der Angst und der politischen Selbstkontrolle abfallen würde: als freier Mann durch eine großartige Welt gehen, das ist der Trugschluß, den viele nach langjährigem Ostleben ziehen und alles Versagen und Ungenügen wie ein Goldenes Zeitalter nach vorne ablegen, wo das langentbehrte und für lange Zeit verlorene, gelobte Land betretbar wird. D. h., daß sich nun alles erfüllen wird, was sich naturgemäß nie erfüllen kann. Solch bombastische Vorstellungen hatte auch ich mir von meinem ersten Kontakt mit der Freien Erde gemacht; und dazu: mich auf sie werfen, wenn einmal die verhaßte Grenze überschritten sein würde, und: schreien, brüllen, jubilieren. Nicht weniger, nicht mehr. Was dann weiter folgen würde, daß ich mich selbst nicht plötzlich ablegen konnte, sondern mich weiter mit mir herumschleppen mußte, wohin auch immer die Reise geht, bedachte ich keinen Augenblick. Daß die miserable Wirklichkeit unseres Jahrhunderts in jenem vermeintlichen Eden noch gesteigert auffindbar ist, kam mir nicht in den Sinn. Eine plötzliche mystische Verwandlung hatte einzutreten, mit einem Schlag sollte sich alles verändern. Utopia auf schönste und kindischste Art."

 

4/

Diese Zustandsbeschreibungen klingen alle sehr abwertend und negativ. Doch scheint dies ein Übergang zu sein zu einer neuen Lebensform, die die Immaterialisierung der Wirklichkeit, ihr Verschwinden, jedenfalls von dem, was bisher als Wirklichkeit angesehen wurde, vorantreibt und dem Innern des Subjekts nähert, oder besser: dieses immer mehr freistellt, mehr oder weniger leidvoll - bis zur Vernichtung. Am intensivsten läßt sich dies ablesen in der Beziehung zwischen "Exklusion" und Emigration. Dieser Punkt zielt mitten in das Zentrum etwa der östlichen Literatur, auch der kleinen rumäniendeutschen Literatur heute, meine Texte machen da keine Ausnahme. Wir stehen im Nirgendwo des Offenen, der Überraschung, des Unübersichtlichen und Unvorhersehbaren, seit 89 noch mehr als früher. Es gilt kaum das Vorfindbare, also Gewesene, sondern das offene JETZT. Wobei die Soziologen heute sagen, Identität entstehe erst über "Exklusion", sie bestimme sich nicht mehr wie früher über "Inklusion". EXIL aber wäre das Extreme dieser Exklusion des modernen Menschen, schmerzlich erfahrenes Vakuums, in dem der Einzelne sich selbst finden muß, ohne Stütze und äußere Hilfe.

Bemerkenswerte Beschreibungen einer Tiefengrammatik dieser tödlichen Isolation oder Exklusion zwischen den Systemen und Welten haben eine ganze Reihe der bekanntesten ost- und südosteuropäischen Autoren von Milosz bis Brodsky, Solschenizyn, Reiner Kunze, Paul Goma oder Milan Kundera gegeben; auch meine rumäniendeutschen Kollegen haben bemerkenswerte Introspektionen über diese Bodenlosigkeit geschrieben, vor allem Herta Müller und Werner Söllner möchte ich hier zitieren. So definiert Herta Müller diesen neuen Zustand als: "Das Wohnen ist kein Ort", im Roman "Barfüßger Februar" heißt es dazu:

 

"Die lange Reise war ein Schienenstrang, das Eisen der Behörden. Die Scheibe hetzte Bilder. Nur der Kieferknochen war zerschlagen. Nur der Blick erfroren von der Kälte der Verhöre. Nur die Briefe und Gedichte nackt und ausgelacht.

Die Ankunft war der Winter. Fremd war das Land und unbekannt die Freunde. Die Bäume zugeschnitten, kalter Februar."

 

Sowohl in Gedichtform als auch in einem Prosatext hat Werner Söllner dieses "Nirgendwo", den Todeszustand eines im Bodenlosen zwischen den Ländern Lebenden beschrieben, vor allem im Monolog "Es ist nicht alles in Ordnung, aber OK," der eine Ichfigur beschreibt, die meint, sie sei gestorben. Verdichtet im Gedicht "Null" erscheint der gleiche Zustand:

 

Null

Eingehen in Deutschland und aus ist schön fast

keine Kontrolle zum Glück das macht frei Vogel

hier bist du drüben ein paar Fragen keine Reden

Erklärungen werden hier nicht verlangt keine Reden

Macht null keine Rede ist hier von Reden alles

geht und ist so und macht daß es so geht so daß

hier keine Rede von Sprache sein kann nein null

 

Söllner hat auch einen Text über diese Problematik in meinen Arbeiten geschrieben: Er nimmt meine Lage, die selbstgewählte zweite Emigration nach Italien z.B. zum Anlaß, um auch über sich selbst zu schreiben: Die Selbsteinschätzung der Aus-Reise als Verrat: "Nicht nur (an) zurückgelassenen menschlichen Bindungen, sondern auch an unfertiger Hinterlassenschaft an Utopien, an Wünschen und Hoffnungen... Der neugewonnene Freiraum im persönlichen Bereich.... erwies sich so als ein... des selbstverschuldeten Werteverlusts durchtränkter Nährboden für eine Entwicklung, in deren Verlauf lediglich die persönliche und allgemeine Katastrophe noch eine logisch folgerichtige und paradoxe Alternative zum stetigen, allmählichen Verlust des Ortes und des Zustands Heimat wäre . An deren Ende kann wohl nur die physische und psychische Auslöschung (im genaueren Wortsinn): Selbstauslöschung des Individuums stehen ." Chancen zur Genüge, die Abwesenheit als Schmerz zu erfahren, um das, was man sein könnte, aber nicht ist, zu erkennen: "daß man nicht das ist, was man ist", denn ohne diese totale Loslösung vom Gewohnten, das blind macht, gäbe es den Sog nicht, daher auch die etwas seltsame Chance jener nicht, die den sozialen Boden unter den Füßen verloren haben, wirklich in die historische Gegenwart zu kommen, in der die meisten (im Westen) nicht leben oder nicht leben wollen, sondern sich falsche Identifikationsangebote kaufen oder träge konsumieren (Fernsehen etc.). Exil (oder totale Exklusion, sogar als totale Inklusion im Totalitären Staat am Grunde der Hölle) - wäre also paradoxerweise eine Chance zur Selbsterkenntnis? "Identität und Individuum fallen zusammen", heißt es bei Weber und Nassehi: "Individualität wird also nicht mehr über Inklusion, sondern über Exklusion bestimmt." Über diese Erkenntnis wird Identität bestimmt, wie Luhmann sagt: "(...) daß man nicht das ist, was man ist (...) Ohne ein solches Defizit bestünde überhaupt kein Anlaß, die eigene Identität zu reflektieren, so wie auch umgekehrt die Reflexion das Defizit als Dfferenz zwischen dem, was man ist, und dem was man nicht ist, produziert. Individualität ist Unzufriedenheit." Und diese Unzufriedenheit charakterisiert auch viele Autoren, die sich in der Nachmoderne nur negativ bestimmen können, was ziemlich kräfte- und lebenszehrend ist, kräftezehrend nämlich, sich durchzuschlagen als ewiger Fremder und Emigrant, und immer unzuhaus zu sein, denn der Autor, (zumal der "freie") versucht die Robinson-Situation als Produktionsmittel zu nützen, indem er sich selbst als Erfahrungsinstrument einsetzt (und verbraucht), aber er versucht, diese aufreibende Situation unter allen Umständen zu erhalten!

So kann der ("freie") Autor als Extremfall des heutigen Menschen angesehen werden, der, nicht mehr eindeutig einer sozialen Gruppe zuordenbar ist, sondern, wie es bei Nassehi/Weber heißt, "den selbstreferenziellen Bezug zur eigenen Person, zum eigenen Bewußtsein und zur eigenen Lebensgeschichte erfordert" und die "zunehmende Selbstidentifikation (nur) aus personalen Ressourcen" erhält. Wobei bei Autoren, zumal bei Lyrikern: außer dem sozialen Vakuum noch "metaphysischer Heimatverlust" und "Sinnverlust" als treibende Kraft wirken, totaler Mangel also an jeder Art von "Identifikationsfolien", wie die Soziologen so schön sagen. Wer aber sehnt sich nach "Folien" zurück. In meinen Essays "Wenn die Dinge aus dem Namen fallen", habe ich an Beispielen, auch an Beispielen von selbsterlebter Schockerfahrung diese treibende Kraft des Abwesenden und Fehlenden im sozialen Vakuum beschrieben, z.B. auch eine Erfahrung der Zeitfreiheit und ekstatischer Zustände, die die Todesangst verschwinden ließen während der Aufstände 1989. Es seien ähnliche Erlebnisse gewesen, wie die Inspiration beim Schreiben, versicherten mir Kollegen. Gleicht also jenes kollektive Erlebnis, jene momentweise kollektive Realität, vielleicht gar jener von Soziologen geschilderten Zustand, ungewöhnlicherweise nun im Intersubjektiven erkennbar, der sonst doch nur im Einzelnen - als die vielgenannte "Selbstreferenz" eine Synthesefunktion in der zersplitterten Wirklichkeit hat, wobei die Kopplung von gesellschaftlicher und individueller Autopoiesis, die gerade in totalitären Systemen unmöglich gemacht wird, in jenem Augenblick sozusagen rein und fast ohne Hindernisse stattfand, nämlich im Augenblick der Befreiung - im Grenz- und Zwischenraum der Systeme auf einem Terrain reiner Zeit? Ein Deutungsansatz wäre: daß eine fehlgelaufene totalitäre Sozialisation außer Kraft gesetzt wurde, und da es keine andere dort gab, kamen im Vakuum vormoderne Instanzen der Psyche zum Zuge, als hätte es dort noch ein Seelenmuseum vergangener Zeiten gegeben. - Eine exakte Analyse des Zustandes steht noch aus.

 

Ein weiterer Aspekt der "Modernen Zeiten", wird durch die Erfahrung zwischen den Systemen scharf konturiert: das Problem der Absenz durch die am eigenen Leben erfahrene Ent-Dichotomisierung von innerer und äußerer Zeit:

 

"Straßen und Ali Baba/ grasen im Mai ihre Maul-/Tiere/ aber das Wort/ passiert nicht mehr/ Und steht/ am neuen Tor/ du rufst wie einst/ im Traum die Zauberformel an/ aber die Höhle/ sie bleibt zu/ Und nur als Schatten kommt ein/ schiefes Bild getragen als die verlöschende Flamme/ vorbei." (Gelenktes Licht)

Ein Zurückgeworfenwerden auf reine Autopoiesis einer Null-Situation in Platons Höhle - und eine radikale Entlarvung des Beharrungsvermögens allgemeiner Gewohnheit.

 

"Du schöne Welt das kranke Röntgenbild/ und wie ein Tumor ists/ im Kopf/ durchleuchtet.// Das Negativ, als wäre jedes Bild/ jetzt möglich. Fertig gemacht, das Licht./ Die letzten Dinge auch, sie werden Nichts/und / wie im Auge keine Gegenliebe." (Negative. Unbelichtet).

 

Alles wird zu einem Negativfilm, und das Todesgefühl eines Bodenlosen, läßt die Trauer des Abschieds mit dem Wissen vom Un-Sinn verschmelzen, wo die gedämpfte Metaphysik des Hohns alles umkehrt, gespiegelt auf der Sinn-Folie der Sprache, erhält so etwas Unsagbares im Paradoxon Kontur, wie im folgenden Satz: "Ein wenig Nie verging".

 

"Was sonst noch wäre/ kein Hals/ mehr für oben: der Galgen ist/ eine Feder." Oder: "Wie dann noch/ reden.// Als säße er auf der Leitung/ `verkohlt am Traumende`. Und fällt./Vor dem Abgelebten,/ der Tod.// Hirnträchtig Heilige Kühe/ voll mit Gras innen und lassen/ mich vergessen rückwärts zu lesen". (Wobei "Gras" ja dann "Sarg" hieße.) "Mutter Sprache ist mir/ weit Weg und schön/ von Sinnen (...)// Streich durch was Himmel war/ gebrochen und wir./ Darüber Erde tief;/ der vergangenen Zeit/ entsprochen. (Fragmente für das gewesene Kommen).

 

Der Erfolg der kleinen rumäniendeutschen Literatur in der Bundesrepublik beruht auf einem die Sprache rückwirkend affizierenden Zwischenzustand, der diese Autoren exemplarisch erleben ließ, was ist: "nur im Negativ, als Paradox (...) zu sagen, was ist. Abschiedsgedichte im schon Posthumen..." Für sie gibt es eine Wahrheit: "(...) in Hypostasen des Fremden, wo auch die Sprache sich von Satz zu Satz wundert, daß sie noch da ist. Das sind Röntgenblicke in die Gegenwart aus einer noch sinnlich erlebbaren Abschiedssituation, Modell auch für die übrige Welt, wo dieses freilich so scharf nicht mehr wahrnehmbar ist..."

Und aus der "Brucherfahrung verdichten sich in dieser kleinen Literatur epochale Wahrheiten: "Illusion des Raumes, der Zeit, Illusionen der Sprachlogik werden entlarvt."

 

Ich kann jetzt hier keine Identitätstheorie des radikal "autopoietischen" bis autistischen Autors bieten, Identität kann für Schreibende, wie ich schon sagte, nur eine mit ihrem Leben parallel laufende Werkbiographie geben, Sprache und Phantasie sind Identifikationsspender, allerdings nur punktuell; wenn der Autor ins "Leben" entlassen ist, ist er wieder jedermann, auch nur ein Mensch, der sich anpassen muß, um zu überleben. Es laufen da also zwei Identitätsgeschichten parallel, die sich wechselseitig beeinflussen. In der Exklusion des Emigranten stehen sich die Werk- und die Lebensbiographie freilich näher als unter normalen Lebensbedingungen.

Eine Beschreibung meiner persönlichen Lebenslage, als einer, in der ich unter allen Umständen den Umbau der Person, den zum normalen Überleben so notwendigen Verlern- und Erlernprozeß der Integration zu vermeiden suchte, machte auch mich zu einem "Zwischenschaftler" und "Deutschen der Dritten Art", der Ost und West bewußt in sich zusammenstoßen ließ, denn ganz entziehen kann sich keiner, und der Umbau der Person geschieht letztlich doch, nur ist er bei "Freien" schmerzlicher und langsamer dieser unausweichliche Prozeß - und er geschieht unter Selbstbeobachtung, nämlich schreibend. Meine Übersiedlung ins Außerhalb, in ein soziales Vakuum - oder besser in die Umgebung einer dörflichen Sippe in Italien, hob den Prozeß der Desozialisation und neuen Resozialisation, auch jenen im Zeitlupentempo, fast ganz auf, und verlegte "Leben" zum großen Teil in die Werkbiographie, jedoch nicht etwa nur als Kompensation, sondern als Erfüllung oder Illusion der Erfüllung? dieses frage ich mich fast täglich.

 

("Weich faß ich jetzt, nackt, ein blaues Heft/ auf dem Schoß schreibend mein Schamhaar an,/ wie eine letzte Berührung, Griffel,/ der mitgeht.// Weinend im Gebüsch raschelt/ unsichtbar schmerzt ein Papierkind."

Oder: "WIE HAST DU MICH GEQUÄLT/ Langjährige Liebe/ Zeile// Ein Pausenzeichen/ oft nichts als gedacht/ und dann wars doch/ ein ganzes Leben.")

 

Solch eine Anpassungsverzögerung war freilich nur möglich, unter der Bedingung, daß der Betroffene starke Konflikte und Gefährdungen auf sich nahm, die auch in der Partnerschaft den Alltag belasteten, in einer Art doppelten Halluzination, denn das "Leben", die andere Biographie ließ sich auf die Dauer nicht wegschreiben oder wegdenken, wobei - wie bei allen meinen Kollegen, die Flucht in den Alkohol sich drohend zu Alkoholismus auswuchs; gerettet hat mich dann wieder die geistige Aufarbeitung, verzweifeltes Schreiben und Chakraarbeit im Tantra-Yoga. Also Existieren im Circulus vitiosus - oder oft im Kreis der Hölle.

Meine Identitätssuche gehört also nicht zu den Reaktionstypen Emigrant- Immigrant in Deutschland, 1.) dem Traditionalisten, der in der Enklave, einer Fiktion des Alten lebt, noch 2.) des Konformisten, der versucht, seine Herkunft in übertriebener Rollenanpassung zu vertuschen, wie sie Renate und Georg Weber in ihrem Zendersch-Buch beschreiben, auch nicht zum dritten, dem chronisch Nicht-Angepassten, der an den Rand der Gesellschaft gerät, den Outlaws oder gar den Kriminellen. Eher läßt sich der - bewußt zwischen allen Stühlen befindliche - "zwischenschaftliche" Autor zum vierten Reaktionstypus, zum "Pendler zwischen heimatlicher Welt und Aufnahmegesellschaft" und ebenso zum fünften Reaktionstyp, den "Grenzgänger" zählen. "Grenzgänger" also im kritischen Zustand einer beobachtenden und selbstbeobachtenden Distanz; eine Art Kunst der kritischen Zwischenschaft einer verzögerte Integration, wenn auch dieses kritische Laboratorium der hinausgeschobenen Integration aus der innern Distanz bei ihm nur durch Sprache gelingen kann, er aber im "Leben" nicht einlöst, was eben dieser fünfte Reaktionstyp sonst leistet:

"Durch ideologiekritische Entzauberung geistiger Vernebelungen, die Aufdeckung unterdrückter Dialoge, schließlich durch seine neue Selbst- und Fremdannahme wurde er für das Zwiegespräch auch mit der neuen Umwelt befähigt. Die Distanz in der Nähe zum Vergangenen ermöglichte es ihm, sich in Rollen seiner neuen Mitmenschen hineinzuversetzen und sich mit deren Augen selbst zu sehen.. Das wiederum erleichterte ihm den Abschied von alten, hohl gewordenen Geltungsansprüchen ..."

Vielleicht gehöre ich als "freier" Autor zu einer Art experimentellen Grenzgängerei, bei der nur die Ersatz-Institution SPRACHE und meine Partnerin verhindert haben, daß es zu einem "experimentellen Irresein" gekommen ist. Etwa 6000 Seiten Text entstanden in diesem tagebuchartigen Schreibprozeß zum Roman "Vaterlandstage" , unaufhörliches Schreiben, schreibend leben in der fremden Umgebung, beim Essen, in der Straßenbahn, im Auto, im Flugzeug, im Kaufhaus, in der Innenstadt, vielleicht aus einer Art Angst, zwischen die Sekunden zu fallen, da es anfangs so schien, als könnten die Sinne nirgends einen Halt finden, und müßten ins Nichts fallen, wenn die Sprache sie nicht in einem selbstgeschaffenen Außenbild, das aus dem eben Gesehenen ein Wortfoto als Boden herstellte, auffing.

Bei dieser Reflexion des Ausgeschlossenseins im Weltwechsel ergibt sich aus der eigenen Erfahrung, wenn ich nun diese mit dem theoretischen Diskurs als Autor vergleiche, ein Auseianderfallen der verschiedenen Gedankengänge, ein Widerspruch zwischen soziologischem Optimismus und der verzweifelten negativen Theologie des Schreibers, den hautnahen Erlebnissen und schließlich der literaturwissenschaftlichen Werkanalyse. Da in der heutigen Soziologie empirische Forschung angestrebt wird, kann die Theorie Essenz und Wahrheit des wirklichen Erlebens nicht fassen, nicht erfassen; Brücken bauen kann wohl nur das narative Element; die "kleine Erzählung" heute, im Gegensatz zur "großen Erzählung" der Metadiskurse der idealistischen Philosophie, wie sie der Postmodernist Lyotard nennt, also literaturähnliche Formen von Lebensdokumenten, die so gut erfunden sein müssen, daß sie den Kern nicht nur umkreisen, sondern in der Mitte treffen, letztendlich trifft da wohl nur die wissende FIKTION, die das Schale der Ereignisse in einer Erzählstruktur überspringen kann, weil sie aus der Substanz des Erzählenden kommt. So schreibt etwa Oliver Sill in einer ausführlichen Analyse der modernen Autobiographie: "Die Mitteilung über das Autoren-Ich im autobiographischen Werk liegt allein vor in einer sie realisierenden Struktur." Er zitiert dazu ein Standardwerk über Max Frisch: "Es nützt nichts, sich an historische Vorkommnisse, Daten und Namen zu klammern - sie sind schal." Besonders einleuchtend ist ein Satz von Reinhart Koselleck: "Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen."

Die Fakten allein, aber auch die sogenannten "großen Erzählungen" sind, vor allem jetzt nach 1989 "delegitimiert," unglaubwürdig, es bleiben die "kleinen Erzählungen": "Form par excellence der imaginativen Erfindung" (Lyotard); im Narrativen nämlich ist das Schwere zu leisten, "das sein zu können, was das Wissen sagt, das man sei." Und zum Verhältnis Literatur-Soziologie noch ein schönes Zitat: "Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen, - die Erzählung zurückzugreifen, das ihm Nichtwissen ist (...) "

Der Einwand von Nassehi und Weber freilich ist berechtigt, daß so "ein notwendig gespaltenes Bewußtsein" entstehe, "das zwischen allgemein zugänglicher und individuell-existentiell bedeutsamer Topoi genau trennen muß". Und dieses ist auch das Problem des Literaten, denn wie läßt sich die eigene Befindlichkeit und Innerlichkeit allgemein vermitteln? Vieles in der Lyrik geht damit um, umkreist in Zwischenräumen der Bedeutung das Unsagbare, in der Metapher in der Metonymie kehrt es das Reale um, wie einen Handschuh. Und die Pole der Elektrisiermaschine, mit der diese behandschuhte Hand hantiert, müssen so weit wie möglich auseinander stehen, doch dürfen sie nicht zu weit gespannt sein, sonst springt der Funke nicht mehr. Das Zauberwort heißt "Vermittlung" : und das "personale Sinnhandeln (bildet) den notwendigen Bezugsrahmen für jede Möglichkeit universalistischer Diskurse." (Nassehi/Weber, S. 400). Nur - die Spaltung: einerseits Teilhabe an der "allgemeinen Auslegung von Welt" und andererseits ein "hoher Grad an Individualität", läßt sich nicht aufheben. Der Tod allein ist die entscheidende "Nahtstelle", wo sich Ich und Gesellschaft "unausweichlich begegnen". (S. 401). Unter den heutigen Bedingungen der Gefahr fürs Überleben sind die "verallgemeinrungsfähigen Handlungsmaximen" nicht zu vergessen, dies gilt auch für den Ausgeschlossenen und Träumer.

Doch kehren wir zum Schluß zu ihm zurück:

Es gibt da ein wichtiges Moment in seiner Absenzerfahrung und totalen Exklusion alles Faktischen und Gewohnten in einer Non-Identität, als wäre da eine Ähnlichkeit mit der Herstellung von "Leere" im Abschnüren der Sinne bei einem Meditationsprozeß und einer Initiation unter Schmerzen, nämlich ein "Herausschießen" unter Druck (und unter Gefahr, in aller Exilanten-Unsicherheit und Unbestimmtheit) einer jenseits des Sozialen liegenden Substanz, die aber mental und auch in der Sprache vor allem eingelagert ist und anschließt an ein riesiges Gedächtnis geistiger Erfahrung. Czeslaw Milosz, der polnische Schriftsteller im französischen Exil, weist auf James Joyce hin, der ebenfalls fern von seiner Stadt Dublin, ein ideelles Dublin aufgebaut hat, mit neuen Berührungs- Koordinaten und Stilwerten, ein geistiges Dublin, jenseits einer banalen Heimatstadt. Ein ähnlicher Haltepunkt "personaler Identität" via grenz-überschreitender Sprache war auch meine Arbeit am Roman "Vaterlandstage", der Titel ein Hölderlinzitat: diese "Tage" nämlich SIND möglich erst bei Abschiedsfähigkeit vom empirisch-Realen und ordinär Heimatlichen, solch ein utopischer Ort entsteht erst bei "Umkehr aller Vorstellungen und Formen."

 

("Löschte das Augenlicht, also/ die Landschaften und/ Städte aus, trog/ nicht mehr, Nein trank/ die Welt täglich aus (...)// Es gab keinen andren Weg mehr/ als Jahre: gingen hinüber/ wo ein anderes schwereres Warten war/ das Weinen das Lachen und jeder Erfolg Ja/ die Frauen nur etwas Trauer// Als hätte ich alles überlebt./ Ein Anfang klopfte/ ganz ohne Tür bei mir an,/ keine Dauer, ein Leben, was/ zu fürchten ist, hebt an und auf,/ was war." ( DER ZEITPUNKT. Keine Bilanz mehr.)

 

Was ein Autoren-Einzelner allein erfährt, ist aber heute seltsamerweise symptomatisch für die "postmoderne" Gesellschaft, die ihn nicht wie früher: als Autorität zur Kenntnis nimmt; und dies - obwohl er ja eigentlich ihre Tiefengrammatik in seiner existentiellen Situation spiegelt und ausdrückt. Der paradoxe Schluß: wäre er anerkannt, könnte er diesen innern Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft gar nicht erleiden, um ihn auszudrücken .

 

( Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten im Rahmen der Vortragsreihe "Identität - nur ein Modewort ?" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Soziologie/ Sozialpädagogik, 24. Januar 1994.)

 

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BRÜCHE, DEREN FOLGEN NOCH LANGE

NICHT AUSGESTANDEN SIND. GESPRÄCH MIT STEFAN SIENERTH

 

S: Herr Schlesak, vom Alter her - am 7. August 1994 werden Sie 60 - gehören Sie eigentlich jener Generation rumäniendeutscher Schriftsteller an, die in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen geboren wurde und in den sechziger Jahren mit ersten Gedichten, Erzählungen, Aufsätzen und Büchern an die Öffentlichkeit trat. Ihre Handschrift, Ihre ästhetische und politische Einstellung rücken Sie jedoch - wie auch im Falle Ihres Landsmannes Oskar Pastior - vielmehr in die Nähe der jüngeren rumäniendeutschen Autoren, die erst nach 1970, als Sie Rumänien bereits verlassen hatten, massiv zu veröffentlichen begannen. Wie würden Sie Ihre literarhistorische Position definieren?

 

DS: Es ist schwierig, in ein paar Sätzen auf diese entscheidende Frage zu antworten, da es meine ganze Denk- und Lebensstimmung enthält und mein ganzes Werk. Daß ich mich hier, beim Gespräch mit Ihnen, wie bei jedem Interview "äußere," also kaum in mich gehen kann, verhindert die richtige Antwort, die in der Literatur nie direkt, begrifflich gegeben werden kann. Was ich zu mir sage, sage ich zu Ihnen: es ist schon in meinen Gedichten, im Roman und in meinen Essays besser dazu geantwortet. Doch direkt, also un-literarisch geantwortet, und mit ein paar Stichworten: es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mußten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung, die meine, wie die jüngere Literatur erst möglich gemacht haben. So daß einige, wenn nicht sogar alle durch sie zu Autoren geworden sind. Ich weiß nicht, ob ich es in friedlichen Zeiten so ausschließlich geworden wäre?

Diese Brüche, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden und ausgelebt sind, sondern als Schnittpunkt immer mit zu den laufenden Ereignissen gehören, sind die Ursache, daß ich mich, ähnlich wie mein Kollege Oskar Pastior, als Schreibender, nicht altersmäßig, zu jener Generation zähle, die "die Folgen" in ihrem Leben und in ihrer Literatur nicht nur inhaltlich, sondern vor allem durch einen besonderen Stil tragen, Sprache, die so verändert wurde, und "es" austragen muß; ich nehme an, daß ich mich nicht nur zu dieser jüngeren Literatur-Generation und Sprache zähle, sondern hoffentlich ihr auch angehöre!

Sie steht der bisherigen Tradition, die wesentlich Heimatliteratur war, entgegen, sie hat zu einer radikalen Veränderung des Stils geführt. Der alte, sagen wir, nicht "transformierte", also nicht-entsprechende Stil für diese Brüche, hat auf Rumäniendeutsch noch die Literatur der sechziger Jahre, vor allem die Prosa, bestimmt: Heile Welt trotz all der Zusammenbrüche und Katastrophen: Man denkt da an einen idyllischen Realismus, der auch dem unsäglichen sozialistischen. Realismus und dessen zensiertem Heile-Welt- Bild nicht widersprach, sondern (von ganz anderen Voraussetzungen und einem völlig entgegengesetzten Weltbild ausgehend) doch ähnlich die Abgründe vertuschen wollte: Optimismus, "das Schöne" um jeden Preis. Noch meine Generationskollegen führten diese Tradition in roter Färbung fort.

Auch als Redakteur der "Neuen Literatur" für Lyrik habe ich zwischen 1964 und 68 versucht, gegen eine doppelt verlogene Heile-Welt und ihr Stilkonzept anzukämpfen, versucht, den Stil der Moderne als wichtigstes Angebot, diese Abgründe und Katastrophen darzustellen, in unsere Nachkriegslyrik einzuführen, wobei ich nicht nur mit der Zensur, der Chefredaktion, sondern auch mit den sächsischen und schwäbischen Lesern und den Traditionalisten Schwierigkeiten hatte, oder sie mit mir. Es war also eine Auseinandersetzung an zwei Fronten! Daß ich die marxistische Ästhetik mit ihrem primitiven Realismus, ihre Wiederspiegelungstheorie abgelehnt habe, geht ja auch in diese Richtung: Es war die falsche Verwendung des alten Begriffes "Mimesis", was keineswegs Realitätsspiegelung heißt, sondern Sichineinssetzen mit der "Ebenbildlichkeit", die "Apriorität des Individuellen" zu entdecken (Omoisis to theo, bei Platon: Angleichung an das Göttliche im Menschen. Dazu gehört, den Schein, das sogenannte "Wirkliche", die Hülle zu zerbrechen, zu entlarven; in der Moderne mit sprachlichen Mitteln; meta-phérein -Metapher- heißt ja hinüber-tragen, anderswohin tragen.)

Es gab freilich schon damals Oskar Pastior, es gab Anemone Latzina, es gab eine ganze Reihe Jüngerer. Doch erst nachdem sich die literarischen Erfahrungen gesammelt hatten, die Sprache langsam ausreifte, die vielen stilistischen Anfangsanleihen aus dem Westen dem Genuinen Platz machten, den selbstgelebten Traumen entsprachen, und dieses war bei vielen erst im Rückblick nach der Auswanderung der Fall, bereicherte wohl zum erstenmal diese kleine Literatur mit Eigenem die deutsche Literatur. Sie hinkte nicht mehr nach, sondern zeigte vor, was es sonst nirgends gab, auch in Ostdeutschland nicht: einen "Schwanengesang" nach dem geschichtlichen Ende und den Verletzungen einer nach 1944 den Schwaben und Sachsen gestundeten Zeit mit ihren Leiden. Es war eine absurde Lage, wir waren eingesperrt zwischen Vaterland und Muttersprache und nur im Bodenlosen "beheimatet" - oder eben in einer Sprache, deren Hellhörigkeit und Verletzlichkeit aus zutiefst erlebten Gefahrenzonen kamen, wo Sprechen, schreiben vor allem, äußerst gefährlich waren, im Gedicht oft "Versteckspiel in der Metapher". Dieses "Versteckspiel" hatte ich sogar als Ästhetik und Theorie für mich erarbeitet: nämlich mit brisanten Inhalten zum Leser zu kommen mit Hilfe des Transportmittels Metapher, ohne daß es die Zensur merkte, oder so gut versteckt war, daß sie es "durch-lassen" konnte. Zensoren waren irgendwo auch Komplicen. Ich schrieb damals: "Weh dem , der überschreitet!/Wer aber kennt den Raum,/ wo die Grenze täglich sich verschob?/ Wer mißt ihn?/ Wer traut ihr?/ Wir strecken die Arme aus bis in die Nähe des Blitzes, -/ aus der Erinnerung wird scharf geschossen." ( Dieses Gedicht und andere brisante Verse sind in meinem Band "Grenzstreifen," 1968 in Bukarest erschienen.)

Diese Lyriksprache war und ist eine explosive Mischung aus Sprachkomplexen des Minderheitendeutschs und des geschärften Sprachsinns in der Diktatur. Später kamen im Westen noch die schmerzliche Erfahrung des Weltwechsels und Heimatverlustes hinzu, dann die Ablehnung einer abgemagerten Mediensprache und Warensprache, viele sich überkreutzende Bewußtseinszustände, die zu sich überkreuzenden Sprachzuständen führten..

S: In Ihren frühen Texten, vor allem jenen, die Sie seit 1959 in der Bukarester Zeitschrift "Neue Literatur" veröffentlichten, ist bei allen Wandlungen und Nuancierungen Ihrer politischen Haltung ein unverkennbares Engagement für den Sozialismus - möglicherweise mit menschlichem Antlitz - nicht zu übersehen. Wie würden Sie Ihre Haltung zum Staatssozialismus jener Jahre und die ästhetischen Konsequenzen in Ihren frühen Arbeiten beschreiben? Was hat Sie bewogen, 1969 auf einer Ihrer Reisen in die Bundesrepublik Deutschland im Westen zu bleiben, zu dem Sie von Anfang an ein sehr kritisches Verhältnis hatten, und Rumänien den Rücken zu kehren, zu einer Zeit, noch bevor Ceausescu seine berüchtigten Juli-Thesen aus dem Jahre 1971 lancierte und eine neostalinistische Kulturrevolution einleitete?

 

DS: Ich habe Klischees, Parolen und Wortmonogramme in der Literatur oder im Alltag immer bekämpft, sie verdummen, decken zu, vereinnahmen, verführen,sie haben Unheil gebracht. Auch das Wort "Sozialismus" ist verbraucht, ich verspüre Wortekelpein dabei, leider ist auch das, was es auszusagen hätte, was heute weiter auszusagen notwendig wäre, und sich auch mit den Grundforderungen des Christentums trifft, durch die rote Diktatur diskreditiert, es war mir im Bukarest der Sechziger Jahre, und auch vorher schon klar, daß die Diktatur Wahrheit, Natur, auch die menschliche Natur und Geschichte nicht zulassen wollte, und mit Fahnen, Zensur und Gewehren umstellt hatte. Im persönlichen und beruflichen Leben als Redakteur bekam man es zu spüren; die Securitate, die "Pressedirektion" blieben im Alltag nicht aus.

Die vorher geschilderten "Siege" waren freilich recht zwiespältige und nur halbe Siege, denn die ganze Wahrheit konnte man ja nicht sagen, sonst blieb das Gedicht zumindest unveröffentlicht, wenn nicht Schlimmeres geschah, der Autor verhaftet wurde. Dieser Zwang zur nicht nur spielerischen, sondern existentiellen Metapher, aufgeladen von einen Lebensernst und Informationsgrad, ist in der Direktheit und bei den Gummiwänden des Westens, wo alles gesagt werden kann, aber wirkungslos bleibt, undenkbar, es war also ein Gewinn, ein paradoxer Gewinn, den das Negative der Diktatur bot. Meine jüngeren Lyriker-Kollegen haben unlängst bei ihren Poetikvorlesungen in Frankfurt kein gutes Haar an dieser "politischen Schule der Träume", gelassen, aus der sie schließlich selbst kommen. Der Kritiker Georg Aescht konterkariert ihre Radikalität so: "Ist nicht auch Schmuggeln eine Übung des Mutes, der Umsicht und der Gelenkigkeit. Überlebenstraining mit nichts zur Hand als Sprache, auch das ist Dichten - gewesen?"

Es war eine schizoide und gefährliche Sache. Und für viele eine leidvolle Krankheit bis zur Selbstzerstörung, wo nur noch die Ausreise retten konnte. Vergessen sollten jene nicht, die uns, die wir auch während der Diktatur die rumäniendeutsche Literatur, Kritik und Literaturgeschichte weiter schrieben, gerne als "Kollaborateure" verunglimpfen und das edle Abseitsstehen und Nicht-Mitmachen als einzige ethische Alternative ansehen, daß es ohne diesen schwierigen täglichen Kampf bis zur Aufopferung, diese kleine Literatur, die es im Laufe ihrer Geschichte erst heute geschafft hat, auch in Deutschland anerkannt zu sein, gar nicht (mehr) gäbe

Es gab freilich auch Kollaborateure und Spitzel. Die andern aber?!! Viele waren nicht einmal in der Partei, ich eingeschlossen, obwohl wir dauernd dazu gedrängt wurden. Ich stand "links", verehrte den frühen Lukács und Brecht, natürlich den frühen Marx, las aber auch Kafka, Rilke, Arghezis Psalmen, Celan. Es ging mir um den Einzelnen, die "Apriorität des Individuellen", wider die "Entfremdung" des Menschen, wie das Modewort damals hieß, die sich literarisch für uns vor allem in Franz Kafkas "Verdinglichungs"-Alpträumen und Schrekkensapparaten zeigte. Der "Prager Frühling" begann mit einer Kafka-Konferenz. Ich stand also "links" auch von jenem Staat und Regime, war immer schon gegen Staaten und Institutionen gewesen, die den Einzelnen erdrücken und unterjochen. Und meine ersten Rebellionen und innern Aufstände hatte ich als Schüler wider das Alt-Autoritäre in Schule und Familie hinter mir (vergessen wir nicht, damals wurde noch geprügelt!) Und am abscheulichsten kamen mir die staatlichen Foltern und Todesstrafen vor, als Eingriffe ins Recht des Einzelnen, der nicht von irgendeines Staates Gnaden existierte, und doch von diesem seiner Freiheit, ja, seines Lebens beraubt werden konnte, der Staat, der die Unantastbarkeit der Menschenwürde brach, Hand an den Einzelnen legte, ihn auch geistig vergewaltigte. Der Haß auf jede Art totaler Staatsmaschine hatte sich unter dem Eindruck des Wissens von den KZ`s, dann des selbsterlebten Totalitären von zu Hause noch sehr verstärkt. Wir waren alle überwacht, was nicht gerade zur innern Staatstreue beitrug, oder dazu die anmaßende Staatspartei und das korrupte Überwachungssystem zu akzeptieren, ja, ihm gar als Diener nützlich zu sein. Mein naiver "Idealismus" wurde schon früh gebrochen durch das Lachen der Securitateleute bei meiner ersten Verhaftung im September 196o, ein Jahr nachdem ich Redakteur bei der "Neuen Literatur" geworden war. "Kommen wir doch zur Sache", sagten die, als ich, um mich zu wehren, treuherzig meinte, ich sei doch "Marxist"!

Ja, die Ausreise. Ich war vierunddreißig, war noch nie in Deutschland gewesen, schrieb deutsch, las deutsch, fühlte mich zur deutschen Literatur gehörig. Zweimal war ein Besuch abgeschlagen worden. Absurd, daß ich dann nach der Balkonrede Ceausescus am 21. August 68 gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, gemeinsam mit andern Kollegen, Paul Goma, Paul Schuster und andern, um Eintritt in die Partei ansuchte, und auch das Land "gegen die Russen" verteidigen wollte! Wie blauäugig wir doch waren! Und prompt bekam ich dann auch den Paß. Ich war ja nun "vertrauenswürdig". Im Oktober 68 reiste ich dann mit Ion Caraion und Veronica Porumbacu zu einem internationalen Schriftstellertreffen nach Mondorf in Luxemburg, wo ich auch Thomas Bernhard, Peter Handke und andere für mich wichtige Autoren. kennenlernte. Ich habe all diese Erlebnisse in meinem ersten Buch, das im Westen (bei S.Fischer) erschienen ist: "Visa Ost West Lektionen" erzählt, und auch geschildert, welch Jubel- und Freiheitsempfindungen ich beim Überschreiten der Grenze hatte, wie langsam dann im Westen die innere Zensur abfiel, wie aber gleichzeitig Heimweh und Schuldgefühle, auch die Wahrnehmungsarmut und der "Umbau der Person" im Westen, eine neue Sozialisation bis in die Reflexe hinein in Frankfurt, wo ich damals lebte, beim S. Fischer Verlag meine spätere Frau kennengelernt hatte, mir eben dieser "Umbau" zu schaffen machte, so daß ich mit allen Risiken im März 69 mit Angst und Abschiedsgefühlen wieder zurückging. In Raten: von München nach Wien, Bratislava, Budapest, und dann erst zögernd weiter... Mit dem Endeffekt, daß ich nun als halber Westmensch und ohne innere Zensur, es dann auch zu Hause nicht mehr ertragen konnte, gleich zwei Länder verloren hatte, dann das "kleinere Übel" wählte und alles tat, um aus der süßen Heimat wieder heraus zu kommen.

 

S: Neben Ihren "roten Jugendillusionen", wie Sie sie im Nachhinein selbst genannt haben, und Ihrer kritischen Einstellung zu den bestehenden Gesellschaftsmodellen und Staaten in Ost und West - war es der bewußt herbeigeführte Bruch mit den tradierten Werten und Vorstellungen der siebenbürgisch-sächsischen Minderheit, was ich als dritte Komponente Ihrer frühen literarischen Prägung bezeichnen würde. Welche besonderen Erlebnisse und Erfahrungen Ihrer Kindheit und Jugend haben zur Distanzierung von herkömmlichen Lebensformen und Denkmustern der Siebenbürger Sachsen geführt, und dies unter Umständen, als nicht wenige deutsche Intellektuelle in Rumänien, die sich vor der kommunistischen Staatsmacht nicht vereinnahmen lassen wollten, im Kreise der Minderheit menschliche Wärme, Zuspruch und einen gewissen moralischen Schutz gegen die unberechenbaren und rücksichtslosen Übergriffe der neuen Ideologie suchten und zum Teil auch fanden?

DS: Nun, dieser Komplex gehört mit zu den Lebens-Brüchen und dem verlorenen Nenner nach dem Krieg und den offenbar gewordenen Kriegsverbrechen, der Suche nach einer neuen möglichen Moral. Es schien, als wären wir, so schrieb auch ein rumänischer Kollege, Nichita Stanescu, "eine elternlose Generation" geworden, da die Väter nichts mehr weiterzugeben hatten; in dieses Vakuum stieß der Marxismus. Die "Aktionsgruppe Banat" ist ebenfalls so angetreten: Als Kritiker ihrer Herkunft. Zusätzlich aber versuchte sie das Regime links zu überholen, was natürlich dann zur Überwachung durch die Securitate, zu Verhören und zu Verhaftungen führte. Bei mir, wie bei einigen älteren Kollegen war es ähnlich. Dazu kam ( anfangs unbewußt) die Scham wegen der braunen Verbrechen hinzu, bei denen meine Herkunftsgruppe aus unkritischer Reichsverhimmlung und Naivität unschuldig-schuldig Opfer und Täter zugleich geworden war: bei einigen von uns war der Wunsch da: auf die andere Seite der Front zu kommen. Akzeptiert wurden wir deutschen Bürgers- und Bauernsöhne freilich von den alten Antifa-Aktivisten nicht, sondern mißtrauisch beäugt. Doch bewußt oder unbewußt standen wir, nun eine Art "Waisenkinder des Klassenkampfes" zwischen Hammer und Amboß, zwischen Partei und Herkunftsgruppe. Ich konnte es nicht vergessen, wie eine jüdische Kommilitonin in Bukarest, die als Kind in Auschwitz gewesen war, bei einem Lager-Film, der ihre Erinnerungen berührte, neben mir im Kino in Ohnmacht fiel.

Sie Fragen nach Erlebnissen und Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend, die mich zur Distanzierung von der Lebensform und Denkform meiner Herkunftsgruppe geführt hatten. Sie sind zwiespältig diese Distanzierungen. Eines teils bin ich tief geprägt vom Sächsischen, ich war ja auch zwei Jahre lang überzeugter sächsischer Dorfschullehrer in Denndorf bei Schäßburg, und ich habe "leider" eine schöne Kindheit gehabt, auch wenn drakonische Erziehungsmaßnahmen und "Pflichtkantigkeit" der Erzieher das Bild verdüstern, die Erinnerungen bleiben - und mein Schreiben wiederholt immer wieder das Muster dieses tiefen innern Bruches, ein Trauma, das ich nicht mehr los werde. Ich hab noch die alte Erziehung "genossen", ich kenne diese Schmallippigkeit und den "unbedingten Gehorsam", "keine Widerrede", diese Erziehung zur bedingungslosen Unterordnung, und ich kann sehr wohl damit meine späteren Schocks verbinden, etwa die Antworten des siebenbürgischen Auschwitzapothekers Dr. Victor Capesius, der mir zu Hause als Kind Pfefferminzbonbons verkauft hatte in seiner Schäßburger Apotheke "Zur Krone", den ich dann in den siebziger Jahren in Göppingen besucht habe, oder die eines SS-Onkels, der ebenfalls "dort" an der Endstation unserer Zivilisation Offizier war, die beide auf meine Frage, wie das alles denn möglich gewesen sei, sie "dort" mitgemacht hätten, obwohl ihr Gewissen ihnen schlaflose Nächte bescherte, die Erklärung dazu fanden: "Ich war eben für den absoluten Befehl, für die unbedingte Unterordnung! Wohn hätte ich auch gehen sollen? Dort waren ja MEINE Leute!" Und wäre ich einige Jahre älter gewesen, hätte ich mich möglicherweise jenem Zwang auch nicht entziehen können. In meinem Roman "Vaterlandstage" habe ich so mit dem Erwachsenenwissen meine eigenen, naturgemäß naiven und schönen Kindheitserinnerungen "korrigiert", korrigieren müssen, sie wohl auch schreibend beschädigt, indem ich beide Dinge zusammengebracht habe, zusammenbringen mußte. Denn solch eine Seelenarbeit muß ein Autor, vor allem, wenn sie sonst in seinem Umkreis völlig ausbleibt, auch für andere leisten, das ist ja sein Beruf, schreibend sich selbst, aber auch andere zu befreien versuchen. Am schönsten hat der Historiker Prof. Andreas Möckel dieses für den eigenen Seelenfrieden nicht ungefährliche Muster in einer Besprechung des Buches analysiert. Ich erlaube mir hier daraus zu zitieren: "Die Erzählung wird gebrochen durch die Seelenarbeit der Hauptperson T., die in die eigene Vergangenheit zurückkehrt, vergegenwärtigt, und anders und neu nacherlebt. Verschlüsselter, naiver Kode von einst und entschlüsselter, wissender Kode heute liegen übereinander. Die Vergangenheit ist da, aber sich selbst fremd... Der Roman ist die Odyssee eines jungen Menschen ... in dessen scheinbar friedliche wassertropfenkleine Welt der Blitz eingeschlagen und allen Schutz um die Seele des Kindes verbrannt hat. Mit dem grellen Licht, das auf die chaotische, scheinfriedliche Welt gefallen ist, bleibt der Junge allein. Die Darstellung dieser Verlassenheit ist subtil und sehr genau... Der Roman .... ist die beste und konsequenteste Durcharbeitung und Darstellung des Chaos, in das die Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert schuldig-unschuldig hineingeraten sind, die ich kenne. Die Hauptperson ist kritisch und selbstkritisch bis an den Rand der Selbstzerstörung. Und muß es konsequenter Weise auch sein. Die Zeiten waren so." (Zugänge, 1/87). Sie können sich vorstellen, daß es mir unter diesen Umständen nicht möglich war "Zuspruch" und "moralischen Schutz" gar bei eben jener schuldig gewordenen Moral zu suchen, die in meinen Augen - leider ins Negative gehend, jenem jungen Menschen so zerstörerisch nahe stand, ähnlich wie die eigene Familie, zerstörerischer und belastender als der äußere Moloch der roten Ideologie und ihrer Verbrechen, der ja aus der Fremde kam.... Die Untaten der eigenen Leute gehen mir näher, als die von Fremden.

Wie soll ich als Autor, der seinem Gewissen und seinem Gedächtnis verpflichtet ist, auch seiner Biographie, dieses Trauma einfach "vergessen", und diese Wunde, die jetzt auch in Deutschland auf verheerende Weise wieder aufbricht, unterschlagen!

Ich betrachte es aber als eine Chance und eine wichtige Initiative des "Brückenbaus" zu uns "kritischen Intellektuellen", daß es Ihre Forschungsstelle für Literatur im "Südosteuropäischen Kulturwerk" gibt.

 

S: Je mehr sich die Gefahr einer durch Abwanderung der Deutschen aus Rumänien in die Bundesrepublik bedingten Auflösung der deutschen Siedlungsgebiete abzeichnete, läßt sich aus Ihren essayistischen und literarischen Arbeiten neben Kritik zunehmend ein prononciert nostalgischer Ton heraushören, und es ist wohl kein Zufall, daß zwei Gedichtaufstellungen in renommierten Literaturzeitschriften aus den Jahren 1992 und 1993 den Titel Siebenbürgische Elegien tragen. Glauben Sie - und wenn ja unter welchen Voraussetzungen -, daß der Exodus der Siebenbürger Sachsen - wie auch jener der Banater Schwaben und der andern deutschen Volksgruppen aus Rumänien - hätte verhindert werden können?

 

DS: Es ist der vorher geschilderte innere Bruch.. "Siebenbürgische Elegien" sind noch die sanfteste Form dieses auszudrücken, nämlich den schmerzlichen, den endgültigen Abschied von Siebenbürgen. Doch dazu kommt noch ein anderes wesentliches Moment - der Tod, hier der geschichtliche Tod der Siebenbürger Sachsen , der reinigt und adelt, er hebt die Betroffenen in der Gegenwart in eine Sphäre der Beispielhaftigkeit, heute ist ihr Verschwinden als Volksstamm, dieser Abschied wie ein winziges Exempel, der berühmte Wassertropfen der das Meer spiegelt, Exempel für das Schicksal der Welt. Der Exodus, das Verschwinden ist tragisch. Es ist mir unmöglich, darüber nicht zu schreiben, ich gehöre ja selbst dazu.

Zur Frage, ob dieser Exodus hätte vermieden werden können, kann ich nur mit Nein antworten, die Wurzeln dieses finis saxoniae sind schon in der Geschichte der Minderheit angelegt, bei den Sachsen dem Verlust des Königsbodens. Ihre Geschichte war notendigerweise immer ein Abwehrgefecht wider den Lauf der Zeit ( sogar die unseligen Jahre 1940-44 kann man so deuten), bis dieser Zeitlauf, dann mit ihrer kräftigen Beihilfe, ähnlich wie in alten Tragödien, wo das Gegenteil erreicht wird, von dem was beabsichtigt wird, oder alles Instrument des nicht änderbaren Schicksals ist, denken wir an Ödipus, sie schließlich überrollte.

 

S: Ihre Beziehung zu dem herrschenden Geld-System und zu seinen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland war von je her gespannt, ablehnend. Sie erblickten, im Zuge der Studentenrevolte 1968, am Anfang Ihrer Übersiedlung, in der "neuen Linken" - ich zitiere aus Ihrem ersten in Deutschland erschienenen Buch Visa. Ost West Lektionen (1970) - jene "relativ starke Bewegung", die "nach vorne gewandt und wissenschaftlich fundiert" die durch den Stalinismus "verratene Revolution" weiterführte, eine Alternative, die "zu Hoffnungen Anlaß" geben könnte. Nun haben die Dinge durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und die Vereinigung Deutschlands einen ganz anderen Lauf genommen. Wie sehen Sie unter diesen Umständen Ihre Aufgabe als Schriftsteller und mit welchen Herausforderungen werden Sie konfrontiert?

 

DS: Der "Linken" anzugehören, heißt doch nicht, die Bundesrepublik abzulehnen, sondern sie für veränderungs- und verbesserungswürdig zu halten. Unlängst stand in der FAZ, daß seit 89 nun die einzig mögliche Kritik an diesem westlichen System "der Warentest" sei. Man staune: DER WARENTEST als Wahrheitskriterium! Und wer es dennoch wage, Kritik zu üben, sei selber schuld.

"Links" und "orthodox" verträgt sich nun gar nicht. Links heißt das distante und kritische Verhältnis zu jeder Gesellschaftsform, die dem Menschen die Möglichkeit zur freien Entwicklung seiner Persönlichkeit nimmt oder Bedingungen schafft, die diese verhindern. Oder auch mit subtilen Mitteln in ihrem Interesse alle Kräfte in eine falsche Richtung lenkt, wie in der Geld- Reklame- und Konsumwelt! Wie in allen bisherigen (nicht-totalitären) Gesellschaften besteht eine Diskrepanz zwischen Verfassung, demokratischer Staatsform und "Gesellschaftssystem". Ich habe kürzlich in einem Essay ("Literaturmagazin" 31, Rowohlt) versucht, diesen Standpunkt genauer zu umreißen. Hier in unserem Gespräch fehlt der Raum dazu.

Mein Versuch, mit meinen sehr bescheidenen Mitteln und ganz auf mich gestellt als ohnmächtiger, aber autonomer Autor, und oft genug als "Freihungerer" gegen beide Systeme, die sich nicht vergleichen lassen, da es sich um ein totalitäres und um ein offenes System handelt, anzuschreiben, hat sich nach 89 vereinfacht. Es ist nur noch eines der Systeme übrig geblieben, was dieses freilich gestärkt und bestärkt hat, als hätte es nun, ohne jede Einschränkung, Recht und Wahrheit "gepachtet", dem sich die ganze Welt nun zu fügen hat. Dabei muß scharf zwischen dem freien Spiel der Kräfte in der Politik, der Öffentlichkeit als Verfassungsprinzip, samt einer institutionell abgesicherten Selbstkontrolle und den gewissermaßen totalitären Enklaven der Großbetriebe und Banken und ihren Interessen unterschieden werden. Und was den Osten heute betrifft, wo eher letzteres auf Mafia-Art und ohne Öffentlichkeitskontrolle einbricht, sind die neueren Zustände bekannt. Es wird wohl niemand behaupten können, daß der Zusammenbruch im Osten mehr Frieden oder gar Glück in die Welt gebracht hat, es ist so, als wäre 1989, wie Heiner Müller definiert "die Lokomotive der Apokalypse" gewesen. Die einzige Hoffnung in diesem Tabula rasa, wo die durch das Patt eingefrorene Zeit wieder fließen kann, ist die totale Offenheit aller Alternativen. Wo aber vorerst und ziemlich gefährlich (vor allem in Rußland, aber auch in Rumänien) nun alles nach rechts gerückt ist bis hin zu offenen nazistischen Gruppierungen. Man sieht es auch am Fremdenhaß und an den Brandfackeln in Deutschland.

Was mich nach 89 beschäftigt, ist verstärkt jene Aufgabe, die mich auch vorher beschäftigt hat. Es ist schwer, dieses in ein paar Worten zu erklären, doch ich will es versuchen, da es ins Zentrum meiner Arbeit zielt: nämlich den Abgrund zwischen dem, was das Denken und das Handeln - bis hin zu den Politikern, Managern und Universitäten bestimmt, und den Dimensionen, auf die unsere gesamte Umwelt aufgebaut ist, nämlich eine Welt von Geist, die nicht als Geist erscheint, mit meinen literarischen Mitteln überbrücken zu helfen. Genauer: Das, was uns umgibt, ist ja eine völlig andere, immaterielle Welt an einer unvorstellbaren Grenze zu einem neuen Weltmuster und Paradigma. Beispiel: Denken wir nur an unsere "elektronischen Haustiere," Computer, Radio, Fernsehen usw. Sie beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedankenblitze" wie in der Kunst, aus einem großen kosmischen Informationssystem, das alles bestimmt. Das Nicht-Materielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und Gesellschaft. Völlig im Gegensatz dazu beherrscht der krasseste Materialismus die Köpfe und das Handeln. Die Menschen der Gegenwart bewegen sich und handeln in dieser neuen immateriellen Umgebung weiter so, als wäre es immer noch die alte Körperwelt. Das herrschende materielle Denken ist antiquiert, denn die Welt ist Geist, der nicht als Geist erscheint, wie ein bekannter Physiker formuliert! Außerdem ist durch weltweite Kommunikation unsere Welt eine einzige geworden, in der anstatt der Kontrolle einer Weltregierung, die von diesen Bedingungen des Lebens überholte alte und trübe nationalistische Emotionen in den armen Ländern und das materialistische Profitdenken des Geldsystems in den reichen Ländern wie ein Krebs wuchern und die Erde teilen!

 

S: Sie haben bereits in Rumänien wie kaum ein anderer Schriftsteller Ihrer Generation nicht nur zeitgenössische deutsche Literatur den rumänischen Lesern vermittelt, sondern sich auch - gewinnbringend für Ihr eigenes Werk - intensiv mit moderner rumänischer Literatur befaßt. Von der faszinierenden und vielfältigen Welt des Südostens sind Sie auch später nie ganz losgekommen. Ist in Zukunft damit zu rechnen, daß der Westen angesichts der Schwierigkeiten, die jetzt und hinfort auf ihn zukommen, auf die geschichtlichen und gegenwärtigen Erfahrungen der ost- und südosteuropäischen Länder angewiesen sein wird?

 

DS: Im März 93 habe ich in Hermannstadt ( in der Evangelische Akademie Siebenbürgen) einen Vortrag gehalten, mit folgendem provozierenden Titel: "Östlicher Reichtum und westliche Armut". Ein Essay von mir heißt " Das walachische Nichts, ein europäischer Wert?"

Was ich vom östlichen, vom fernöstlichen Denken gelernt habe, ich übe z.B. seit 18 Jahren täglich Yoga, ist die unverlorene Substanz des psychischen Lebens, die im Westen gefährdete re-ligio, die Anbindung an jenes große kosmische Informationssystem, von dem ich vorher sprach, zu behalten, und der durch die verlorengegangen Bindungen entstandene Gefühlsschwäche entgegenzuwirken. Vom rumänischen Denken habe ich viele Impulse erhalten. So etwa von Tudor Arghezi oder E.M. Cioran, den ich persönlich kenne, und mit dem ich in freundschaftlichem Briefwechsl stand. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er. Durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse. Und der Grund? Es ist der Abgrund der Geschichte. Östliche Denker vor allem wissen darüber zu berichten. Aus dem Osten kamen wichtige Impulse, einige auch aus Rumänien. Wie der Religionsphilosoph Mircea Eliade, der Bildhauer Brâncusi oder einer der Begründer des Absurden Theaters, Eugène Ionesco. Von Ionesco lese ich in einem Buch, das bei Suhrkamp in Frankfurt über Mircea Eliade erschienen ist, es heißt "Die Mitte der Welt", über die Gründe jenes Taumelns sagt Ionesco: "Die Technik und die Ideologien des Abendlandes, alles nur verfälschte entfremdete Weisheiten, wie der Marxismus, haben sich im Orient durchgesetzt, er hat sie akzeptiert, aufgenommen und seine eigene Weisheit verloren. Nicht das Abendland hat sich dem Orient seit der Entkolonisierung geöffnet, sondern der Orient dem Okzident, er hat sich Fehler und Wahnsinn des Abendlandes zu eigen eigen gemacht." Ionesco beschreibt seine Enttäuschung darüber, daß Eliade "nur" ein abendländischer "Gelehrter" geworden sei, seine Generation aber und seine Freunde erwarteten mehr, einen "Eingeweihten", der ihnen in ihrer metaphysischen Not helfen sollte. So blieb das Absurde, der abgründige Nihilismus als eine negative Theologie und eine Philosophie des Scheiterns für ihre Generation übrig .

Ein Gegengift also auch zu einem durch die Ideologie im Osten sich selbst entfremdeten Marx. Von der "Heimatliteratur" ganz zu schweigen. Ein Gegengift aber auch gegen den Materialismus des westlichen Geldsystems und seiner seelenvernichtenden Lebensform. Erlauben sie mir zu Marx noch ein Wort: Ich lese gerade wieder in Hegels "Phänomenologie". Da ist Verständnis schwierig, verstehen kann einer nur, wenn er diesen ganzen Prozeß, aber intim und durch sein ganzes Leben, schon selbst in sich hat, diese Prozesse, die Hegel versucht zu analysieren, mit Erfahrung zu füllen. Eigentlich ist dieses ganze Unternehmen eine Unmöglichkeit und am Rande des Unsagbaren und Unfaßbaren. Es ist allenfalls im Gedicht möglich, wie es Hegels Freund Hölderlin getan hat, und dabei krank geworden ist. Welch ein Mißverständnis von Marx, anstatt auf dem Kopf zu gehen, den Abgrund zu sehen, alles "auf die Füße stellen" zu wollen, und so natürlich auch, wie sollte es anderes möglich sein: in seinem extremen Materialismus, der die wichtigste Gesellschaftskomponente, den genialen Einfall ausklammert, auch mit den Füßen zu denken. Daß alles nur ein "Veräußern" sein soll, scheint zwar evident und die härteste Wirklichkeit, die uns bedrängt, und ist doch nur halbwahr, also sehr subtil falsch! Dies hätten auch die Geld-Herren ganz gern, daß alles veräußerbar, auch meine und deine Seele käuflich sein sollen. Der alte Bärtige hat so wenigstens zum Kollaps des Denkens heute, zum Negativen viel beigetragen, zur Tabula rasa. Doch Gottseidank nicht nur. Jetzt vom Bleigewicht des Ostens befreit, wird seine in Teilen äußerst wichtige Analyse, die auch Philosophie "aufhebt", zu Praxis werden läßt, wieder als kritisches Denkinstrument einsetzbar. Wie zur Strafe war Philosophie eine Zeitlang, bis 1989, fast nichts anderes mehr, als eine Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gedicht, also dem Brennpunkt Subjekt, wie das ja schon Kant, dann sehr spät, manieriert und verworren Heidegger getan hat.

 

S: Ihre Bücher, die über den Kreis Ihrer Landsleute hinaus bekannt geworden sind, wurden von Kritikern bestimmten literarischen Richtungen zugeordnet. Zu welchen deutschen und ausländishen Autoren der Gegenwart fühlen Sie sich besonders hingezogen?

DS: Die Liste wäre sehr lang und erschöpft sich nicht bei Gegenwartsautoren, sie beginnt mit den Griechen, Shakespeare, Hölderlin, Joyce, Proust, Kafka. Lyrik: Shelley, Rilke, Loerke, Jeffers, Yeats, Celan. Aber die Liste ist keineswegs vollständig. Denn Wissenschaftstheorie und Physik kommt heute hinzu. Und vor allem Essayistik von Walter Benjamin bis Günter Kunert. Ich lese viel, und habe dann meine momentanen Vorlieben, je nach dem, was ich selbst denke und schreibe. Da ich vier Jahre lang (für ein großes dreibändiges Kunstbuch, die die Renovierung der Kapelle dokumentiert) an Bildmeditationen zur Sixtinischen Kapelle geschrieben habe, war es in diesen Jahren vor allem die Genesis und theologische Literatur. Dann habe ich mich mit schöpferischen Prozessen von Kranken beschäftigt, viel psychiatrische, kabbalistische, parapsychologische Literatur und die Mystiker gelesen. Seit einigen Jahren fühle ich mich zur phantastischen Literatur und zur Science-Fiction hingezogen von Maupassant bis zu Dino Buzzatti, Eco, Stanislaw Lem, Spielberg. Dann von den Heutigen Alexander Kluge. Heiner Müller, Brigitte Kronauer, Botho Strauß, der junge Leipziger Kurt Drawert. Essays von C.F. von Weizsäcker bis zu Paul Virilio. Und zur Zeit lese ich das beeindruckende zukunftsweisende wissenschaftliche Buch vom Mainzer Physikprofessor Ernst Senkowski "Instrumentelle Transkommunikation", in dem sich zeigt, daß die phantastischsten Vorstellungen real werden können und sind! Eine neue (und exaktere) Hoffnung - unsere; in diese Grenz-Sphäre hineinreichende Geräte ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld," nämlich mit den Toten; es klingt, wie Science-Fiction...

Von den Rumäniendeutschen schätze ich meinen Kollegen Oskar Pastior. Von den Jüngeren: Herta Müller und Werner Söllner, die Lyrik Franz Hodjaks, Klaus Hensels und Ernest Wichners, die Essays und Kurzgeschichten Wagners. Von den Rumänen Arghezi. Cioran. Noica. Fundoianu. Von den Jüngeren: Sorescu, Manea, Sin.

 

S: Ihre Werke weisen Sie als einen sehr wandlngsfähigen und -freudigen Autor aus. Man hat als Leser den Eindruck, daß Sie beim Schreiben von einer ständigen Angst vor dem bewährten und erprobten Ausdruck begleitet werden. Hängt das allein mit Ihren Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der Sprache zusammen oder gibt es auch andere Gründe für diese Unruhe?

 

DS: Wieso "Unruhe"? Und wieso Angst? Nein, es ist weder das eine noch das andere. Im Aufbrechen oder der Parodie von Klischees, oft auch des "bewährten und erprobten" Ausdrucks, des nichtssagenden Standardausdruckes, schließlich der alles zudeckenden Wort-Lüge im Berufs- und Familienalltag oder in der Politik, im Mediengeschäft und andern Geschäften, einer Wort-Lüge, die in den beiden Diktaturen die Sprache zur Mithelferin von Verbrechen hat werden lassen, zur Mitschuldigen, beginnt heutzutage die Spracharbeit des Autors. Dies die Negativ-Aktion. Angenehmer ist die Arbeit mit dem großen Sprachgedächtnis, stehenden Wendungen, Zitaten etc. Erst beim Ablegen von oder sehr oft auch der Reibung an "bewährten" Sprachfertigteilen, im überraschenden, unerwarteten Kontext wird der eigene Ausdruck gefunden, und Berührung mit Traum und Phantasie wird erreicht, "wenn die Dinge aus dem Namen fallen" - der schöpferische Prozeß kommt in Bewegung. Sie haben sicher von der Sprachskepsis gehört, die seit Hofmannsthal und Nietzsche auch die deutsche moderne Literatur begleitet und erst ermöglicht hat. Dieser Prozeß ist auf Deutsch nach dem Krieg und der Nazizeit besonders drastisch gewesen, und hat vielleicht heute nach dem Fall der zweiten Diktatur auf deutschem Boden einen Höhepunkt erreicht, anders als bei den Franzosen, Engländern und Italienern. Und genau mit dieser Sprache, die, so Paul Celan "durch die Finsternisse todbringender Rede hindurchgehen mußte," mußte ich mich als siebenbürgischer Autor ebenfalls auseinandersetzen, weil die Inhalte und Handlungselemente danach waren, in ihr und nirgends anderes mehr heute "spielten". Dieses hat in meinem Roman "Vaterlandstage" zu einer entsprechenden Form und Sprache geführt, nämlich zur Form jener Ereignisse, die uns an die Grenze unserer Vorstellung begegnen, und manches sprachlich "Erprobte" auf Deutsch in Frage stellen. Es gab nichts Erprobtes mehr, auf das man sich hätte verlassen können, sondern das Gewissen und Sprachgewissen wurde auf eine harte Probe gestellt und kreiste um die eigene Sprachlosigkeit angesichts dessen, was geschehen war - und heute noch geschieht. Wer sich in irgendwelcher Sicherheit wiegt, betrügt sich selbst. Und vor allem einem Siebenbürger, der im Vakuum seiner eigenen Geschichte lebt, und lange, auch zu Hause schon im Vakuum gelebt hat, dabei viel hinter sich hat und wenig vor sich, viel über die blutige Epoche wissen müßte, sie am eigenen Leib erlebt hat, steht solch ein museales Bewußtsein eines in der Luft hängenden Erprobten am wenigsten zu. Und gerade dieser alte, ein wenig sentimentale Siebenbürger, ist dabei einfach überfordert, er klammert sich vielleicht, aus Angst vor dem eigenen, nicht nur persönlichen Abgrund, der ihn erwarten würde, ließe er das "Erprobte" fahren, an dieses "Erprobte", diese alten Denkgewohnheiten und ihre gewohnte Sprache, die eigentlich nichts sind als ein Seil im Nichts. Daß man sich daran gerne klammert, vor allem in diesem Anpassungsstreß des Weltwechsels, der ja eine Art Krankheit sein kann, davon weiß ich auch als Autor ein Lied zu singen. Das "Erprobte" ist ein Erfahrungsreservoir aus einer andern, vergangenen, heute nicht mehr gültigen Zeit.

 

S: Als allgemeines Kennzeichen Ihrer Gestaltungsweise fällt beginnend mit Ihren frühen Dichtungen auf, daß Sie sich der Collage bedienen und auch gern Zitate in Ihre Arbeiten einbauen. Entspricht diese Art des Vorgehens einer zwingenden künstlerischen Notwendigkeit, und welche Bedeutung messen Sie den jeweils neuesten Trends bei?

 

DS:. Die Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit meiner Phantasiearbeit, denn meine Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Handlungs-Stößen; vielleicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Moment oder die Welt als Einfall, ganz "heiß" dann aufgeschrieben, tagebuchartig in "Zeithäppchen", flashs, und dann erst nachträglich zusammengesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch beim nachträglichen Zusammensetzen alles "heiß" und inspirativ geschehen muß, es darf keine Manipulation oder Bastelarbeit sein; dieses ist deshalb so erregend, weil es wie die Simulation eines ebenbildlichen Prozesses zu sein scheint, wo Sinn sich summiert. Je mehr Einzelszenen oder auch Fragmente sich gegenseitig anziehen, dichter werden, ein annäherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden "Sinnarbeit", die sich eben einem Unerreichbaren, einem verborgenen Ganzen annähert. Es ist ein erhellendes Verstehen, das immer näher und intensiver wird, je mehr "Bildpunkte" auf dem Bildschirm des Gedankens und dann des Buches zusammenkommen. Es ist eine komplizierte, jahrelange und sehr einsame Reise in eine Zone, wo das Unerreichbare, das platonische "Eine", vielleicht "Gott" warten. Und so wäre diese Sinnarbeit via erlebter Weltfragmente im Laufe der Zeit, diese zerfallenen Stückwerke der Momente und Lebensphasen in ihrem anscheinend sinnlosen, daher schmerzhaften "Unten" ihrer mangelnden Bindung und des fehlenden Zusammenhanges eben das Rohmaterial eines Ganzen, einer stimmigen schwingenden "Sprachheimat". Es ist bisher die einzig mögliche "Sicherheit", einer fast numinosen Geborgenheit im Nirgendwo, die es für mich an der Grenze zwischen sinnlichem und geistigem Bereich noch gab, mit ihrer Tiefengrammatik des Sprachgedächtnisses als das einzige unzerstörbare Haus, das ich noch besaß.

In letzter Zeit aber bin ich auch auf nicht-literarische Sprachphänomene und Schriftphänomene, die über Computer und Tonband, Fernsehschirm und automatische Schrift Forschern aus der ganzen Welt vermittelt werden, gestoßen, viele Tausende von Seiten, die möglicherweise den Beginn eines neuen Weltverständnissses - nach dem Einsteinschen - ankündigen, im Bereich der Überlichtgeschwindigkeit, also dort als rein geistige Phänomene angesiedelt sind, die den berühmten Satz vom Tod als der "Sünde Sold" aus der Genesis und der Paradiesvertreibung damit aufheben würden, in ein neues Zeitalter weisen könnten, falls es tatsächlich über-sinnliche Wirklichkeit wäre und nicht nur Projektion unserer eigenen todesgeängstigten Seele. Hermann Oberth hat übrigens einiges dazu gesagt und geschrieben, und ich hatte mit ihm einen angeregten Briefwechsel über diese Psi-Phänomene. Vorerst wirkt diese Botschaft wie Science-Fiction und phantastische Literatur; damit hätten freilich Kunst und Literatur eine neue Möglichkeit und Aufgabe, und dieses sogar auch dann, wenn es nicht wirkliches sondern Projektion unseres Inneren wäre - denn wo sonst wird die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten, wenn nicht in diesen seelischen Bereichen?! Die Aufgabe der Kunst, der Literatur wäre wieder jene, die sie früher immer schon hatte, nämlich intuitiv das Kommende vorwegzunehmen, nicht dem Wissen, der Wissenschaft nachzuhinken - wie in den vergangenen 50 Jahren.

Zitate? Nun ja, die Einfügung von Zitaten in meine literarischen Sprachnetze und Gewebe kommen ebenfalls aus dem Bedürfnis, Einleuchtendes, das gut gesagt ist, wie Eigenes einzubauen, aufzubewahren in Kon-Text zu setzen und eine neue Sinnumgebung zu schaffen. Meine Arbeit war nie ein den "Trends"-Nachlaufen; niemals sind ja vor-genommene Pläne rigide durchzuführen in der künstlerischen Arbeit, sonst gibt es Rückschläge, ein Autor ist nur ein schwingendes Instrument, da arbeitet die intuitive Sprachphantasie in ihm, entfaltet ihren Reichtum, wenn er es zuläßt, sich nicht mit seinem kleinen Ich einmischt aus Mangel an Vertrauen in andere Kräfte, die in ihm arbeiten; intellektuelle, gar vorgeplante Einmischung von dieser kleinen beschränkten Ebene der Ratio und des Alltagsverstandes aus, stört den kreativen Prozeß. Daher ist auch jede Art Tendenzliteratur ein kunstvernichtender Prozeß, zumindest aber eine Binse. Auch müssen alle vorgenommenen und vorgewußten Reißbrettspiele immer wieder vom wirklichen Schreibgeschehen durchkreuzt werden. So war ich in vielen meiner, wie die Kritiker sagen: "hermetischen" und "esoterischen" Arbeiten den "Trends" eher voraus, daher oft völlig "out". Das schmerzt oft, beunruhigt, geht bei einem "freien" Autor mit Ängsten einher. Doch das ist der Preis, wenn man sich selbst treu bleiben will; dafür wird man ganz anderes, nämlich schon während der Arbeit "belohnt" mit Erregungen und Glücksgefühlen, da wartet das geschriebene Glück, wie es mein Kollege Werner Söllner in einem Gedicht so schön ausdrückt.

 

S: Die Hauptgestalt in Ihrem bisher einzigen Roman Vaterlandstage (1986) trägt autobiographische Züge. Werden eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Prägungen auch in Ihrem zweiten Roman, der meines Wissens bald erscheinen soll, eine zentrale Rolle spielen und wodurch wird sich dieser, was Thematik und episches Verfahren anbelangt, vom ersten unterscheiden?

 

DS: Von den autobiographischen Zügen, die der Roman "Vaterlandstage" zwangsläufig tragen und ertragen mußte, werde ich im zweiten Roman, dem "Verweser", loskommen; ich arbeite schon jahrelang an dem, was ich die "Abschiedsfähigkeit" nannte, und vielleicht habe ich diese nun langsam erreicht. Gerade um diese Züge zu eliminieren, aber auch aus den oben geschilderten Erfahrungsgründen, muß "Der Verweser", der schon 89 in einer Fassung vorlag, neu überarbeitet werden. Ich hoffe, diese neue Fassung in einem Jahr fertigzustellen. Doch im Herbst 94 ist bei Reclam Leipzig eine andere Textcollage, eine Art synoptisches Tagebuch 89-93 unter dem Namen "Stehendes Ich in laufender Zeit" erschienen, eine Art Trauerarbeit der Hinterbliebenen, wo es auch um den Abschied von Siebenbürgen geht, vor allem um den Versuch, zu verstehen, was mit diesem Ich heute geschieht, das der "laufenden Zeit" nicht nachkommt, das Gefühl hat in einen abgründigen beweglichen Traum neuer Gefahr entlassen worden zu sein.

Der erste Roman war eine schmerzhafte Korrektur der Kindheitserinnerungen in einem fiktionalen Verfahren als Rahmen, um der Collage einen festen und sinnvollen Bezugspunkt zu geben. Dieser Bezugspunkt liegt in meiner Arbeit immer auf der Grenze zwischen Leben und Tod, und er versucht, dem was Un-Zeit bringt, Unmögliches und Ungeheuerliches, durch Erfindung so nahe wie nur möglich zu treten - bis es wehtut. Der zweite Roman, vorerst noch im Manuskript, ist ein Geisterroman, der in Lucca und in Siebenbürgen des 16. Jahrhunderts spielt. Im Gegensatz zu den "Vaterlandstagen" wird hier viel erzählt, aber gerade diesem Erzählen, dieser vorgefaßten und selbstbewußten (naiven) Art des angeblichen Wirklichkeitswissens wird drastisch und schließlich tödlich der Prozeß gemacht. Und das für die Spätrenaissance-Zeit, wo noch (angeblich) alles überschaubar, geordnet, also noch erzählbar war. Im Zentrum stehen alle Dimensionen des Buches, der SCHRIFT als magisches und gefährliches Elixier und Machtmittel, das die Obrigkeit zu allen Zeiten gefürchtet, aber auch selbst in den eigenen Dienst genommen hat, gefürchtet aber vor allem , wenn es wie in der Literatur die unkontrollierbare Sprache des Subjektes ist, das sich jeder Macht so entzieht. Diese Rettung, aber auch böser Zauber, kann das Buch sein, das Unglück, nicht nur Glück und Schönheit bewirken kann. Vor allem durch das selbstherrliche Diktat des "alleswissenden" Erzählers, der so eine Art Spiegelbild eines Diktators ist, der sich dieses Machtmittel anmaßt, anstatt in die Tiefen seines ungesicherten und mit dem Tod verbundenen Eigenen hinabzusteigen, wird Schrift zum Instrument eines falschen Denkens und einer falschen, ja, verbrecherischen Moral und des Kitsches. Im "Verweser" mißbraucht die Hauptfigur Granucci, Arzt und Autor, ihre Macht, um sich an einer Frau zu rächen, die ihn verraten hat, und die er durch ein bewußt falsches diffamierendes Porträt der Obrigkeit ausliefert, die sie hinrichtet. Ihr Phantom aber verfolgt den unmoralischen Autor, der am "Ebenbild" frevelt, bis die "Gerechtigkeit" wieder hergestellt ist, er ins Exil getrieben wird, wo er heimat- und ruhelos durch Europa irrt, schließlich eingemauert in einem Turm sein Leben beendet. Reizvoll ist die andauernd grenzüberschreitende Moral für Dinge jenseits unserer Vorstellung; daß nämlich kein irdisches Gericht dazu fähig ist, den Fall in seiner Komplexität zu richten. Aufgelöst soll auch das alttestamentarische und antike Rache-Prinzip werden, die Geschehnisse weisen durch die Metapher der "Gespenstergeschichte" über unser Verstehen hinaus, öffnen sich höchstens einem sehr umfassenden "karmatischen" Schicksals-Begriff, der mit dem modernsten und tiefsten Begriff heute, jenem des sokratischen Nicht-Wissens einer negativen Theologie korrespondiert, und bis hinein in die Quantenogik der modernen Physik heute äußerst wichtig geworden ist.

Sie sehen, die Ablehnung des "Realismus" eines festen Weltbildes und seiner Sprache, wie ich es anfangs geschildert habe, verfolgt mich bis in die Motive, Inhalte und Formen meines Schreibens. Jene Sicht einer heilen "festen Welt" ist nicht nur falsch, wie die moderne Wissenschaft zeigt, sondern führt letztlich zur Zerstörung jener Weltmitte, die im Subjekt des Einzelnen verborgen ist.

 

März/November 1994

 

(Erweiterte und verbesserte Fassung des in Heft 3 der "Südosteuropäischen Vierteljahresblätter" erschienenen Gesprächs.)

 

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6. Paul Celan

 Die nachzustotternde Welt

Gedichte: Spät für Celan

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DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT BEI DER ICH ZU GAST GEWESEN SEIN WERDE

Paul Celans "Wahn-Sinn" - Leid und Erkenntnis eines millenaren Zeitbruches

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Das Blochsche Noch-Nicht, das Noch-Nicht-Nachvollziehbare, das aber DA ist, braucht Zeit; wir sind meist unfähig, es wirklich zu erleben, an bisherige Erfahrungen zu binden, fähig nur "punktuell" es aufblitzend erstaunt wahrzunehmen; es "geschieht" im Schlag von Lebensaugenblicken, eher von Todesaugenblicken, auch im Tod von "Zeit"; und vielleicht geschah es aufblitzend 1989. Diese Art blitzartiges Erleben, wie es auch Walter Benjamn in der Kategorie des "Chocks" beschrieben hat, finden wir bei Paul Celan. Was im Alltag noch nicht erfahrbar ist, vorwegzunehmen und so etwas Unmögliches sprachhandelnd zu TUN. Solch eine Art Dichtung wartet darauf, daß sie von der Geschichte eingeholt wird.

Das Kreative geht voraus: es ist eine Art Teleskop, Fernrohr, Elektronenmikroskop für Orte der ZEIT, in Zeit-Räumen zu sein, die genau wie bei jenen Geräten, entdeckte Wirklichkeiten zeigen, die mit freiem Auge oder Nicht-Sprachlichem Erleben gar nicht da und nachvollziehbar sind, ja absurd erscheinen, wie etwa die Titelzeile, die ich für meinen Essay gewählt habe: "Die nachzustotternde Welt,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde, ein Name". Dieser Name aber ist kein Begriff, es ist der Ort des Subjekts, wo mehr geschieht, als begriffliche Sprache auszudrücken vermag. Für Celan ist er erfahrbar im ungedeuteten Augenblick, im Offenen, im Bereitsein, im "Gebet der Aufmerksamkeit". "Man kann," sagt Celan im "Meridian", seiner Büchnerpreisrede 1960, "verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen - auch des Literarhistorischen - ,den Zirkumflex - ein Dehnungszeichen - des Ewigen. Ich setze - mir bleibt keine andere Wahl -, ich setze den Akut." Dabei und von diesem Jetzt aus halte das Gedicht einem "Ganz Andern" zu.

Jenes Andere der "Zeit", die näher kommt, durch heftige Geschichtsbewegung näher, ist jetzt näher als bei Celans Tod 1970, es wird in Paul Celans Gedicht schon virtuell erkennbar, das eigentlich selbst eine Deutung ist, die sich der "Zeit" gegenüber verhält, wie sonst der Kommentar zum Gedicht.

 

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DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT,

bei der ich zu Gast

gewesen sein werde, ein Name,

herabgeschwitzt von der Mauer,

an der eine Wunde hochleckt.()

 

Diese fünf Verszeilen stammen aus "Schneepart", dem letzten von Celan selbst zusammengestellten Gedichtband, und wie ein Vermächtnis klingen diese Verse. Mit Giuseppe Bevilaqua, dem Florentiner Übersetzer und Germanisten kann man sagen, daß Celan bewußt einen "Nachlaß zu Lebzeiten" geschrieben hat; er zählte sich zu den Toten, war ein zufällig Überlebender, jedoch ein Zeuge. Er hatte seine Eltern in einem Todeslager verloren; sein Werk war von Anfang an ein Totengespräch. Die Wunde war bei ihm so wirklich, daß Zorn bei ihm aufkam, wenn er nach literarischen Vorbildern bei der "Todesfuge" gefragt wurde. Es gab keinen Vergleich, kein Wie, kein Vorher mehr. Unvergleichlich,

 

unbeschreiblich ist, was geschehen war. Mitten in der Kulturlandschaft Europa:

"ER ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft...

Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng/ ein Mann

wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen..."

Ein Gedicht - oder Tat Sachen? Ein Gedicht aus Tatsachen?

"Das Grab in der Luft..., das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott, weder Entlehnung noch Metapher", schrieb Celan auf die Frage nach literarischen Vorbildern fast erbost 1961 an Walter Jens. Dieses ist das Unvorstellbare, Unvergleichbare, Aus-der- Sprache-Gefallene; auch im Negativen - diese restlose "Banalität", als wäre "bewiesen" worden, daß der Mensch das Nichtige, die pure Materialität ist, verschrottbar, vernichtbar Millionen zu Haarbergen, Knochenbergen - vor allem zu Asche "verarbeitbar", auch der Tod vernichtbar, der Mensch eine Nummer, schicksalsloses Exemplar - sonst nichts. Nichts? Ja, bei diesem "Nichts" setzt Celans Vers ein, beim verlorenen "Namen".

Und die Hoffnung ? Ist es nicht absurd, zu meinen: sie gewinne Boden durch diese paradoxe Radikalität: Das Undenkbare nämlich beim Tod sei nun allgemein, ja Geschichte geworden?

Überlebende, zu ihnen gehörten Jean Améry, aber auch Peter Weiß, haben sich gefragt, ob ein Weiterleben überhaupt noch möglich sei. Drastische Schuld des Verschonten, survivor guilt. Celan entkam ihr nicht. Er fühlte sich auch ganz unmittelbar schuldig am Tode seiner Eltern, da seine Flucht zu ihrer Deportation geführt hatte.

Dieses Schuldgefühl ist kein "normaler Zustand", vor allem jenen, die ungestört und so als wäre nichts geschehen weiterleben, muß dieses Verhalten völlig unverständlich bleiben, ja krankhaft erscheinen, es stellt ein Normalbewußtsein in Frage, das freilich in seiner Alltagsevidenz immer stärker sein muß, einen enormen Druck auf den Betroffenen ausübt, jenen, der eigentlich das richtige Zeitbewußtsein hat und nicht das falsche. Aber was spielt das schon für eine Rolle, wer da Recht hat, wer Unrecht?! Das "Leben" geht weiter, es hat "Recht", das Vergessen eben. Und Celan wollte nicht vergessen, ja, er hielt, und sehen wir es nicht heute, daß er Recht hat, er hielt Vergessen für Gewissenlosigkeit.

Was diese "Schuldgefühle" und ihre Ursachen betrifft, gibt es viele Legenden. Der ungarisch-jüdische Schriftsteller aus Bukarest Szász János , der Celan 1968 in Paris besucht hatte, spricht sogar von seiner "Flucht aus dem Konzentrationslager" als habe er "durch diesen Schritt" seine "Familienmitglieder selber in den Tod geschickt". Celan war nie im KZ gewesen. Welches aber war die Geschichte seiner persönlichen Wunde, die jenen Nachauschwitz-Zustand tot zu sein und doch noch am Leben, bei ihm hervorgerufen hatte, ihn nicht mehr verließ: Moses Rosenkranz, der Bukowiner Lyriker, der mit Celan gemeinsam im rumänischen Arbeitslager Tábáresti gewesen war, behauptet, "das Geheimnis von Celan" zu kennen. Ich zitiere gekürzt hier Rosenkranz` Aussage, die ich (am 5. Dezember 92) bei Rosenkranz im Schwarzwald aufgenommen habe: in einer königlichen "ordonanta regala" 1941 wurde verfügt, sagte Rosenkranz, ich zitiere - "daß kein Jude verfolgt werden soll, der in die sogenannten Arbeitsbrigaden eintritt. Jene aber, die dieses verweigern, sollen verfolgt, ihre Familie aber soll deportiert werden. Herr Antschel (der Name Celan ist ein Pseudonym) hat die Einberufung unterschlagen... Er hat es verschwigen, auch seinen Eltern gegenüber... Und der Celan sagt zu ihnen, gehn wir weg, flüchten wir. Und sie sagen, warum sollen wir flüchten. Celan hat ihnen nicht gesagt, weshalb sie flüchten sollen. Daraufhin läuft er weg und versteckt sich. Nachdem er weg war, ein paar Stunden darauf, werden die Eltern verhaftet, verschleppt, die Mutter hängt sich auf... Als sie erfuhr, daß ihr Mann, Celans Vater, erschossen worden ist. Das wußte der Weissglas (ein anderer bukowiner Lyriker und Celan-Freund) auch, er war im selben Transport. Ich habe die Sache gekannt. Und da Celan mir gesagt hat, daß man seine Eltern verschleppt hat, hab ich ihn gefragt, weißt du warum? Und da hat er mir diese Geschichte erzählt. Während Weissglas, als die Eltern deportiert wurden, mitgegangen ist. Und die haben überlebt."

Das hat natürlich Celans Schuldgefühl noch ins Ungemessene gesteigert. Vergessen als Schuld. Aufmerksamkeit: Gebet der Seele. Diese Wachheit, dessen Mangel das Leben so, wie es heute geführt wird, überhaupt und in seinen Augen gewissenlos ermöglicht, ähnlich wie bei Kafka: alttestamentarische Zorn wider das Schludern der Menschheit, - ist das "krank"? Krankhaft? Die meisten aber leben in der die Gnade des Vergessens, der Seichtheit? Gar der "späten Geburt"? Niezsche behauptete: Wer nicht vergessen kann, kann nicht leben. ("Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einen Punkt wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht." "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"). Offene Schwelle der Sekunde also. Celan dagegen?! Dieses andauernde Erinnern vernichtet ihn, ihn, der das Offene wollte.

Verständlich warum ihn Walter Benjamin so anzog. Als wäre er verdammt, dessen Geschichtsphilosophie zu leben. "In den Vergegenwärtigungen von Paul Celan lebten Personen und Begebenheiten erschütternd und heftiger auf, als es in einem Augenblicken unmittelbarer Betroffenheit meistens möglich gewesen war. Die unerhörten Schmerzen, die nie überwundenen Leiden und Leidenschaften, Vorwürfe welche nie verjähren konnten, - alles verdichtete sich zu einer erfinderischen Vorstellungskraft." "Vielmehr erneuerte er alles Gewesene zu bestürzender Gegenwärtigkeit. Seine Gegenwart bildete ein beständiges Erinnern... ein unaufhörlich qualvolles Erinnern an die unbegreifliche Fügung, die seine Eltern dem Tode ausgeliefert, ihm selber auf dem Wege über das Arbeitslager ein Entkommen gewährt hatte." "daß er nicht selten darüber das unmittelbar Gegenwärtige vergaß." Aber auch "chassidische Wunder im Alltäglichen." "Alles gewann in seinen Erzählungen Legendencharakter, Bestimmungen von höherer Hand. Bestechend blieb wie eindringlich, wie genau er das Unerklärliche zu beschreiben wußte, - sinnfällig genau und nie wiederholbar."

Dieses Schuldgefühl ist kein "normaler Zustand"; er muß vor allem jenen, die ungestört und so als wäre nichts geschehen, weiterleben, völlig "überholt" und krankhaft erscheinen.

Weiterleben? Dabei geht auch heute das Zunichtemachen fast ungestört und blind in anderen, weniger radikalen und sichtbaren Formen weiter. Celan hat unter dieser "Kontinuität" stärker als andere gelitten. Am Ende seines Lebens, etwa ab 1967, wußte er, daß es zu den Toten, nicht aber zu den Lebenden eine Rückkehr geben konnte, "da sie die eigentlich Toten sind." Über diese neue Totenwelt schrieb er die nachgelassenen Gedichtbände: sein Day after. In Versen aus dem berühmten Zyklus "Atemkristall" von 1967 heißt es: "Ein Ohr, abgetrennt, lauscht.// Ein Aug, in Streifen geschnitten,/ wird allem gerecht." Als könnte nur der Verstümmelte noch wahrnehmen, was ist. Die Normalen aber: "Oben/ der flutende Mob/ der Gegengeschöpfe..." (GW II, 19; GW II, 29.)

Er sieht nur noch Trümmerlandschaften, und das Gedicht besteht oft nur noch aus Trümmern, alles eisig, schon posthum. Radikale Sicht der zivilisatorischen Unterwelt: - "Die nachzustotternde Welt, bei der ich zu Gast gewesen sein werde." Eine selten gebrauchte Zeitform des Futurs, vollendete Zukunft,die diese Schwierigkeit ausdrückt, da zu sein, als einer, der sich schon als Toter sieht, den es in Zukunft einmal gegeben haben wird, was er schon ist.

Celan, der seine östliche Heimat Rumänien Ende 1947 verlassen hatte, lebte in Paris im Exil. Auch dieses eine weitere Vertiefung der subjektiven Unwirklichkeit. Der Exilierte hat keine Realität mehr, die abzubilden wäre, er hat nur - die Absenz.

 

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Bis 1968 kannte die bundesdeutsche Germanistik Celan nur als raunenden Metaphysiker, und der Tod seiner Eltern wurde von Kritikern sogar als "Legende" bezeichnet. Verdrängungskunst der Adenauerzeit. So schrieb der in Paris, nie in Deutschland Lebende, wo er die Mörder seiner Mutter wähnte, in einem Brief an den alten Freund Alfred Margul-Sperber nach Bukarest: "Nachdem ich als Person, also als Subjekt `aufgehoben' wurde, darf ich zum Objekt pervertiert, als 'Thema' weiterleben: als `herkunftsloser Steppenwolf zumeist, mit weithin erkennbaren jüdischen Zügen... Ich sage nicht mehr. Sie erinnern sich an Will Vespers: - die anonyme Loreley. Ich bin ebenfalls - wörtlich, lieber Alfred Margul-Sperber! - der, den es nicht gibt. Außerdem wird mein `Zusammenbruch` bekanntgegeben bzw. mein `Wahn-Sinn' (der Bindestrich kommt beim Herrn Apologeten vor, auch - denn einige Vorsicht ist immer noch geboten - die Gänsefüßchen...Ich bitte Sie, meine Manuskripte niemandem aus diesem so goldenen Westen zu geben. Vielleicht sollten sie eines Tages der Rumänischen Akademie anvertraut werden." Sich selbst hatte er dort liegengelassen. Zu seinem Nazitrauma, das heute wieder neue Nahrung bekäme, kommt ein anderes, das die Westeuropäer, auch die Westdeutschen nicht kennen, viele heute sogar nicht kennen wollen und vehement negieren: Es ist die Ost- Erfahrung und dann die Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West, der "Kulturschock", der Wahrnehmungsverlust und das grauenhafte Gefühl, eine lebende Leiche zu sein. Auch dies gehört zur "Nachzustotternden Welt,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde". Celan spürte wieder "Gasgeruch" in dieser westlichen Zivilisation, die Augen in Streifen geschnitten. Die Todeslager scheinen nur Endstation der entmenschten Technologie der verwalteten Geldwelt gewesen zu sein, wo der Mensch zur Nichtigkeit wird, austauschbar. Es gibt seit dem Stichjahr 1945 diesen allgemeinen Zustand, nirgends mehr heimisch werden zu können. Nach 20 Jahren Kälteerfahrung wurde das Wörtchen "wie" von Celan bewußt im Gedicht getilgt. Denn auch diese neuen Leiden waren tatsächlich unvergleichlich neu. Im Band "Sprachgitter" (1959) hatte Celan das vergleichende "Wie" noch zum letztenmal und wie zum Abschied verwendet im Gedicht "Wär` ich wie du. Wärst du wie ich./ Standen wir nicht unter einem Passat?/ Wir sind Fremde." (GW I, 167). Wahrscheinlich ist dieses Gedicht wie vieles bei Celan, beispielhaft an Personen gerichtet, hier an seine Frau Gisèle, die aus dem französischen Hochadel stammt und auch noch Lestrange, die Fremde hieß. Die seine Erfahrungen so nie begreifen konnte. In deren Familie der Fremde auch nie aufgenommen wurde. Mokiert hatte er sich schon früher über Hans Werner Richter, der ihn beim Treffen der Gruppe 47 einem Journalisten so vorgestellt hatte: Und das ist Herr Celan, der schreibt wie... wie... nun sagen Sie doch schnell, wie sie schreiben. Und Celan: "Na, hoffentlich wie ich!"

Alles sollte nur vergleichbar und "normal" sein. Da waren Gitter, Sprachgitter zwischen ihm und den andern. Zu Hugo Huppert, dem österreichischen Kollegen, sagte er: "Ich stehe auf einer andern Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur entfernt verstehen...immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns."

Vergessen als Schuld? Aufmerksamkeit, als Gebet der Seele? Ähnlich wie Kafka überkam Celan alttestamentarischer Zorn wegen dieses Schluderns der Menschheit. Ist solch Rigorosität "krank"? krankhaft? Soll man die Gnade des Vergessens, wie auch der "späten Geburt," der ebenfalls unbeschreiblichen banalen Seichtheit dagegen halten, sie loben, weil "Leben" darauf beruht? Dagegen stand Celans Gewißheit eines aufgebrochenen Grenzbewußtseins angesichts der Todeslager und der westlichen Zivilisation mit Hiroshima. Schon in einem frühen Gedicht heißt es: "...Wir wissen es längst, doch was tut`s/ Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung,/ Ihr setzet es vor unsern Brüdern und Schwestern -" (GW I, 35). Durch Gaskammern, den Lichtblitz der Bombe, den Gulag war das Unvorstellbare Geschichte geworden, und wir, als Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung, können uns nicht in das Gewohnte zurückziehen. Wenn Sinn sein soll im Tode der Opfer, muß die schier aberwitzige Hoffnung eine Chance haben, daß eine Grenzöffnung zwischen Leben und Tod stattgefunden hat: wie es in einem frühen Gedicht Celans heißt: "der geharnischte Windstoß der Umkehr,/der mitternächtige Tag,/es komme, was niemals noch war!// Es komme ein Mensch aus dem Grabe." (GW I,36).

Celan kommt schon 1960 zeitweise in die psychiatrische Klinik. In dieser Zeit nach 1960 sind viele klinische Fachausdrücke in seine Gedichte eingegangen. Aber auch Wortkombinationen mit "Wahn", "Wahnfahrt", "Wahnbrot", Wahngang". In einem Passions- und Ehegedicht 1965 an seine Frau, mit der ihn ein sehr kompliziertes innig-trennendes Verhältnis verband, lesen wir: ("ICH KENNE DICH, du bist die tief gebeugte,/ ich, der Durchbohrte, bin dir untertan./ Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?/ Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn"). (GW II,30). Das Gedicht - in Klammer gesetzt. Giséle Lestrange-Celan war selbstlos, in tiefer Sorge, half ihm, indem sie, die Zeichnerin, Gravüren zu seinen Gedichten anfertigte.

 

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Daß so viele Juden, die immer Gezeichnete, Ausgestoßene waren, zur Moderne gehören, sie in diesen Abgründen ihre Wahrheit fanden, ist kein Zufall: "Fahlstimmig, aus/ der Tiefe geschunden: kein Wort, kein Ding,/ und beider einziger Name." Text-Landschaft nämlich, Namen, keine Realien, die benannt werden, weil das Wort, der Name aus dem Verlust, der Abwesenheit lebt. "DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde, ein Name,/ herabgeschwitzt von der Mauer,/ an der eine Wunde hochleckt."

Was ist es für ein Name? Für eine Mauer? Es waren wirkliche Mauern. Die Wunden wirkliche Wunden. Und man hört dabei nicht nur Schüsse; man denkt an die Mauern einer als Duschraum getarnten Gaskammer. Darf man davon nur reden, gar darüber Gedichte schreiben? Lächerlich ist jede Begriffsbrücke, die an jenem, von uns Lebenden nicht vorstellbaren, höllischen Augenblick des Erstickens vorbeigreift, Anmaßung, und die begriffliche Sicherheit - reiner Hohn. Moral, Worte, Verse? Blasphemie. Vom bewußtlosen, von all dem nichts wissenden naiven und reichen West-Alltag ganz zu schweigen. Celan meint sicher nicht nur Literarisches, wenn er schreibt: " WEGGEBEIZT vom/ Strahlenwind deiner Sprache/ das bunte Gerede des An-/erlebten..." Und weiter "Aus-/ gewirbelt,/ frei/der Weg durch den menschen-/ gestaltigen Schnee..." (GW II,31)

Das Absurde, das Unfaßbare allein spiegelt in unseren Mitteln etwas von jener Wahrheit: jene "nachzustotternde Welt," die zu unserer gehört. Die Vergangenheit vergeht nicht, sie war nie vergangen. Ist so nicht Leben und Schreiben sind ethisch möglich nur noch von diesem Punkt aus, jener WUNDE aus, die zugleich jenseits unserer Vorstellung ist? Alles konvergiert in diesem Fünfzeilengedicht von der "nachzustotternden Welt", das vernichtend Historische wird mit dem Rückblick auf die Gegenwart im Metasprachlichen aufgehoben. Die Haupt-Zeile, wo der Kopf "NAME" heißt, sich selbst benennt, lautet: " ... ich zu Gast/gewesen sein werde, ein Name". Es ist der HEBRÄISCHE, also der unaussprechbare, unvorstellbare Gottes-Name, hinter dem das lyrische Ich eben-bildlich und verschwindend auftaucht, als "Gast", Fremder und schonungslos Nicht-Beheimateter: Nichts zählt, eben deshalb im Namen bleibt, der freilich unbekannt ist, im Hebräischen gar nicht ausgesprochen werden darf. Dem Unvorstellbaren also durchaus entspricht. Deutsch und Hebräisch, das Jüdische und das Deutsche stehen sich hier in diesem Gedicht also untrennbar und gleichzeitig unüberbrückbar auch sprachlich gegenüber, abgegrenzt und zugleich vermittelnd, wie Leben und Tod nicht vermittelt werden können und doch zusammengehören - mit der Zeit. Dem "Namen" steht ja die Zeit, deutsch auch ausgedrückt im Prozeß und absurd gegenüber als: "gewesen sein werde", diese selten gebrauchte "vollendete Zukunft", die auch wie eine völlig vergangene Vergangenheit klingt, abgeschüttelt also jede Zeit, als wäre, wie Hegel formulierte, "Gott der Tod", im Hebräischen ist er das "Nichts", im Sinne der Abwesenheit von Welt, der conditio sine qua non von Anwesenheit des Gottes-Namens, auch NICHTS genannt. Und zugleich führen diese Abgründe zu keiner Hoffnungslosigkeit, obwohl sie radikal, wie das Geschehen selbst sind: eine Vernichtung: die völlige Umkehrung dessen, was in der stupiden Gewohnheit als Existenz gemeint wird, nämlich "Leben" in jenen starren "gewesenen" nur sichtbaren Formen, die zu dieser Hölle geführt haben, unbedacht, nicht hinterfragt - bis heute! Und heute ist es besonders akut neu das Alte, das falsche Alte, sogar der falsche Alte als Anpassungsbeispiel. Obwohl jenes "Stottern," manchmal ein "Lallen" und "Brabbeln" - und dann auch das Verlangen schon bei Hölderlin nach einer "vaterländischen Umkehr" als Umkehr "aller Vorstellungen und Formen," längst akut war und ist.

Celans Gedicht an Hölderlin heißt "Tübingen, Jänner", und die Schlußzeilen lauten: "Käme,/ käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit/ dem Lichtbart der/ Patriarchen: er dürfte,/ spräch er von dieser/ Zeit, er/ dürfte/ nur lallen und lallen,/ immer-, immer-/ zuzu..." (GW I, 226).

Hier ist im Lallen das "Nachzustotternde", der Dichter, der sich jener Wunde nähert, der Zeit nähert, und steht für die Toten als Zeuge. "Ich verliere dich an dich, das/ ist mein Schneetrost,// sag, daß Jerusalem ist// sags, als wäre ich dieses/ dein Weiß,/ als wärst du meins,// als könnten wir ohne uns wir sein..." (GW III,109). Der Dichter will "unerkannt" bleiben. Und steht fürs "DU", für ein mysteriöses Du, einen abwesenden Partner, wie wir sehen werden. Das nur Gedachte, gar Aus-Gedachte, die fertige, schnellfertige Sprache, gar die All- tagssprache ist ungeeignet etwas davon zu begreifen. ("IN DIE RILLEN/ der Himmelsmünze im Türspalt,/preßt du das Wort,/ dem ich entrolle..."(GW II,13). Es gibt ein unsichtbares Netz von Verweisen im celanschen Gedichtkosmos: die kosmischen Gedächtnisrillen und der Psalm kommen hoffnungsvoll auch im Zyklus "Engführung" vor: "... in der jüngsten Verwerfung,/ überm/ Kugelfang an/ der verschütteten Mauer://sichtbar aufs,/ neue: die Rillen, die// Chöre, damals, die/ Psalmen. Ho, ho -/ sianna./... Nichts,/ nichts ist verloren."(GW I,203) Die "verschütteten Mauern" hier erinnern an die Mauern der "nachzustotternden Welt" im eingangs zitierten Fünfzeilengedicht, daß uns zu Posthumen macht, Welt, wo wir alle einmal gewesen sein werden, ein so selbstverständlicher Satz, der doch ver-rückt klingt und uns alle zu werdenden Toten macht: das Undenkbare ist real, jetzt schon, aber weil die Grenze heute ganz anders offen ist, als gemeint und gedacht, ist die Zeit gegenüber diesem Satz sehr entgegenkommend. Schon 1945 geschieht etwas Unglaubliches - das hätte geschehen können, - nicht! Die Katastrophe, die Apokalypse hätte durchaus im alten Heils-Sinn zur eigentlichen Rettung, Besinnung und Umkehr werden können. Es geschah die Wiederkehr des Alten, wie auch jetzt wieder nach 1989. Die begriffliche Sprache wie der Alltag sind das Immergleiche in verschiedener Kostümierung, sie helfen nur zu vergessen, sich zu sichern. Und wissend ist Sprache für Celan nur (etwa im Gedicht "Von Ungeträumtem", GW II,12) in lauter quälenden hellwachen Schlaflosigkeiten, dann ist sie in einem "Brotland", wirft einen Lebensberg auf, "aus seiner Krume knetest du neu unsere Namen"- und dies verweist auf das große Gedicht "Psalm" vom Nichts, ein Antipsalms von der paradoxesten Auferstehung, U-Topie, Hoffnung aus tiefster Hoffnungslosigkeit? (Im Sinne von Hölderlins "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch"?) Die Opfer als Zeugen: "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm.../Niemand." "Gelobt seist du, Niemand./ Dir zulieb wollen/ wir blühn./ Dir/ entgegen.../ die Nichts-, die/ Niemandsrose." (GW I,225).

Die Laudatio zum Büchnerpreis beendete Marie Luise Kaschnitz mit dem Celan-Vers: "Wir waren tot und konnten atmen". Atem, das ist der Hauch, der besetzt wird vom Verlogenen, Bebilderten. Wahrheit ist erst da, wo es einem Atem und Sprache verschlägt, denn die Rede ist ein "Zuviel", und nur "das nicht mehr zu Nennende, heiß/ hörbar im Munde", wenn der Atem stockt, wie im Rosa-Luxemburg-Gedicht, Gedicht auf ihren Tod: "Nichts" - großgeschrieben : "stockt" dabei, das Ereignis bricht in die alltägliche Lebenslüge eines vernebelten Bewußtseins ein.

 

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Celans Sprachbehandlung kehrt das Gewohnte wider den Strich, mit der Erfahrung eines eigentlich schon Toten, eines Überlebenden, angeschärft noch durch das Ausgesetztsein im Exil und der Verfolgungsangst des Juden. Das ist dem "normalen" (westlichen) Leser fremd und wirkt ver-rückt, auch die bewußt zerstörte Lesererwartung geht bis zur Blasphemie.

Nach Otto Pöggeler ist das wichtigste Wort, das fehlende Wort bei Celan, das "nachzustotternde"; des Schweigenden Wort auch im Martin Heidegger gewidmeten Gedicht "Todtnauberg", wo Celan ein wenig naiv (bei einem Besuch) erwartet, daß dies schweigende Wort dem Philosophen "mitten im Herzen erwachen" soll. Ja, daß er (ihm, Celan gegenüber) das erlösende Wort sprechen wird, in aller Vielschichtigkeit: vom Schuldbekenntnis bis zur "Rettung". "Todtnauberg" ist die Frucht eines Besuches bei Heidegger, wo der im (Adenauerland) Heimatlichen bruchlos Denkende und Lebende, so, als wäre nichts geschehen, den im Bodenlosen lebenden Emigranten, den von allen Epochentraumen Verletzten, verstörte und herausforderte, ihn enttäuschte: "Krudes" um ihn, nur Außenwelt. Celan aber suchte ein anderes DU, das (im Folgegedicht nach "Todtnauberg") so sprechen konnte: "nimmt den Einen/ Pulsschlag mit,// verbirg dich darin,/ draußen." (GW II,257): WIE DU dich ausstirbst in mir:" (GW II,261).

"Du,"die Ansprache, die Aussprache, die Celans Werk durchzieht, die fehlte dem Emigranten nicht nur in Paris. - Wer ist dieses DU? Was ist des "Einen/ Pulsschlag". ("Einen" großgeschrieben!). Celan hat sein Leben lang nach diesem Du und diesem "Einen" gesucht, es ist eher das Unfassbare des größten Zusammenhanges, als eine Person oder ein Name. Auch zu seiner Poetik gehört dieses DU, das im Blitz und Glücksgefühl eines Zueinander- Findens DA wäre, der Angesprochene, die Richtung des Gedichts, die nah, zugleich in größter Distanz ist, sieht in einem scheinbar Abwesenden, einem Niemand, den Leser, Adressaten und Partner. (Manche meinen, auch Celans tote Mutter sei damit gemeint). Ein ganzer Band ist nach diesem Niemand benannt: "Die Niemandsrose", Rose im Sinn der mystischen Rose, Niemand auch im Sinne von Nichts, Abwesenheit, die in der jüdischen Kabbala etwa die Anwesenheit Gottes ist. Und Celan hat die Kabbala über die Schriften Gersholm Scholems gut gekannt. Es ist die Rede vom Andern, ja, "Ganz Andern," und darin sieht Celan im "Meridian", der Büchnerpreisrede, "Richtung und Schicksal", etwas "aus einer Ferne oder Fremde" kommend. Im "Meridian" ist der Zeuge dafür Lucile aus Büchners "Dantons Tod", die "Es lebe der König" ruft unter dem Schafott der Revolutionäre, und "den Draht zerreißt" unter Lebensgefahr, sie richtet sich dadurch vorgreifend selbst hin, wird so Zeuge für die "Majestät des Absurden." Wie der Zustand in einer Geistergeschichte, die etwas wirklich macht, was unglaublich, undenkbar, eben absurd ist: jenes "Fremde", "Andere" "Unheimliche". Und es würde einem dabei vor Angst die Sprache verschlagen. Ahnung, Furcht und Zittern, eine Art mysterium tremendum. - Ja, Paul Celan hatte etwas begriffen, erlebt und erfahren, was andere in ihrer gewissenlosen Idylle nicht begreifen konnten. Diese "unheimlichen" Dinge sind Grenzerfahrungen im Zeitbruch, der sich auch heute immer deutlicher zeigt. Es ist ein Aus- der-Sprache-fallen der Dinge, doch dieses Fallen ist zugleich auch "ein Kernpunkt der Krankheit Schizophrenie", es ist das Erleben, daß die selbstverständlichen, für angepaßt "Normale" in ihrer Idylle Ungestörte sich "nur wiederholende Dinge des Alltages" dem Nicht-Normalen "furchtbar neu sind", so schreibt der Schweizer Psychiater Gaetano Bendetti in seinem Buch über "Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen", eigentlich eine unerträgliche Erkenntnis der unverhüllten Wirklichkeit, das kollektiv auch im Todeslager furchtbar erlebt wurde: wenn das Vertraute zerreißt, "etwas sowohl völlig Neues, wie auch etwas in Gedanken nicht Faßbares," da ist. Benedetti zitiert dabei sogar den englischen Philosophen David Hume, der die Kausalität als Gewohnheit entlarvt hat. Der Zeitfluß wird nackt, stockt, wie im Tod. Zitat aus dem "Meridian": "Vielleicht gelingt es der Dichtung zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden. Vielleicht wird hier mit dem Ich - mit dem hier und solcherart freigesetzten und befremdeten Ich - vielleicht wird hier noch ein Anderes frei?" Und um dieses "Andere" geht es. Es reicht dazu nicht aus die Topoi psychopathologischer Literatur aufzuzählen, es müßte anhand dieser Analyse auch die ontologische Zensur des Normalen und seiner Seelenpolizei, die gefährlicher ist als die politische Zensur, erarbeitet werden. Jene historischen Abgründe, die Celan im Gedächtnis hatte, die ihn nicht losließen, führten aber genau dahin, und sie störten; denn, ich zitiere Benedetti: "Dieses Neue ist so neu, daß es im Unerklärlichen gründen muß", die Kausalität wird unheimlich, unheimlich, weil gerade sie zutiefst erleben läßt, daß "sie nicht ausreicht, die Dinge zu erklären." Alles scheint einfach, doch gerade diese Einfachheit macht verrückt und jagt Schrecken ein, und dieser Schrecken zeigt die Differenz zwischen dem was wirklich ist in der Zeit und dem neuen, genau so absurden "Normalen", was wir unsere neue Lebenslüge nennen müssen: Als müßten wir heute keinen Widerstand mehr leisten. Nein, er muß nur anders sein als bisher gedacht, Widerstand geleistet werden wider die neue Zensur des neuen grenzenlos "Normalen". Umfassender. Und dies zielt mitten ins Zentrum der Kunst: das Verborgene, Nicht-Vertraute, entlarvend Unerwartete und überraschend Un-Normale.

 

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Das Doppelspiel mit dem "König" aber, dem gefährlichen Ruf wider den Strich dessen, was unter dem Schafott (aber in jeder Zeit) das "Angebrachte" und Realitätsgerechte gewesen wäre, ist nicht zufällig: Der König ist im Hebräischen der Kabbala Synonym für das Unnennbare, für "Gott". "Im Nichts - wer steht da? Der König./Da steht der König, der König./ Da steht er und steht. " - Das Gedicht geht dann merkwürdigerweise über zu den "Augen": "Und dein Aug -wohin steht dein Auge?/...Dein Auge, dem Nichts stehts entgegen./ Es steht zum König./ So steht es und steht.// Menschenlocke wirst nicht grau./Leere Mandel, königsblau." Das Gedicht aber beginnt: "In der Mandel -, wer steht in der Mandel? /Das Nichts." (WG I,244). Nichts heißt im Hebräischen ayin; ayin ist aber auch der Name für einen "stummen" Buchstaben, das Schweigen dieses Buchstabens also ist identisch mit dem "Nichts", wie jeder Buchstabe aber hat auch "ayin" eine Bedeutung, nämlich AUGE. (Im Gedicht "WOHIN MIR das Wort" dieser Vers: "... das Auge ein Bilderknecht -/ Und dennoch : ein aufrechtes Schweigen..." GW I,273). All diese semantischen Sinngeflechte, die zugleich ein Tiefendialog des Deutschen mit dem Hebräischen sind, oder wohl eher umgekehrt, eine Rückübersetzung aus dem enormen Sinn- und Zusammenhangsgeflecht der Ur- Bibelsprache ins "arme" Deutsche, gehen über die schmerzliche historische Bedeutung weit hinaus, bleiben ihm aber in einer Rückkopplung als Agens der extremen Auflösung und Unfassbarkeit verhaftet, trotz andauernder poetischer Befreiungsversuche.

Doch in solchen Parallelen und Assoziationen erschöpft sich der Einfluß des Hebräischen nicht, es geht bis in die Grundformen, nämlich ins parataktische, reihende Verfahren Celans, das nicht urteilt, gar verurteilt, sondern "setzt". Adorno hat in seinem Hölderlinaufsatz einiges über die Fähigkeit der Parataxe, das Unbeschreibliche doch noch auszudrücken, gesagt. Vor allem Klaus Reichert hat den parataktischen Stil Celans untersucht. Neben den "freischlagenden Fügungen", wo immer noch Wörter dazwischengekeilt werden können, ist die Möglichkeit der "Wortartentransformation" wie aus Ich ein Verb "ichten" werden kann, oder Superlative durch Wortverdopplung "Immerimmer" oder intensivierende Wiederholung: "Wort und Wort", "zu jeder Not, jeder Not" von Celan aus der hebräischen Sprachstruktur übernommen worden. Dazu kommen viele appelative und Imperativformen usw. Aber die wichtigste, die poetischste Möglichkeit des Hebräischen, nämlich: daß nur Konsonanten geschrieben werden, die Vokale aber im großen Zusammenhang dazu "gedacht" werden müssen, je nach Bedeutung, auch doppelter und dreifacher Bedeutung, und so der Assoziationsspielraum eines Worthofes sehr groß wird, das Mitgedachte, Mitgemeinte, die gesamte Streuungsbreite am Sinn mitarbeitet, hat Celan zum Ausdruck des unausdrückbaren "Schweigens" eingesetzt: so lassen sich nämlich sonst logisch, ja, dem Sinn nach sich ausschließende Dinge zusammensagen. Das Widersinnige, Paradoxe im selben Wort wird möglich, etwa im Gedicht zum Mord an Rosa Luxemburg: "Der Landwehrkanal wird nicht rauschen./ Nichts/stockt. (GW II,334).

 

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In der mündlichen Alltagssprache und ihrer vulgären Evidenz ist all dies nicht mitteilbar, sie hat auch die Köpfe und Gefühle verformt und ins "Gewesene", den Vor-Schein, der irreal ist, eingestimmt, so die umgebende Unwirklichkeit als herrschende Realität zum einzig Evidenten und Glaubwürdigen gemacht. Alles was Celan schrieb, stellt sich zu ihr quer, war im Bewußtsein jenes Futurs, jener Virtualität, wobei der Untergang der sichtbaren Welt des Vor-Scheins, der nicht enden wollte und nicht enden will, wir sehen es heute besser, als es Celan 1970 sehen konnte, eigentlich ein Hilfsmittel der Augenöffnung ist ( das Wort Apokalypse sagt nichts anderes). "Die nachzustotternde Welt bei der ich zu Gast gewesen sein werden"... Aber: " wer sagt,/ daß uns alles erstarb,/ da uns das Auge brach?/ Alles erwachte, alles hob an."). (GW I,220).

Der eigentlich schon "tote" Celan lebte erst seit er "tot" war? "Beim Tode! Lebendig".(?) Die Lukács-Schülerin Agnes Heller hält ein Privileg für wichtig: zum Holocaust (und wir müssen den östlichen GULAG) dazunehmen, dürften sich nur die Betroffenen, nicht aber die "Zuschauer" äußern, nur Zeugen, Mitbetroffene sozusagen an der Grenze unserer Vorstellung, also nur die Ermordeten selbst hätten dieses Recht; eine Celan (den sie nicht nennt) würdige "absurde" Forderung?! Und nur in Gedichtform dürfe dieses geschehen. All dies träfe auch auf Celan zu. (Für den GULAG allerdings steht ein Celan noch aus). Celan äußert sich ja "stellvertretend", sein Vers-Dialog ist oft ein Totengespräch. "In den Gaskammern wurden keine Gedichte geschrieben", sagt Heller. Schweigen allein käme dem nahe. Sie führt vier Arten des Schweigens an. Die vierte Art, das "tiefste Schweigen", ist das der Sinnlosigkeit. Und genau dieses hat Paul Celan versucht zu "begehen", umzuwandeln. Nach Agnes Heller ist der Holocaust das "absolut Unvernünftige". Zwecklos, und auch in die Geschichte nicht "einzugliedern" weder in die jüdische noch in die deutsche. In dieser ohnmächtigen Linearität der Schlüsse zeigt sich nur die Selbstwiederlegung auch der eigenen Versuche, rational deutend etwas über ein Geschehen zu sagen, das jenseits unserer Vorstellung und Logik liegt, etwas in der alten Begriffs- und Aufklärungstraditon, in der sich Hellers Denken bewegt, zu sagen - es greift zu kurz in Klischees wie "absolute Sinnlosigkeit"! Was heißt "normaler Ablauf von Ereignissen"? Sind wir nicht gerade durch Auschwitz Sibirien und Hiroshima (die drei "Nullen" unserer Epoche, der Westen gehört durch Hiroshima dazu) - und nun nach 1989 wieder an einer Grenze des bisherigen Erklärens und Verstehens gekommen; heißt dies nicht, daß die Instrumente dieses Verstehens unzureichend sind, eine Umkehr nötiger wird denn je? Agnes Heller nähert sich dann dem, was nicht sagbar ist, durch die Metapher von "Gottes absolut negativer Abwesenheit", und daß der Bruch erst durch die Massenvernichtung, ein Produkt der Geschichte, Organisation, Technologie, Bürokratie und gleichgültige, nivellierte Masse, Resultat der Auflösung von Gemeinschaft und Individuum in Europa und Amerika, evident wurde, etwas, das durchaus beschreibbar ist. Der Holocaust aber, die immer umfassender werdende Folge davon, ist unbeschreiblich: eine ungeheure Trennung wird (in der Geschichte ) sichtbar, die im Negativen so sehr jenseits unserer Vorstellung ist in ihrer Undenkbarkeit, daß sie jenem Nichts Celans nahekommt. Heller sieht diese beiden Pole, bringt sie jedoch nicht zusammen, sondern verharrt in der Trennung von Geschichte und Transzendenz: genau hier aber setzt Celans Poesie ein, geht weiter, viel weiter und entläßt daraus Erfahrungen und Umwege der tiefanrührenden Bilder und Sprachsonden: Aber "DIE POLE/ sind in uns,/ unübersteigbar/ im Wachen,/ wir schlafen hinüber, vors Tor/ des Erbarmens..."(WG, III 105). Ist die Suche nach der absoluten Metapher, wie Agnes Heller meint, zu vermeiden, da sie nicht nur künstlerische, sondern "reale Nachahmung" verlange? Das "Sur-Historische" historisch werden kann und zur Wiederaufnahme einlädt? Wir sehen es überall als faschistoider und bewaffneter "Rechtstrend" aufbrechen. Wichtig wäre es, diese "Transzendenz" nicht sich selbst zu überlassen, sondern vom Undenkbaren ins Erfahrbare Brücken zu bauen.

 

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Und Celans recht paradoxe Hoffnung? Sprechen sprechend überwinden bei aufgebrochener Grenze, Umkehr im Chok, wo es den "Atem und das Wort... verschlägt", ja, wo im gestockten Atem die Sprache fehlt, da erst wäre "Gegenwart des Menschlichen"? Fehlt sie uns etwa heute nicht auch? Doch kein "Gegenwort" Luciles ist zu hören. Keiner durchtrennt den Draht der unerträglichen, unmoralischen alltäglichen Gewohnheit, wie noch 1989. Die stärkste der drei Nullen hat gesiegt. Das "Normale", die alte Lebenslüge. Es ist leicht in einer Ausnahmelage als Ausnahme Mensch den Draht zu durchtrennen, wie Lucile, die mit ihrem Leben dafür einstand, und sie wird in der Revolutionszeit auch hingerichtet. Was sie tut "befremdet" ( es ist ja für den Durchschnittsmenschen "unvor-sichtig", "realitätsungerecht," "wahnsinnig", "absurd", was sie tut). "Gehuldigt wird hier", wie Celan sagt, "der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden." Aber laut Celan ist solch eine Evokation auch eine "verharrende", "verhoffende" Pause, wo etwas ganz Neues geschehen kann in der unerbittlichen Sukzession des Immergleichen von Herrschaft und Unterdrückung, wo eine Art Widerstand wirklich geschieht.

In einem Gedicht Celans über Hölderlin heißt es: er "zackerte an/ der Königszäsur". (GW III, 108). Celan "zackerte" "Wie Jener/ am Pindar", Hölderlin ist gemeint. Eines dieser Pindar- Fragmente lautet "Das Gesetz/ Von allen der König, Sterblichen und/ Unsterblichen; das führt eben/ Darum gewaltig/ Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand". Der König ist die "strenge Mitteilbarkeit des Gesetzes", in Hölderlins Kommentar. "Das Gesetz" ist der Ort der Begegnung von Gott und Mensch. Es geht aber um die Trennung; vielleicht ist dies die "Königszäsur." Gott, das Heilige, Mensch, die Erkenntnis, sind getrennt. Und das Tragische beruht ja in der Vernichtung, wo "grenzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das grenzenlose Einswerden durch grenzenloses Scheiden sich reinigt." (Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus.) Kann zwischen Königszäsur, "Nichts" und "messianischer Stillegung" (Walter Benjamins) durch Revolution und Katastrophe eine Verbindung hergestellt werden? Die griechische Tragödie wurde durch den Seher "gegen-rhythmisch" - indem er die ganz andere Sphäre der Vor-Sehung in die Realität brachte, als Zäsur unterbrochen. Bei Celan ist der Ruf, das "Gegenwort" Luciles stellvertretend für das, was Dichtung sein soll: Stillegung der Geschichte durch ihren eigenen Grund und Ab-Grund im Namen der Toten, durch ein "Gegenwort", das "den Draht" zum Normalen "zerreißt". Es holt den durch den Gang der Zivilisation vergessenen, fast ausgelöschten Einzelnen, die Tiefe des Subjekts wieder als wichtigsten Zeugen und Zugang an die Grenze, wo er sichtbar wird; rettet die Dignität der Dichtung als wichtigstes Erforschungsmittel von Geschichte. Ein gefährlicher Schritt, der Wahnsinn und Tod mit sich führt, diese riskiert, ja, sich selbst so einsetzt, um mit dem Leben das zu bezahlen, was nicht gedacht werden kann, aber da ist. Dies "im Namen der Katastrophe (im Namen der abgründigen Konversion, und genauer, der Revolte), das heißt im Namen des Daseins, wird sie nur um einer Sache willen gerechtfertigt oder gutgeheißen: um die der Hoffnung willen auf das, was Celan die Begegnung nennt." Und ich wage zu behaupten, daß die Wiedereinsetzung des Einzelnen in die Geschichte sehr aktuell ist, der Aufstand Millionen Einzelner auch 1989 Geschichte gemacht hat. Trivialisiert wird bei der Mauer-Öffnung historisch der Chock, Blitz im Augen-Blick der ÖFFNUNG. Aber gerade die Öffnung, Überraschung, des Vorher-Nicht-Darüber-Bescheidwissens-ist ja auch im Gedicht, und das spricht, wie es in der Büchnerpreisrede heißt: "wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache. Dieses `wer weiß,` zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen... hinzuzufügen vermag". Das Nie Erwartete, überraschend real werdend, das ist ein Einbruch aus einer noch nicht erkannten Zone, die aber in der Psyche von Millionen Einzelnen längst da war, vielleicht als verdrängte Sehnsucht, Wunsch, Wahrheitsahnung, im Abseits wartend. Substanz der Poesie. "Apriorität des Individuellen" in Hölderlins Sinn, nun neu in rätselhafter WENDE - oder Wendung der Trope, die ja der Sinn-"Meridian" "durchkreuzt", dem zu, was nach der Vernichtung dessen, was Hegel "Gemeingeist" nennt, singuläres Ich wurde und allein bleibt: Leere und Abgrund schon damals um 1800 bewußt als Ort der Dichtung ausgemacht: Das Subjekt. Durch Auschwitz (und auch die andern Katastrophen?) ist dieses Subjekt dann im Millionentod als Opfer - "heimgekehrt in/ den unheimlichen Bannstrahl,/ der die Verstreuten versammelt." (GW I, 290). Unerreichbar für Historiker, Soziologen oder Juristen ist diese Grenzzone, erreichbar nur der negativen Theologie und absoluten Poesie. Doch die Opfer sollen draußen bleiben, auch heute wieder; vor allem wollen sie als Überlebende heute selbst Gewinner werden. So paradox geht es zu. Doch es geht gar nicht um die Lebenden bei dieser "Wende", sondern um die vergessenen Toten in den Lebenden. Im vorhin zitierten Gedicht "Psalm" aus Celans Antibibel "Die Niemandsrose" - "blühen" die anonym in ihrer Nichtigkeit Ermordeten, die ohne Namen ausgelöscht und unbegraben zum zweiten Mal starben, durch Nicht-Gedenken dem "Niemand" und dem "Nichts" entgegen. Und die Millionenopfer des GULAG müssen hinzugezählt werden. Das Schweigen des Sinnes, das Schweigen des alten Gottes dazu, so Georg Steiner ( in seinem "Versuch über die Shoa,"), wo er Celan als wichtigsten Zeugen des Holocaust würdigt, gibt allein diesen ermordeten Opfern das Recht, den schuldigen alten Gott aus seinem Schweigen angesichts solcher Vernichtung seines Ebenbildes, aus Machtlosigkeit und Abwesenheit zu retten. Es scheint nicht gelungen zu sein. Und gibt auch zu bedenken, daß uns, in "westlicher Rede" (Steiner) jede Art von Shoa, auch diese Shoa-Gedichte unzugänglich seien, da die Shoa diese Rede und den Sinn dieser Zivilisation gerechterweise ausgerottet habe; die Warnung, das Aufwachen uns also gar nicht erreichen kann!!? Doch dauere, so Steiner, möglicherweise das Gebot des Dialogs mit dem stummen Gott innerhalb des Judentums fort (und vielleicht gehört nach 89 auch der Osten nun dazu). Nein doch: Es hat sich ebenfalls umgekehrt in Rachegelüste, Traumata, die zu Kriegen geführt haben. Nirgends hat das Judentum (und der Osten) diesen Dialog wirklich aufgenommen, im Gegenteil. Da kann keine Hoffnung sein.

Nichts und Niemand, wir haben es gesehen, sind der unnennbare Gottes-Name. Doch lesen wir bei Hölderlin oder Hegel bis hin zu Walter Benjamin nach, finden wir Nichts und die Negation in eben dieser Bedeutung auch: und daß Gott (oder das Sein) der Tod ist. (Z. B. in Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ähnlich bei Heidegger). Und davon hat Celan genau so gewußt, wie von der Kabbala. Öffnung? Antiideologie? Im modernen Wissenschafts-Wissen (Heisenberg,Weizsäcker) ist das Subjektprinzip längst Ausgangspunkt und Zugang der Erkenntnis. Ebenso das Apriorische, Wissen, daß Erfindung und Dichtung aus der gleichen Quelle kommen, Erfindung über Technik und Geschichte "realisiert" wird, daß sie also diese so hergestellte Wirklichkeit bestimmen. (Man denke nur an die wirklich verfaßte technische Umgebung heute, bis hin zum Atom und dem Bewußtseinsverfälscher Fernsehen). Und zu dieser phantastischen "Quelle" alles historischen und Wirklichkeits-Geschehens, die alt ist, gilt es über die einzige Brücke, die Intuition und virtuelle Kraft des Einzelnen zurückzukehren. Celan schreibt: "Gott, das lasen wir, ist/ ein Teil und ein zweiter, zerstreuter:/ im Tod/ all der Gemähten/ wächst er sich zu.// Dorthin/ führt uns der Blick,/ mit dieser/ Hälfte/ haben wir Umgang." Und gleich darauf: "Das Selbe hat/ uns/ verloren, das/ Selbe/ hat uns/ vergessen, das/ Selbe/ hat uns -.(GW I, 218, 219). Doch das Gedicht ist Gegenwart, aufgeblühtes Jetzt, Zuwendung, Gewährenlassen einer Stimme, die inspirativ, anbindend an jene "Quelle", auch durch die Toten in uns spricht, Gespräch im Augenblick, im Herzen bewegt, wie Celan sagt, "Innigkeit", kein historischer Exkurs, sondern unmittelbares Ereignis.

 

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Dieser Brückenbau ist abgründig, weil er heute den durch Historie veränderten Tod mit dem Weltbild der Physik, die jenen Tod via mörderischer Anwendung bedingte, verbinden müßte. In Celans großem Gedicht-Zyklus "Engführung" klingt schon 1959 dieser neue Ton an. Celan stellt Sprachinstrumente zur Beobachtung des in der "Gewohnheit", der Wahrnehmung Noch-Nicht-Vorhandenen her: "Orkane./ Orkane, von je,/ Partikelgestöber, das andere,/du/ weißts ja, wir/ lasens im Buche, war/ Meinung.//... Wie faßten wir uns/ an mit/ diesen/Händen?" (GW I, 200). Vom Atom wissend, daß Außen, feste Welt nur Wahn ist, versuchte Celan via Subjekt eine "Spektralanalyse der Dinge". Durchaus richtig beschrieb Tuwia Rübner bei einem Celancolloquium in Haifa im Diskussionbeitrag "Lyrik nach Auschwitz" des Dichters unheimliche Lebensstimmung und Sprachkunst, "von Buch zu Buch atomarere Textualität" herstellend, beschrieb sie mit einem Zitat aus Eddingtons "Weltbild der Physik": wir stehen auf einer Türschwelle, "drauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen?"

 

"KEINE SANDKUNST MEHR," schreibt Celan: "kein Sandbuch, keine Meister.// ... Deine Frage - deine Antwort./ Dein Gesang, was weiß er?/ Tiefimschnee, /Iefimschnee,/ I-i-e." (GW II, 39). Und: "EIN DRÖHNEN: es ist/ die Wahrheit selbst/ unter die Menschen/ getreten/ mitten ins/ Metapherngestöber." (GW II, 89). Die Vernichtung dessen, was die Gesprochenen, die Menschen, als Welt ansehen, das angemaßt Sichtbare, die banale Illusion Empirie, scheint die einzige Rettung zu sein: "EINMAL,/ da hörte ich ihn,/ da wusch er die Welt,/ungesehn,nächtelang/ wirklich;//Eins und Unendlich,/ vernichtet,/ ichten.// Licht war. Rettung." (GW II, 107).

 

 

(Erschienen in: "Sinn und Form" 45.Jahr/ 1993/ Sechstes Heft, November/Dezember. Stark erweiterte Fassung.)

 

 

 

 

Paul Celans Herkunft als Schlüssel zu seinem Gedicht (II)

 

Peter Szondi hatte davor gewarnt, Celans Gedicht biographisch zu deuten, Celan selbst riet, sich an seinem Gedicht "wundzulesen"; doch seine Briefe, vor allem ins ehemalige zuhause, beweisen, daß es hier eine Art Berührungstabu gab; jedenfalls ist die Ansicht, seine Gedichte hätten sich auch ohne biographische Beigaben durchgesetzt, irrig, denn ohne das deutsche und europäische Schuldgefühl, ohne die Diskussion um die "Dichtung nach Auschwitz" und die Holocaustdichtung, wären seine schwierigen Textgewebe wohl nicht weltbekannt geworden, und heute vielleicht nur noch wenigen Lyrikliebhabern und Spezialisten bekannt.

Gerade weil diese Dichtung mit dem Biographischen steht und fällt, nimmt die Flut der lebensgeschichtlichen Deutungen, Materialien, Quellen, Nachlaßveröffentlichungen zu. Lange Zeit herrschte in Westdeutschland der Eindruck vor, als wäre diese Lyrik wäre vom Himmel gefallen, gab es in den fünfziger Jahren ein esoterisches Interpretations-Geraune, worüber sich Celan in seiner krankhaften Verletzlichkeit selbst beklagte, und als ihm dann die Fragen nach seiner Herkunft zuviel wurden, da wollte er diese ausklammern; der sonst in Daten so peinlich Genaue widersprach seinen Verlegern und Interpreten nicht, die an einer Auschwitz-Legende seiner Dichtung bastelten, machte es nie wirklich öffentlich (auch wenn viele Andeutungen, allerdings nur in seiner frühen Lyrik zu finden sind), daß seine Mutter, die im Zentrum seiner Dichtung steht, in einem rumänischen Lager am Bug in der Ukraine war, und nicht in Auschwitz

Doch die Metapoesie, die gegen sich selbst gerichteten Sprachabgründe dieser Gedichte sind gerade aus einer Chiffre der Undenkbarkeit und Unvorstellbarkeit des Geschehens entstanden. Und: Celans Gedicht, das die wenigsten, die es loben und analysieren, in ihrer unzugänglichen Tiefenstruktur wirklich begreifen können, kam dem Zeit-Trend einer allgemeinen Schuldempfänglichkeit und der Bestürzung nach Auschwitz und Hiroshima entgegen, wie George Steiner richtig bemerkt. Diese Lyrik übersteht und übergeht sich selbst an der Grenze unserer Vorstellung. Sie will an dieser Grenze im eigenen Wort vergehen. Sie will metasprachlich und meta-physisch auf ganz neue Art, jedoch keineswegs im luftleeren Raum, sondern ganz "postmodern" zitatenbesessen und sogar traditionsversessen im Detail unverwechselbar Celan sein. Es gehört eine große und subtile Deutungs-Anstrengung dazu, die Hintergründe und "Einstellungen" aus dieser Perspektive richtig zu erkennen. Dieses ist mit germanistischem Rüstzeug allein fast unmöglich, da es um ein enzyklopädisches Gedicht eines alle Literatur überschreitenden interdisziplinären und intuitiven Sprachraum geht. Vor allem geht es (bis in alle Abgründe und Traditions-Tiefe) immer wieder neu um das gleiche Thema, oder eher "Pneuma", wie Felstiner sagt: das eigene Judentum zu erfassen und zu erkennen, "was der Menschheit zwischen 1933 und 1945 widerfuhr." Celan ist "Hauptzeuge", er ist mit einem wunden Bewußtsein um die Dimension der Shoa begabt. Gäbe es dieses Thema der Auslöschung, des "Verstummens" angesichts des Geschehenen nicht, wäre auch der gegenwärtige Celankult unerträglich, der nun alles, auch den letzten Satzfetzen ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Gottseidank ist wenigstens Celans Tagebuch noch unter Verschluß, und ebenso wie die Diagnosen und Krankenakte während seiner Aufenthalte in Heilanstalten. Doch was jetzt zum Vorschein kommt, widerspricht der Heiligenlegende, die schon Bücher zur "Übertragungstechnik" seiner Übersetzung hervorgebracht hat. Auch eine Ausstellung mit einem Wälzer von Katalog im "Literaturarchiv Marbach" gehört zu dieser Emsigkeit. Gerade diese Ausstellung bringt an den Tag, wie wenig penibel Celan beim Übersetzen war. So etwa bei den Übersetzungen aus dem Rumänischen, wobei auch "aus dem Rumänischen" falsch ist, er hat ausgerechnet diese Lyrik seines Herkunftslandes und von Bekannten aus dem Französischen übersetzt, und die Fehler der Übersetzung (schamhaft nur mit Initialen bezeichnet: Mlle J.R.) brav mitübersetzt! (Virgil Teodorescu Und Gellu Naums Gedichte aus den Cahiers du Sud. Marseille. Anneé 33, 1946, No.280, S. 382/83). Dabei wird im Französischen aus "focá" (Seehund) im Gedicht "Die ertrunkene Schloßfrau" von Teodorescu " "vaste foyer" und bei Celan ein "Feuerkern" . S. 131. Als hätte Celan Teodorescu und Naum nicht gekannt! Fehler über Fehler im Rumänischen des Katalogs: so "clátinándu-se" anstatt "clátinîndu-se" (von clátinare: Schwenken, Schwingen, Schwanken), besonders peinlich auf S. 62 das rumänische Celangedicht "Cântec de dragoste" mit drei Fehlern "fodforescentti" (anstatt fosforescenti: im Dunkeln leuchtende, in der beigegebenen schlechten Übersetzung dazu, hat man sich "im Dunkeln" erspart); kaum entschlüsselbar ist "revtarsa", was wohl "revársa" heißen soll! Und das sind nur einige Beispiele! Verantwortlich zeichnet Barbara Wiedemann. Daran sieht man, daß die Herausgeberin des Frühwerkes von Celan des Rumänischen nicht ausreichend mächtig ist, von den Kenntnissen in Sachen rumänischer Literatur ganz zu schweigen.

Unser verrücktes Jahrhundert will es, daß der meistinterpretierte deutsche Dichter nach 45 gar nicht in diesen deutschen und westlichen Kulturkreis gehört, und daß die wichtigsten Struktur-Sprachen seiner Poesie den Deutschen so fremd sind, wie er ein fremder Gast für die Deutschen war und ist! Er lebte nicht nur nicht in Deutschland, kam nicht aus Deutschland, sondern kam von weiter als weit her, nicht nur aus der Bukowina, aus Transnistrien, aus dem Russischen, dem Rumänischen, Jüdischen, Französischen, sondern auch aus dem Gegen-Deutschen: das Deutsche war die Sprache der Mörder seiner Mutter! Daraus entstand eine aus dem Trauma und den Grenzzutänden (bis hin zum Wahnsinn) geborene Privatsprache, aus der weder die Kabbalah noch die entscheidenden Einflüsse, die aus dem rumänischen Surrealismus kamen, wegzudenken sind. Um diesen nachgehen zu können, muß ein Interpret freilich sowohl die Kabbalah kennen, als auch des Rumänischen kundig sein, was bei den meisten Germanisten und Celanexperten nicht der Fall ist! Und eigentlich dürfte sich niemand "wissenschaftlich" auf das Frühwerk Celans einlassen, der des Rumänischen nicht ausreichend kundig ist. Von Kenntnissen in der Tiefenstruktur der Kabbalah ganz zu schweigen. Weiter gehören zur Aufschlüsselung dieser Privat- und Metasprache auch Kenntnisse der Atomphysik, und das Eingehen auf eine ganz besondere Perspektive der Vielsprachigkeit, Vielortigkeit, U-Topie des "Meridians" in Celans Sinn als einer höheren Heimkehr in den größten Sinnzusammenhang, der nur mit einem Blick aus der Zukunft, also vom Tode her erfaßbar ist, und dieses schon bei Lebzeiten auf der Erde, "wo ich zu Gast gewesen sein werde". Celan ist ein metasprachliches, zwischenschaftliches Phänomen par excellence, und daher nur in "wundlesender" An-Gleichung an diesen Zustand zu begreifen.

Man kann Peter Motzan nicht zustimmen, der in einem, sonst sehr informativen und glänzend geschriebenen Aufsatz meint, daß "Paul Celans Texte befragt, entziffert, kommentiert...", das Frühwerk "erschlossen" sei, und daß die "entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen und kon-textuellen Bezüge durchleuchtet worden" seien. Motzan zitiert dabei auch zwei Bände des Bukarester Germanisten George Gutu: "Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens," Bukarest 1990 und "Die Lyrik Paul Celans und die rumänische Dichtung der Zwischenkriegszeit," Bukarest 1994, die von der Celan-Forschung kaum beachtet wurden. Dabei hat George Gutu Pionierarbeit geleistet, sowohl, was die frühen Übersetzungen, als auch was die frühen Gedichte Celans betrifft. Und darauf baute dann die westliche Celan-Forschung auf, ohne diese Basisarbeit der Wahrheit gemäß zu würdigen. Vor Gutu hatte Werner Söllner die ersten frühen Gedichte in der "Neuen Literatur" veröffentlicht. Gutu schrieb 1977 die erste wissenschaftliche Arbeit, eine Leipziger Dissertation, über diese frühen Gedichte. Zu recht weist der Bukarester Germanist darauf hin, daß seine Forschungsarbeit ohne Namensnennung von westdeutschen Germanisten ausgeschlachtet, er bestohlen worden sei.

Zu bedauern ist auch der Hochmut, mit dem die "kleine" rumänische Sprache und Literatur, der Celan wesentliche Einflüsse zu verdanken hat, von westdeutschen Germanisten bedacht wird. Auch Wiedemann-Wolf schreibt in ihrem Buch über "Surrealismus in Bukarest", "als entdecke sie Amerika" (Gutu). Man hat den Eindruck, als sollten die Forscher vor Ort ausgetrickst werden, um die lästige Konkurrenz auszuklammern. Rumänien ist weit, rumänische Kultur ist abseitig, kann leicht "vergessen" werden. Manchmal entsteht der Eindruck, als wäre es eine "Jugendsünde" Celans gewesen, sich mit ihr einzulassen. Dabei war es damals (1938-1948, vor allem 1944-47) das Lebenselement, aus dem er nicht einfach "herausgenommen" und "gereinigt" werden kann. Ebensowenig vom Jüdischen, das seine Substanz ausmacht, wie Hans Mayer betont, das Jüdische ist nicht etwa nur eine Art "Bekenntnis"! Auch die Freundschaft Bachmann-Celan, beruht auf diesem Ursprung. Die beiden waren Fremde in der Gruppe 47. Celan paßte nicht in diesen deutschen Dichterkreis, er verzauberte nur die Bachmann, die sich ihm anglich. Die anderen lehnten den Fremden ab. Später aber paßte ihn sich die westdeutsche Germanistik an, eignete sich ihn an, verbog ihn zum "deutschen Dichter". Dabei stimmt nicht einmal der deutsche Grundmythus: seine Mutter starb in einem rumänischen, nicht in einem deutschen Lager. So die Grundtatsachen uminterpretierend, legendenbildend, entstand aus der "fuß- und zehnötlich geschützten" Fleißarbeit diese auf sich selbst bezogene Legende, der fast schon west-deutsche Dichter "Celan", ein bienenfleißiger Editions- und Fußnotencelan aus dem Nachlaß (obwohl Celan es ausdrücklich anders bestimmt hatte!) So eingemeindet entsteht ein nur mit westdeutschen Publikationen aufgebautes monsterartiges Monument - (der Band "Die Gedichte aus dem Nachlaß" enthät c.a 300 Seiten Celantext und 250 Seiten Kommentare und Fußnoten!), zugeschüttetes Leben und letztlich ein Phantombild, so daß der Verbitterte (man kennt den Ton aus den Briefen an Sperber) lange - und über das Grab hinaus, in diesem Punkt recht behält, er nie selbst sein durfte und darf (sondern "ein herkunftsloser Steppenwolf" bleibt!) Die Herkunft, das jüdische Element und das Rumänische störte, wurde von dem eigentlichen (kaum bekannten) Umfeld gelöst, ein handlicher westdeutscher Germanistencelan sollte hergestellt werden.

 

Wohltuend dagegen ist die Forschungsarbeit des Bukarester Germanisten George Gutu, dieser beschreibt etwa die rumänische Literaturaura als einer, der sie von Grund auf kennt, mit ihr aufgewachsen ist.

Man liest Gutus Arbeit Seite für Seite mit Faszination und innerer Anteilnahme, es ist eine schöne und formulierungsgenaue Analyse, stringent und vor allem sehr gut untermauert, sachlich vom Material her, auch wenn dann bei der Einzel-Interpretation sicher abweichende Meinungen auftreten können.

Die beiden Bände George Gutus über die "rumänische Koordinate der Lyrik Paul Celans" beruhen auf seiner Leipziger Dissertation (1977). Band I (1990) geht auf bisher noch wenig bekannte Aspekte des frühen Celan ein, auf den geistigen Raum der Bukowina, auf die Bukowiner Dichtung (Sperber, Kittner, Rosenkranz u.a. - eine der besten Analysen dieser Dichter, die es gibt!), auf den Werdegang Celans, sowie auf seinen Bukarest-Aufenthalt 1944-1947 und die äußerst fruchtbare Interferenz mit dem rumänischen Surrealismus, die Gutu zum erstenmal erforschte; ebenso wurden in seiner Dissertation die bisher unveröffentlichten Celan-Briefe, Gedichte, Prosatexte - auch die in rumänischer Sprache -, gesammelt und dieses wichtige Material der Forschung zur Verfügung gestellt. Die Impulse von 1977 sind von der Forschung kam aufgenommen, und wie wir sahen, oft genug übergangen und ohne Hinweis ausgeschlachtet worden.

In Band II werden die "Interferenzen" Celans mit den rumänischen Klassikern der Moderne (Philippide, Arghezi, Blaga) herausgearbeitet. Die methodologischen Prämissen, die theoretischen Überlegungen des ersten Bandes dienen dabei als Ausgangspunkt, vergleichende Literaturwissenschaft steht im Zentrum, ebenso "Mentalitätsgeschichte", um das gesetzte Ziel, den geistigen Umraum und den Zeit-Geist, vor allem zwischen 1938 und 1948, in seiner Wirkung auf Celans Frühwerk zu erforschen. Dieses ist oft mißverstanden worden, Gutu möchte weniger direkten "Einflüssen", eher Kontexten und Wahlverwandtschaften im Frühwerk Celans nachgehen, wobei freilich manchmal Überdehnungen der Parallelen und Interferenzen und subjektive Deutungen das Bild etwas unscharf werden lassen.

Wichtigste Einsicht bei diesen Interferenzen ist, daß auch bei Celan die Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehoben ist, wie etwa bei Blaga - ein fließender, ununterbrochener Dialog mit den Toten entsteht ( wobei der Rilke- oder Novalis-Einfluß ebenso stark gewesen sein dürfte!) Dieser Dialog geht über Zeit- und Raumgrenzen hinaus, er ist bei Celan ein eigener Raum der Begegnung mit den Opfern.

Die abenteuerlichen "komparatistischen Extravaganzen" Gutus, wie es ein Kritiker nannte, kommen in einem tieferen Sinn in diesen Zwiespalt, vieles ist hinfällig, einiges jedoch bleibt ganz gewiß bestehen, so der direkte Arghezi-Einfluß bei "Ein Lied in der Wüste" und bei anderen Gedichten. Wobei es vielleicht gut gewesen wäre, etwa beim "Grab in den Lüften" und beim "Schaufeln" (S. 38/39) auch mit den hebräischen Interferenzen zu beachten, und einer Kontamination nachzugehen. Ebenso beim Begriff "Nichts"(49) (Gott ist im Hebräischen gleich mit dem Nichts). Und was das Ketzerische und den Gottesfluch betrifft, die negative Mystik und die Umkehrungen in der "Niemandsrose", da gibt es sicher nicht nur eine Arghezikontamination, sondern auch einen Einfluß von Sperbers "Ketzerevangelium".

Doch bei aller Kritik im einzelnen, bleiben Gutus Bücher ein wichtiger Anlaß, das "Ausgeklammerte" in Celans Herkunft genauer zu sehen! Keiner wird Celans Frühwerk wirklich begreifen und verstehen können, ohne die von Gutu aufgewiesene Komponente gründlich zu kennen. Und vielleicht wird die Zeit kommen, wo ein Doktorand in Sachen Celans Frühwerk die ausreichende Kenntnis des Rumänischen als Auflage erhält, was für Celanspezialisten erst recht gelten sollte!

Aber wichtiger als diese Komponente (vergleichende Literaturwissenschaft) ist die ursprüngliche erste Ordnungs- und Kärrnerarbeit Gutus und die "Ausgrabung" bis 1977 völlig unbekannter Celan-Texte. Ebenso auch diese Hinweise auf die Bedeutung des rumänischen Herkunftsraumes, der von den westdeutschen Germanisten einfach "vergessen" worden war. Dieser Raum wirkte auf Celan auch in Paris weiter, blieb ein "Schlüssel zu seinem Gedicht" und wurde noch gesteigert durch das Vakuum und die nostalgischen Rückträume des Exilierten, durch das Lager- Trauma und die Erinnerung an die Ermordung seiner Mutter in Transnistrien, es war der wichtigste Antrieb seines Schreibens. Die westdeutsche Celanforschung vernachlässigte diesen Schüssel nicht nur, sondern, wenn sie darauf einging, wurde der Ton nicht selten aggressiv und unkollegial wie bei Barbara Wiedemann . Zu recht beklagt Gutu diese Tendenz. Und unterstreicht Wiedemanns herablassende Art, die wichtigsten rumänischen Dichter als "Stiefkinder der Weltlitertur" zu apostrophieren, obwohl diese der Westdeutschen nur durch "eingestandenermaßen - prekäre Sprachkenntnisse und Lektüre" bekannt sind.

Nicht nur Romul Munteanu, auch Jürgen P. Wallmann und Andrei Corbea sprechen in ihren Arbeiten über diesen wunden Punkt. Vor allem wird die Diskriminierung der Forschungen und Veröffentlichungen im Herkunftsland Celans zurückgewiesen. Nicht nur Gutus Arbeit ist gern "vergessen" worden, sondern die Aggressivität gegen jede Sekundärliteratur aus dem rumänischen Bereich erscheint geradezu peinlich. Als gäbe es eine tiefliegende Angst bei diesen "Einmischungen" und "Störungen" aus jener Gegend, wo ja die eigentliche Kompetenz und Kenntnis der Umstände liegen, in denen Celans Frühwerk entstanden ist, woher die Urmanuskripte des Frühwerks naturgemäß herkommen und ein Teil auch schon veröffentlicht wurde, bevor die westdeutsche Germanistik überhaupt etwas davon ahnte! Celan debütierte sogar mit einer rumänischen Übersetzung seiner "Todesfuge", ("Tangoul mortii", Contemporanul, 2. Mai 1947). Celan schrieb auch rumänische Texte. Sein Freund Petre Solomon hat diese 1987 herausgegeben. Erstaunlicherweise kommen Gutus Arbeiten auch bei Solomon nicht vor.

Gutu bietet in Band II seines Werkes im Anhang eine ausführliche Chronologie des tatsächlichen Standes und Veröffentlichungshergangs der diversen Bukarester Konvolute des Frühwerks (denn andere gibt es naturgemäß nicht!)

Was die westdeutsche Germanistik zum Frühwerk zu bieten hat, ist in Fleißarbeit "angelernt" und angeeignet, nicht nur die Materialien selbst, sondern vor allem auch die vielen Interferenzen mit der rumänischen Sprache und Literatur, ja, was die Wertung Celans als rumänischer Poet betrifft, der mit seinen rumänischen Texten zur rumänischen Avantgarde gehört, ja, erst durch den befreienden Kontakt mit den besonderen semantischen Strukturen des Rumänischen seinen eigenen metasprachlichen Stil im Deutschen entwickeln konnte, die seine freie Assoziationsfähigkeit in der Sprachphantasie schulten, es ihm erlaubten, die Sprachgrenzen dieser Mutter-Sprache anders zu sprengen, als das bisher geschehen war, und den Sprachschock zu üben, ebenso haben die hebräischen Einflüsse dazu beigetragen; die westdeutschen Wertungen, die den rumänischen Stil-Einfluß bei Celan eher als vernachläßigenswerten Seitensprung und reines Probieren ansehen wollen, bleiben oft schülerhaft und wenig überzeugend! Eine stringende poetologisch-linguistische Analyse, die auch Celans Übersetzungen ins Rumänische mit zur vergleichenden Analyse heranzieht, steht leider noch aus! Ebenso wenig überzeugend sind Wiedemanns Wertungen zur jüdischen Dichtung der Bukowina, Wertungen, deren Überheblichkeit kaum zu überbieten sind! Und diese Texte wurden freilich, wie ein Großteil des deutschen Frühwerks auch, zuerst im Herkunftsland veröffentlicht. Die westdeutsche Forschung verschweigt oder diskriminiert diese Tatsache. Man kann dieses durchaus als Skandal bezeichnen, und es wurde von Kritikern auch als solcher erkannt, etwa daß die merkwürdige "unsinnige Ausschluß-Klausel" (J.P. Wallmann) von Barbara Wiedemann-Wolf, die sich durch einen kurzen DAAD-Aufenthalt in Rumänien das Recht erworben zu haben meint, einzige Kennerin der rumänischen Phase Celans (38-48) auftreten zu dürfen, und die in ihrer Arbeit über das Frühwerk Paul Celans und dann in ihren fleißigen Herausgeberbemühungen Erstdrucke und Erstveröffentlichungen im Herkunftsland als "nichtautorisiert", die eigenen (nachgedruckten) aber als "autorisiert" bezeichnet, und so sich jede Celan-Erstveröffentlichung selbst zuschanzen möchte. "Mangel an philologischer Sorgfalt ist das Mindeste, was man ihr vorhalten muß. Paul Celan und seine Leser hätten eine korrektere Editionsarbeit verdient," heißt es bei J.P.Wallmann. Und ähnlich äußert sich ein anderer Kenner der Materie, der Germanist Andrei Corbea von der Jassyer Universität, der "mit Verwunderung" dieses koloniale Verhalten der Herausgeberin registriert, die sich ins Unrecht setzt, indem sie George Gutu und Petre Solomon Unrecht tut, deren Arbeit entweder diskriminiert oder völlig totschweigt.

Die eigene Haltung Celans zu diesem Frühwerk war kontrovers, im Grunde aber neigte er zu einer Veröffentlichung; im "Meridian" bezieht er sich auf diese; und vieles in den Briefen (vor allem an den Mentor und Freund Alfred-Margul Sperber nach Bukarest) spricht dafür, daß er eine Ausgabe plante. Die Witwe jedoch war strikt dagegen, und sie überzeugte anscheinend auch den (inzwischen verstorbenen) Herausgeber der Gesamtausgabe Beda Allemann (Bonn) davon. So erschien nach 1970 ein Teil des Frühwerkes nur in Rumänien. Und genau diese "Ausgrabungsarbeit" ist die Basis jeder Kenntnis des Frühwerkes. Nicht nur Israel Chalfens Buch ("Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend", Frankfurt a. Main 1979) sondern vor allem das Celan-Colloquium in Bukarest 1981 schufen die Grundlagen zur Kenntnis dieser Zeit. Und auch das berühmte "Marbacher Konvolut", das heute die Manuskript-Grundlage für das Frühwerk ist, müßte^in großen Teilen und den Tatsachen entsprechend, Sperber-Konvolut genannt werden, denn es stammt aus dem Nachlaß des Bukowiner Celan-Freundes und Mentors Alfred Margul-Sperber. Doch mit dieser Übereignung und den bienenfleißigen Celan-Editionen in Westdeutschland dürften die eigentlichen Hintergründe des Frühwerkes, die Wahrheit über den frühen Celan, sowie die Arbeiten der Celan-Forscher aus dem Herkunftsland nicht zugeschüttet werden.

 

 

 

 

 

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8. E.M. Cioran und die negative Mystik

Essay: Eine Horde von Verzweifelten

Begegnungen mit Emile Cioran

Briefe an DS (Unveröffentlicht. Archiv)

Problematische Beziehung Ciorans zu den Rechten (english)

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EINE HORDE VON VERZWEIFELTEN IM HERZEN DES

BALKANS...

Begegnungen mit E.M. Cioran

Im Pariser Lokal "La Coupole" sagte mir ein Mann, dem ich viel zu verdanken habe, ich solle rücksichtslos die Wahrheit schreiben; dieses aber sei nicht leicht. Denn die wichtigsten Lügen seien unbewußt. Man könne dazu einiges bei den Kirchenvätern nachlesen, vor allem beim alle überragenden Tertullian. Tertullian hatte zu seiner Zeit noch mit großer Selbstverständlichkeit ausgesprochen, was sich heute jeder hüten würde zu schreiben oder auszusprechen, nämlich: "Der Himmel steht für niemanden offen... erst nach dem Verschwinden der Welt wird er sich öffnen." Es ist erstaunlich, wie zahm wir geworden sind, sagte er, ein Mann aus Transsylvanien, nun eine Art Eremit in Paris. Es war E.M. Cioran, der "Die verfehlte Schöpfung" geschrieben hat. Einer, der mit dem Gefühl eines wesentlichen Fehlschlages im einzelnen Leben und in der ganzen Schöpfung die Lauheit und Leere der körperlichen Existenz, in der ein schwacher Engel eingesperrt zu sein scheint, schreibend zu ertragen versucht. Das Inferno sei die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er: "Durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse ... am Grunde einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist."

Vielleicht hat genau diese ungewöhnliche Haltung dazu beigetragen, daß E.M. Cioran, rumänischer Emigrant in Paris, zu einem der brillantesten französischen Essayisten wurde; der Siebenbürger Rumäne, seit über fünfzig Jahren Wahl-Pariser, verschwieg seine Herkunft, doch die Faszination seines persönlichen Philosophierens ist östlicher Provenienz. In den Essays und Aphorismen inspirierte die Offenheit orthodoxer Mystik und indischer Weisheit Cioran zur radikalen Ablehnung dessen, was dem Okzident gemeinhin als "Wirklichkeit" gilt.

Cioran lebte fast 60 Jahre lang im Pariser Exil. Man kann ihn sich vorstellen am massiven dunklen Tor der rue de l´Odeon 21, wo er viele Jahre gewohnt hat, mit der rechten Hand zaghaft und ein wenig müde winkend. Doch dieses lange Winken bleibt für immer: Cioran starb 85-jährig im Juni 1995 und wurde mit orthodoxem Ritus auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt.

Er hatte seit Jahren in einer Wohnung im sechsten Stock eines alten Miethauses mit herrlichem Blick über das Quartier Latin gelebt. Eine Straße weiter lag das Hotel, in dem Josef Roth gewohnt und seine letzten Absinthe getrunken hatte. Die weiche, ja, zärtliche Bitterkeit um die Mundwinkel in Emile Ciorans vergeistigtem Gesicht, der wache, überwache Blick der hellen Augen, bleibt im Gedächtnis haften. Er war ein genialer Schriftsteller, der aber im Inkognito leben, der unbekannt bleiben wollte. Bis zu seinem Tode hat er jede Ehrung verweigert; so radikal wie sein Leben, war auch sein Denken.

"Balkanisch" war für Cioran gleichzusetzen mit einem - Sich selbst und sein "Unglück" annehmen: "zerrissen", "herkunftlos", "abgründig" zu sein und einen äußerst skeptischen Sinn gegenüber gängigen Sicherheiten und rein verstandesmäßigen Erkenntnismöglichkeiten zu haben, eine Skepsis des Herzens und der bitteren Leid-Erfahrung, in der das Scheitern und das letzte Scheitern: Der Tod, das Maß aller Dinge ist.

Ciorans musikalisches Denken verbindet negative Theologie und Mystik mit französischer Clarté und zerstört rücksichtslos des Westens liebste Kinder: logische Sicherheit, Zivilisationsstolz, Geschichts-Bewußtsein. Das ist nicht neu, doch die Art, wie dieser Eremit in Paris philosophierte, ist sicherlich für viele ein Ärgernis. So pries er unter anderem den Selbstmord als Übung, um von einer vorgespielten Scheinwelt loszukommen, Indifferenz als Beruhigungsmittel gegen Zeitnot und Chronokratien. Er war ein extremer und intimer Denker, bei dem die Titel seiner Bücher eine schockierend klare Sprache sprechen, und zwar schon in den Jugendwerken: "Auf den Gipfeln der Verzweiflung"," Das Buch der Täuschungen", oder die im Exil geschriebene "Lehre vom Zerfall" (1949), die Paul Celan übersetzt hat, dann "Geschichte und Utopie", die "Syllogismen der Bitterkeit" oder "Die verfehlte Schöpfung" und "Vom Nachteil geboren zu sein".

Dieser große Essayist der Verzweiflung war jahrzehntelang nur ein Geheimtip für Kenner; obwohl er in seiner subjektiven Radikalität einen Nerv unserer Zeit traf. So sind für dieses Denken das Vorrücken der Zeit und die ständige rastlose Schöpfung des Weltaugenblickes nur "Machenschaften" eines bösen Demiurgs, die Geschichte ist dessen Stellvertreter, und nur ein untergeordneter Dämon.

Im Hintergrund freilich hält Cioran einen guten (statischen) Gott in Reserve, der mit unserer Schwäche, unserer Ohnmacht, unserer Untüchtigkeit korrespondiert.

Nach einer ersten Begegnung in Paris im Frühjahr 1970, der Autor dieser Sendung hatte damals Ceausescus Rumänien ebenfalls für immer verlassen, schrieb Cioran in einem Brief nach Frankfurt:

"Der große Vorteil, den Sie gegenüber uns allen haben, die wir hier seit einer gewissen Zeit leben, ist der, einem langen Alptraum entronnen zu sein, furchtbare Prüfungen durchgemacht zu haben und sei es auch nur als Zuschauer. Das Wort trifft es nicht genau, denn in diesem Genre von Regimen gibt es keine Zuschauer. Jeder ist dort Opfer und Akteur, angefangen beim Henker ... Wie Sie bin auch ich verzweifelt, überall das Falsche und Gröbste in den ´Revolutionären Unternehmungen´ der sogenannten zivilisierten Welt zu sehen, welche Lügen soll man vorziehen, die von hier oder die von dort? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß man im Osten mehr geistige Substanz findet als im Westen. Ihre Position ist nicht bequem. Sie werden den linken Snobismus und die Vorurteile der ´respektablen Leute´ gegen sich haben. Was macht das schon!! Die einzige Möglichkeit, seine Seele zu retten, ist, niemandem zu schmeicheln."

Es wird von westlichen Kommentatoren immer wieder vergessen, daß E.M. Cioran nicht einer der ihren ist, daß sein Denken in Zartheit und Todessucht, Verzweiflung und Ohnmacht eine Art säkularisierter Gottesfluch ist und einer östlichen Tradition angehört, daß er diese Grundstimmung als eine exotische Frucht ins Okzidentale gebracht hat, ähnlich wie auch Paul Celan. Sie kann niemals "eingemeindet" werden, sondern bleibt ein Skandalon im besten Sinne des Wortes . Cioran bleibt ein fremder Gast, und hat sich bis an sein Lebensende so gesehen!

 

Ein Leben lang fühlte er sich als Verräter an seiner Herkunft, die ihm so viel zu schaffen gemacht hat, und als Schlüssel zu seinem Denken gewertet werden muß!

"Nichts berührt mich so nahe wie kahle Gipfel. Ich bin sicher, daß mich die Karpaten wie ein Vorwurf immer begleiten werden. Ich habe meinen Ursprung verraten, und mein Ursprung ist dort."

So schrieb er am 26. Juni 1973 an einen Freund in sein ehemaliges transsylvanisches "zuhause" - nach Sibiu-Hermannstadt. Und dieser Freund, der Musiker und Dichter Wolf von Aichelburg, veröffentlichte kurz vor seinem Tode aus wahlverwandtschaftlicher Zuneigung diese Briefzitate einer jahrelangen Korrespondenz mit dem fernen Freund, und dazu einen Essay, der schon im Titel das Lebenstrauma des Dichterphilosophen anspricht:

"L´inconvénient d`être né" - die Mißlichkeit geboren zu sein - heißt eines der Bücher von Emil Cioran, des Philosophen und Essayisten, der aus Rumänien stammt, seit 1937 in Paris lebt, französisch schrieb, aber keineswegs als Franzose angesprochen werden wollte und die französische Staatsbürgerschaft ... stets entschieden abgelehnt hat. ... Die Ablehnung der Zugehörigkeit beginnt mit der Geburt.

Am 1. April 1971 schrieb Cioran an seinen Freund Aichelburg nach Hermannstadt:

"Ich habe Sehnsucht nach der Provinz, und Hermannstadt ist ihre vollkommene Verkörperung. Welch eine wunderbare Stadt muß es vor dem Krieg 1914 gewesen sein! Aber ich schweife ab ... Doch wenn man in einer Großstadt lebt und die Anwesenheit von Millionen Menschen ertragen muß, wird das Nichts der Provinz zu einem Paradies."

Cioran blieb ein Leben lang diesem Ursprung verhaftet. Und sein Konzept des Exils faßt er fast biblisch als eine Vertreibung aus dem Paradies auf.

Er sagte, er habe sein Heimatdorf in den Karpaten, Rásinari, fast pathologisch geliebt.

Er hatte eine sehr starke Bindung ans Elternhaus, und in seiner paradoxen Diktion sagt er in einem Interview:

"Hätte ich eine traurige Kindheit gehabt, wäre ich in meinen Gedanken wesentlich optimistischer geworden... Ich liebte dieses Dorf ungemein. Als ich es im Alter von zehn Jahren verlassen mußte, um das Gymnasium in Hermannstadt besuchen zu können, brach in mir eine Welt zusammen... während dieser Zeit mochte ich vor allem die Bauern, die Hirten; ich hegte einen regelrechten Kult für sie, und als ich jene Welt verlassen mußte, hatte ich die deutliche Vorahnung, daß für mich etwas Unwiederbringliches zerbrochen war...

(...) Nach meinem Heimatdorf und Paris gehört meine ganze Liebe Sibiu-Hermannstadt, ich liebe diese Stadt mehr als alles andere auf der Welt... Hermannstadt war für mich so wichtig, weil sich dort das große Drama meines Lebens abgespielt hat, das mehrere Jahre anhielt und das mich für den Rest meines Lebens gezeichnet hat. Alles, was ich geschrieben, alles was ich gedacht und geschaffen habe, alle meine Zweifel und Schwankungen haben ihre Wurzel in diesem Drama: als ich ungefähr zwanzig Jahre alt war, begannen meine schlaflosen Nächte... Ich irrte stundenlang durch die Straßen (Hermannstadts) wie ein Phantom, und alles was ich später geschrieben habe, entstand in jenen Nächten. Auf den Gipfeln der Verzweiflung gehört jener Zeit an. Ein Buch, das ich mit 22 Jahren geschrieben habe, eine Art Testament, denn ich dachte an Selbstmord... Jene Hermannstädter Nächte sind die Wurzel meines Denkens."

Die Radikalität seines Denkens, jene Grundauffassung von der "Mißlichkeit geboren zu werden", wurde auch ausgelöst durch ein erschreckend radikales Wort seiner Mutter, das ihn stets begleitet hat.

"Meine Mutter war da, ich warf mich auf ein Kanapee und sagte: Ich kann nicht mehr! Meine Mutter antwortete mir: "Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich abgetrieben!..." Das hat mich für den Rest meines Lebens gezeichnet. Ich war also nichts als die Frucht eines Zufalls."

Doch dieser Mangel an Notwendigkeit und Schicksal sei eher wie eine Befreiung gewesen. Man kann sich denken, daß der Vater, ein Pope, der natürlich in den Zwängen des Gottesglaubens und des Sinnes gefangen war, nicht gerade glücklich über diesen Sohn war. Und auch seine paradoxe, daher so wahre Zeitauffassung bezieht Cioran aus dieser Grunderfahrung, denn in der Schlaflosigkeit:

" ... ist es nicht die Zeit, die vergeht, es ist die Zeit , die nicht vergeht. Und dieses ändert dein Leben. .. daher sind die schlaflosen Nächte die größte Erfahrung, die du im Leben machen kannst... ich glaubte an die philosophische Terminologie, ich war verrückt nach ihr. Nun gut, dieser Aberglaube löste sich in Nichts auf durch jene Wachzustände, denn es wurde mir klar, daß mir Philosophie nicht helfen konnte ... "

Schlaf ist Trost, weil er vergessen macht. Mit jenem schönen Betrug hängt alles zusammen, was wir für wahr halten, Geschichte, Fortschritt, Wachstum, ja, Sprache, Begriffe, Denken. Cioran negiert sie.

Und doch studiert der von anhaltender Schlaflosigkeit und den Obsessionen des Todes geplagte Cioran von 1928 bis 1932 an der Philosphisch- Historischen Fakultät der Universität Bukarest Philosophie; er befreundet sich mit Mircea Eliade, gehört von da an einer verlorenen Generation an, eben jener "Horde der Verzweifelten", die von Nihilismus, Anarchismus, Faschismus geprägt wurde. Auch begann er zu veröffentlichen. Und saugte vor allem die deutsche Philosophie wie ein Schwamm auf. Zwischen 33 und 35 kam er als Humboldtstipendiat nach Berlin. 1936 wurde er Philosophielehrer in Brasov-Kronstadt. Als Lehrer eine Fehlbesetzung, auch führten seine beiden Bücher: "Auf den Gipfeln der Verzweiflung" und "Tränen und Heilige" mit gotteslästerlichen Passagen zu Skandalen.

"Die Religion ist nur ein Lächeln, das über dem allgemeinen Unsinn schwebt, wie ein allerletztes Parfüm über den Wellen des Nichts."

Dieses ist auch die Zeit seiner ein Leben lang bereuten Bindung an die faschistische Ideologie. Im Dezember 37 zieht Cioran als Stipendiat des französischen Instituts von Bukarest nach Paris um. Als fliehe er vor sich selbst! Er immatrikuliert sich an der Sorbonne, soll eine Dissertation schreiben, doch stattdessen macht er Radtouren durch ganz Frankreich, die Dissertation wird nie geschrieben. Und abgesehen von einem Jahr Berlin-Aufenthalt lebte Cioran seither nun in Paris als Emigrant. Er lebte im Bewußtsein, daß nur das Exil dem Menschen entspricht; die meisten vergessen es und meinen, Heimat und Lebenssicherung sei der natürliche Zustand, und alles, was davon abweicht, sei unnormal, gar krankhaft. Der Widerschein des Paradieses wurde nur einmal, und zwar in der Kindheit erlebt, genau dieses war Ciorans Ansicht.

Er rühmte das "geschenkte Exil", während etwa Rainer Maria Rilke, der "Unbehauste in Luxusausgabe", so meinte Cioran: sich anstrengen mußte, alle Bindungen aufzugeben, Einsamkeiten zu sammeln, um endlich "im Unsichtbaren Fuß zu fassen". Ihm aber, Cioran, wurde es geschenkt, so wurde er einer der brillantesten französischen Essayisten, schrieb in einer Fremdsprache, und diese war sein höchstes ´geistiges Exil.´

"Sich der Welt entreißen, was für eine Vernichtungsarbeit! Der staatenlos Gewordene gelangt dazu, ohne sich in Unkosten zu stürzen, nämlich durch Mithilfe dieser Feindseligkeit der Geschichte ... Eine Gefahr bedroht den entwurzelten Dichter, die der Anpassung: nicht mehr unter seinem Los zu leiden, Gefallen daran zu finden ..."

Ÿ Er vermied die Anpassung, blieb sogar paßlos, vaterlandslos. So konnte er mit der Furie eines lebenslänglich Exilierten, eines "Abwesenden", wider den satten Nonsens der Denk- und Wertgefängnisse der ewig Zuhausegebliebenen im Westen anschreiben. Diese Philosophie ist konsequent bis zur Selbstzerstörung, pathetische Dialektik in der Schwebe (der Antilehre, der "Leere"). Für den im Nicht-zu-Hause-sein Erfahrenen war Freiheit allein im Provisorischen, im Übergang; er trug die leeren Plätze des Okzidents verletzlich in sich.

Und er konnte äußerst heftig, ja ausfallend werden, wenn er über seine Herkunft herzog. Als hätte er da etwas zu verbergen. E schrieb an einen Freund in Siebenbürgen:

"Mein früheres Leben, meine Vorgeschichte, zieht mich immer stärker an. Ohne Zweifel eine Alterserscheinung, aber auch ein gewisser Ekel vor der Welt, in der ich lebe. Hier hat niemand etwas richtig verstanden, während Ihr dort alle Weise seid, vollkommen täuschungsfrei.

Sein vertracktes Verhältnis zu seinem Land, das auch in solch einer Idealisierung erkennbar wird, ist erst langsam ans Tageslicht gekommen, vielleicht so überdeutlich erst nach seinem Tode. Sein Exil wirkt wie eine Flucht vor der eigenen Herkunft und Vergangenheit, vor seiner "Jugendsünde":

Er schrieb in einem Brief sogar, daß er es teuer habe bezahlen müssen, nicht zu Hause geblieben zu sein, in der roten Hölle nicht gewesen und "nicht gelitten zu haben" wie seine Freunde. Als habe er so für sein radikales metaphysisches Unbehagen, überhaupt geboren zu sein, ein Mensch zu sein, nun kein Alibi mehr. Er hat vierzig Jahre lang wenigstens sein Heimatsterben kultiviert, ein hohes Nirgendwo ...

So schrieb er mir über meine Übersiedlung nach Italien:

"Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie sich mit den Italienern gut verstehen, die Rumänen sind; aber Rumänen eben, die eine Vergangenheit haben. Es ist klar, unsere armen Rumänen haben keine. Mir scheint es, daß Sie in Ihren Memoiren auf dieses einmalige Phänomen hinweisen müßten: es ist das einzige Volk in Europa das diesen Vorteil hat, keine Geschichte zu besitzen. Wenn dieses schon für die Wallachen gilt, wieviel mehr dann für die Siebenbürger, deren ´historische´ Bedingung eine merkwürdige Ähnlichkeit mit denen der Neger hat. Es gibt, so glaube ich, einen Pakt, der auf das 15. Jahrhundert zurückgeht, und durch den sich die Ungarn und die Sachsen verpflichteten, diese elenden Ureinwohner als Sklaven zu halten. Welch eine Umkehrung der Lage! Für den Okzident wird unvermeidlich der Tag kommen, an dem er von seinen Gastarbeitern und Amerika von seinen Schwarzen beherrscht wird. Die Zukunft gehört immer den Sklaven und den Immigranten. Wie beim Römischen Reich: es wurde von seinen Opfern zu Grabe getragen. Trotz allem gibt es eine Art von Gerechtigkeit in der Geschichte. Das Gesindel, das ohne zu murren zu leiden versteht, gewinnt ohne jede Ausnahme am Ende (...)"

Als müßte er etwas büßen - büßen, ein Rumäne zu sein?! - lebte Cioran in einem Nirgendwo, nirgends zu Hause, seit 1937 in Paris, jedoch hatte er es abgelehnt den französischen Paß anzunehmen, und beklagte es, Frankreich als Wohnort gewählt zu haben; es sei ein großer Fehler gewesen. Dieses Leiden an der eigenen Herkunft, ja die Ablehnung, sogar Verachtung der Herkunft, nicht aber der eigenen Sprache und Kultur, ist eine einzigartige rumänische Krankheit.

Das Schwanken, das Sich- Nichtentscheiden können, die Zerrissenheit! Jener tiefe unaussprechliche wunde Punkt wäre für Cioran vielleicht nur durch musikalische Mittel erreichbar gewesen. Daher ist für ihn auch der "Ton" wichtiger als die direkte Aussage, als Text und Schrift:

"Du sagst immer nur einen Teil von dem, was du sagen möchtest. Daher ist der Ton so wichtig. Es gibt einen Ton nicht nur in dem was ein Musiker tut, sondern in allem, was wir tun. Es ist etwas sehr Geheimnisvolles, weil es nicht definiert werden kann... Es gibt eine Art Irrealität in allem, was Literatur betrifft ... die Musik aber berührt das Intimste in jedem... Für mich ist Bach ein Gott.... Ich glaube, die Musik ist fähig eine tiefe, ja, komplizenhafte Verbindung zwischen zwei Wesen herzustellen..."

Der schwermütig-melancholische rumänische Ton, eine musikalisch- ekstatische Innerlichkeit, ein dunkler mystischer und sehnsüchtig-schmerzlicher Ton, der im Wort nie aufgeht, ist bei Cioran auch in der Fremdsprache Französisch noch spürbar, leider viel weniger in den deutschen Übersetzungen. In diesem Ton ist Ciorans eigentliche Aussage verborgen

"... der Ton ist mehr als jedes Talent, er enthält das Wesen ..."

Cioran, der wie Nabokov oder Beckett ein großer Autor in einer Fremdsprache geworden war, hat selten einen rumänischen Brief geschrieben; als gäbe es ein schmerzliches Berührungstabu, hat er sich das Rumänische selbst untersagt; ja, er hat sogar gesagt, daß dieser Sprachwechsel...

" ... eine Emanzipation, eine Befreiung von der eigenen Vergangenheit war."

Ja, eine heilsame "Zwangsjacke", daß die "Strenge dieser Sprache" für einen undisziplinierten "Balkanesen" heilsam gewesen sei. Zugleich kommt jedoch auch die andere Seite, das Bedauern Ciorans zum Vorschein, nämlich daß zwar das Rumänische ...

"... eine Mischung von Slawisch und Lateinisch, Eleganz vermissen läßt, jedoch unendlich poetisch ist ... offen noch für Akzente wie bei Shakespeare und der Bibel."

Das Mirakel der rumänischen Kultur, so Constantin Noica, der Cioran-Freund und Philosoph, bestehe darin, daß diese Kultur noch eine Beziehung zu den Vorsokratikern, zur indischen Weisheit und zu Goethe habe. Und an einen alten Freund ( Victor Vuia) schrieb Cioran im Juni 77:

"Heidegger ist auf Rumänisch geheimnisvoller als auf Deutsch. Diese zivilisierten Sprachen sind abgenutzt und können nichts mehr ausdrücken. Die Worte haben zu oft gedient ..."

Und dem Bruder Aurel schrieb Cioran im Februar 74 über Constantin Noicas rumänische Sprachphilosophie, die er bewunderte:

"Seine Begeisterung für unsere Sprache ist verständlich, denn es ist eine strenge Sprache von einer ungewöhnlichen Ausdruckskraft. Für mich aber gehört all dieses der Vergangenheit an. Indem ich mein Idiom gewechselt habe, habe ich auf einen Teil von mir verzichtet, jedenfalls auf einen guten Teil meines Lebens."

Die tiefsten Werte des Rumänischen sind bisher in der europäischen Kultur nicht aufgenommen worden, zu wechselseitigem Nachteil. So gibt es in der Volkskultur dieser Grenzsprache zwischen Latein und Slawisch, Ost und West, z.B. noch den Hl. Josaphat, der ein indischer Bodhisattva ist, wie Mircea Eliade gezeigt hat; diese Kultur ist von einem "kosmischen Christentum" geprägt; Brancusi etwa, der Bildhauer und Bauer, hat eine Synthese zwischen Ethnographie und Transzendenz, aber auch zwischen Formen der Steinzeit und denen der Urbevölkerung (Daker) geschaffen. Wer die Klöster der Maramures, wer in Tîrgu-Jiu am Jiu den "Tisch des Schweigens", "das Tor des Kusses", oder die "Unendliche Säule" gesehen hat, Skulpturen am pantha rhei des Flusses, - den läßt dieses Erlebnis des Ursprungs, einmal so elementar erfahren, nicht mehr los.

 

Cioran mochte den "anämischen" Westen nicht. An Constantin Noica schrieb er im August 1980 über die west-deutschen Intellektuellen:

"Sie sind auf stupide Weise politisiert (...) und unfähig der Höhe ihres historischen Scheiterns zu entsprechen. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie viele Enttäuschungen mir die Westmenschen bescheren. Dagegen sind die Südamerikaner interessanter, komplexer, überraschender und haben mehr Vitalität. Dieses ist gültig auch für den Südosten Europas. Die Erschöpfung des ausgeronnenen Westens dagegen ist unbezweifelbar und endgültig ... Ich übertreibe nicht, glaube mir. Ich hätte nie geglaubt, daß ein so radikaler Prozeß sich in so kurzer Zeit vollenden könnte."

Cioran hatte eine große Liebe und Hochachtung für seine rumänische Muttersprache, für ihre kulturelle Tiefe, weniger für jene, die sie benützen und seiner Meinung nach, dieses tiefgründige plastische Idiom in ihrer Bewußtlosigkeit gar nicht verdienen. Doch bei welchem Volk und seiner stupiden Masse wäre dieses anders! Freilich - im Falle der Rumänen und ihrer geschichtlichen, geistigen und levantinisch-sozialen Unfähigkeit scheint für Cioran dieser Abgrund besonders kraß zu sein. Vor allem gegenüber Noica und gegenüber seinem Bruder Aurel bekennt er diese Abneigung! So schreibt er über den im Westen fast unbekannten Nationaldichter Eminescu an Noica:

"Ohne Eminescu wäre unser Volksstamm unbedeutend, ja fast verachtenswert ... Auch wenn die Begeisterung für unsere Sprache andauernd zunimmt, bis zu dem Punkt, daß ich sie für eine der ausdrucksstärksten, die es je gegeben hat, halte, so bremse ich mich und bleibe im Gegensatz dazu, was unser Volk betrifft, äußerst skeptisch."

Aber schreibend hat er seine rumänische Substanz ins Französische hinübergerettet und diese fremde Sprache verändert, ein Triumph der östlichen Nähe und Tiefe dieses Mystikers, der seine persönlichsten Kuckuckseier ins noble französische Sprachnest gelegt hat.

Die ganze rumänische Kultur ist von einem düsteren Ton geprägt; in einem kurzen Text ("Verharren im Versagen") über das historische Mißgeschick der Rumänen, immer nur besiegt worden zu sein, was auch auf die Revolution von 1989 zutrifft: schrieb Cioran:

"Mehr als ein Westler hat auf einen düsteren Unterton in der rumänischen Literatur hingewiesen, der erstaunlich bei einem Volke ist, das als frivol gilt ... Welch ein Volk! Unendlich passiv, gänzlich unbegabt für Revolutionen, weise und zugleich abgebrüht wie kaum ein anderes. Es macht den Eindruck, als habe es bereits alles durchschaut und könne sich deshalb weder zu einer Illusion aufraffen, noch sich zu ihr herablassen. Selbst wenn man lange Jahre in der Fremde gelebt hat, weiß man als Rumäne, daß man nie diesem urspünglichen Mißgeschick wird entkommen können, dem verderblichen Vermächtnis, das jede Anwandlung von Hoffnung untergräbt."

 

Dieses ist auch einer der Gründe für Ciorans "Jugendsünde", Sympathien für die faschistische "Eiserne Garde" gehabt zu haben. In einem Jugendbrief aus Paris vom Dezember 1937 an seinen Freund Mircea Eliade nach Bukarest, geht Cioran von dieser rumänischen Tragödie aus, vom "walachischen Nichts", und läßt die Katze aus dem Sack:

"Rumänien kann angesichts des Okzidents nur durch eine Revolution von rechts auferstehen. Mehr denn je habe ich mich davon überzeugt, daß Rumäniens letzte Chance die Eiserne Garde ist. Die Demokratie hat aus Frankreich nichts als eine Gesellschaft und einen Staat, ein Kollektivwesen, aber keine Nation gemacht. Jede Geste, die die Lunte an die Demokratie in Rumänien legt, ist ein kreativer Akt. Dieses sind nichts als die Banalitäten eines informierten Mannes. Die neue Generation - als Masse betrachtet - ist dort viel interessanter als hier. Ich würde lügen, wenn es mir einfiele zu sagen, daß mir Frankreich nicht gefällt.

Paris gebe ich mich mit Wollust hin, obwohl ich seine dekadenten Lüste nicht goutieren kann. Ich bin extrem arm (1000 fr. im Monat), und es kommt mir gelegen, daß ich auch nach außen zum isolierten Leben verurteilt bin. Komisch, daß Du Paris und auch Baudelaire nie geliebt hast. Dieses ist erklärlich durch unsere unterschiedlichen Temperamente. Jede Art von Trauer ist Solidarität mit Paris. Ich bitte Dich sehr, schick mir die Zeitung Cuvântul - abonniere mich, denn auch ich möchte etwas schreiben, um dieser Armut zu entgehen... Du weißt nur allzugut, daß mir Schreiben kein Vergnügen macht. Ich nehme die Feder nur in Augenblicken des Unglücks oder aus Geldnot zur Hand."

Von der "geistigen Erneuerung" Rumäniens durch die faschistische Legionärsbewegung ließen sich sowohl Eliade als auch Cioran, und freilich auch Constantin Noica kurz hinreißen, was dann später alle bedauerten. Eliade spricht in seiner Autobiographie von einer "Reihe von Unbesonnenheiten und Irrtümern".

Doch noch 1957 schrieb Cioran bewußt provokativ an seinen "fernen Freund" Constantin Noica, seine "Vaterlandsliebe" sei ausdrückbar nur...

"... in der Sprache der Selbstbestrafung, der freiwilligen und öffentlich bekundeten Demütigung, der Zustimmung zum Unheil. Sollte für eine derartige Vaterandsliebe die Psychiatrie zuständig sein?"

Und er gibt zu, daß seine jugendliche "wölfische Seele" in den dreißiger Jahren, seine Neigung zum Rechtsextremismus aus dieser Wurzel kam, und er sieht sie: "... in einer tierischen Traurigkeit, die sich unter der Maske der Inbrunst verbarg ... der Grimm war das mir zugefallene Los."

Aber sogar daß er sich davon befreien konnte, hielt er für späte zivilisatorische Schwäche und eine Alterserscheinung, für eine Art Infektion mit dem Demokratiebazillus. Und als habe es ihn Überwindung gekostet, sich von der alten Krankheit zu befreien. "Wie, durch welche inneren Kämpfe ich dazu gelangte, mich von solchen Tollheiten zu befreien, das werde ich Dir nicht auseinandersetzen ..." So schrieb er in den siebziger Jahren an seinen Bruder über sein schlechtestes, ein antisemitisches, antimadjarisches Jugend-Buch: "Schimbarea la fatá a României" (Rumäniens Verklärung):

"Wie dumm die Leute sein können! Für mich ist die Zeit in der ich ´Schimbarea´ geschrieben habe, unglaublich weit entfernt. Manchmal frage ich mich, ob wirklich ich diesen Ausrutscher geschrieben habe, der andauernd zitiert wird. ... Der Enthusiasmus ist eine Form des Deliriums. Wir haben an dieser Krankheit gelitten und niemand will es uns glauben, daß wir geheilt sind."

Überhaupt hält er die "Eiserne Garde" für einen "Komplex von Krankheiten". Sie galt in seiner Jugend freilich als Heilung von allen balkanischen Übeln, bis hin zur Ausschweifung, und dem Tripper, der damaligen rumänischen Volkskrankheit. Nach Cioran war die "Eiserne Garde": "... eine irre Sekte. Man sprach dort weniger vom "nationalen Erwachen" als von der Herrlichkeit des Todes."

Cioran hat sehr daran gelitten, zu einer vergessenen Nation zu gehören, als Rumäne geboren worden zu sein. Als seine Lebenspartnerin Simone Boué in seinem kleinen Arbeitszimmer im Frühjahr 94 aufräumen wollte, fand sie im engen Mansardenraum, der mit seiner unbeschreiblichen, gewollt traumartigen, irrealen Unordnung von Papieren, Büchern, Briefen, Aufzeichnungen, aber auch alten Koffern aus der rumänischen Zeit, einen erstaunlichen Text "Mon Pays", "Mein Land". Dieser Raum schien wie geschaffen eine Art Vorläufigkeit vorzuführen, auf dessen "Chaos" er stolz war, weil er sich allein in diesen geordneten Zufallsereignissen zurechtfand, wie geschaffen auch, diesen Bekenntnistext "Mon Pays" darin aufzuheben und zu verbergen: "Mein Land! Ich wollte mich um jeden Preis an dieses Land binden - und es gab nichts, woran ich mich binden konnte. Ich fand in ihm überhaupt keine Realität, weder in seiner Gegenwart noch in seiner Vergangenheit. Und so, angefüllt mit Wut, verpaßte ich ihm eine Zukunft, erfand sie, beschönigte sie, ohne auch nur einen Augenblick an diese Zukunft zu glauben... Ich wollte dieses Land stark, maßlos, verrückt, mit teuflischer Macht ausgestattet, voller fataler Kräfte, vor denen die Welt erzitterte, doch es war klein, bescheiden, ohne alle Eigenschaften, die ein Schicksal ausmachen könnte. .. Welch ein Wahnsinn, doch ein Wahnsinn, der mich leiden ließ. ... ich war nicht der einzige, der litt. Es gab auch andere, die sich an solch eine Zukunft klammerten ... Wir waren eine Horde von Verzweifelten im Herzen des Balkans... Es war eine rohe und grausame Bewegung, eine Mischung aus Vorgeschichte und Prophetie, von Mystik des Gebetes und des Revolverheldentums, von allen Autoritäten verfolgt, eine Bewegung, die alles tat, um verfolgt zu werden. ... alle ihre Chefs waren blutige Märtyrer."

In einem Siebenbürgen gewidmeten Heft der von Gerhardt Csejka herausgegebenen Zeitschrift "Neue Literatur" weist der rumänisch-amerikanische Literaturprofessor Matei Cálinescu in einem fesselnden Essay "Wie kann man sein, was man ist. Cioran und die Rumänen" darauf hin, daß Cioran eigentlich in allen seinen Werken dieses Trauma aufgenommen, umgeschrieben, weggeschrieben, verborgen, umgedeutet oder sublimiert hat, Ausgangspunkt ist das "flammende nationalistisch-sozialistische Manifest mit dem Titel "Schimbare la fatá a României" - "Rumäniens Verklärung", 1937 im Jahre der Emigration in Bukarest veröffentlicht. Dazu Cálinescu:

"Die Lektüre von "Rumäniens Verklärung" war für mich eine Offenbarung. Sie zeigte mir einen anderen Cioran, einen, den ich mir nie hätte vorstellen können, den ich aber, nachdem ich ihn entdeckt hatte, in allen seinen Büchern wiederfand. Seither lese ich ihn anders. Wichtige Passagen seiner französischen Bücher - vor allem in "Dasein als Versuchung" und "Geschichte und Utopie" - erscheinen mir als Versuche, dieses frühe Werk zu verbergen und neu zu schreiben ( in einer unbeugsamen negativen Art und Weise) oder gar ungeschrieben zu machen."

In "Dasein als Versuchung", 1956, gibt es einen Traktat "Kleine Theorie des Schicksals", wo Cioran die flammende (chauvinistische) Verteidigung seines Landes nun völlig ins Negative verkehrt, ähnlich wie auch in "Mon Pays": - "Wie kann man Rumäne sein? Auf dies Frage konnte ich nur mit immer neuer Zerknirschung erwidern. Ich haßte die Meinen, mein Land, die zeitlosen Bauern, die ihren Stumpfsinn über alles stellen, geradezu berstend vor Erstarrung, ich schämte mich, von ihnen abzustammen, verleugnete sie, ich verweigerte mich ihrer negativen Ewigkeit, ihrem versteinerten Lemurendenken, ihrem geologischen Halbschlaf."

Aber in der "Verklärung" klingt das trotzig ganz anders. Ganz überhitzt und radikal, aus Minderwertigkeitskomplexen entsteht oft Furchtbares, Versuche, Schwäche durch Gewalt zu verbergen. Die Hitlerei bei den Deutschen war ja nach der Niederlage und nach Versailles ähnlich. So verkündete Cioran 1936 in jenem unseligen Buch, das später für ihn das "fremdeste" sein sollte: "Ich wünsche mir ein fanatisiertes Rumänien, ein Rumänien im Delirium, ein Rumänien mit der Bevölkerung Chinas und mit dem Schicksal Frankreichs."

Oder so unglaubliche Sätze über Euthansie und Vernichtung, wie diese:

" (...) Wie lebendig wir sind, das beweist einzig das Maß an Haß, das wir den Alten entgegenbringen. Unser Interesse verlangt es, daß wir ihren Todeskampf beschleunigen, daß wir sie aus Mitleid nicht länger zum Leben verurteilen.

Ciorans Freund Ionesco, der solch einer Infektion nie verfallen war, im Gegenteil, verzweifelt von der Ansteckung aller seiner Freunde sprach, und dazu die "Nashörner" schrieb, hat das Wort von der "moralischen Epidemie" geprägt, die damals grassierte. Nicht nur die großen Rumänen, sondern auch Benedetto Croce, sogar Sigmund Freud oder C.G. Jung, Heidegger, Jünger oder Benn waren ja anfangs an diesem "großen Fieberanfall" erkrankt.

Cioran hatte Erfolg auch unter den Legionären, obwohl seine Ideen im Gegensatz zum christlichen Faschismus und zur Mystik der Legion standen, sie waren antichristlich. Außerdem lehnte Cioran die bisherige miserable Geschichtsvergangenheit seines Landes ab, und äußerte sogar Sympathien für die Sowjets, ein rotes Tuch für die Legionäre, die der Tradition und den Ahnen zugewandt waren.

Sein unseliges Buch wurde ein Klassiker, vielleicht weil es einen Weg aus der damaligen rumänischen Misere zeigte. Heraus aus der "kleinen Kultur", die den "Großen" das Wasser nicht reichen kann, weil ihr die messianische Berufung fehlt. Jetzt war diese Berufung da. Mit Gewalt und fanatisch sollte sie geschaffen werden. Rumänien befinde sich, ähnlich wie Spanien, in einer Zwischenstufe zwischen großer und kleiner Kultur, so sollte an seinem Wesen zumindest die Balkan-Welt genesen. Dabei übernahm Cioran marxistische Ideen, die ironischerweise dann später Ceausescu realisieren wollte: weg vom rückständigen Dorf, und hin zur Industrialisierung und zur Modernisierung.

"... die Stadt und die Industrialisierung müssen die zwei großen Obsessionen eines emporstrebenden Volkes sein."

Und Cioran erträumte eine imperialistische Zukunft, die Herrschaft Rumäniens über die Völker des Balkans.

Peinlich bleibt sein jugendlicher Antisemitismus. Er hat nach seiner Emigration in Frankreich natürlich all dies verheimlicht. Und er wäre mit solch einer Vergangenheit im Lande der Résistance auch nie zu einem französischen, zu einem anerkannten großen Autor geworden. Erst nach seinem Tode wurde diese bestürzende Jugendsünde publik. In einem aggressiven Artikel in "Le Monde", und dann in einem Rundgespräch in Radio France Culture wurde 1995 von einem jungen Literaturprofessor, Pierre-Yves Boissau, der auch den heftigen Anti-Cioran-Artikel in "Le Monde" geschrieben hatte, folgende Passagen aus der "Verklärung Rumäniens" zitiert: "Die Rassentheorie wurde, so scheint es, nur geboren, um das Gefühl der abgrundtiefen Trennung auszudrücken, die jeden Juden von einem Nicht-Juden unterscheidet. Es ist ein angeborener Abgrund, nicht aus Antisemitismus, nicht aus irgend einer Auffassung entsprungen, sondern aus einem manifesten oder heimlichen Gegensatz, der zwei essentiell verschiedene Wesen charakterisiert. Der Jude ist nicht unser Nächster, unser Artgenosse, und egal mit wieviel Intimität wir uns auch nähern sollten, es bleibt ein Abgrund, der uns trennt, ob wir wollen oder nicht.... Menschlich können wir uns ihm nicht nähern, denn der Jude ist in erster Reihe Jude und dann erst Mensch."

Noch 1940 schrieb er ein hymnisches Porträt Zelea Codreanus, Codreanu war der Führer der rumänischen Eisernen Garde; und es gab eine peinliche Episode: Cioran kam 1940 aus Paris zurück nach Rumänien, weil er Botschafter im Vichy-Frankreich werden sollte.

Doch noch im gleichen Jahr wandelte er sich, wohl unter dem Eindruck der faschistischen Verbrechen. Während des Krieges wandte er sich von seiner rumänischen Legionärs- Vergangenheit radikal ab, als könnte er sie löschen!

Bei einer Neuauflage 1990 der "Verklärung Rumäniens" schrieb Cioran im Vorwort: "Ich habe diese Wahnreden 1935-1936, im Alter von 24 Jahren mit Leidenschaft und Stolz geschrieben ... dieser Text ist mein leidenschaftlichster, mir zugleich aber der fremdeste. Ich kann mich darin nicht wiederfinden."

Cioran war schon 1940 davon geheilt, an Mircea Eliade schrieb er aus Antibes: "Lieber Mircea, wenn Du deine Zeit niemals im angenehm unendlichen Nichts verloren hast, kannst Du mich nicht verstehen. Nur in den Wassern des Mittelmeeres läßt sich die Existenz vergessen. Ich bin an den Grenzen der Nutzlosigkeit angelangt."

Das Geheimnis seiner Weisheit war der innere Streit... Und was das Verhältnis zum Jüdischen betrifft, ist es erstaunlich, daß er während der Okkupationszeit in Frankreich fast nur mit ungarischen und rumänischen Juden verkehrte, die ihm auch oft in seiner materiellen Misere halfen.

Schon kurz nach dem Krieg schrieb Cioran in einem Brief an seine Eltern über seine besonderen Beziehungen zu jüdischen Landsleuten in Paris: "In vielen Beziehungen habe ich Glück gehabt mit einem Freund, einem rumänischen Juden, der sich seit 1940 in Paris aufhält... Im Grunde sind alle Ideen falsch und absurd. Es bleiben nur die Menschen, so wie sie sind ... Ich bin von jeder Ideologie geheilt."

Und in den fünfziger Jahren schrieb er den Essay "Ein Volk von Einzelgängern" über die Juden, und es zeigt sich deutlich, daß er sie verehrt, beneidet, ihnen nachstrebt, als wär's ein ödipales Vater-Sohn-Verhältnis. Diese "Meister der Existenz" verkörpern für ihn das tragische menschliche Schicksal und das Exil schlechthin, und seine frühen Ausfälle wirken wie Ausbrüche des Selbsthasses. "Mensch sein ist ein Drama; Jude sein ein zweites. Darum hat der Jude das Privileg, unsere Conditio zweimal zu leben. Er repräsentiert das Sonderdasein par excellence..."

Ein Sonderdasein, das Cioran erstrebte und schließlich als Emigrant auch selbst 60 Jahre lang führte. Ein Beweis seiner Wandlung schon während des Krieges ist auch seine Freundschaft zu dem jüdisch-rumänischen Poeten Benjamin Fondane, dessen Schicksal ihm sehr zu Herzen ging, derweil Fondane als Jude doppelt fremd im Exil gewesen war. Und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. "Ich habe Fondane in der Tat gut gekannt, denn ich pflegte während der furchtbaren Jahre Umgang mit ihm. Ein äußerst bestechender Geist. Vor zwei Jahren wurde ein ganzes Buch mit Erinnerungen an ihn veröffentlicht. Ich habe dazu einen kleinen Text beigetragen. Drei seiner Werke sind auch neu erschienen. Alles bei Editions Plasma, deren Adresse beiliegt. Ich habe diese neu aufgelegten Werke, von denen eines alle französischen Gedichte enthält, leider nur in einem einzigen Exemplar. Das Schicksal dieses großartigen Mannes verfolgt mich. Er hat nichts getan, um dem Unheil zu entgehen, das ihn wohl auf geheimnisvolle Weise angezogen hat... Gerade heute habe ich aus Madrid einen Artikel über ihn von einem spanischen Freund erhalten. Sie finden darin einige Hinweise und Quellenangaben zu Fondanes Werk. Könnten Sie alle diese Bücher nicht von einem deutschen oder italienischen Verlag anfordern lassen?"

Ich wußte, daß Cioran in Paris an der Nummer 6 der rue Rollin, wo Fondane gewohnt hatte, nicht vorbeigehen konnte, ohne, wie er sagte: "jähen Schmerz zu empfinden". Fondane hatte sich mit seiner Familie in den unbesetzten Teil Frankreichs geflüchtet, kam aber 1944 zweimal wöchentlich nach Paris, traf sich dann auch mit Cioran, ging in die alte Wohnung, holte Bücher, ohne die er nicht leben konnte, und nahm auch Verbindung mit dem Widerstand auf. Die Concièrge soll ihn angezeigt haben. Im März 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet, gemeinsam mit der kranken Schwester im Camp Drancy interniert. Seine Frau war Christin, er hätte nach französischem Gesetz frei werden können.

Doch er habe es vorgezogen, sagte Cioran, die Kranke nicht zu verlassen. Fondane wurde nach Auschwitz deportiert und kam dort im Oktober 1944 in einer Gaskammer um. Sein Name ist mit 167 anderen Mitgliedern der Résistance an der Mauer des Pantheons eingraviert. Dieses sei kaum in seinem Sinne gewesen, hörte ich von Cioran, Fondane habe jede manifeste Überzeugung, jede "Bekehrung" zu irgendetwas, ja, schon jede "Lösung" als Verrat an der unausdenkbaren Wahrheit angesehen.

Fondane und Cioran haben in ihrer Grundauffassung Ähnlichkeiten. Vor allem Fondanes radikale Ablehnung des zivilisatorischen Wahnsystems, das zum apokalyptischen Jenseits unserer Vorstellung führen mußte, beeindruckte Cioran. Und Fondane war an der Endstation unserer Zivilisation, in Auschwitz, ermordet worden.

Und angesichts der Gaskammern, der Berge von Leichen, gilt kein Glaubens- oder Trostspruch mehr, geschweige denn Philosophie oder Literatur. Es war etwas offenbar geworden, was nicht seinesgleichen hatte. Fondane hatte das, worüber wir nur nachdenken können, erfahren, und dann ganz konsequent mit dem Tode bezahlt.

Cioran wurde davon beeindruckt, daß Fondane radikal alle Ersatzreligionen, Ideologien, Ideen etc., zu denen auch die Kunst gehört, attackierte, sie dafür verantwortlich gemacht hatte, daß es die "Hure der Geschichte" überhaupt gibt. " (...) daß jedweder Glaube von Natur aus oberflächlich ist und nur auf den Anschein wirkt und daß Überzeugungen zu unserer gewöhnlichen, täglichen Verdammnis gehören."

Der Glaube gehöre zu unserer "Unwirklichkeit", egal, wovon wir überzeugt sind oder woran wir "glauben", erst wenn es uns gelinge: "...Glauben zu durchschauen und fortzufegen ... treten wir ins Unerhörte ein, in eine Ausweitung, im Vergleich zu der alles andere bleich und episodisch erscheint, selbst dieser Fluch."

"Es ist unmöglich, sich den Heiligen durch Erkenntnis zu nähern", schrieb er in einem anderen Jugendwerk ("Tränen und Heilige"): "Erst wenn wir die in unserm Innersten schlafenden Tränen wecken und durch sie erkennen, können wir begreifen, wie jemand Mensch sein konnte und es nun nicht mehr ist." Wobei diese Selbstaufgabe den Menschen dient und zum Martyrium führen muß, also Caritas und Mitleid im beispielhaften (nicht nur denkenden oder redenden) Widerstand gegen die Scheinwelt der Macht und des Alltags bedeutet, wie beim Märtyrertod Fondanes in Auschwitz. "Wir brauchen einen rettenden Anstoß. Es ist unfaßbar, daß der heilige Thomas in der Bestürzung ein `Hemmnis der philosophischen Meditation` gesehen hat, wo man doch anfängt zu verstehen, wenn man bestürzt ist, nämlich die Nichtigkeit aller ´Wahrheiten´ merkt. Die Bestürzung läßt unsere Sinne vergehen, um sie desto besser zu wecken: öffnet uns für das Wesentliche, liefert uns ihm aus."

Erst 1985 kam es zu einer Veröffentlichung von Fondane in Deutschland, und zwar in den "Akzenten". Cioran schrieb mir im Frühjahr 1986 einen gerührten Brief über Benjamin Fondane, dem noch andere folgten. " - Wie schön, daß Fondane endlich bekannt wird!" Schrieb er mir: "Plasma (Fondanes Verlag) ist vor zwei Jahren eingegangen. Fondane ist aktueller denn je, und seine Bücher sind mehr oder weniger unauffindbar. (...)"

Denn, schrieb er: "Wir leben jetzt in einer nachgeschichtlichen Zeit ... Einst lebte man in der Gewißheit der Zukunft des Menschengeschlechtes. Heute nicht mehr. Oft wird in das Gespräch die Floskel eingeflochten: "Wenn es dann noch eine Menschheit gibt." Einst war das Menschheitsende eschatologisch, mit einer Heilsidee verbunden; heute wird es als pures Faktum ohne jeden religiösen Sinn einkalkuliert... Nichts mehr ist, wie es war, und es wird in unserer Zeit noch eine unerhörte, unfaßbare Veränderung in den Menschen geben."Elend und Größenwahn seiner Jugend gipfelten in der verzweifelten Wut, "im wollüstigen Vergnügen, ein radikales Nein zu sagen," Und es erreiche hier seinen Höhepunkt, "daß man sich dabei selber an die Stelle von Allen und Allem setzen kann. Man wird eine Art Demiurg mit umgekehrtem Vorzeichen, der über das Universum verfügen kann."

An die in München lebende rumänische Essayistin Marianne Sora schrieb Cioran in den achtziger Jahren: "Ich bin froh, daß Sie die Kontinuität meiner Obsessionen betont haben und gleichzeitig dankbar für die Klarstellung, daß ich mich in einem Punkt, nämlich der "nationalen Megalomanie" radikal verändert habe. Davon bin ich allerdings für immer geheilt, und dies schon seit über einem halben Jahrhundert. Und nun etwas im Vertrauen, vielmehr eine Bilanz: ich habe überhaupt keine Lust mehr, mich auseinanderzusetzen, mich zu äußern. Wozu weitermachen? Meine Verneinungen habe Man kann nicht ´produzieren´, wenn man in sich selber die Leere spürt, die man überall angeprangert hat, denn Arbeiten setzt eine Komplizenschaft mit der Illusion voraus. Es ist höchste Zeit, daß ich die Konsequenzen aus all dem Schlechten ziehe, das ich über alles gedacht habe. (...) Wenn Geschichte zu etwas gut sein soll, dann, glaube ich, dazu, unsere Illusionen und unsere vorschnelle Begeisterung aufzugeben. Leider gibt es Leute, die das nicht verstehen können - oder wollen."

Er hielt freilich auch später noch an der Verneinung fest, allerdings mit der Einschränkung, daß man die Gnade des Vergessens nicht ausschlagen dürfe (und hier stand wohl Nietzsche Pate): "Die uneingeschränkte Klarsicht läßt sich nicht mit dem Atem vereinbaren.... (Denn würde man das) Fehlen eines sinngebenden Grundes ständig und intensiv erfahren, so wäre das Leben schlechthin unerträglich. Man würde sich entweder das Leben nehmen oder in den Irrsinn stürzen." Und so existiere man eben nur "dank des Vergessens".

Das Schwanken, das Sich- Nichtentscheidenkönnen, die Zerrissenheit! Jener tiefe unaussprechliche wunde Punkt wäre für Cioran vielleicht nur durch musikalische Mittel überbrückbar gewesen. Daher ist für ihn auch der lyrische "Ton" wichtiger als die direkte Aussage, als Text und Schrift: Cioran war für Lyrik und Musik sehr zugänglich. Und schon Susan Sonntag hatte in ihrem Essay "Wider sich denken: Reflexionen über Cioran" von 1967 dieses musikalische Denken des Dichterphilosophen gewürdigt.

Ja, er komponierte auch, er machte Musik mit der Sprache. Er war nicht leer, nicht zynisch als Mensch und im Umgang mit Freunden. Sein Gefühl und Bewußtsein waren ein empfindliches Instrument. Nie unterließ er es in seinen Briefen, einige persönliche Gedanken und Wünsche beizufügen, doch nie war das formelle Höflichkeit. Alles, was er sagte und tat, kam von Herzen.

Er half, wo er nur konnte. Und sorgte für jene, die er mochte und die in Not waren, er glaubte an den Wert, ja an die Kraft der Schwäche, also an die Kraft der Opfer.

Und es läßt sich lebhaft vorstellen, welche Schuldgefühle Cioran in Paris und in der Freiheit in den Jahren zwischen 1949 und 1964, der stalinistischen Zeit Rumäniens, hatte! In dieser Zeit waren viele Freunde, unter ihnen der rumäniendeutsche Poet und Komponist Wolf von Aichelburg, im rumänischen Gulag in Haft. Auch der eigene Bruder Aurel Cioran, von Beruf Rechtsanwalt, war zwischen 1949 und 1956 in Aiud, einem der finstersten Gefängnisse Rumäniens, und mußte nachher acht Jahre als Hilfsarbeiter sein Leben fristen. Cioran half von Paris aus, wo er nur konnte. Und sein Jugendfreund, der Philosoph Constantin Noica, war in jenen Jahren ebenfalls unerreichbar in den Kellern der Securitate.

Über diese Tragödie gibt es eine reichhaltige Dokumentation ("Worte als Gefahr und Gefährdung"), darin heißt es: "Die Vernichtung hatte nicht durch Todesstrafe zu erfolgen - Tausende vollstreckter Todesurteile hätten im Ausland für beträchtlichen politischen Wirbel gesorgt , - sondern mittels unmenschlicher Haftbedingungen, zu denen in erster Linie Hunger sowie physische und psychische Torturen gehörten ... der ständige Hunger hatte bei allen Gedächtnisschwund zur Folge ... die Vergeßlichkeit ging zuweilen so weit, daß man auch den Namen der eigenen Kinder nicht mehr wußte."

Constantin Noica war eine bedeutende und historisch wichtige Persönlichkeit; Cioran bewunderte seinen Jugendfreund Noica. Und immer wieder wunderte er sich über diese "Freiheit des Gefangenen", auch im Falle seiner anderen Freunde, die Furchtbares mitgemacht hatten. Vor kurzem erst sind seine Briefe über diese finstere Zeit in Bukarest auf Rumänisch erschienen. In einem der Briefe an Wolf von Aichelburg heißt es:

"Ich denke da unter anderen auch an (Constantin) Noica. Genau wie Sie, ist er voller Hoffnung und voller Vertrauen. Ich glaube erraten zu können, woher diese Vitalität kommt. Ohne Hölle gibt es keine Illusionen. Ich dagegen, der ich hier einigermaßen ohne Sorgen gelebt habe, fühle mich alt, verbraucht, verfallen, hätte ich mit einem widerspenstigen Schicksal kämpfen müssen, wären mir auch die Kräfte zugewachsen, mich ihm zu widersetzen. Ich bin keine Ausnahme, dieser Geisteszustand ist allen Leuten um mich eigen: wir bezahlen teuer, daß wir nicht leiden mußten. Wir glauben an nichts mehr.

An Wolf von Aichelburg, der 1980 endlich aus Rumänien ausreisen durfte, und vielleicht das "Paradies" erwartete, schrieb Cioran, wohl um Aichelburg nun über die neuen Enttäuschungen, die den Emigranten im Westen erwarteten, hinwegzuhelfen: "Der Okzident höhlt sich ständig und auf allen Ebenen aus... Bis ans Ende des Jahrhunderts wird das Leben in allen Weltecken völlig unmöglich und unlebbar sein."

Er lebte bewußt zwischen beiden Welten und Systemen. Und in einem Brief vom September 1970, nach einer Begegnung in Paris, schrieb Cioran an Dieter Schlesak, den Autor dieser Sendung, und über sein Buch "Visa Ost West Lektionen", das Schlesaks Weltenwechselerfahrung von Ost nach West beschreibt: "Das Buch ist eine unbarmherzige Anklage gegen den Osten und den Westen. Und zugleich eine verzweifelte Konfession von jemandem, der nicht wählen kann. Dieses unaufhörliche Hin- und-Hergezogensein verleiht Ihrer Analyse eine Wahrheit und eine Leidenschaftlichkeit des erlebten Dramas, das zuweilen an die Lage des Mönchs erinnert, der, nachdem er sein Kloster verlassen hat, entdeckt, daß die Welt nicht besser ist. Sie hätten unter Ihr Werk den Untertitel setzen können ´Geschichte einer Enttäuschung´.

Was mich bei unserem Zusammentreffen in Paris frappiert hatte, war, bis zu welchem Grad Sie vom walachischen Milieu geprägt worden sind. Es handelt sich hier wirklich um eine tiefe Erfahrung, da Sie nicht zögern, die winzigen Moldauklöster (die ich leider nie besucht habe) der Notre-Dame vorzuziehen. Aber es gibt noch besseres: als ich zum ersten Mal in den ´Westen´ gekommen war, war das, was mich am meisten gestört hatte, das Fehlen der Zeit: ´hier hat niemand Zeit´- ´bei uns im Osten ist genügend Zeit da´, schreiben Sie. Sie haben also dieselbe Erfahrung gemacht, wie ich. Dazu machen Sie eine ergreifende Bemerkung: ´Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast.´"

Und zu einem anderen "Heimweh", einem brennenderen Heimweh, das genau dem rumänischen dor oder dem portugiesischen saudade, aber auch der im Westen verdrängten und so verschütteten deutschen "Sehnsucht" angehörte, schrieb er mir: "Wissen Sie, welche Seiten mich am meisten berührt haben? Es sind die über Portugal (Provinz., Saudade und Diktatur) und die über Transsylvanien ... aus offensichtlichen Gründen. Sie sollten eines Tages einen Vergleich zwischen dor und saudade anstellen. Man merkt diesem Buch, wie auch dem vorhergehenden an, daß Sie für immer durch Ihre balkanischen Erfahrungen gezeichnet sind. Sie werden niemals ein Westler sein. Um so besser. Ich warte jetzt auf Ihre Autobiographie.

(...) Das Exil, in welcher Form es auch auftreten mag ... ist in seinem Frühstadium eine Schule des Taumels ... gleichsam die höchste Stufe des poetischen Zustandes. (...) ich sagte mir beim Lesen Ihres Buches, daß der Vorteil, nirgendwo zu sein, keinem Land anzugehören, nicht zu unterschätzen ist. Wir sind die neuen Juden ... Daher verstehen Sie Israel so gut."

Er ging immer genau auf den wunden Punkt des Brief- und Gesprächspartners ein, denn er war überzeugt, "...daß Bücher Zufälle sind, Briefe aber Ereignisse..."

Cioran war durch und durch ein Denker aus dem Augenblick, alle seine Texte sind reine Intuitionen und beruhen auf Einfällen und Gedankenblitzen. Alles ist jetzt, geschieht, ist brennend neu, wie die Sekunde, die uns schmerzt, weil sie eben vergeht.

Er war der Meinung, nur "unordentliche" Gedanken entsprächen dem enormen Schwanken des Ich, der Stimmung, der Zeit. Die Zeit selbst könne, genau wie das Ich, nur vom Ende her, erst vom Tode her "wissen", was geschieht. Daher ´verlor´ er sie gerne.

"... ich hasse das Schreiben... Meistens tue ich überhaupt nichts. Ich bin der untätigste Mensch in ganz Paris. Nur eine Hure ohne Kunden ist vakanter als ich."

Er lobte das "Abenteuer", die Laune und den Zufall, im Gegensatz zu dem, was gedacht, geplant, konstruiert werden kann. Diese Weltsicht gehörte in den dreißiger Jahren zum sogenannten "Tráirism" ( von "tráire")- Erleben, eine Art Fetisch dieser Generation Eliades, Ciorans, Ionescos, Noicas. Es entspricht recht eigentlich der Natur und dem Volkscharakter der Rumänen, für die auch Gott keine metaphysische Entität, sondern "ein Nachbar" gleich nebenan, fühlbar, erlebbar, ansprechbar ist! Ein Sekunden-Schatten, der zwischen die Ochsen fällt.

Der Aphorismus war Ciorans Lieblingsform: Das Aufblitzen einer Intuition, die die Wand der Sinne und Gedanken durchbricht. So erfaßt Cioran im Aphorismus, im Miniessay die Wahrheit eines blitzartig auftauchenden Gedankens, die Intuition rächt sich am "Leben" und am Schreiben, indem sie in wenigen einleuchtenden Sätzen Zeit aufhebt, extrem subjektiv bleibt.

"Unsere Untröstlichkeit besteht darin, daß wir niemanden mehr haben, an den wir uns wenden könnten. Es ist mit uns so weit gekommen, daß unsere Konfession nur noch die Einsamkeit der Sterblichen erreicht."

In einem seiner letzten Briefe (Februar 1991 an den Heidegger-Übersetzer und Noica-Schüler Liiceanu) schrieb er:

"Meine Unfähigkeit, einen Entschluß zu fassen, erklärt auch, warum ich mein ganzes Leben lang über den Selbstmord nachgedacht habe, ohne es zu tun. Wir Rumänen sind alle Gescheiterte. Dieses gehört zu unserer Originalität, so daß wir die Fremden verabscheuen, arme Wesen, die sich verwirklicht haben."

Erstaunlich ist es zu hören, daß die totale Illusionslosigkeit ein balkanisches, ja, ein östliches Phänomen sei, es käme aus einer Art ungezügelter, irrationaler Offenheit und Maßlosigkeit. Ja, es verschmelze mit einer unterweltlichen Hingabe ans Nichts, sei eine Maßlosigkeit des Zeithabens, eine Art Ichauslöschung, ein Bad im Chaos...

"... jene, die kein Zeitbewußtsein haben, langweilen sich nicht; das Leben ist nur erträglich, wenn du dir nicht jedes Augenblickes, der vergeht, bewußt bist."

Cioran ist in den Abgründen seiner Seele, das verrät er in jedem Satz: ein östlicher Mensch geblieben. Dieses Paradox, daß jene Un-Zeit, genau wie in der Kindheit die nächtlichen Uhrenschläge, erst das scharfe Bewußtsein von quälender innerer Zeit ermöglicht, so wie in der Langeweile, hat ihn stets begleitet.

"Ich bin sehr empfindlich, was die Langeweile betrifft, mein ganzes Leben lang habe ich mich gelangweilt Auch die russische Literatur bewegt sich um diese Langeweile, es ist wie ein unendliches Nichts. .. "

Daher auch seine Gelassenheit. Daß er jahrzehntelang ein unbekannter Autor war, seine Bücher überhaupt nicht verkauft wurden, und daß er immer nur als Freund Ionescos oder Becketts vorgestellt wurde, habe ihm nichts ausgemacht, schrieb er in seinen bisher noch unveröffentlichten Briefen. Im Gegenteil, er habe dieses Inkognito als Freiheitsmöglichkeit sehr geliebt:

"Die einzigen wichtigen Jahre sind die des Anonymates. Unbekannt zu sein, ist ein Wohlgefühl... Es hat auch einige bittere Seiten, doch es ist ein außergewöhnlicher Zustand.

... Ich war ein Schriftsteller ohne Leser... doch es ist die Zeit des wahren Schreibens, weil du meinst, du schreibst nur für dich selbst.

... Ich habe mich in dieses Abenteuer der Loslösung (und Entwurzelung) mit dem Mut dessen begeben, der von vornherein weiß, daß er verlieren wird."

 

Das Gros der hier vorgestellten Briefe des französisch- rumänischen Dichterphilosophen, die von diesem Lebenstrauma sprechen, das sein Werk hintergründig bestimmt, ist bisher unveröffentlicht. Einige wenige Briefe, die an seine Jugendfreunde Lucian Boz und Wolf von Aichelburg sind bisher in rumänischer Übersetzung publiziert worden.

Aber die beiden bisher erschienen Briefbände, einer in Bukarest und einer in Siebenbürgen, in Klausenburg, zeigen deutlich Ciorans, wohl unbewußte, Wahl: eine großer Teil der Briefpartner sind Siebenbürger: die Eltern, der Bruder, die Jugendfreunde. Nur wenige der Freunde, Mircea Eliade, dann der rumänische Sprachphilosoph Constantin Noica, die Brüder Acterian und Mircea Vulcánescu stammen aus der Walachei.

Ion Vartic, der Herausgeber des Cioran-"Dossiers" der Zeitschrift "Apostrof" erzählt eine außerordentliche Szene, die sich im Februar 1991 in der berühmten Mansarde Ciorans aus der rue de l´Odeon abgespielt hatte, weil der wunde Punkt des Hausherrn berührt worden war: Vartic hatte Cioran ein Exemplar des Jugendessays "Revelatiile durerii" (Entdeckungen des Schmerzes) von 1932, das in der Klausenburger Editura Echinox wiederaufgelegt worden war, mitgebracht.

Ja, und als wäre nun die ganze Anstrengung in seiner französischen Zeit, also seit den vierziger Jahren, als sich Cioran entschlossen hatte, nur noch französisch zu schreiben, Abschiedsfähigkeit zu trainieren, vergeblich gewesen. Auch die anfängliche Selbstberuhigung, daß die Vergangenheit - wenn einer vor allem in einer Fremdsprache schreiben und leben will, "ausgerissen" werden müsse, denn sie sei "zäh wie das Unkraut", war rein verbal, nützte an jenem Abend im Februar 1991 mit rumänischen Gästen nicht viel; ebenso wurde das Cioran-Tabu, das Verbot und Selbstverbot rumänisch zu sprechen, an jenem Abend gebrochen.

Wie in Trance kam aus Ciorans Unbewußten alles hoch, und als er über die Rumänen zu sprechen begann, brach auch das Rumänische aus ihm hervor, als er auf Französisch das Syntagma, "es ist ein glückloses Volk" nicht fand, es rumänisch aussprach: " E un popor fárá noroc", und weiter sogar "un popor care n-a fost sá fie" (ein Volk, daß nicht hätte sein sollen) "Un popor foarte inteligent, dar un popor lipsit de caracter." (Ein sehr intelligentes, aber charakterloses Volk). Und dann kippte auch schon alles in Cioran-Manier ins Gegenteil um, es folgte die Eloge auf die Gescheiterten:

" Auch ich bin auf meine Weise gescheitert."

Und er verlangte dann Nachrichten über Jugendfreunde aus Hermannstadt. Denn drei Städte hätten ihn geprägt, sagte er:

"Hermannstadt, wohin ich nicht zurückkehren kann, Dresden, das es nicht mehr gibt, und Paris, wo ich schon zu lange gelebt habe."

Und dem Besucher Vartic war klar, er erlebte jetzt einen halluzinativen Moment, für den alten Cioran war die Zeit plötzlich stehengeblieben. Es entstand eine parallele Zeit, die Gäste befanden sich im Jahre 1991 und er .. naja, er im Jahre 1930 ...

Die drei Besucher waren völlig schockiert, als Cioran ganz abhob:

"Er war nicht mehr hier in Paris, er war in Sibiu-Hermannstadt, so daß er jetzt nicht einfach nur im ununterbrochenen Redestrom erzählte, sondern in stärkstem emotionalem Dabeisein war, eine Art Regression erlebte."

So befand er sich plötzlich in der "Eule", einem berüchtigten Hermannstädter "Schnapslolal", wo sie als Jugendliche ihre nächtlichen Trink- und Redeorgien mit Zarpatian, (Zarpatzian) Ghica und "Ionelul mumi", vielleicht Bucur Tincu noch und Simion Timaru abhielten, und daß dann in solch exaltiertem Moment der Wahrheit Ionel auf die Knie gefallen sei und in einem Anfall von "mystischer Selbstgeißlung" gerufen habe: "Herr vergib mir, daß ich ein Rumäne bin!"

Cioran sah dann mit abwesendem Blick hinaus in die Dunkelheit und murmelte den verwirrenden Satz: "Herr vergibt mir ..." Irritiert erhoben sich die Gäste, baten noch um eine Widmung für jenes neuaufgelegte Buch "Entdeckungen des Schmerzes", und Cioran sagte: ja, aber er könne nur noch "unterschreiben, nicht mehr"; da fiel er zum Entsetzen der Besucher plötzlich auf die Knie, und schrieb in dieser Haltung seinen Namen in die beiden Exemplare des mitgebrachten Buches.

 

 

 

 

 

 

Briefe an Dieter Schlesak und Linde Birk (Unveröffentlicht. Archiv)

 

A Linde Birk-Schlesak

Paris, le 29 Déc. 1969

Chère Mademoiselle,

J'aurais aimé vous accompagner à travers mon pays, bien que je le conaisse très mal et qu'il se réduise pour moi à la région de Sibiu-Hermannstadt où j'ai passé une enfance paradisiaque et une adolescence plutôt tourmentée qui se reflète assez bien dans ces ""Culmile disperarii" que je me propose de relire un de ces jours. C'est un livre dont un critique avait dit à l'époque (vers 1934) que "sie on ne connaissait pas l'âge de l'auteur, on pourrait croire qu'il a été écrit par un paralytique général..."

Je ne suis nullement étonné que les "Syllogismes" aient eu si peu de lecteurs. Peut-être eût -il fallu commencer par la "Tentation d'exister", ouvrage plus adapté à l'humeur positive des Allemands d'aujourd'hui.

Si j'étais conséquent avec moi-même ou seulement avec mes "principes", je devrais être totalement indifférent au destin de mes productions. Je le suis, il est vrai, assez souvent mais pas toujours. On n'est pas né impunément dans les Balkans.

J'espère bien avoir le plaisir de vous rencontrer à votre passage prochain ici, car j'aimerais, entre autres, vous interroger sur ce village qui porte plus ou moins mon nom et dont je n'ai jamais entendu parler.

Je vous envoie mes meilleurs voeux et mes pensées les plus amicales

A Linde Birk-Schlesak

Paris, le 11 juin 1970

 

Chère Amie,

 

Merci de votre mot et des coupures. Je suis arrivé à la conclusion que c'était une erreur de commencer par les "Syllogismes" - série de boutades qui peuvent susciter un certain intérêt dans les Balkans ou à Paris mais qui ne sont pas faites pour des pays sérieux.

J'ai été très content d'apprendre que vous allez bientôt revenir ici. Je garde un excellent souvenir de la soirée passée avec vous et M. Schlesak. Peut-être vous accompagne-t-il cette fois-ci encore. Je le souhaite en tout cas.

Je vous envoie toutes mes amitiés à vous deux et vous dis à bientôt

A Dieter Schlesak

Paris, le 24 sept. 1970

 

Cher Monsieur Schlesak,

Je vous remercie de votre livre, que j'ai lu avec le plus grand intérêt. C'est un réquisitoire impitoyablecontre l'Est et 'Ouest, en même temps qu'une confession déchirée de quelqu'un qui ne peut pas opter. Ce tiraillement permanent et sans issue confère à vos analyses un caractère de vérité et de pathétique, de drame vécu, qui évoque, par certains côtés, la situation du moine qui, ayant quitté son couvent, découvre que le monde ne vaut pas mieux. Vous auriez pu mettre comme sous-titre à votre ouvrage: "Histoire d'une déception".

Ce qui m'avait frappé, lors de notre rencontre à Paris, c'était de voir à quel point vous avez été marqué par le milieu valaque où vous avez vécu. Il s'agit là vraiment d'une expérience profonde, puisque vous n'hésitez pas à préférer à Notre-Dame les minuscules monastères moldaves (que je n'ai jamais visités, hélas!). Mais il y a mieux: quand je suis venu pour la première fois en "Occident", ce qui m'a gêné le plus c'est l'absence de temps. "Hier hat niemand Zeit" - "Bei uns im Osten ist Zeit genügend da." Vous avez fait donc la même expérience que moi. A ce propos, vous faites une rémarque saisissante: "Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeit-Mangel und die Hast."

Le grand avantage que vous avez sur nous tous qui vivons ici depuis un certain temps, c'est d'être sorti d'un long cauchemar, d'avoir subi des épreuves terribles, ne fût-ce qu'en spectateur. Le mot est inexact, car dans ce genre de régimes il n'y a pas de spectateurs: tout le monde y est victime et acteur, en commencant par les bourreaux... "Progressivität als Kitsch" seul quelqu'un venu de l'Est pouvait l'écrire. Comme vous, je suis exaspéré par tout ce qu'il y a de faux et de grotesque dans les entreprises "révolutionnaires" des pays dits civilisés. Quels mensonges préférer: ceux d'ici ou ceux de là-bas? Je ne sais, mais ce que je sais, c'est qu'à l'Eston trouve plus de substance spirituelle qu'à l'Ouest.

Votre position n'est pas confortable. Vous aurez contre vous le snobisme gauchiste et les préjugés des gens "respectables". Qu'importe! La seule manière de sauver son âme (!) est de ne flatter personne.

Quels sont vos projets? Paris ne vous tente-t-il plus? Je conserve un très bon souvenir de la soirée passée avec vous et mademoiselle Hadulinde Birk.

Je vous envois, à vous deux, toutes mes amitiés.

 

P.S. Wolf Aichelburg m'écrit souvent. Il espère obtenir l'autorisation de partir. Ne pourrait-on pas le faire inviter à un Congrès quelconque? Je ne peux rien faire pour lui, car j'ai rompu depuis longtemps avec les milieux littéraires parisiens que j'ai en horreur.

A Dieter Schlesak

Paris, le 9 sept.1972

 

Cher Monsieur Schlesak,

 

Je me disais en lisant votre livre que l'avantage de n'être nulle part, de n'appartenir à aucun pays n'est pas négligeable. Noussommes les nouveaux juifs... C'est pour cela que vous comprenez si bien Israel.

Savez-vous quelles sont les pages qui m'ont le plus touché? Ce sont celles sur le Portugal (Provinz, Saudade und Diktatur) et celles sur la Transylvanie (p.28-34), pour des raisons évidentes. Vous devriez faire un jour un parallèle entre dor et saudade.

On sent dans ce livre, comme dans le précédent, que vous êtes à jamais marqué par vos expériences balkaniques. Vous ne serez jamais un Occidental. Tant mieux.

Votre ouvrage est très vivant. J'attends maintenant votre autobiographie.

Ne m'oubliez pas auprès de Mademoiselle Birk.

Bien amicalement à vous

 

P.S. Aichelburg est à Vienne. Voici son adresse: Zimmer 300, Pfeilgasse 4-6, 1080 Wien VIII

A Dieter Schlesak

Paris, le 8 Déc. 1972

 

Cher Ami,

 

C'est avec un impardonnable retard (mais c'est en partie à cause de votre séjour italien) que je réponds à votre lettre et à l'envoi de l'article très intéressant sur les "oniriques". C'est la première fois que je lis quelque chose de Nichita Stanescu... J'ai aimé La Tentation de la Réalité.

Comment a été recu votre dernier livre? Il a dû mécontenter tout le monde, particulièrement les "émigré".

Wolf Aichelburg est rentré en Roumanie. Je trouve qu'il a bien fait. Il a une retraite qui lui permet de vivre confortablement.

Tenez-moi au courant de vos projets et de vos... déceptions.

Cordialement à vous

 

La multi ani!

A Dieter Schlesak

Paris, le 3 juillet 1973

 

Cher Monsieur Schlesak,

 

Qu'il doit être agréable de vivre dans un endroit quis'appelle AGLIANO! Je ne connais pas Lucques, car il est difficile d'y aller par le train. Je ne voyage plus, pour de multiples raisons: la vieillesse, les courants d'air, la foule..., l'immode Völkerwanderung saisonnière.

J'imagine que vous vous entendez très bien avec les Italiens qui sont les Roumains ayant un passé. Evidemment ces pauvres Roumains n'en ont aucun. Il me semble que dans vos Mémoires vous devriez insister sur ce phénomène original: le seul peuple en Europe qui ait l'avantage de n'avoir pas d'histoire. Si cela est vrai des Valaques, combien plus vrai encore des Transylvains, dont la condition "historique" ressemble singulièrement à celle des Nègres. Il existe, je crois, un pacte qui remonte au début du XVe siècle, par lequel Hongrois et Saxons s'engageaient à tenir ces misérables indigènes en esclavage. Quel retournement de la situation! Le jour viendra inevitablement où l'Occident sera dominé par les Gastarbeiter et l'Amérique par ses Noirs. L'avenir appartient toujours à l'esclave et à l'immigrant. Songez à l'empire romain: il a été sappé par ses victimes. Malgré tout il y a une sorte de justice dans l'histoire. La "racaille" (das Gesindel) qui sait souffrir en silence gagne sans exception e fin de compte. Vous voyez à quel point j'ai la vision d'un Schlawiner!

Vous avez raison de changer de pays. C'est ma conviction qu'il faut vivre à l'étranger le plus longtemps possible. Je ne suis pas un réfugié, je suis un expatrié. C'est un choix que j'ai fat, et je m'en félicite tous les jours.

Je vous envoie toutes mes amitiés, à vous et à Mademoiselle Birk

 

 

P.S.: Vous me demandez ce que je pense de la Parapsychologie. Rien de précis.C'est un domaine trop vaste et trop vague.

A Dieter Schlesak

Paris, den 18. Februar 1980

 

Lieber Herr Schlesak,

 

Vielen Dank für Ihren Brief und für den Aufsatz mit dessen philosophischen (für Wissenschaft bin ich unbegabt) Gehalt ich einverstanden bin. Alles was extrem steht, alles was an eine Grenze reicht, zieht mich an. Ich wusste nicht, dass Sie auch dieses Lasters anheimgefallen sin. Zwar habe ich mich eigentlich nicht an die Psi-Forschung interessiert (das Unbehagen, von dem Sie sprechen habe ich in allen Versammlungen solcher Art erlebt), aber ich muss anerkennen dass heutzutage solche Problemen fast zwingend geworden sind. Was mir wichtig erscheint ist die Bedeutung der Meditation die Sie besonders betonen. Wir stehen doch näher an der östlichen als an der abendländischen Philosophie. Wäre ich fünfzig Jahre jünger, so würde ich Sanskrit lernen. Die wesentlichen Texte haben nur im Original einen Sinn.

Sie haben Recht gehabt nicht mehr in einer Grosstadt leben zu wollen. Ich habe diesen Mut und diese Weisheit nicht gehabt, und jetzt bedauere ich es täglich und nutzlos.

An Sie beiden, mit herzlichen Grüssen Ihr

A Dieter Schlesak

Dieppe, le 21 octobre 1980

 

Cher Dieter Schlesak,

 

Merci de votre lettre si amicale et des nouvelles que vous me donnez sur vous et Linde Birk. Verena a été enchantée de la soirée passée en votre compagnie et aussi du cadre - magnifique, paraît-il, - où vous vivez . Vous avez eu raison de vous expatrier une seconde fois. J'aurais dû vous imiter, au lieu de m'enliser dans une ville diabolique dont je m'évade heureusement de temps en temps: Dieppe est mon refuge, un refuge froid, din pàcate! Je me sens plus lois de la Roumanie que vous, je suis un înstràinat, au grand désespoir de mes amis de là-bas.

J'ai en effet bien connu Fondane, pour l'avoir fréquenté durant les années terribles. Un esprit séduisant au possible. On a publié il y a deux ans ici tout un livre de souvenirs sur lui. J'y ai collaboré avec un petiit texte. On a réédité aussi trois de ses ouvrages . Tout cela aux Editions Plasma dont vous trouvez ci-joint l'adresse. Je n'ai malheureusement qu'un seu exemplaire de ces volumes réédités, dont l'un contient tous les poèmes francais. Le destin de et homme splendide me hante. Il n'a rien faait pour échapper au désastre, qui devait l'attirer mystérieusement... Sur lui, aujourd'hui même, j'ai recu de Madrid un article écrit par un ami espagnol. Vous y trouverez quelques indications et références sur l'oeuvre de Fondane.. Ne pourriez-vous pas commander tous ces livres par un éditeur allemand ou italien?

Bien que j'aie cessé de voyager depuis longtemps, j'ai été curieusement pris ces derniers mois d'une nostalgie de l'Italie. Si jamais ce désir se convertit en projet et le projet en acte, je ne manquerai pas de vous faire signe à tous les deux. Jusque-là, soyez assurés de mon amitié

A Dieter Schlesak

Paris, le 12 Avril 1981

 

Cher ami,

32, 33, 68, 69, 76, 103-104, 111-112-113.

Voilà quelques repères ou, si vous voulez, quelques préférences. Mais j'aurais pu aussi bien en marquer d'autres. Au fur et à mesure qu'on avance dans votre livre, on discerne un effort d'intériorisation. L'Inde n'est pas loin. Votre intinéraire spirituel devait aboutir à une forme de mystique. Cependant le monde extérieur est là, de la Transylvanie au Mexique, avec toujours, à l'arrière-plan, la quête d'une autre vérité, d'une vérité profonde, qui échappe à l'histoire ou la transcende.

Quelles nouvelles vous donner de moi, sinon, qu'entre temps, je suis devenu vieux? Comme je descends d'un peuple fataliste,jee suis prêt à toutes les résignations.

J'espère que vous allez bien tous les deux, et je vous envoie toutes mes amitiés

A Dieter Schlesak

Soglio, le 5 août 1981

 

Cher Ami,

 

Merci pour votre beau poème. J'ai appris avec plaisir que vous avez fait votre chemin en Allemagne, que vous y êtes connu et qu'on vous y entend souvent à la Radio.

Je suis à quelques kilomètres de la frontière italienne mais il y a trop de monde partout pour me risquer vers votre pays d'adoption. Et puis, avec la vieillesse, on fait des progrès étourdissants vers l'incuriosité.

Bien amicalement à vous deux

A Dieter Schlesak

Paris, den 20. April 1986

 

Lieber Herr Schlesak,

 

Danke für Ihre freundlichen Wünsche, ich freue mich, dass es Ihnen gut geht und dass Ihr Buch in einigen Monaten erscheint. - Wie schön, daß Fondane endllich bekannt wird! Plasma ist vor zwei Jahren eingegangen. Fondane ist aktueller und seine Bücher sind mehr oder weniger unauffindbar. Eines von den besten ist gewiss seine Gespräche mit Schestow. Übrigens wissen Sie, dass vor dem Krieg in Bukarest Schestow sogar Modephilosoph war? Ich kann Ihr Interesse für die Seelenwanderung konzipieren, obwohl ich skeptischer als je bin.

Alles Gute an Sie beide, Ihr

 

 

Statt in Ihrer Gegend, war ich letztes Jahr im Oktober in Lecce. Es ist wahr, dass es auf meiner Reise nach Griechenland war.

 

 

 

 

BEGEGNUNGEN MIT E.M. CIORAN (Zu seinem Todestag am 20. Juni 1995)

 

1

Im Pariser Lokal "La Coupole" sagte mir ein Mann, dem ich viel zu verdanken habe, ich solle rücksichtslos die Wahrheit schreiben; dieses aber sei nicht leicht, denn die wichtigsten Lügen seien unbewußt. Man könne dazu einiges bei den Kirchenvätern nachlesen, vor allem beim alle überragenden Tertullian; der habe zu seiner Zeit noch mit großer Selbstverständlichkeit ausgesprochen, was sich heute jeder hüten würde zu schreiben oder auszusprechen: "Der Himmel steht für niemanden offen... erst nach dem Verschwinden der Welt wird er sich öffnen." Es ist erstaunlich, wie zahm wir geworden sind, sagte jener Mann, ein Siebenbürger wie ich, nun eine Art Eremit in Paris. Es war E.M. Cioran, der " Die verfehlte Schöpfung" geschrieben hat. Einer, der mit dem Gefühl eines wesentlichen Fehlschlages im einzelnen Leben und in der ganzen Schöpfung die Lauheit und Leere der körperlichen Existenz, in der ein schwacher Engel eingesperrt zu sein scheint, schreibend zu ertragen versucht. Die Hölle ist die Unvorstellbarkeit des Gebetes, sagte er, durch unsere Schuld taumeln die Dinge, stürzen ins Ungewisse.

"In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehungen keine sichtbaren Lügen. Der begrenzte Kreis ist rein." E.M Cioran möchte die Geburt rückgängig machen, auslöschen. Schreiben ist für ihn eine Art Sterben, weil es das Ich auslöscht. ( Paris, 1970.)

 

Cioran, einer der brillantesten französischen Essayisten, schrieb in einer Fremdsprache; der Siebenbürger Rumäne, seit über dreißig Jahren Wahl-Pariser, verschwieg seine Herkunft, doch die Faszination seines persönlichen Philosophierens ist östlicher Provenienz. In den Essays und Aphorismen inspirierte die Offenheit orthodoxer Mystik und indischer Weisheit Cioran zur radikalen Ablehnung dessen, was dem Okzident gemeinhin als "Wirklichkeit" gilt. Mit der Furie und der Bitterkeit eines lebenslänglich Exilierten, eines "Abwesenden" rebellierte er wider den Nonsens der Denk- und Wertgefängnisse. Diese Philosophie ist konsequent bis zur Selbstzerstörung, pathetische Dialektik in der Schwebe (der Antilehre, der "Leere"). Für den im Nicht-zu-Hause-Sein Erfahrenen war Freiheit allein im Provisorischen, im Übergang; er trug die leeren Plätze des Okzidents so verletzlich in sich, weil er nicht nur von zwei sich gegenseitig ausschließenden Kulturen geprägt war, sondern sich zutiefst davon irritieren ließ, daß man heute nicht mehr beten kann - "am Grunde einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist."

 

Nach unserer Begegnung in Paris im Frühjahr 1970, ich hatte damals Rumänien ebenfalls für immer verlassen, schrieb er mir nach Frankfurt: "Der große Vorteil, den Sie gegenüber uns allen haben, die wir hier seit einer gewissen Zeit leben, ist der, einem langen Alptraum entronnen zu sein, furchtbare Prüfungen durchgemacht zu haben und sei es auch nur als Zuschauer. Das Wort trifft es nicht genau, denn in diesem Genre von Regimen gibt es keine Zuschauer. Jeder ist dort Opfer und Akteur, angefangen beim Henker ... ´Progressivität als Kitsch´ (ein Aufsatz aus meinem Buch "Visa Ost West Lektionen" D.S.) konnte nur jemand, der aus dem Osten gekommen ist, schreiben. Wie Sie bin auch ich verzweifelt, überall das Falsche und Gröbste in den ´Revolutionären Unternehmungen´ der sogenannten zivilisierten Welt zu sehen, welche Lügen soll man vorziehen, die von hier oder die von dort? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß man im Osten mehr geistige Substanz findet als im Westen. Ihre Position ist nicht bequem. Sie werden den linken Snobismus und die Vorurteile der ´respektablen Leute´ gegen sich haben. Was macht das schon!! Die einzige Möglichkeit, seine Seele zu retten, ist, niemandem zu schmeicheln." ( 24. September 1970.)

 

Ciorans musikalisches Denken verbindet negative Theologie und Mystik mit französischer Clarté und zerstört rücksichtslos des Westens liebste Kinder: logische Sicherheit, Zivilisationsstolz, Geschichts-Bewußtsein. Das ist nicht neu, doch die Art, wie dieser Eremit in Paris philosophierte, ist sicherlich für viele ein Ärgernis. So pries er unter anderem den Selbstmord als Übung, um von einer vorgespielten Scheinwelt loszukommen, Indifferenz als Beruhigungsmittel gegen Zeitnot und Chronokratien. Er war ein extremer und intimer Denker, bei dem schon die Titel seiner Bücher eine schockierend klare Sprache sprechen, und zwar schon in den Jugendwerken "Das Buch der Täuschungen" (1936), "Auf den Gipfeln der Verzweiflung" (1934) oder die im Exil geschriebene "Lehre vom Zerfall" (1949), die Paul Celan 1953 übersetzt hat, "Geschichte und Utopie" (dt. 1965), die "Syllogismen der Bitterkeit" (dt. 1969) oder "Die verfehlte Schöpfung" (dt. 1973) und "Vom Nachteil geboren zu sein" (dt. 1977). Dieser große Essayist der Verzweiflung war jahrzehntelang nur ein Geheimtip für Kenner; obwohl er in seiner subjektiven Radikalität einen Nerv unserer Zeit traf. So sind für dieses Denken das Voranrücken der Zeit und die ständige rastlose Schöpfung des Weltaugenblickes nur "Machenschaften" eines bösen Demiurgs, und die Geschichte ist dessen Stellvertreter, und nur ein untergeordneter Dämon. Im Hintergrund freilich hält Cioran einen guten (statischen) Gott in Reserve, der mit unserer Schwäche, unserer Ohnmacht, unserer Untüchtigkeit korrespondiert.

Es ist eine theologisierte Wirklichkeitskritik, die sich jedoch eine letzte Instanz, die Intimität des Einzelnen, offenhält. Die grundlegende Aussage ist, daß sich viele unserer abendländischen Denkkategorien und gängigen Vorstellungen als substanzlos erwiesen haben; die Einsicht, daß unser Bewußtsein "das Prinzip" sei, "das schon im Entstehen vergeht", und daß diese Katastrophe "sich im Maß, in dem Geschichte abläuft, verdeutlicht", greift die Grundlagen der abendländischen Logik an. Cioran läßt nur Musik und Poesie, eigentlich nur das Gefühl, die Intuition gelten, formulierbare "Wahrheit" beginnt für ihn in dem Augenblick, in dem sie sich selbst aufhebt.

Es wird von westlichen Kommentatoren immer wieder vergessen, daß E.M. Cioran nicht einer der ihren war, daß sein Denken in Zartheit und Todessucht, Verzweiflung und Ohnmacht eine Art säkularisierter Gottesfluch ist und einer östlichen Tradition angehört, daß der Dichterphilosoph Cioran diese Grundstimmung als eine exotische Frucht ins okzidentale Denken gebracht hat, ähnlich wie Paul Celan, und niemals wirklich "eingemeindet" werden kann, sondern ein Skandalon bleibt! Da hilf es auch nichts, nach "großen Vorbildern", wie Nietzsche oder der Lebensphilosophie zu suchen, Cioran bleibt ein fremder Gast.

In jenem schon erwähnten Brief vom 24. September 1970, in dem er auf mein Buch "Visa Ost West Lektionen" einging, das 1970 bei S.Fischer, in Frankfurt erschienen war, schrieb er mir, er habe eigene Erfahrungen in seinem Leben zwischen Ost und West in "Visa" wiedergefunden: Das Buch sei "eine unbarmherzige Anklage gegen den Osten und den Westen. Und zugleich eine verzweifelte Konfession von jemandem, der nicht wählen kann. Dieses unaufhörliche Hin- und-Hergezogensein verleiht Ihrer Analyse eine Wahrheit und eine Leidenschaftlichkeit des erlebten Dramas, das zuweilen an die Lage des Mönchs erinnert, der, nachdem er sein Kloster verlassen hat, entdeckt, daß die Welt nicht besser ist. Sie hätten unter Ihr Werk den Untertitel setzen können ´Geschichte einer Enttäuschung´.

Was mich bei unserem Zusammentreffen in Paris frappiert hatte, war, bis zu welchem Grad Sie vom walachischen Milieu geprägt worden sind. Es handelt sich hier wirklich um eine tiefe Erfahrung, da Sie nicht zögern, die winzigen Moldauklöster (die ich leider nie besucht habe) der Notre-Dame vorzuziehen. Aber es gibt noch besseres: als ich zum ersten Mal in den ´Westen´ gekommen war, war das, was mich am meisten gestört hatte, das Fehlen der Zeit: ´hier hat niemand Zeit´- ´bei uns im Osten ist genügend Zeit da´, schreiben Sie. Sie haben also dieselbe Erfahrung gemacht, wie ich. Dazu machen Sie eine ergreifende Bemerkung: ´Was bei uns die Angst ist, ist hier der Zeitmangel und die Hast.´"

Jeden Brief von ihm empfand ich als beglückend wahlverwandtschaftlich; umso mehr, als er davon überzeugt war, daß "Bücher Zufälle sind, Briefe aber Ereignisse", und es ihm auch im Alter noch leid tat, daß die vielen Jugendbriefe aus jener Zeit in Hermannstadt, als er nahe dem Wahnsinn gewesen war, verloren gegangen sind, und er so nie mehr die Möglichkeit hatte, jene Person, die er damals gewesen war, als er nicht mehr schlafen konnte, und deshalb angefangen hatte zu schreiben, im Gedächtnis wiederherzustellen. Es gelang mir zwar nicht, ihn dazu zu bringen, einen rumänischen Brief zu schreiben, doch nie fehlte ein Hinweis auf Siebenbürgen; Nostalgie und tiefe Prägung durch diese Herkunft schimmerten in allen seinen Briefen durch. Auch hatte er durchschaut, weshalb ich nach Italien gegangen war, und er wußte auch den Zufall des Namens für meinen italienischen Ort: Agliano (aglieno: der Fremde) zu goutieren. Am 3. Juli 1973 schrieb er mir: "Wie angenehm muß es sein in einer Umgebung zu leben, die sich AGLIANO nennt! Ich kenne Lucca nicht, weil es schwierig ist mit dem Zug dorthin zu fahren. Ich reise aus verschiedensten Gründen nicht mehr: das Alter, der Luftzug, die Menge ...., die unsägliche saisonbedingte Völkerwanderung.

Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie sich mit den Italienern gut verstehen, die Rumänen sind; aber Rumänen eben, die eine Vergangenheit haben. Es ist klar, jene armen Rumänen haben keine. Mir scheint es, daß Sie in Ihren Memoiren auf dieses einmalige Phänomen hinweisen müßten: es ist das einzige Volk in Europa das diesen Vorteil hat, keine Geschichte zu besitzen. Wenn dieses schon für die Wallachen gilt, wieviel mehr dann für die Siebenbürger, deren ´historische´ Bedingung eine merkwürdige Ähnlichkeit mit denen der Neger hat. Es gibt, so glaube ich, einen Pakt, der auf das 15. Jahrhundert zurückgeht, und durch den sich die Ungarn und die Sachsen verpflichteten, diese elenden Ureinwohner als Sklaven zu halten. Welch eine Umkehrung der Lage! Für den Okzident wird unvermeidlich der Tag kommen, an dem er von seinen Gastarbeitern und Amerika von seinen Schwarzen beherrscht wird. Die Zukunft gehört immer den Sklaven und den Immigranten. Wie beim Römischen Reich: es wurde von seinen Opfern zu Grabe getragen. Trotz allem gibt es eine Art von Gerechtigkeit in der Geschichte. Das Gesindel, das ohne zu murren zu leiden versteht, gewinnt ohne jede Ausnahme am Ende (...)

Sie haben recht gehabt das Land zu wechseln. Ich bin davon überzeugt, daß man so lange als möglich in der Fremde leben sollte. Ich bin kein Flüchtling, ich bin einer, der sein Vaterland verlassen hat. Es ist eine Entscheidung, die ich getroffen habe, und für die ich mich täglich beglückwünsche."

 

2

Auch E.M. Cioran wurde davon geprägt, daß in seinem Land seit zwei Jahrtausenden die "Hure Historie" gewütet hat; der rumänische Geschichtshaß ist schmerzlich erlebt, prägt Lebenstil, Mentalität und Charakter, Genie und Irrsinn dieser immer nur verhinderten Nation,. deren Menschen stärker als andere von widerstreitenden Kräften und innern Gegensätzen zerrissen sind; Mystik und Rationalität, Gefühl und Verstand, aber auch der Zwang zur List, zum Ausweichen, zur Taktik, ja zum Zynismus aus bittersten Erfahrungen gehören dazu. Diesem Volk an den Kreuzwegen der Geschichte zwischen Ost und West, Levante und Abendland, Byzanz und Rom, zwischen vier Imperien Rußland, der Türkei, Österreich und dem deutschen Kaiserreich wurden im Laufe vieler Jahrhunderte die unmöglichsten Kostümierungen und Lebensweisen aufgezwungen. Und jahrhundertelang war diese Nicht-Nation überhaupt im Nirgendwo der Natur "verschwunden".

 

Mircea Eliade sei der "unbalkanischste" ihrer Generation gewesen, schrieb Cioran, in einem Nachruf: "die Vergötzung des Scheiterns war ihm fremd, er ahnte nicht wie tröstlich es ist, einen Plan aufzugeben, welche Wollust jedem unrealisierbaren Vorhaben innewohnt." Der Makel, die "nationale Orginalität" der Rumänen steht eben unter diesem "Zeichen der Nichterfüllung", des "Walachischen Nichts"; ein großes Umsonst, "Ausdruck einer faszinierenden und zugleich niederdrückenden Weisheit gegen den Strich", Eliade habe sich durch Leistung widersetzt, durch Arbeit, um so dieser "positiven Negativität" zu entkommen, "die sogar das unbedeutendste walachische Schicksal kennzeichnet". Denn - er habe keine "religiöse Ader" gehabt, und habe sich doch sein Leben lang mit Religionen beschäftigt, um etwas zu erlangen, was er nicht hatte. Der Rumäne habe diese Anstrengung nicht nötig, er wisse es aus der Negativität, dem Elend dieses " Walachischen Nichts", daß sowieso alles vergeblich ist. Eliade aber sei eine Art Protestant, er habe nach der Ratio der Religionen, überall nach der Vernunft gesucht, das Analytische, Historische sei ihm gemäß gewesen; alles verstehen, heiße nichts verstehen. Anstatt des Gebetes, habe es für ihn das "Werk" gegegeben, ähnlich wie bei den Deutschen.

Es ist ein hartes Urteil. Dabei hatte Eliade doch von einer "Brückenfunktion" des Rumänischen zwischen Orient und Okzident gesprochen, diese auch am gewissenhaftesten von allen Generationskollegen (zu denen Cioran, Ionesco, Eliade, Brancusi, Noica gehörten) wahrgenommen: "Wir waren uns sehr bewußt, zwischen dem Orient und dem Okzident angesiedelt zu sein. Sie wissen, die rumänische Kultur bildet eine Art ´Brücke´ zwischen dem Abendland und Byzanz einerseits und der slawischen, der orientalischen und der mediterranen Welt andererseits (...) Ich fühle mich als Nachfahre und Erbe einer interessanten, da zwischen den Welten angesiedelten Kultur: der westlichen, rein europäischen, und der östlichen. Ich hatte teil an diesen beiden Welten." (Akzente, Heft 4 1988.)

In einer Glosse zu Eliade, beklagt Eugène Ionesco, daß der Okzident nicht der Wahrheit des Orients gefolgt sei, im Gegenteil, der Osten sei am Westen zugrundegegangen, zuerst am Geistesimport, den Ideologien (Marx) und dann der Technik, er habe sich, wie die Dritte Welt auch, den Wahnsinn des Westens zu eigen gemacht, und dies zerstöre die eigenen Lebensgrundlagen: "Nicht das Abendland hat sich dem Orient seit der Entkolonisierung geöffnet, sondern der Orient dem Okzident, er hat sich die Fehler und den Wahnsinn des Abendlandes zu eigen gemacht. Die Zerstörung der tibetischen Kultur durch die modernen Chinesen hat, so sieht es momentan aus, die Menschheit ihrer Quellen beraubt." (Akzente, Heft 4 1988.)

"VON DER TIEFSTEN REUE", schrieb Cioran schon im "Buch der Täuschungen" (1936). "Von der Reue darüber, daß sich das reine Leben nicht in mir entfaltet hat, daß es mit Werten, mit Bewußtsein, mit Geist und Ideen verseucht, von Zerknirschungen, Verzweiflungen, Zwangsgedanken und Folterqualen gemartert wird, daß es sich mit jedem seiner Schritte sterben fühlt, mit jedem Rhythmus und jedem Augenblick, daß es allezeit von der Furcht vor dem Nichts, von dem Gedanken an die Nichtigkeit und der Angst, dazusein, gepeinigt wird. Die Reue, daß das Leben nicht rein ist, das heißt Reue darüber, daß es kein Gesang in mir ist, kein Taumel und keine Schwingung ... Ich hätte gewünscht, daß es mich in unerträglicher Überfülle durchströmt ..." Es ist das verlorene Paradies, ein metaphysisches Exil, das Cioran beklagt, ein "Exil in der Zeit", nicht im Raum, wie Mariana Sora, eine rumänische Kritikerin, mit einer glücklichen Formulierung Ciorans Trauma bezeichnet hat, und sie zitiert dazu einen schönen Vers Rilkes: "Das ist die Sehnsucht - Wohnen im Gewoge/ Und keine Heimat haben in der Zeit." (Cioran Jadis et Naguère, l`Herne, Paris 1988.)

 

Bedeutende rumänische Autoren kommen aus Siebenbürgen, dem westlichsten Schnittpunkt zwischen Levante und Mitteleuropa, wo sich das Rumänische widerspruchsvoll mit dem Okzident begegnet. Bei Constantin Noica, der als Eremit bei Hermannstadt/Sibiu in den Bergen lebte, paart sich die rumänische Krankheit zum Tode, ihr heimlicher Vernichtungstrieb und Fatalismus mit einer ganz spezifischen rumänischen Mystik des Konkreten, ja, des Praktischen, die der siebenbürgische Dichterphilosoph Lucian Blaga dem orthodoxen Sinn des "Sophianischen" zuschrieb: das herabgestiegene Licht ist in allem, auch im Vieh, im Baum, im Gras, im Menschen vor allem; "Nachbar Gott," nannte Tudor Arghezi diese Nähe.

Der rumänische Ton, eine musikalisch-ekstatische Innerlichkeit, ein dunkler mystischer und sehnsüchtig-schmerzlicher Ton, der im Wort nie aufgeht, an seinen Rändern nur gerade noch fühlbar wird, eine sich ausliefernde Sanftheit und Weichheit bis zum Selbstverlust, sie ist bei Cioran auch in der Fremdsprache Französisch noch spürbar, leider viel weniger in den deutschen Übersetzungen. In diesem Ton ist Ciorans eigentliche Aussage verborgen ("der Ton ist mehr als jedes Talent, er enthält das Wesen", heißt es bei ihm!).

Zwischen der Lebensstimmung des Rumänischen und der des Deutschen klafft ein Abgrund, eine innere Differenz und ein Temperaturunterschied, die manchem Emigranten, der jenen Ton noch im Ohr und in der Seele hat, in Deutschland schmerzlich zusetzt, eine Differenz, die natürlich auch an den sprachlichen Verschiedenheiten abzulesen ist: Auf der einen Seite dem weichen, musikalischen und vokalreichen, fast labyrinthisch-lexikalischen Reichtum des Rumänischen, einem Reichtum auch grammatikalischer und semantischer Formen, des Argot, des Witzes, des schwarzen Humors einer Sprache, die durch keinen philosophischen oder zivilisatorischen Abstraktionsprozeß hindurchgegangen ist, die dem Elementaren nahe steht, und die sich auch im Widerstand gegen die rote Parolensprache eine seelische Intimität und Volksnähe bewahrt hat; - auf der anderen Seite das harte, formulierungssüchtige, technisch-nüchterne Bellen des neuen, alle Schattenränder meidenden Medien- und Zivilisationsdeutsch, zu dem auch noch die Aversion gegen das pathetisch-gefühlige Deutsch der dreißiger Jahre hinzukommt, das bis in den Wortschatz hinein von der Naziunkultur diskreditiert worden war. Es ist eine Art Sprachbruch seit dem Kriegsende, eine innere Zensur, eine Verkürzung im Seelischem, die das neudeutsche Sprachgefühl mitgemacht hat, so daß ganze Provinzen des Ausdrucksvermögens brach liegen, ein Sprachzustand, der Übersetzungen von Poesie aus den "naiveren" romanischen Sprachen, etwa dem Italienischen, vom Rumänischen ganz zu schweigen, sehr erschwert.

 

Es ist erstaunlich, wie gleich, wie treu sich Cioran geblieben ist, seine ganze Philosophie ist, ähnlich wie bei Schopenhauer, schon im Jugendwerk angelegt, eine Jugendphilosophie, die mit ihm gealtert ist und vertieft wurde. Am klarsten, am frischesten und reinsten erscheint sie in den Frühschriften: "Was ich mit sechzig weiß", schrieb er, "wußte ich ebensogut mit zwanzig. Vierzig Jahre einer langen, entbehrlichen Überprüfung."

 

Cioran, der wie Nabokov oder Beckett ein großer Autor in einer Fremdsprache geworden war, hat mir nie einen rumänischen Brief geschrieben; als gäbe es da ein schmerzliches Berührungstabu, hat er sich das Rumänische selbst untersagt; ja, er hat in seinem Gespräch mit Gerd Bergfleth (Entretien á Tübingen, l´Herne, Paris 1988) sogar gesagt, daß dieser Sprachwechsel eine "Emanzipation", eine "Befreiung von der eigenen Vergangenheit", ja, eine heilsame "Zwangsjacke" war, daß die "Strenge dieser Sprache" für einen undisziplinierten "Balkanesen" heilsam gewesen sei. Zugleich kommt jedoch auch die andere Seite, das Bedauern Ciorans zum Vorschein, nämlich daß zwar das Rumänische, "eine Mischung von Slawisch und Lateinisch, Eleganz vermissen läßt, jedoch unendlich poetisch ist", "offen noch für Akzente wie bei Shakespeare und der Bibel". Das ist der typische Widerspruch im Stil Ciorans, wo extreme Aussagen, die sich gegenseitig ausschließen, im gleichen Satz nebeneinander stehen können.

Schreibend hat Cioran seine rumänische Substanz ins Französische hinübergerettet und diese fremde Sprache verändert, ein Triumph der östlichen Nähe und Tiefe dieses Mystikers, der seine persönlichsten Kuckuckseier ins noble französische Sprachnest gelegt und die "Clarté" dabei merkwürdigerweise noch kristallklarer und eleganter, und zugleich substanzhaltiger gemacht hat!

Der bedeutendste Beitrag des Rumänischen zur europäischen Kultur ist also paradoxerweise die eines Ferments, eines Katalysators in fremden Sprachen (Cioran, Ionesco, Eliade, Brancusi u.a.), in der westlichen Kultur also eine Art "Dazwischenkunft"; und das wäre vielleicht auch das von Constantin Noica beschworene "ìntru ceva" als Standort rumänischen Denkens: im Beisein mit etwas, Dazwischen-Sein mit etwas. Der Mensch als Wesen, das zwischen allem steht, als Fluchtort, Fluchtpunkt. Diese verborgene Mitte der Welt kommt erst in der Schwäche, im Schmerz, in der Angst zum Vorschein. Für die Rumänen ist es eine besondere Art von Weisheit, die aus bittererster Erfahrung gewonnen wurde: Flucht als Verteidigung, Verteidigung im sich Zurückziehen; im Denken hieße das, sich des Urteilens zu enthalten; Husserl nannte es EPOCHÉ. Te uiti la lucruri. Dar le vezi numai, dacá le uiti, heißt im Rumänischen: Du siehst die Dinge an, doch du siehst sie nur, wenn du sie vergißt! Wunderbar dieser Doppelsinn: "a uita" heißt sowohl Vergessen, als auch Sehen, etwas ansehen. Sehen aber bedeutet: das Wesen der Dinge vergessen. Das Auge lügt. Jeder ist mehr, als er im Augenblick sein kann.

 

3

Eine "Nation ohne Geschichte" ist nicht nur von hemmungslosem Fatalismus und vom Todestrieb gefährdet, sondern dazu verführt, diesen Fatalismus ins Politische zu übersetzen, so können diese Mystik und die nationalen Komplexe verheerende Folgen haben: die Legionärsbewegung in der Zwischenkriegszeit war dafür ein erschreckender Beweis, es war ein Versuch, das Geschichtsvakuum durch vitalistische und chauvinistische Kompensation im Kulturellen und Nationalen aufzuheben; der kompensatorische Effekt der rechten Kultur wurde vor allem vom faschistischen Philosophen Nae Ionescu auf "höherem Niveau" propagiert und angestrebt, und leider war Ionescu auch der Lehrmeister dieser talentierten Generation Mircea Eliades und E.M. Ciorans.

Diese nicht zu leugnende Tatsache darf jedoch nicht dazu dienen, den substanzhaltigen Beitrag geistiger rumänischer Werte zur europäischen Kultur zu diskriminieren, gar zu verlangen, es solle mit dieser Tradition (seit Eminescu) gebrochen werden, die Rumänen müßten sich gefälligst an die westlichen Standards anpassen, um "Demokratie zu lernen", und ihre Tradition und Herkunft völlig vergessen!.

Der miese Kontext, in den große Geister der rumänischen Kultur kommen, erscheint mir als Deutscher recht bekannt. Und ich denke da an eine Entwicklungslinie des deutschen Geistes, die von Nietzsche bis Heidegger, Carl Schmitt bis Ernst Jünger, ja, von Novalis und Schelling bis Schopenhauer und zur Lebensphilosophie, zu Klages und Spengler reichen. Und wer Georg Lukács` Werk "Die Zerstörung der Vernunft" oder das Buch von Farias über Heideggers Naziumtriebe gelesen hat, weiß, woher Rosenberg oder der Gröfaz und Allesverwerter ihr "Gedankengut" hergestohlen hatten. Die Zeit der ideologisierten Diffamierung ist in Deutschland längst vorbei, soll das an den wichtigsten Autoren der kleinen rumänischen Kultur nun auf "höherem Nivau" so weitergetrieben oder "nachgeholt" werden, was schon in der Ceausescu-Ära auf kümmerlicher Funktionärsebene getan wurde?

So heißt es in einem dieser Pamphlete in grober Holzhammersprache: "Ähnlich wie die anderen Faschisten empfanden sich auch die rumänischen Legionäre als unverstandene Elite. Emil Ciorans nihilistische und fremdenfeindliche Schimpftiraden entspringen dem gleichen elitären Denkmuster. In seinem 1936 erschienen Buch: "Die Veränderung des Antlitzes Rumäniens" heißt es dann folgerichtig: ´Ein gesunder nationaler Körper beweist seine Lebenskraft durch den Kampf gegen die Juden, vor allem wenn diese durch ihre Anzahl und durch Unverschämtheit ein Volk überfluten.´" ( William Totok, "Die Generation von Mircea Eliade im Bann des rumänischen Faschismus." In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, Heft 1/1995). Zwar entschuldigt sich Totok vorweg in einem Vorspann, zitiert Habermas über Heidegger, daß man zwischen Werk und Person "keinen kurzschlüssigen Zusammenhang" herstellen dürfe, doch dann wird der Text, wie wir sehen, unfair und "kurzschlüssig".

Cioran hat seine Zustimmung zur Wiederauflage dieses Buches (1990 in Bukarest) nur unter der Bedingung erteilt, daß solche Passagen aus der neuen Ausgabe getilgt werden! Wer E.M. Ciorans Denken kennt, weiß, daß er nie ein Ideologe oder gar "Kämpfer" war; man muß schon eine Menge an Unwissen, was sein Werk betrifft, aufbringen, um so etwas zu behaupten.

Wichtiger aber ist noch, daß in solch einer Analyse von Ciorans Vergangenheit, nicht verschwiegen werden darf, wie sehr sich der große rumänische Aphoristiker gegen dieses unselige Werk "Schimbare la fata a Romaniei" (1936) gewandt und sein Leben lang bitter bereut hat, es geschrieben zu haben. Tahar Ben Jelloun, der Cioran seit den sechziger Jahren kannte und oft besucht hat, schrieb kürzlich in der Mailänder "Repubblica" (zum Todestag Ciorans), daß den Freund tiefe Reue überkam, und er, wenn von diesem uncioranischen Buch die Rede war, es am liebsten für immer aus der Welt geschafft hätte, ja, daß er wegen dieses Buches von Alpträumen geplagt wurde. Wichtiger noch sind die Briefe Ciorans an seinen Bruder Aurel, die Gabriel Liiceanu in einem sehr gut recherchierten Buch "L´Itinéraire de Cioran" (Editions Michalon, 1995) veröffentlicht hat. Darin heißt es z.B. als wäre von einem bösen Traum die Rede: "Nicht selten frage ich mich, wie habe ich denn tatsächlich ´Schimbare la fata a Romaniei´ schreiben können. Jede Beteiligung am Jahrmarkt der Zeiten ist eine leere Erregung. Will der Mensch auch nur die geringste geistige Würde bewahren, muß er seinen Status als Zeitgenosse vergessen. Ich wäre heute viel weiter in meiner Entwicklung, hätte ich dieses schon mit zwanzig Jahren gewußt."

Richard Wagner, ein anderer Cioran-Kritiker, geht zwar (in seinem Buch "Sonderweg Rumänien", 1991) etwas fairer mit der "Jugendsünde" Ciorans um als William Totok, doch auch er zitiert genau jene aggressiven Seiten gegen die Juden, gegen die Ungarn, die Cioran diskriminieren. Allerdings bringt dann Wagner einen Brief Ciorans (vom 9.7.90 an den Chefredakteur der Klausenburger Oppositionszeitschrift "Nu", ) in dem es klar und deutlich heißt: "Von Seiten meiner Landsleute war ich auf alles vorbereitet. Weil ich wußte, daß sie sich des ´Gesichtswandels Rumäniens´ bedienen werden, habe ich der Publikation des Buches zugestimmt, mit Ausnahme zweier Kapitel und insbesondere jenes Kapitels über die Ungarn, das ich 1934 ... geschrieben habe ... Wenn ich Zweifel an mir habe, und ich habe sie oft, tröste ich mich mit dem

Gedanken, daß ich beizeiten ins Exil gegangen bin: vor 50 Jahren!" Seinen rumänischen Verleger werde er "nochmals bitten, auf die Unterdrückung meiner prähistorischen Frechheiten zu achten."

In einem Interview mit F.J. Raddatz (1986 in der ZEIT) sagte er, nach seiner "Nähe zum rumänischen Faschismus" befragt: diese "Nähe" habe es gegeben, "aber ich habe mich nicht für seine Idee, sondern für seine Exaltiertheit interessiert. Das hat zwischen diesen Leuten und mir eine Verbindung hergestellt. Eine pathologische Geschichte im Grunde. Denn durch meine Bildung und Auffassung war ich ganz anders." Gleichzeitig nämlich habe er "an allen Sitzungen des jüdischen Weltkongresses in Bukarest teilgenommen, als einziger Nicht-Jude. Und ich war fasziniert. Das ist die andere Seite meiner Natur."

"Sie sehen, bis zu welchem Punkt, ich den Standpunkt eines Schlawiners habe!" schrieb er mir. Er war ein virtuoser Vagant und intellektueller Clochard, der auf den eigenen abgeschnittenen Wurzeln lief.

 

In einem Brief vom 21. Oktober 1980, schrieb er mir: "Sie haben es richtig gemacht, zum zweitenmal zu emigirieren. Ich hätte es so machen sollen wie Sie, anstatt in einer diabolischen Stadt zu versacken, aus der ich zum Glück von Zeit zu Zeit fliehe: Dieppe ist mein Refugium, leider (im Original rumänisch "din pacate") ein kaltes Refugim! Ich bin viel weiter von Rumänien entfernt als Sie, ich bin, zur großen Verzweiflung meiner Freunde von da unten, ein Entfremdeter" (im Original rumänisch: un instrainat D.S.) "

In diesem Brief war viel mehr Nostalgie zu spüren als in den bisherigen, und sogar zwei rumänische Worte hatte Cioran eingestreut, was er sehr selten tat: "din pacate" (was von pacat: Sünde abgeleitet ist) und "un instrainat" (ein Entfremdeter), so kommt fremd, entfremdet mit dem Urbegriff Vertreibung, Sünde hintergründig zusammen. Und er schrieb auch, obwohl er eigentlich "seit langem aufgehört habe zu reisen, er doch merkwürdigerweise seit den letzten Monaten von einer Italien-Nostalgie gepackt worden zu sein. Und falls ich diesen Wunsch in ein Projekt verwandle, und das Projekt in die Tat, werde ich es nicht versäumen, Ihnen beiden ein Zeichen zu geben... "

 

Cioran lebte nicht im Exil, sondern im Bewußtsein, daß nur das Exil dem Menschen entspricht; die meisten vergessen es und meinen, Heimat und Lebenssicherung sei der natürliche Zustand, und alles, was davon abweicht, unnormal, gar krankhaft; der Widerschein des Paradieses wurde einmal, und zwar in der Kindheit erlebt, es war jedoch nur der Widerschein, der normale Körperzusand auf der Erde ist die absolute Haft; nur im Exil ist das wirkliche Menschsein, nämlich die das Bewußtsein und Denken steigernde Spaltung möglich, die nicht vergessen läßt, daß die tiefste Sehnsucht hier unerfüllbar ist, die Versprechnungen nur Betrug und Täuschung sein können; jemand, der bewußt im Exil lebt, hat begonnen, sich selbst zu entkommen.

 

Im September 1980 hatte ich Cioran geschrieben, daß mir das Schicksal seines Freundes Benjamin Fondane/Fundoianu, der als Jude doppelt fremd im Exil gewesen war, nahe gehe, und daß ich das zu Unrecht vergessene Werk dieses bedeutenden französisch-rumänischen Dichters und Essayisten, der von 1923 bis 1944 in Frankreich gelebt hatte, bekanntmachen wolle, schrieb er mir einen gerührten Brief über Benjamin Fondane, dem noch andere folgten. Ich wußte, daß Cioran in Paris an der Nummer 6 der rue Rollin, wo Fondane gewohnt hatte, nicht vorbeigehen konnte, ohne, wie er sagte: "jähen Schmerz zu empfinden". Vor allem in jenen furchtbaren Jahren der Nazi-Okkupation Frankreichs war er oft mit seinem jüdischen Freund zusammen gewesen: "Ich habe Fondane sehr gut gekannt, wir haben in jenen furchtbaren Jahren miteinander Umgang gehabt", schrieb er in seinem Brief: Und noch heute suche ihn "das Schicksal jenes prächtigen Menschen heim. Er tat nichts, um dem Desaster zu entgehen, das er wohl auf mysteriöse Weise angezogen hat...." Fondane hatte sich mit seiner Familie in den unbesetzten Teil Frankreichs geflüchtet, kam aber 1944 zweimal wöchentlich nach Paris, traf sich dann auch mit Cioran, ging in die alte Wohnung, holte Bücher, ohne die er nicht leben konnte, und nahm auch Verbindung mit dem Widerstand auf. Die Concièrge soll ihn angezeigt haben. Im März 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet, gemeinsam mit der kranken Schwester in Camp Drancy interniert. Seine Frau war Christin, er hätte nach französischem Gesetz frei werden können. Doch er habe es vorgezogen, sagte Cioran, die Kranke nicht zu verlassen. Fondane wurde nach Auschwitz deportiert und kam dort im Oktober 1944 in einer Gaskammer um. Sein Name ist mit 167 anderen Mitgliedern der Résistance an der Mauer des Pantheons eingraviert. Dieses sei kaum in seinem Sinne gewesen, hörte ich von Cioran, Fondane habe jede manifeste Überzeugung, jede "Bekehrung" zu irgendetwas, ja, schon jede "Lösung" als Verrat an der unausdenkbaren Wahrheit angesehen.

Fondane und Cioran haben in ihrer Grundauffassung große Ähnlichkeiten. Vor allem Fondanes radikale Ablehung des zivilisatorischen Wahnsystems, das zum apokalyptischen Jenseits unserer Vorstellung führen mußte, beeindruckte Cioran. Denn alles, was Fondane bis zur letzten Stunde in dieser Richtung geschrieben hatte, war in jenem Augenblick, wo er an der Endstation der Geschichte angekommen war, in jenem grauenhaften Augenblick, über den er nicht mehr Zeugnis ablegen konnte, bestätigt worden. Angesichts der Gaskammern, der Berge von Leichen, gilt kein Glaubens- oder Trostspruch mehr, geschweige denn Philosophie oder Literatur. Es war etwas offenbar geworden, was nicht seinesgleichen hatte. Fondane hatte das, worüber wir nur nachdenken können, erfahren, und dann ganz konsequent mit dem Tode bezahlt.

Cioran wurde auch davon beeindruckt, daß Fondane radikal alle Ersatzreligionen, Ideologien, Ideen etc., zu denen auch die Kunst gehört, attackiert hatte, sie dafür verantwortlich gemacht hatte, daß es die "Hure der Geschichte" überhaupt gibt.

Beide, Cioran und Fondane, hatten das östliche Erbe in sich, beide zog paradoxerweise auch die Todeskunst an, beide empfanden das Leben in Sekunden-Schlägen wie eine Hinrichtung, wie Kafka, als eine unendlich hinausgezogene Exekution. Der Tod also als Erlösung, als Freund, und die einzige Gewißheit, in der man frei ist.

 

Cioran schickte mir auch mehrere Fotokopien, darunter den letzten Essay, den Fondane noch kurz vor seiner Verhaftung im März 44 geschrieben hatte: "Le lundi existentiel et le dimanche de l`histoire" (Der Montag der Exstenz und der Sonntag der Geschichte), dann den Essay eines spanischen Freundes, Fernando Savater, über Fondane in "El Pais" vom 12. Oktober 1980 (Fondanes Todestag ist der 3.10.) mit dem ironischen Titel "El enemigo son los judíos" (Der Feind sind die Juden), wo Savater ein Gespräch mit Cioran über Fondane zitiert, in dem Fondane als einer der wesentlichsten Denker unserer Epoche vorgestellt wird. Und schließlich schickte Cioran mir auch einen kurzen Erinnerungstext "6, rue Rollin" über Benjamn Fondane, in dem er seine (nicht ungefährlichen) Nachmittage während der Pariser Okkupationszeit, die langen Gespräche im Hause Fondanes und diesen selbst mit viel Liebe schildert, "daß er in ständiger Gewißheit eines unmittlbar einbrechenden Unheils lebte. Er fühlte sich ständig bedroht und war es tatsächlich auch. Vermutlich hatte er sich innerlich mit dem Schicksal Opfer zu sein, abgefunden, denn ohne diese geheimnisvolle Komplizität mit dem Unausweichlichen ... ist seine Ablehnung jeder Vorsichtsmaßnahme nicht zu erklären." Cioran legte mir ans Herz, alles zu versuchen, Fondane in Deutschland bekannt zu machen.

Vielleicht war Fondane für ihn eine Art Heiliger der absoluten Negation.

 

Über Heilige nachzudenken, ist das absolut Unmöglche für einen alltäglichen Zustand. Es ist die unmögliche Synthese dessen, was schmerzt, wenn wir jenen Zustand aufgeben, also in einer kleinen Ekstase zu leben, die jene stümperhaft imitiert, denen wir uns im Gedanken nähern wollen, einem Gedanken, der es wiederum unmöglich macht, sie zu verstehen, in ein Bild zu bringen. Etwas also, das heillos gespalten ist, zusammenzuführen. An diesem Nachdenken über Heilige wird unser unmöglicher Zustand erst deutlich erkennbar, denn sie leben nicht außen, und das Außen ist auch nicht unsere Welt.

 

4

"Das Heilige" des Deutschen Rudolf Otto ist im Vergleich zu Cioran ein rein akademischer Traktat. Cioran dagegen ist durch und durch ein Denker aus dem Augenblick, seine Synthesen sind reine Intuitionen und geniale Einfälle. Alles ist jetzt, geschieht, ist brennend neu, wie die Sekunde, die mich schmerzt, weil sie eben vergeht.

wie Lyrik ist das Fragment oder der Aphorismus eine Art persönlichster Sprachkairos, der sich selbst im Augenblick aus dem Nichts herauskristallisiert, das in ihm brennt und zur Existenz wird.

Der Aphorismus war Ciorans Lieblingsform: Das Aufblitzen einer Intuition, die die Wand der Sinne und Gedanken durchbricht, das "Entwerden" des Meister Eckehart gegen jede logische Kontinuität. So erfaßt Cioran im Aphorismus, im Miniessay die blitzartige Wahrheit eines auftauchenden Gedankens, die Intuition rächt sich am "Leben" und am Schreiben, indem es sie in wenigen einleuchtenden Sätzen und in einem Nu, wo Vergangenheit und Zukunft glückhaft zusammenfinden, aufhebt, elitär jede Vermittlung und jede Verbindlichkeit und sogar jeden Konsensus unterbindet, extrem subjektiv bleibt. ("Unsere Untröstlichkeit besteht darin, daß wir niemanden mehr haben, an den wir uns wenden könnten. Es ist mit uns so weit gekommen, daß unsere Konfession nur noch die Einsamkeit der Sterblichen erreicht.")

Cioran kannte nur diese bedingungslos offene Moral, unangestrengt, begriffslos, eine Moral, die sich selbst überschreitet. Sie erinnert an eine Erfahrung Carl Friedrich von Weizsäckers, des deutscher Physikers mit fernöstlicher Erfahrung, der in einem Aufsatz über den Tod schrieb: "Aber das Sittliche ohne das Heilige ist nicht lebensfähig; es ist die Forderung ohne ihre Ermöglichung. Die selbstverzehrende Anstrengung der bloßen Moral kann kaum umhin, wenn sie wahrhaftig bleibt, böse oder verzweifelt zu werden." "Wenn du die Gedanken nicht ertragen kannst", heißt es bei E.M. Cioran im "Buch der Täuschungen", "läßt es sich mit den Heiligen jenseits des Denkens leben... Heiligkeit ist Genialität des Herzens." "Es ist unmöglich, sich den Heiligen durch Erkenntnis zu nähern", schrieb er in einem anderen Jugendwerk ("Tränen und Heilige"): "Erst wenn wir die in unserm Innersten schlafenden Tränen wecken und durch sie erkennen, können wir begreifen, wie jemand Mensch sein konnte und es nun nicht mehr ist." Wobei diese Selbstaufgabe den Menschen dient und zum Martyrium führen muß, also Caritas und Mitleid im beispielhaften (nicht nur denkenden oder redenden) Widerstand gegen die Scheinwelt der Macht und des Alltags bedeutet.

"Wir brauchen einen rettenden Anstoß. Es ist unfaßbar, daß der Heilige Thomas in der Bestürzung ein `Hemmnis der philosophischen Meditation` gesehen hat, wo man doch anfängt zu verstehen, wenn man bestürzt ist, nämlich die Nichtigkeit aller ´Wahrheiten´ merkt. Die Bestürzung läßt unsere Sinne vergehen, um sie desto besser zu wecken: eröffnet uns dem Wesentlichen, liefert uns ihm aus." - "Man soll sich nicht zu einem Werk zwingen, man soll nur etwas sagen, das sich eignete, ins Ohr eines Betrunkenen oder eines Sterbenden geflüstert zu werden." ("Die verfehlte Schöpfung".)

 

5

Nicht nur die Lebensangst, vor allem die Todesangst bestimmte E. M. Ciorans Denken: "Schmerzen muß uns (...), daß wir in solch einem Leben jeden Augenblick wissen müssen, daß wir sterben werden. Wenn du kein Todesbewußtsein hättest, wäre das Leben, wenn nicht gerade eine Lust, so doch keine Last. Aber jedes von Todesangst verseuchte Leben ist eine Bürde." ("Das Buch der Täuschungen".)Es ist also der Tod, der "Sünde" oder der Erkenntnis Sold, wie es in der Genesis heißt, der alles so schmerzlich und absurd erscheinen läßt! Umso wichtiger wäre es, zu durchschauen, daß der Tod als Körpertod genau wie die sogenannte "Wirklichkeit" selbst nur zu einer Scheinwelt der Körper gehört, als Täuschung entlarvt werden müßte. Doch Cioran, der doch sonst gegen diesen Schein, gegen die Täuschungen und Illusionen des Denkens, des Sprechens, gegen das uns eingehämmerte Vorgestellte virulent anging, weitet diese Entlarvung nicht auch auf den Tod aus, läßt hier den Schein bestehen, der doch den Tod erst möglich macht; in diesem Punkt ist die Bewußtseinsspaltung besonders dramatisch: der Zweikampf des Atheisten mit dem Mystiker, des Weisen mit dem Zweifler, wobei der sich selbst zerfleischende Skeptiker auch das Überleben des Todes anzweifelt.

Cioran fragte mich einmal: "Kennen Sie diese furchtbare Wachheit im Kopf?" Diese furchtbare Wachheit war eine Art quälende Schlaflosigkeit, die ihm jahrzehntelang das Leben zur Hölle machte.

Nach dem Paradies der Kindheit bekam er in der Jugend die "negative Seite des Lebens" zu spüren, er litt darunter, "daß alles leer ist (...) Das französische Wort dafür ist absolut unübertragbar und heißt ´cafard´". Cafard wäre umschreibbar mit "Mißmut", mit "grundloser Unlust", aber auch mit "Heimweh haben". Ihn habe, sagte er, dieser Kontrast zwischen jenem Glück und dem, "was nachher kam", "innerlich zerstört".

Die Leere hing mit dem furchtbaren Erlebnis der jahrelangen Schlaflosigkeit zusammen, diesem lebenslangen Martyrium. Sein erstes Buch "Auf den Gipfeln der Verzweiflung" (1934) ist von diesen infernalischen Nächten im siebenbürgischen Hermannstadt geprägt, (eine der drei Städte, die er, neben Paris und Dresden allen anderen vorzog), dort also geschah es: "Alle meine Nächte waren schlaflose Nächte und mein Leben eine unaufhörliche Qual", sagte er in einem Gespräch in Tübingen mit Gerd Bergfleth ( Entretien à Tübingen, l`Herne, Paris 1988): "ich geisterte wie ein Phantom durch die nächtlichen Straßen." Dieser halluzinatorische Zustand wiederholte sich dann auch in Paris. Immer wieder kommt er in seinen Aphorismen darauf zurück. Überall schimmert seine nächtliche Qual durch. ("Befreiung für sich suchen ohne das Bewußtsein dieser Qual, das ist unmöglich oder pervers.") Schlafentzug ist die schlimmste Folter, jene "Leere" seiner schlaflosen Nächte als Chock und Qual befreite ihn aber vom "Nichts" der Philosophie, denn die Leere sei "das transfigurierte Nichts. Wenn es uns widerfährt (...) sind unsere Beziehungen zur Welt verändert, irgend etwas in uns verwandelt sich (...) Wir sind aber nicht mehr in gleicher Weise wie bisher von hier..." (Die verfehlte Schöpfung.)

Cioran machte auch die Leere und Schlaflosigkeit zum Grund, ja, zum Abgrund der Welt, und er stattete jene, die diesem Abgrund nahestehen, insgeheim auch sich selbst, mit den Insignien der Heiligkeit aus: "Die Heiligkeit ist eine Verneinung des Lebens durch Himmelshysterie. Wie aber verneint man in der Praxis das Leben? Durch ununterbrochenes Wachsein. Daher die fast vollständige Unterdrückung des Schlafes. Rosa von Lima schlief nicht mehr als zwei Stunden pro Nacht, und wenn der Schlaf sie zu überwältigen drohte, hängte sie sich an ein Kreuz, das in ihrem Zimmer angebracht war..." ("Tränen und Heilige".)

 

"Aus durchwachten Nächten besonderer Art erwächst die Infragestellung der Geburt." ("Vom Nachteil geboren zu werden".) Aus solchen Sentenzen ergibt sich logisch auch der Gedanke des Selbstmordes, der einem Mit- dem -Tode- Rivalisieren gleichkomme, und der beweise, daß man den Tod übertreffen könne. Wer ihn dagegen abwarte, sei ihm ein Leben lang ausgesetzt, ausgesetzt damit auch jener Vergiftung, die "Erbsünde" heißt.

Dieser Grund der Verzweiflung war Ciorans Lebensantieb, und zugleich der Antrieb seines Schreibens von den Jugendschriften an bis ins hohe Alter.

 

In einer seiner letzten Äußerungen (Weihnachten 1994 in der "Frankfurter Rundschau") ist unüberhörbar, daß er seinem Konzept von der buddhistischen Leere einen neuen und verstärkten Akzent gibt: "Ich bin Atheist, glaube weder an Gott, noch bete ich. Aber es gibt eine religiöse, undefinierbare Dimension in mir, jenseits des Glaubens."

Die Unmöglichkeit, diese "undefinierbare Dimension" im Leben und Denken als ununterbrochenen wesentlichen Augenblick durchzuhalten, empfand er wohl lebenslang als "Sünde". Als Verrat. Und freilich auch als Verrat Gottes an uns.

Vielleicht war es der eigene Mangel, das Ungenügen an sich selbst, das ihm so zusetzte. Schon in seinem "Buch der Täuschungen" hatte er geschrieben: "Der absolute Augenblick des Daseins bricht an, wenn die Schatten von unserem inneren Licht niedergerungen sind." Und: "Einer Totenmaske gleiche dein Angesicht! Sei wesenhaft in jedem Augenblick!"

 

"Asche mußt du werden/ fallfrei/ um wieder leicht zu sein./ So sagten sie.// Denn das Bewußtsein/ sei ein Staubkorn/ das sich selber denken kann.(...) // Ein Same in der Höhle/ der Erinnerung./ So wie das alte Noumen schattenleicht/ am Rand der Phänomene/ Leib der Welt./ Für uns nur Mausoleen/ für sie die ganze Gegenwart:/ ein Gottes-Haus." Cichén Itza, 1979:

Nachdem ich Cioran meinen ersten im Westen erschienen Gedichtband "Weiße Gegend" (Rowohlt 1981) nach Paris geschickt hatte, schrieb er mir in einem Brief vom 12. April 81 seine "Präferenzen" auf, ich erkannte die Wahlverwandtschaft in den von ihm ausgewählten Gedichten:

"ALS WÄRE DAS LEBEN AUFGEBRAUCHT Und dieses Schreiben auch/ wenn es ihm/ lange zuschaut/ aus Mangel an Vorsicht./ Es sei denn/ wir gehen/ schneller/ nach vorn/ und ohne Rücksicht auf kontinental/ horizontal (...) - wieder/ senkrecht. / Und drehen alles innen/ so rasend schnell/ bis es durch die waagerechte Täuschung/ fällt."

 

"(...) Der Westen gönnt/ der müden Seele/ keine Ruh. Kein Punkt// ist vorgesehn/ wo Unberührtes/ rastet. // Was wirklich wahr ist gibts noch nicht./ Und alles andere ist vergangen./ Die schnelle Geschwindigkeit dieses Tages setzt du auch morgen nicht zusammen.// Am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf./ Unerlaubt ist das wirkliche Weinlaub./ Sprünge und Risse im Blickfeld Und alles/ eilt/ Du hältst es notdürftig zusammen (...)//"

"SO WIE ICH SELBST sind auch die Augen hier/ Nur wie ein großer Spiegel der nicht mir gehört/ Und der sich weitet.// Ich atme tief/ in ihm.// Nur wenn das Ich: erscheint/ Ist mir/ Als sei ein Hauch von Traumgeschehn/ Vorbei/ Und spüre deutlich/ Wie/ Ein großes Wissen mir entgleitet."

Cioran schrieb zu diesen Gedichten: "Indien ist nicht weit; Ihr geistiger Weg mußte zu einer Form der Mystik führen. Dennoch ist die äußere Welt auch da - von Siebenbürgen bis nach Mexiko; wobei immer im Hintergrund die Suche nach einer andern Wahrheit steht, einer tieferen Wahrheit, die der Geschichte entkommt oder sie überschreitet."

 

"Erbschmerz", nannte er die alte "Erbsünde": Es ist der Todesgedanke, der "nistet sich ein, bis in die Quellgründe unseres Daseins", obwohl wir doch "wissen", daß wir unzerstörbar sind. Dieser Zweifel ist der Abgrund, nämlich schön doppelsinnig dieser Un-Sinn: "das Vergehen", ein Vergehen, "das Vergehen, einmal gewesen zu sein." ("Das Buch der Täuschungen.") Das Essen vom Baum der Erkenntnis, (die "Erbsünde") führte zur Vertreibung, zum Exodus, zur Strafe des Todes und dann zur Zeitangst; und mit der alten "Erbsünde" hingen natürlich auch Lebenskürze, Machttrieb, Besitzgier und Zeithast zusammen, ein um die Ewigkeit verkürztes Leben, das die Betroffenen krank macht.

"Ich könnte Anhänger einer Religion werden, für die es eine Schande ist zu sterben," schrieb Cioran in "Tränen und Heilige". Diese Vergiftung durch den Todesgedanken wollte er überwinden. Hat er sie jetzt überwunden?

 

Immer wieder war ich erstaunt, wie er innere Zustände, Undenkbares mit Metaphern wieder einholte, Unendliches mit einer unvergleichlichen Intuition durch Namen in mir bewegen konnte; er komponierte, er machte Musik mit der Sprache, er überschritt die Vorstellung, er war schon immer in jenem Reich, wo er jetzt angekommen sein könnte. Jetzt erst verstehe ich seine Worte, daß "jedweder Glaube von Natur aus oberflächlich ist und nur auf den Anschein wirkt," und daß Überzeugungen zu "unserer gewöhnlichen, täglichen Verdammnis" gehören, zu unserer "Unwirklichkeit", egal, wovon wir überzeugt sind oder woran wir "glauben". Erst wenn es uns gelingt, "Glauben" "zu durchschauen und fortzufegen, treten wir ins Unerhörte ein, in eine Ausweitung, im Vergleich zu der alles andere bleich und episodisch erscheint, selbst dieser Fluch." ("Die verfehlte Schöpfung".)

Was man ihm vielleicht vorwerfen kann, ist, daß er manchmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat, daß er Sein und Schein vermischte, also eine Tabula rasa herstellte, einen leeren Ort, dann aber genau an dieser Grenze einhielt, als habe er Angst, den Verstand zu verlieren, den er doch so sehr verachtete. Jenseits der Klarheit aber sah er keine Welt mehr, obwohl er doch eine andere erhoffte, eine Welt, für die es keinen Namen gab. So blieb sein Schreiben mit den Namen immer verzweifelt zurück auf der Erde, der Himmel sehr fern, doch erkennbar in sich selbst und in ihm selbst; es war sein größter Widerspruch. Ob er es jetzt "weiß", daß es weiter geht, daß es den Tod nicht gibt? Denn gäbe es ihn, müßten wir an die alte "Erbsünde", den alten "Erbschmerz" "glauben", den wir freilich im Todesgedanken, so lange wir leben, auch täglich spüren?! Wir müßten diese "Erbsünde" also akzeptieren, gäbe es den Tod wirklich! Das aber wäre auch für Cioran, der nichts, der nur Nichts akzeptieren konnte, ein charakterloser Kompromiß. Er fürchtete, von Illusionen hereingelegt zu werden!

Der Tod ist nicht die Ewigkeit, sondern womöglich der Anfang jenes Unvorstellbaren, jener "undefinierbaren Dimension" "jenseits des Glaubens", die Cioran für das Non plus ultra hielt, dem er sich in aller Skepsis zugelebt, sich zugedacht hatte, jenem Zustand, den er auf der Erde als Mensch und in der gequälten Körperexistenz, in der "ein schwacher Engel eingesperrt ist", nicht finden konnte, daher hatte er diese Existenz so gehaßt und in allen seinen Büchern angeprangert.

Der Widerschein hier auf der Erde jener "undefinierbaren Dimension jenseits des Glaubens" ist die Leere, das Nichts, Widerschein des Nichtmehr-Seins; im Leben schon zu sterben, um diesen Widerscheins zu erkennen, das ist auch die Erfahrung der Heiligen; und das höchste Glück der Erdenkinder war für ihn nicht, wie es Goethe glaubte, "die Persönlichkeit", sondern die Nicht-Person: "das Selbst ohne das Selbst - ist die Liquidierung des Abenteuers des ´Ich´, es ist das Sein ohne jede Spur von Sein, ein seliges Untergehen, eine unvergleichliche Katatstrophe." ("Die verfehlte Schöpfung".)

Die Leere aber als Anfangszustand einer personlosen postmortalen Existenz, dieser überwache Wachzustand wie im tibetischen Buddhismus, läßt sich schon im Leben zumindest denken, ach nein, nicht denken, sondern - in der Meditation erfahren: "Meditieren und Denken, das sind zwei divergierende, unvereinbare Tätigkeiten", schrieb er: "Derjenige , der weiß, hat sich von allen Fabeln getrennt, die die Begierde und das Denken schaffen, es hat sich aus dem Stromkreis ausgeschaltet, er willigt nicht mehr in den Trug ein. Denken nimmt teil an der unerschöpflichen Illusion, die zeugt und sich verzehrt, die giert, die sich verewigen und sich zerstören will: denken, das heißt mit dem Delirium in Wettbewerb treten. Bei soviel Fieber sind nur die Pausen sinnvoll, in denen wir atmen, die Momente des Innehaltens, in denen wir unser Keuchen beherrschen: die Erfahrung der Leere - sie fällt mit der Gesamtheit dieser Pausen, dieser Zwischenräume des Deliriums zusammen (...)" ("Die verfehlte Schöpfung".)

Diese Erfahrung der Leere ist nicht weit entfernt von den ältesten Weisheiten der Welt, etwa von Laotses TAO TE KING:

."Der SINN, der sich aussprechen läßt,/ ist nicht der ewige SINN.

Der Name, der sich nennen läßt, /ist nicht der ewige Name./

´Nichtsein´ nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.

"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen.

Darum führt die Richtung auf das Nichtsein/ zum Schauen

des wunderbaren Wesens,/ die Richtung auf das Sein

zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten."

 

In einem Brief, in dem Cioran auf einen Text über "Psi, Wissenschaftstheorie und Meditation" einging (18.Februar 1980), schrieb er auf deutsch: "Vielen Dank für Ihren Brief und für den Aufsatz, mit dem philosophischen (für Wissenschaft bin ich unbegabt) Gehalt bin ich einverstanden. Alles, was extrem steht, alles, was an eine Grenze reicht, zieht mich an. Ich wußte nicht, daß Sie auch diesem Laster anheimgefallen sind. Zwar habe ich mich eigentlich nicht (für) Psi-Forschung interessiert (das Unbehagen von dem Sie sprechen, hab ich in allen Versammlungen solcher Art erlebt), aber ich muß anerkennen, daß heutzutage solche Probleme fast zwingend geworden sind. Was mir wichtig erscheint, ist die Bedeutung der Meditation, die Sie besonders betonen. Wir stehen doch näher an der östlichen als an der abendländischen Philosophie. Wäre ich fünfzig Jahre jünger, so würde ich Sanskrit lernen. Die wesentlichen Texte haben nur im Original einen Sinn."

Der wichtigste Passus über Meditation im erwähnten Text, lautet: "Das Entscheidende ist ja nicht die auftauchende Farbe, Musik oder Figur, sondern `die Sache selbst`, die sich darin verbirgt und die sinnlich nicht aufgeht, unbeschreiblich ist (...) Bei der Meditation geht es um eine Überwindung der Raum-Zeit-Mauer, an der unser Ich wie im Traum entlanggeht. Jenseits dieser Mauer treffen wir auf die Teilhabe an der Subjektivität der Natur, ein gefährliches Unternehmen, das Erleuchtung, aber auch Geisteskrankheit bedeuten kann. Zeit, Raum, Kausalität gehören zur historisch-ontologischen Verdrängungsmaschine als Filter, das heute antiquiert ist." ( Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie", 3/ 1978.)

 

Manchmal erinnert Ciorans Reflexion auch an Walter Benjamin; immer dann, wenn er zu den Abgründen des Undenkbaren, vor allem die der Anamnese stößt; nur, auch hier ist alles bei ihm mehr erlebt und weniger von Theorie überdeckt, jeder Satz wird von Cioran mit Lebens- oder Denkerfahrung eingelöst, oder ist unmittelbar im Augenblick des Bewußtseins gelebt.

So etwa, wenn er schon in "Tränen und Heilige", sagt, daß jeder, je weiter er im Leben vorankommt, erkennt, daß er nichts Neues lerne, sondern nur zurückfalle in eine längst vorhandene Erinnerung: "Es ist so, als imitierten wir eine Welt, die wir einmal schon gelebt hatten. Die Identität mit uns selbst ist eine verkehrte Evolution. So entsteht der Verdacht, ein Leben gelebt zu haben, das vor diesem Zufall der Individuation gewesen war. "

Wie bei der Wahlverwandtschaft mit Fondane, dürfte auch bei Benjamin nicht das Jüdische, sondern Baudelaire die Brücke, besser die ´chemische Verbindung´ zu einer gemeisamen Kristallisation gewesen sein. So wenn Benjamin die "correspondences" als "Daten des Eingedenkens", als jenseits der Geschichte befindliche "Data der Vorgeschichte" sieht, denen die "Tränen des Heimwehs" entsprechen, wobei dann in dieser Vergegenwärtigung der "durée", "dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele" genommen wird. Für Benjamin ist es "das Schöne", das mit dem Tode korrespondiert, ein "Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten." (Über einige Motive bei Baudelaire.)

Bei Cioran ist der Berührungspunkt typisch östlich, nicht das Schöne, sondern viel existentieller und aufregender und provokativer: eben die Heiligen.

Und da unser innerstes Wesen frühgeschichtliche Träume vom Ursprung in sich trägt, wäre auch "der metaphysische Sinn der Existenz von Heiligen" das "Gedächtnis eines Vergessens", das "die unmittelbare Annäherung der Gottheit in einem zweifelsfreien Paradies" sein könnte.

Doch das alte Bildverbot, das die Darstellung des Undenkbaren, Unfaßbaren verbietet, das die natürliche Ursachenkette dessen, was wir uns bis heute vorstellen können, durchbricht, hat Cioran in seinem ganzen Werk beachtet, er war sich sehr bewußt, daß Worte und Bilder nur zur Beruhigung dienen, zur Illusionsherstellung, ohne die wir so nicht leben könnten, wie wir leben; das aber, was wir mit Worten und Bildern verdrängen und beruhigen, reicht in jenen Bereich des Unheimlichen und des Todes, der zum Verschwinden gebracht werden soll, damit diese unsere Erde vernichtende Zivilisation überhaupt existieren kann! Dabei ist Cioran vielleicht zu wenig auf die faszinierendste Seite dieser Einsicht eingegangen, daß nämlich die vorstellbare Grenze, die uns von jener undefinierbaren Dimension trennt, ganz sicher nicht die Grenze der Welt ist, sondern nur die unseres gegenwärtigen BILDES von ihr, - obwohl doch im Zentrum seines Werkes die Entlarvung dieses Bildes steht: dieser Zauberzirkel des Absurden im Bereich der begrifflichen Erkenntnis, wie schon die Veden und heute die Physik lehren - Täuschung unserer Sinne ist.

 

Doch gibt es in uns eine Instanz, Cioran nannte sie "Selbst", einen inneren Beobachter, der alles relativiert, unsere Maskenexistenz lächerlich erscheinen läßt! "... für dieses Erkennen ist alles bodenlos mit Ausnahme seiner selbst" schrieb er: "rein bis zur Verabscheuung der Idee des Objekts drückt es dieses äußerste Wissen aus, nach welchem es einerlei ist, ob man eine Tat ausführt oder nicht (...) daß die `Wirklichkeit` dem Bereich des Sinnwidrigen angehört. Eine solche Kenntnis verdient es, posthum genannt zu werden." ("Vom Nachteil geboren zu werden".)

Die Frage aber, ob jenes Selbst, das dann im "Tode" oder im Todeserwachen vielleicht einmal ganz befreit sein wird, und sich endlich selbst erkennen kann, ohne die Wand des Körpers, ohne den Schein und die Täuschungen des Auges und des Truges dieser schillernden Außenwelt und aller Vorspiegelungen unseres Kopfes, der das spiegelt, was ihm eingeredet und als "Welt" vorgesetzt wird, hat sich Cioran in seiner abgrundtiefen Skepsis niemals beantwortet; vielleicht, weil er davon überzeugt war, daß auch die tiefgründigste Sonde der Sprache diesen Bereich niemals erreichen kann. So spricht er in einem Aphorismus von einem Bauern, der nach einem Begräbnis in der Normandie über den Tod sagte: "Was wollen Sie ... so ist es .... so ist es ... so ist es ..." Und Cioran fügt hinzu: "Der brave Mann ahnte nicht, daß er vom Tod alles sagte, was man von ihm sagen kann, und alles, was man von ihm weiß." ("Vom Nachteil geboren zu werden".)

 

 

 

C.Noica

 

 

 

Bio-Bibliographie zu Dieter Schlesak und Stimmen der Kritik.

Sekundärliteratur

 

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